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"Sucht den Nordstern. Dort findet ihr Rettung. Geht zum Nordstern und sprecht davon nicht zu den Menschen…" Schon zu lange hat keiner mehr gewagt, dieser alten Prophezeiung zu folgen. Jetzt aber hat Dándrren den Ruf in seinem Herzen vernommen und muss ihm gehorchen. Auch wenn das bedeutet, sich im Winter in das ewige Eis des Nordmeeres zu wagen. Kälte, Schneestürme und die endlose Polarnacht - selbst für einen Neshtisequa ist das ein selbstmörderisches Unterfangen. Und dann zwingt ihm das Schicksal auch noch drei Menschen als Weggefährten auf. Misstrauen, Vorurteile, Unverständnis stehen wie eine undurchdringliche Mauer zwischen ihnen. Aber nur gemeinsam können sie ihr Ziel erreichen, nur gemeinsam können sie die Eishölle überleben. Werden sie stark genug sein, neue Wege zu gehen? Werden sie lernen, einander zu vertrauen? Sternjäger: Ein Fantasyroman der etwas anderen Art.
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Seitenzahl: 732
Veröffentlichungsjahr: 2015
Ulrike Brans
Cornelia Schurr
Sternjäger
© 2015 Ulrike Brans und Cornelia Schurr
Umschlagbild: Judith Oliva
Umschlaggestaltung: Cornelia Schurr
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7323-7822-7
Hardcover
978-3-7323-7823-4
e-Book
978-3-7323-7824-1
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Für meine Eltern
Für Stephan, Michael und Andreas
Verzeichnis der Personen
Eirik
auch genannt Friedensbringer
– ein Mensch vom Volk der Naskyrik
Firas-isha (wörtl. Eisregen)
auch genannt Sturmblut
– ein Mensch vom Volk der Ishia
T’Shay-itzu (wörtl. aufgehender Sichelmond)
auch genannt Drachenmut
– sein jüngerer Bruder
Dándrren Sternjäger
– ein Neshtisequa, kein Mensch
Taninta Neshivath
Niwa avalith vecadin
Ibaninta kay Neshivath
Yarha lin antarinta ji ateyneth
Prolog
„Doch als der letzte der Alten sein Ende nahen fühlte, der Letzte, der die einstige Heimat noch gekannt hatte, da nahm er all seine Kraft zusammen und schuf Dhinjahe. Dhinjahe, die Aufgabe, die Tafel aus schimmerndem Elfenbein, die Aufgabe, die die Erinnerung bewahrt an das, was einst war. Mit unendlicher Sorgfalt schnitt er die Worte hinein, die unser Volk damals leiteten, bevor der Sturmwind kam. ‚Sucht den Nordstern. Dort findet ihr Rettung. Geht zum Nordstern und sprecht davon nicht zu den Menschen…’“
Die Stimme von Sanftschimmer, dem Eistänzer, klang mit Macht, getragen vom Knistern des Feuers und dem leisen Singen des nahen Meeres. Alt war die Legende, beinahe so alt wie die der Eisdämonen, aus jenen Zeiten, als die Neshtiseque Not und Entbehrung leiden mussten, von Sturm und Wogen an die eisige Küste geworfen und gezwungen, dort zu überleben oder auf ewig zu verschwinden. Und in all der Zeit hatten die Worte nichts von ihrer Kraft eingebüßt.
Neben dem Eistänzer stand ein aus Eis geschnitztes Podest, so perfekt geschliffen, dass sein Material durchsichtig war wie klare Bergluft. Eine weiche Lederhaut war darüber geworfen und auf ihr ruhte Dhinjahe. Atemberaubend schön, jenseits jeder Vorstellung in ihren feinen, verschlungenen Mustern. Die Flammen ließen sie rot schimmern, so dass sie beinahe lebendig wirkte. Es war lange her, dass Dándrren die Aufgabe zuletzt gesehen hatte, und kaum war er ihr je so nahe gewesen. Doch jetzt war sie hier, hergeholt einzig, um sein Herz zu erfreuen, damit er sie noch einmal sehen konnte. Nie war sich Dándrren ihrer Schönheit so bewusst gewesen. Dhinjahe war ein Teil einer versunkenen Zeit.
„Der letzte der Alten übergab die Aufgabe seinem Enkel“, sang Sanftschimmer. Außer Feuer und Wellen herrschte absolute Stille auf dem Festplatz des Dorfes. Jeder, Mann, Frau und Kind, lauschte gebannt. „Und ihm erzählte er, was im Land unter dem Nordstern wartet. Wasser, das von keinem Eis in seinem Fluss gehindert wird, reich an Fischen. Bäume und Sträucher stehen ringsumher, voll von Wild, und die Luft ist selbst im Winter erfüllt vom Duft der Blumen. Ihn, seinen Enkel, beschwor er, das Wissen zu bewahren und weiterzutragen, die Neshtiseque zu erinnern an ihre Bestimmung – so wie es die Eistänzer heute noch tun.“
Vers um Vers, Strophe um Strophe sang der Eistänzer dann von den vielen, die ausgezogen waren, die Bestimmung zu erfüllen. Er erzählte von kleinen Gruppen und großen, von Schiffen und Booten und von einsamen Wanderern. Dándrren hörte die Worte kaum. Sein Blick war auf Dhinjahe gerichtet. Noch ein letztes Mal war er Teil der Gemeinschaft, für die Dauer der Lieder. Geborgen bei denen, die er kannte und liebte. Sein Herz blutete, sie verlassen zu müssen, und doch war der Verlust nicht groß genug, um die Sehnsucht zu besiegen. Auch nur bis zum Ende des Winters zu warten, war zu lang. Diese Reise war für ihn bestimmt und sie war es jetzt. Woher diese Gewissheit kam, wusste er nicht, nur, dass er so schnell als möglich aufbrechen musste. Der Wind sang es und selbst in den Wellen rauschte der Ruf, lauter als die Warnungen vor Kälte und Dunkelheit und die Bitten, auf wärmere Tage zu warten. Sanftschimmer bestimmte den Tag der Entsendung auf Dándrrens Drängen früher, als es das Zeremoniell vorsah, und in seinem Lächeln darüber hatte Wehmut gelegen. Er wusste, dass man das Meer leichter von einem Felsen fortreden konnte als einen Sternjäger von dem Weg, auf den er gerufen wurde. Nur erst unterwegs sein… zuerst nach Süden, denn für die Jagd nach dem Nordstern brauchte es ein besonderes Boot, und nur im Süden von Teyique lebte ein Bootsbauer mit genug Wissen, ein solches wachsen zu lassen. Ein Umweg zwar, doch dann endlich würde Dándrren dem steten Leuchten des einzigen Sterns folgen, der sich nicht bewegte im ewigen Himmelsreigen. Der allein stillstand.
Seit Dándrren den Entschluss verkündet hatte, auf die alte Reise nach dem Land unter dem Nordstern aufbrechen zu wollen, hatte jeder, dem er etwas bedeutete, ihn davon abzubringen versucht. Dándrren hatte sie alle geduldig angehört, ihre Bitten und Argumente bedacht, doch nichts hatte sich geändert. Mit jedem Tag war er sich in seiner Entscheidung sicherer geworden, getrieben und gebunden durch die Sehnsucht seines Herzens. Warum er? Dándrren hätte es nicht sagen können. Neshtiseque, die dem Ruf des Nordsterns folgten, waren selten geworden und sie würden noch seltener werden. Nur noch wenige träumten von jenem sagenhaften Land direkt unter dem Licht dieses Sterns, und auch von denen, die es noch taten, fanden wenige den Mut, die Reise tatsächlich anzutreten. Wer ging, kam kaum jemals zurück, und auch wer zurückkam, hatte nichts zu berichten.
Am Ende der Lieder blieb nur das Schweigen. Als hielte die ganze Welt den Atem an für diesen Moment.
„Wo ist der Sternjäger?“ erscholl Sanftschimmers tönende Stimme. Der Moment, auf den Dándrren gewartet hatte.
Noch einmal ließ er seinen Blick über die versammelte Menge wandern, über die geliebten Gesichter derer, die ihm am nächsten standen. Lichtklinge, seine Schwester, in deren klaren Augen Tränen schimmerten. Sie hatte es bis zuletzt nicht glauben können, dass der Ruf des Nordsterns ausgerechnet ihren großen Bruder erreicht hatte. Halt suchend an ihren Arm geklammert Jungschnee, der jüngste in der Reihe von Dándrrens Geschwistern, zitternd, als habe ein eisiger Wind Eingang in seine Kleidung gefunden. Und schließlich Firngischt, über deren Wangen lautlose Tränen rollten, die wie Juwelen glänzten. Sie hielt sich aufrecht und das Kinn hoch erhoben, bemüht, stark zu erscheinen und stolz darauf, dass Dándrren dem Ruf des Nordsterns Folge leisten wollte. Sie würde ihn nicht hindern und sie würde warten, so, wie sie es versprochen hatte. Sie würden einander vielleicht nie wieder sehen…
Windflügel, Gefährte vieler Reisen, stand neben ihr, einen Arm um sie gelegt, wie um Trost zu bieten, doch Firngischt schien es nicht einmal zu bemerken. Als ihre Blicke sich trafen, nickte Windflügel Dándrren zu. Zu Anfang hatte auch er gegen die Reise gesprochen. Doch war er der Erste gewesen, der Dándrrens Entschluss akzeptiert und bestärkt hatte, und nun war er der Einzige, der nicht um Fassung rang. ‚Tu, was du tun musst’ – es war beinahe, als könne er die Stimme des Freundes hören. Es gab an seinem Entschluss nichts zu ändern, und doch spürte sein Herz den Schmerz des Verlustes, als er vor den Eistänzer hintrat. Es war der erste Schritt fort von allem. Der erste Schritt der Reise.
„Hier bin ich.“
Der alte Neshtisequa musste den Blick nach oben richten, um Dándrren in die Augen sehen zu können. Er zog die Brauen zusammen, als missfiele ihm, was er sah, doch war die Prüfung nur rituell. Sanftschimmer kannte Dándrren, seit er auf die Welt gekommen war, der älteste Sohn in der Reihe vieler Kinder, er hatte ihn aufwachsen sehen, und er hatte ihn unterrichtet. Dándrren wusste, für den Eistänzer konnte es in seinen Augen nichts Neues zu finden geben. Sanftschimmer kannte jede Schuld, jeden Verdienst und jede Liebe seines Lebens, und so hielt er ruhig stand. Schließlich nickte der Eistänzer. Die Prüfung war bestanden.
„Findet den Nordstern“, erinnerte er. Der Gesang der Wellen mischte sich unter die Worte wie eine uralte Melodie. „Dort liegt eure Bestimmung. So ist es überliefert und geschrieben, gebannt in Dhinjahe, uns zur Erinnerung. Du hast den Ruf gehört, Sternjäger, doch weißt du, was auf dich zukommt?“
Dándrren lauschte in sich hinein, auf den Nachhall dieser Frage, bedachte sie und suchte eine Antwort. Wer konnte wissen, was ihn im ewigen Eis erwartete? Die Neshtiseque waren weit in den Norden vorgedrungen, doch hinter diesen Reisen lag nichts als unbekanntes Land und mit ihm unbekannte Schönheiten und Gefahren. Nur ein Narr würde glauben, einschätzen zu können, was diese Reise bereithielt. Er wusste es nicht. Dándrren war überrascht, wie schnell er zu diesem Schluss kam und wie sicher er war, die richtige Antwort gefunden zu haben.
Sein Blick in Sanftschimmers Augen war fest und seine Stimme war laut und für jeden verständlich.
„Nein.“
Nur dieses eine Wort. Es genügte, mehr gab es nicht zu sagen. Dándrren hörte das Raunen hinter sich, als Sanftschimmer nickte. Mit diesem Moment war alles entschieden, es gab nun keine Umkehr mehr und keine Möglichkeit, die Entscheidung noch zu ändern. Auch die, die es bis jetzt nicht geglaubt haben mochten, mussten einsehen, dass sie sich geirrt hatten. Der Eistänzer hatte seine Erlaubnis gegeben, Dándrren würde auf die Jagd gehen.
Sanftschimmer zog einen schmalen weißen Gegenstand hervor und reichte ihn Dándrren. Noch bevor sich seine Finger um das kühle Material schlossen, wusste er, was es war. Eine Flöte, sorgsam geschnitzt und geschaffen, hineingeschnitten die Muster von Dhinjahe, der Aufgabe. Die Abschrift des Rufs, der sein Herz erreicht hatte, äußeres Zeichen, das ihn als Jäger des Nordsterns auswies. Sie würde sein Begleiter sein, sein Wegweiser, sein Trost in der Fremde und seine Verbindung zur Heimat. Das einzige, was er nicht verlieren durfte, bis die Reise beendet war. Dándrren konnte nicht verhindern, dass seine Hände zitterten, als er das Band aus weichem Leder, das die Flöte hielt, über den Kopf streifte.
„Unsere Gedanken ziehen mit dir, Sternjäger“, sagte der Eistänzer, „finde den Weg für uns und dann kehre zurück und erzähle von den Wundern, die du gesehen hast.“
Erstes Kapitel
Shay ruhte, die Augen geschlossen. An seine Ohren drang das leise Klatschen der Wellen gegen das kleine Boot, das Knarren des Holzes, das Knistern des Eises, das über ihnen aufragte. Firas war an der Reihe zu rudern; Shay konnte die gleichmäßigen Bewegungen seines Bruders keine zwei Schritt entfernt spüren. Vielleicht sollte er etwas schlafen, aber er war nicht müde, nur erschöpft. Was für eine Hetzjagd lag hinter ihnen! Und alles nur für dieses kleine Bündel, fest in geöltes Leder eingewickelt. Es war ein Buch. Im Süden legten die Leute großen Wert auf solche Dinge, aber es war Shay nie gelungen, ihre Begeisterung zu teilen. Es kümmerte ihn auch nicht. Nicht alle Bücher dieser Welt hätten sie auf ihrer Suche nach der Festung des roten Prinzen am Leben erhalten, kein Buch hätte sie die Wachen überwinden lassen, aber wegen eines Buches hatten sie all das gewagt.
Fast hätten sie es nicht geschafft, aus jenem steinigen Tal zu entkommen. Shay konnte noch immer ein sanftes Brennen fühlen, wo ein Dolch die Haut seines Armes verletzt hatte. Ein weiterer Kampf, eine weitere Narbe. Endlich hatten sie sich freigekämpft und die Jagd auf sie hatte begonnen. Die ganze Nacht hindurch hatten sie das Gebell der Bluthunde hinter sich gehört, doch war es ihren Verfolgern nicht gelungen, näher heran zu kommen. Erst als Shay und seine Gefährten die großen Eisfelder des Nordens erreicht hatten, gaben ihre Feinde endlich auf. Oder vielleicht waren sie auch einfach im Sturm jenes ersten Tages umgekommen. Wer außer einem Kind dieses abweisenden Landes hätte es wagen können, in dieser eisigen Hölle unterwegs zu sein?
Es gab ein leises wisperndes Geräusch, als Eirik das Steuer einen Zoll über legte, um die nächste Biegung in diesem Fjord aus Eis zu umrunden. Natürlich war es seine Idee gewesen, nach Norden vorzustoßen und den letzten Teil ihrer Reise mit dem Boot zurückzulegen. Der Freund seines Bruders gehörte nicht zu Shays Leuten, nicht zu den Ishia, den Eisigen. Er war ein Naskyr, einer der Schiffe liebte und das Meer, und doch hatte er sich gut geschlagen auf der Strecke durch das schier endlose Weiß. Zwei Tage und Nächte waren sie gerannt, hatten nur gerastet, wenn sie gezwungen waren, Schnee für Trinkwasser zu schmelzen. Über diese Reise wäre lange an den Lagerfeuern der Ishia gesprochen worden, wenn sie jemals davon erfahren hätten. Wenige dieser Krieger des Nordens hätten so eine Tat wagen können und keiner, der nicht zu dieser abgehärteten Rasse gehörte. Niemand außer Eirik. Nicht einmal hatte er Schwäche gezeigt, nicht einmal auch nur gezögert oder sie in ihrem Vorankommen gehindert. Aber Firas hätte ihn auch nie zum Freund gewählt, wenn er diese Stärke nicht besessen hätte. Also war es nur gerecht, dass Shay seine Vorurteile gegenüber dem Meer für eine Zeit zurücksteckte. Immerhin kamen sie mit dem Boot wirklich schneller voran.
Eine eisige Windbö wehte über das Wasser. Für andere wäre sie ein Vorbote von Qual und Tod gewesen, aber für Shay war sie der süße Atem einer Mutter, das sanfte Rufen einer Geliebten. Sie kroch unter das einfache Lederhemd und ließ ihn frösteln. Er überlegte nur kurz, die Pelzjacke überzustreifen, entschied sich aber, ihre Liebkosungen zu genießen. Obwohl er sich den Gesetzen seines Volkes vor langer Zeit verweigert, das Exil der Unterwerfung vorgezogen hatte, würde er es nie schaffen, sich dem Ruf des Nordens zu verschließen. Er war unter der Mitternachtssonne geboren worden, und nicht tausend Jahre im Süden würden jemals etwas daran ändern, wie sich sein Herzschlag beschleunigte angesichts der nadelgleichen Kälte von sturmgepeitschtem Schnee oder der bleichen Schönheit von schimmerndem Eis im Sonnenlicht.
Shay öffnete die Augen. Der kurze Herbsttag neigte sich seinem Ende zu. Schon war die Sonne hinter den Eiswänden verschwunden, tiefe Schatten gaben dem Meer die Farbe von Teer. Im Winter erhob sie sich nie weit über den Horizont, blieb fahl und müde. Die Monde waren jetzt bessere Begleiter, zuverlässig und klar in ihrem Licht. Der größte von ihnen würde erst nach Mitternacht aufgehen, und auch sein kleiner Begleiter, der Abendstern, der ihm stets vorauseilte, war noch nicht zu sehen. Nur der mittlere zeichnete sich schon deutlich vom blassen Himmel ab und würde für eine ganze Weile ihr hellstes Licht sein in dieser Nacht. Kaum mehr als halb voll heute, übermorgen schon würde er seine volle Rundung erreichen. Der Hundsmond, so hieß er für Shays Volk. Schnell wie ein eifriger Jagdhund hetzte er über den Himmel, bald vor, bald hinter seinem Herrn, dem großen Jägermond. Die Hatz würde niemals enden, solange die Welt bestand, und sie änderte sich nie. Die Monde wurden niemals müde.
In einer halben Stunde musste Shay seinen Bruder an den Rudern ablösen. Die Hälfte ihrer Bootsfahrt lag dann hinter ihnen, anstrengend zwar, aber ungefährlich. Auf dem Wasser drohte ihnen keine Gefahr. Mit Einbruch der Nacht aber würden sie Torbinga erreichen, wo Feinar Vogelscheuche belagert wurde. Ein weiterer Kampf, ein weiterer Tanz mit dem Tod, bevor sie ihre Beute abliefern konnten und ihre Aufgabe erfüllt war. Shay spürte die Glätte des lederumwundenen Schwertheftes, das sich gegen seine Rippen drückte. Es rief ihn, lockte ihn wie eine altvertraute Geliebte, die man lange vernachlässigt hatte. Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen. Er schloss die Augen wieder. Noch war es nicht soweit.
—
Wie geplant löste Shay Firas auf halbem Weg zu Feinars Burg ab. Er schien ausgeruht und frisch, kräftig legte er sich in die Riemen und so kamen sie gut voran. Firas, der Shays alten Platz im Bug eingenommen hatte, hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Einzig Eirik behielt seinen Platz am Steuerruder bei. Es war eine Aufgabe, die vor allem Aufmerksamkeit forderte, nicht körperliche Kraft, und er war der Erfahrenste unter ihnen, was die Schifffahrt anging. So harmlos dieser Fjord auch aussehen mochte, er war es nicht. Sie waren von Eis eingeschlossen und Eis trieb auf dem Wasser… Hoffentlich hatten sie ihr Ziel bald erreicht. Eirik mochte den Gedanken nicht, die Dämmerung auf dem Wasser zu verbringen, und schon gar nicht die dunkle Nacht, in der das Wasser nur noch ein trügerischer Spiegel aus glitzernder Oberfläche und schwarzen Schatten war…
„Was ist?“ fragte Shay leise. Das Wasser trug den Schall weit und die turmhohen Mauern aus Eis, die sich zu beiden Seiten drängten, vervielfachten noch den schwächsten Hauch. Es klang, als wisperten tausend Stimmen aus der Kälte.
Eirik erwiderte den besorgten Blick des Freundes mit einem Lächeln. Er hatte sich nicht bemüht, seine Gedanken zu verbergen. „Es ist nicht gut, bei Dunkelheit auf dem Wasser zu sein“, fing er an. „Zu leicht kann man eine Eisscholle übersehen. Vielleicht sollten wir doch besser an Land gehen und den Morgen abwarten.“
Shay schüttelte entschieden den Kopf. „Die Nacht wird uns beistehen, wenn es darum geht, den Belagerungsring zu überwinden. Wenn wir den Morgen abwarten, erreichen wir Feinar vielleicht erst in der nächsten Nacht.“
„Wir sind nicht wie von Geistern gejagt über das ewige Eis gehetzt, um jetzt zu rasten.“ Firas öffnete nicht einmal die Augen. Dass er nicht schlief, überraschte Eirik kaum. Offenbar hatte der Freund jedes Wort der Unterhaltung gehört.
Eirik nickte nur und sagte nichts weiter. Er hatte seine Bedenken geäußert, seine Freunde hatten entschieden, mehr brauchte es nicht.
Das Zwielicht wuchs. Gegen Morgen würde der Nebel steigen und die Sicht zusätzlich erschweren. Dann wäre es Wahnsinn, noch auf dem Wasser zu sein, aber bis dahin sollten sie längst ihr Ziel erreicht haben. Der Morgen war fern. Die Nächte waren lang jetzt, wenn sie auch ihre volle Macht noch nicht erreicht hatten.
Ein leises Geräusch ließ Eirik aufhorchen. Nicht nur ihn, denn fast gleichzeitig hielt Shay inne und Firas richtete sich ruckartig auf, lauschte mit weit offenen Augen in die Dämmerung. Da war das Geräusch wieder, so vertraut und doch so fremd. Ein Rauschen, das die Stille zerbrach wie feines Glas.
„Das klingt wie ein Vogel!“ rief Firas plötzlich.
„Aber dann muss er sehr nahe sein.“ Angespannt versuchte Eirik, das Zwielicht zu durchdringen.
„Oder sehr groß!“ Shay sprang auf und riss das Schwert aus der Scheide. Firas war nur einen Wimpernschlag langsamer. Ihre hektischen Bewegungen ließen das Boot gefährlich schaukeln, doch das Wort der Warnung erstarb auf Eiriks Lippen.
Aus der Dunkelheit über ihnen stürzte sich der gewaltigste Vogel, den er jemals gesehen hatte. Die Flügel angelegt stürzte er wie ein Stein auf sie herab, wurde größer und größer und größer. Als er endlich mit einem Ruck seine Flügel ausbreitete, schienen sie den ganzen Himmel zu verschlingen. Eiriks Haare peitschten ihm in die Augen. Das Boot tauchte tief in die Wellen ein und das Wasser erzitterte wie unter einer Sturmböe. So gigantisch konnte doch kein Tier sein! Die Fänge weit vorgestreckt stürzte sich der riesige Vogel auf Shay. Der konnte sich gerade noch ducken. Sein Schwerthieb, durch das wilde Schwanken des kleinen Bootes fehlgelenkt, glitt harmlos von stählernen Krallen ab. Ein ohrenbetäubendes Kreischen, ein Rauschen wie von tausend Adlerschwingen und der Vogel erhob sich wieder in die Luft.
„Was war das?“ schrie Shay gegen den Lärm.
„Halts Maul und ruder! Wir müssen an Land!“ brüllte Eirik ihn an. Sein Befehl war noch nicht verhallt, da saß der jüngere Krieger schon wieder auf der Bank und griff nach den Riemen. Das blanke Schwert lag griffbereit zwischen seinen Füßen.
„Firas, du hältst nach dem Biest Ausschau!“ Sein Kamerad antwortete nicht und Eirik verschwendete keinen Blick, um ihn nicken zu sehen. Fieberhaft suchte er die Eiswände nach einer Stelle ab, die ihnen Zuflucht gewähren konnte. Dort! Der schmale Einschnitt! Eirik legte das Steuer hart backbord. Shay stemmte sich mit aller Kraft in die Ruder. Langsam gewannen sie an Fahrt – zu langsam!
„Achtung!“ Firas’ Warnruf ließ ihnen gerade noch Zeit, nach den Schwertern zu greifen, schon war der Vogel wieder da. Dieses Mal hatte er es auf den Mann im Bug abgesehen – Firas – der den Himmel angespannt beobachtet hatte, und doch von der Schnelligkeit des Angriffs überrascht wurde. Auch er hatte keine Möglichkeit, sich gegen diesen Feind zu behaupten. Im letzten Moment warf er sich zur Seite, dass das Boot bockte wie ein wildes Fohlen, und sie sich mit aller Kraft an das Holz klammern mussten, um nicht über Bord geworfen zu werden. Die mächtigen Schwingen schlugen über ihnen, schleuderten den Vogel zurück in das vage Dämmerlicht. Wieder griff Shay nach den Rudern. Trotz der bitteren Kälte lief ihm der Schweiß über die Stirn. Das Land schien so unendlich weit. Shay gab alles, was er hatte, den Kopf gesenkt, sah nicht nach links und nicht nach rechts. Firas mit der blanken Waffe in der Hand, Eirik selbst am Steuer… Gischt spritzte mit jedem Schlag auf, und doch schien es, als kämen sie kaum von der Stelle.
Ein wütender Schrei hoch aus der Luft kündigte den nächsten Angriff an. Wieder war Firas das Ziel. Wieder war es zwei, drei rasende Herzschläge später vorbei, nur im Dollbord klaffte ein Loch, groß wie ein Pferdekopf. Dieses Biest hatte Klauen wie Schwerter.
„Noch so ein Angriff und wir sind erledigt!“ keuchte Firas, als er langsam wieder auf die Beine kam.
„Noch so ein Angriff und wir sind an Land!“ Eirik ließ keinen Blick vom Ufer. Es musste einen Landeplatz geben! Einen sicheren! Sie durften nichts riskieren! „Ruder, Shay!“
Die Stille war ebenso ohrenbetäubend wie der Angriffslärm, wenn nicht noch furchtbarer. Trügerische Sicherheit, nur das Klatschen der Ruder, der leise Klang von Eis, das gegen die Bootswand schlug, Shays heftiger Atem – dann wieder Flügelschläge, Firas knurrte, versuchte im schwankenden Boot einen sicheren Stand zu finden. Eirik packte die Pinne fester. Der mächtige Schatten stieß herab, Kreischen zerriss die Stille, Stahl auf Horn - das Geräusch jagte ihm einen Schauer der Furcht über den Rücken. Standzuhalten war jetzt allein Firas’ Aufgabe. Shay sah nicht auf, keinen Augenblick stockte der Rhythmus der Riemen. Ein Landeplatz! Ihre einzige Chance.
—
Der große Vogel des Nordens jagte. Jetzt war seine Stunde, im grauen Licht zwischen Tag und Nacht. Seltsam, ihn so nah an der Küste zu finden, in dieser Welt von Meer und Eis, doch wahrscheinlich hatte der Sturm der letzten Tage den mächtigen Vogel hergetragen. Es würde schwer für ihn sein, hier Beute zu finden. Leise wünschte Dándrren dem Shonascoukha Glück, so wie seine eigene Jagd erfolgreich gewesen war.
Dann ertönten die Stimmen. Zwei Stimmen, drei, die Klippen warfen ihr Echo durch die schweigende Landschaft. Ruder klatschten hart auf das Wasser und wieder ertönte der Angriffsschrei. Dándrren hörte Furcht in den Stimmen. Der große Vogel des Nordens jagte keine Fische heute Nacht!
—
„Stopp!“ rief Eirik und im selben Moment knirschte der Kiel auf Grund, feines Eis brach. Firas sprang aus dem Boot und zerrte es höher auf das flache Ufer, den letzten Schwung ausnützend. Kaum hatten auch Shay und Eirik das feste Land erreicht, als ihr Feind schon wieder zurückkam. Zerklüftetes Land, von Wind und Wasser geformt, scharfe Felsen, wie dunkle Schatten, mehr Drohung als Zuflucht. Firas deutete auf einen von ihnen und brüllte etwas, das im Schrei des riesigen Vogels unterging. Es gab auch so keinen Zweifel. Sie rannten. Der Felsen war steil, nahe am Wasser, hoch genug, um ihren Jäger zu behindern. Nicht von allen Seiten angreifbar zu sein.
Sie hatten keine Waffen gegen dieses Monster. Aus unerreichbaren Höhen stieß es zu schnell herunter, eins mit der Dämmerung, erst so spät zu sehen, dass auch die Bögen völlig nutzlos waren. Klauen wie Dolche, ein Schnabel wie eine Axt, Flügelschläge, die ihre Knochen wie Glas splittern lassen konnten, wenn, ja wenn sie nur einen Hauch zu langsam auswichen. In die Enge getrieben waren sie eine lohnende Beute. Das hier war kein schneller Vorstoß mehr. Das Monster würde nicht aufgeben. Seine Schreie ließen das Eis klirren und seine mächtigen Flügelschläge hallten wie Donner zwischen den hohen Wänden. Der feine Schnee wirbelte hoch in die Luft von diesem Sturm, drang ihnen in die Augen und machte das Atmen schwer.
Shays Arme waren schwer vom Rudern. Er konnte das Schwert kaum noch heben, immer langsamer wurden seine Schläge, immer ungerichteter die Abwehr – und der Vogel schien seine Erschöpfung zu spüren, griff ihn immer gezielter an. Aber er musste durchhalten, er musste! Nur tiefe Finsternis konnte ihnen Schutz bieten, aber sie war noch weit, und das zunehmende Zwielicht schien ihrem Feind eher zu nutzen als zu schaden. Er war ihnen überlegen, dies war sein Fjord, seine Welt… Wieder zog er sich zurück, stieg steil in die Höhe, wo er mit dem Grau des Himmels verschmolz. Bald würde er wieder aus dem Nichts auf sie herabstürzen. Unermüdlich, unerbittlich.
Trotzdem, es war eine Atempause, wenn auch kurz. Erschöpft ließ Shay das Schwert sinken, bis die Spitze auf dem gefrorenen Boden ruhte, rieb sich den verletzten rechten Oberarm. Suchend sah er sich um. Irgendetwas musste es doch geben, was ihre Lage verbessern konnte! Ihm war heiß, der eisige Wind war eine Wohltat auf seinem schweißnassen Gesicht. Das lauteste Geräusch jetzt war jetzt sein eigenes Keuchen, kaum dass er die Kameraden neben sich noch wahrnahm. Lange würde er nicht mehr durchhalten. Shay wechselte das Schwert in die linke Hand. Es würde ihm heute nicht die Vorteile verschaffen wie bei einem menschlichen Gegner, aber es mochte helfen, seine Kräfte… Was war das? Shay hielt überrascht inne, kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Da! Ganz in der Nähe, zwischen den Klippen, da war jemand! Eine Gestalt, schlank, ganz in schwarz gekleidet, mit silbernem, langen Haar, wie eine Erscheinung aus Fels und Eis selbst. Regungslos stand sie da, leicht auf einen Speer gestützt, als ginge sie der Kampf der drei Männer nichts an. Einen Moment lang schien es ihm, als blicke das Wesen ihn direkt an, dann lief ihm ein Schweißtropfen in die Augen und er musste heftig blinzeln. Nur ein winziger Augenblick, doch als er wieder zu der Stelle hinsah, war die Gestalt verschwunden.
Shay blinzelte wieder. Hatten seine Augen ihm gerade einen Streich gespielt? Sie musste doch noch irgendwo sein… Vergeblich. Die Unsicherheit blieb. Ob er da wirklich etwas gesehen hatte – er wusste es nicht. Aber niemand konnte so schnell verschwinden. Wie ein Geist… Shay hörte das Flügelrauschen zu spät. Er wirbelte herum, schon war der Vogel über ihm, die Klauen vorgestreckt, Hunger in den bernsteingelben Augen. Hastig versuchte Shay auszuweichen, da geriet er auf eine eisige Stelle und glitt aus. Der harte Aufschlag presste ihm die Luft aus den Lungen, das Schwert wurde ihm aus der Hand geschleudert – alles zu spät! Shay konnte nichts mehr tun, als seinen gefiederten Henker hilflos anzustarren, da sprang auf einmal ein Schatten dazwischen. Der Schnee staubte auf und dann war es wieder vorbei.
Der Schatten wurde zu Firas. Sein Bruder half ihm auf, ohne den Himmel aus den Augen zu lassen, auch wenn dort nichts mehr zu sehen war. „Ich kann nicht mehr! Tut doch was!“ keuchte Shay. Er konnte nicht verhindern, dass die Schärfe der Verzweiflung in seine Stimme kroch.
„Feuer!“ Das war Eirik. Auch er keuchend, außer Atem und erschreckend leise nach dem Lärm des letzten Angriffs. „Mach Feuer, Shay! Wir decken dir den Rücken.“
Shay rannte zurück zum Boot. Er musste die kurze Atempause ausnutzen, die der Vogel ihnen ließ. Sie konnten ihn nicht besiegen. Es blieb ihnen nur noch die Hoffnung, ihn zu vertreiben. Mit fliegenden Fingern riss Shay Feuerholz aus ihrem Vorrat und stürzte zurück zu den Freunden, die die Lücke über ihm schlossen. Keinen Fehler jetzt! Feuer war kostbar. In diesem Moment mehr denn je! Shay riß die unhandlichen Fäustlinge herunter, dann nahm er die kleine, mit Kupferblech ausgekleidete Elfenbeindose vom Gürtel, und ließ ihren Deckel aufspringen. Vorsichtig blies er auf das Stück Kohle, das darin auf einem Bett aus feuchten Stofffetzen glimmte. Kam das Monster zurück, bevor er eine lebende Flamme hatte, mochte sein Flügelschlag oder der davon aufgewirbelte Schnee diesen Funken ersticken. Da, die erste Flamme. Mit der Linken tastete er nach dem Holz. Es war nass! Verdammt! Über ihm entbrannte der Kampf erneut. Das Geräusch von Stahl auf Horn jagte ihm einen ungewohnten Schauer der Furcht über den Rücken und jeden Moment rechnete er damit, dass sich gigantische Klauen in seinen Rücken bohrten. Das Holz musste einfach brennen! Wenn nur seine Hände nicht so zitterten. Er zwang sich ruhig durchzuatmen. Vorsichtig steckte er ein besonders dünnes, besonders harziges Ästchen in die Feuerschachtel und blies, hauchte dem rettenden Feuer Leben ein.
Wieder peitschten donnernde Flügelschläge den Schnee auf, der Schrei des Vogels gellte in Shays Ohren, und noch immer leckte das Flämmchen nur schwach am Holz, ohne sich davon zu nähren. Die Zeit lief ihnen davon – eine neue Stimme mischte sich in das Kreischen. Nicht Eirik, nicht Firas… Shays Kopf ruckte hoch, noch bevor er es recht begriffen hatte. Auf einem Felsen zu seiner Rechten stand wieder diese Gestalt, ein Schatten vor dem hellen Himmel.
Was tat sie da? Sie machte eine seltsame Bewegung, stiess beide Hände nach vorne, dem Vogel entgegen. Herrisch und ruckartig wie ein Befehl… und die Zeit selbst schien zu gefrieren. Wie in einem schrecklichen Traum sah Shay alles überdeutlich: die feinen Federn an der Brust des Vogels, die schuppige Haut an den zum Angriff vorgereckten Klauen, den hakenförmigen Schnabel - es war ein Adler! Eindeutig ein Adler, aber was für einer! Viel größer als jeder andere, den Shay jemals gesehen hatte. Seine Schwingen waren grau, ließen ihn eins werden mit der Dämmerung. Es war, als stürze sich der Abendhimmel selbst auf sie herab wie auf zitternde Kaninchen… mit einem Mal blitzte etwas auf, ein schimmernder Bogen verband die dunkle Gestalt auf dem Felsen mit dem rasenden Tier. Zugleich ein spitzer Schmerz an Shays Wange. Etwas hatte hatte ihn getroffen, aber er verschwendete keinen Gedanken daran. Starrte nur aus schreckgeweiteten Augen nach oben. Und der Adler brach seinen Angriff ab. Die mächtigen Schwingen schlugen wie wild, als versuche er vergeblich, in der Luft zu verhalten. Dann flatterte er unbeholfen zu Boden. Seine Beute, nur wenige Schritte von ihm entfernt, schien er vollkommen vergessen zu haben. Verwirrt drehte er den Kopf hin und her, spreizte die Flügel und faltete sie wieder zusammen.
Shay schlug das Herz bis zum Hals und für einen Moment verlor er die Gestalt aus den Augen. Dann war sie wieder da, sprang von seinem Felsen herab, direkt zu dem Vogel. Der achtete nicht mehr auf seine Umgebung, putzte sein Brustgefieder, als hätte er alles andere vergessen. Als verschwende er nicht einen Gedanken mehr an sie. Nicht an die drei Menschen, die vollkommen überrumpelt da standen, unfähig, sich zu rühren, und nicht an den Fremden. Dabei stand der nur einen Schritt von dem riesigen Tier entfernt und wartete. Wartete mit der Geduld des Jägers, einen Speer, nein, eine Harpune zum Todesstoß erhoben. Ohne jede Angst, bereit für den Moment, in dem der Vogel den Kopf wieder hob, seine empfindlichste Stelle blosslegte. Als habe er von dem mächtigen Vogel nichts zu befürchten. Als könne dieser Augenblick der Ruhe nicht schlagartig vorüber sein. Nur ein paar kräftige Flügelschläge und der Adler wäre wieder in der Luft, unerreichbar, unangreifbar, unbesiegbar. Shay hielt den Atem an, als der große Kopf plötzlich hochruckte. Mordlust flackerte erneut in den gelben Augen auf. Doch es war zu spät Der Fremde sprang vor, duckte sich unter dem tödlichen Schnabelhieb weg und stieß zu. Eine gezielte Bewegung, ein sauberer, glatter Stoß, der lange Erfahrung verriet. Blut spritzte hoch wie ein frischer heißer Geysir. Der Vogel schrie vor Wut und Schmerz, und Eis brach aus den Wänden ringsum. Er versuchte aufzufliegen, doch schon schwanden seine Kräfte. Nur der Schnee wurde von seinen wilden Flügelschlägen noch aufgewirbelt. Die rote Fontäne verebbte, der Vogel sank zurück, unfähig, den Gegner zu erreichen, der die Harpune mit eiserner Kraft festhielt. Noch einmal dieser Schrei, klirrend in der Dämmerung, und dann war alles still. Nichts mehr außer Shays eigenem Atem und dem Nachhall in seinen Ohren.
Der Fremde löste eine Hand von der Harpune und legte sie dem Vogel auf den Kopf. Für einige Atemzüge stand er regungslos, als lausche er auf etwas, als suche er den Blick der erloschenen Augen, dann zog er einen Dolch und schnitt dem Tier die Kehle durch.
Absolute Stille. Die Gestalt wischte ihren Dolch am Federkleid des Vogels ab, drehte sich um und verschwand zwischen den Felsen, ohne die drei Freunde auch nur eines Blickes zu würdigen. Als habe er sie nicht einmal bemerkt. Nur das tote Monster und der zerwühlte Schnee zeugten davon, dass da mehr gewesen war als ein Spuk, als ein Hirngespinst.
Abwesend rieb Shay seine schmerzende Wange. Unter seinen Fingerkuppen spürte er Eis. Auch sein Haar und seine Jacke waren getroffen worden, doch es war nicht viel. Einfach nur Wasser? Konnte das sein? Ein leises Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken und er wandte sich nach seinen Freunden um. Es war Firas gewesen, der sein Schwert zurück in die Scheide gesteckt hatte. Eirik dagegen hielt seine Klinge noch immer erhoben, starrte mit offenem Mund auf den toten Vogel vor ihnen. Erst als er die Blicke der anderen beiden auf sich spürte, ließ er die Waffe sinken. Sie wechselten einen ratlosen Blick.
„Was war das?“ fragte Eirik leise.
Keiner von ihnen hatte eine Antwort darauf. Firas ging wortlos zu dem toten Vogel hinüber und Shay berührte erneut seine Wange, wo ihn der todbringende Strahl des Fremden getroffen hatte. Ihn fröstelte. „Er hat ihn mit Wasser besiegt. Nicht Feuer, sondern Wasser“, sagte er heiser.
Firas fuhr mit den Fingern über das Gefieder am Hals des Vogels. „Hier ist alles nass.“ „Einfach nur Wasser?“ fragte Eirik ungläubig. „Wasser als Waffe?“
Shay zuckte die Achseln. Er hatte keine Antwort für Eirik. War es wirklich nur Wasser gewesen, oder war da mehr? Er erinnerte sich an den schimmernden Bogen, sein unwirkliches Glitzern und fürchtete sich auf einmal, den Gedanken zu Ende zu denken. Egal was es war, es hatte ihnen allen das Leben gerettet, daran gab es keinen Zweifel. Gerettet… er hob vorsichtig die Feuerdose auf und vergewisserte sich, dass die Kohle noch glühte. Das warme Lichtchen ließ ihn erleichtert aufatmen. Es war nicht mehr wirklich wichtig. Auch die anderen beiden trugen solch ein Schächtelchen bei sich und Zeit war nun genug, trotzdem schien es ihm bedeutsam, dass der lebende Funke nicht verloschen war.
Erst Firas’ vertraute Gestalt neben dem Vogel zeigte, wie riesig das Tier wirklich war. Gerade streckte er die Hände nach einer der beiden immensen Klauen aus, doch gleich darauf zog er sie unwillkürlich wieder zurück. Selbst im Tod schien Gefahr von dem Vogel auszugehen, große Kraft. Shay erinnerte sich daran, wie der Fremde dem sterbenden Tier die Hand auf den Kopf gelegt hatte und schauderte.
„Schaut euch dieses Biest an“, flüsterte Firas, „Allein die Klaue ist gut dreimal so groß wie meine Hand! Habt ihr schon jemals so einen großen Vogel gesehen?“
Eirik schüttelte den Kopf.
„Niemals“, antwortete auch Shay. „Ich hätte niemals geglaubt, dass es sie gibt.“
Firas nickte ungewohnt nachdenklich. „Ein Narichka“, sagte er leise. Das Wort klang kalt. Shays Atem stockte, als ihm bewusst wurde, dass dieser gerade vor ihren Augen getötet worden war.
„Ein Narichka?“ fragte Eirik.
„Riesige Vögel in den Legenden der Ishia“, erklärte Shay ohne den Blick von dem toten Wesen zu nehmen. „Man sagt, das Schlagen ihrer Schwingen ruft die wilden Eisstürme hervor.“
„Gar so unglaublich erscheinen diese Legenden nicht mehr, wenn man dieses Wesen sieht.“ Eirik trat zu ihnen neben den Vogel und für eine lange Zeit sagte keiner von ihnen mehr etwas. Shay spürte, wie das Gefühl der Bedrohung allmählich nachließ. Die Kraft war aus dem Tierkörper gewichen, vor ihnen lag nur noch ein Kadaver. Der Geist des Narichka war weitergewandert oder hatte sich einen anderen gesucht, um sich mit ihm zu vereinigen. Wieder fiel Shay die Geste des Fremden ein, bevor der dem Narichka die Kehle durchgeschnitten hatte. Wie mächtig musste er sein, dass er die Rache eines so starken Geistes nicht fürchtete… Oder hatte er gar den Geist seiner Beute eingeladen, sich mit ihm zu vereinigen? Um noch stärker zu werden?
„Was ist es?“ hörte Shay Eirik fragen. „Ein Adler?“
„Sein Körper ist der eines Adlers, bis auf die Größe.“ Firas‘ Stimme klang rau. „Aber sein Geist ist um vieles mächtiger. Ich habe noch nie davon gehört, daß einer getötet worden wäre. Ohne diesen Fremden…“ Er brach ab und als Shay überrascht aufblickte, sah er, dass Firas und Eirik respektvoll von dem Vogel zurückwichen, um die Beute für den freizugeben, der sie erlegt hatte und dem sie zustand: der Fremde war zurückgekommen.
—
Wieder erschien er wie aus dem Nichts. Es war dunkler geworden, er trug eine Lampe bei sich, und so war es das Licht gewesen, was zuerst Firas’ Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein kleines schwebendes Feuer, das der Fremde in der Linken hielt – dahinter verschwamm er so sehr mit der Umgebung, als sei er Teil des Schnees. Seine Kleidung, die Art wie er sein Haar trug, war anders, als Firas es jemals gesehen hatte. Er trug jetzt einen weißen Mantel aus dickem Fell, wahrscheinlich dem eines Eisbären. Eine weitere mächtige Beute… auch sie allein erlegt? Ohne sich weiter um die drei Männer zu kümmern, trat er zu dem Narichka. Er stellte die Lampe ab, zog ein Messer und erwärmte die Klinge in der Flamme. Sie flackerte für einen Moment höher, als er die Waffe herauszog, beleuchtete sein Gesicht, und Firas zuckte unwillkürlich zusammen. Fremd, geisterhaft, unmenschlich. Er weigerte sich, den Gedanken weiterzudenken. War er denn ein kleines Kind, das sich vom Spiel von Licht und Schatten ängstigen ließ? Es war der einfachste Trick jedes Schamanen und doch wäre er fast darauf hereingefallen, wie ein Narr. Er riss sich zusammen und sah weiter zu, während der Fremde in aller Ruhe begann, den Kadaver zu zerteilen und abzubalgen.
Firas konnte spüren, wie Shay neben ihn trat. „Was macht er?“ flüsterte sein kleiner Bruder. „Hat er uns wirklich noch nicht bemerkt? Ein so geschickter Jäger?“
„Vielleicht wartet er darauf, dass wir ihn ansprechen“, entgegnete Eirik. „Wir schulden ihm Dank, immerhin hat er unser Leben gerettet.“ Er wartete einen Moment vergeblich auf eine Reaktion. „Was meinst du, Firas?“
Firas antwortete nicht. Nochmals hakte der Freund nach und Firas musste ihn mit einem warnenden Zischen zum Schweigen bringen. Ihm Dank schulden, das Leben gerettet… Der Feuerschein hatte ihn nicht belogen! Der Fremde war wie lebendig gewordener Nordwind. Haare schimmernd wie Eis, in denen ein Lufthauch mit einer hinein geflochtenen Feder spielte. Augen, so schwarz wie der uralte Fels glühten im Feuerschein, wenn er sich darüber beugte. Um ihn herum zog sich die Nacht zusammen. Fremd. Fremd jenseits aller Geschichten. Nicht menschlich.
„Er ist ein Neshtia“, brachte Firas schließlich hervor. Das Wort brannte in seiner Kehle. Es laut zu hören, machte es noch entsetzlicher, auch wenn es kaum mehr war als ein Flüstern. Neshtia, Eisgeist. Kein Wunder, dass er sich vor dem Narichka nicht gefürchtet hatte! Bis heute alles nur alte Geschichten und jetzt…
Shay atmete scharf ein. Sein Blick war eine Mischung aus Zweifel und Unbehagen. „Was hast du gesagt?“
Firas sprach mit sanfter Stimme, leiser als jedes Flüstern. „Ein Neshtia, ein Eisgeist – und wir verdanken ihm unser Leben!“
Entsetzen traf seinen kleinen Bruder wie ein Schlag. Er riss die Hand hoch, legte die Finger in einer seltsamen Geste an die Wange. Die heftige Bewegung ließ den Fremden aufblicken.
Die schwarzen Augen richteten sich direkt auf Shay und fixierten ihn unverwandt. Dann sprang sein Blick zu Firas und zurück, der Fremde legte den Kopf auf die Seite, als denke er über etwas nach. Seine Augen verengten sich. Unmöglich zu sagen, was hinter ihrer Schwärze vorging. Shay ließ die Hand langsam wieder sinken. Er gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, doch Firas konnte spüren, dass diese Prüfung ihn frösteln ließ. Ihn selbst hatte der Blick bis jetzt nur kurz gestreift… in diesem Moment sah ihn der Fremde wieder an, ruhig, forschend. Nun war er an der Reihe. Bodenlose Augen, alt und ewig wie der schwarze Fels, der sternenlose Himmel bei Sturm. Firas spannte sich an, und ohne es selbst zu merken, verstärkte er den Griff um sein Schwertheft. Er würde standhalten. Er war keine leichte Beute.
Eine Bewegung auf seiner anderen Seite ließ Firas zusammenzucken. Eirik hatte einen Schritt nach vorne gemacht, aber er hielt sofort inne, als Firas warnend die Hand hob. Nur der Hauch eines Zeichens – nach all den Jahren, die sie zusammen gereist waren, genügte das. Firas wusste, dass der Freund bereit zum Kampf war, sollte es soweit kommen. Der Blick des Neshtia wanderte weiter zu Eirik, und der Naskyr erwiderte ihn offen und ohne Scheu. Er wusste nicht, was ein Eisgeist war, hatte nie die alten Lieder gehört. Aber Eirik hatte noch nie die Weisheit alter Männer gebraucht, um Gefahr zu erkennen. Darauf hatte Firas sich schon zuvor verlassen und würde es jederzeit wieder tun. Wenn nur Eirik nicht in jedem Fremden zuerst einen Freund sehen würde! Würde er erkennen, dass das, was dort vor ihnen im Schnee kniete, mächtiger war als alle Wesen, denen er jemals begegnet war? Gegen das der Narichka nicht mehr war als eine Feder im Wind?
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, dann bewegte sich der Neshtia plötzlich. Er stand auf, langsam und bedächtig, das Messer, mit dem er den Vogel zerteilt hatte, in einer Hand. Das Leder der Handschuhe über Firas’ Fingerknöcheln spannte sich und das leise Singen der Klinge in ihrer Scheide hallte überlaut in seinen Ohren, auch wenn es nicht mehr war als ein Flüstern im Wind.
Blut tropfte vom Messer des Eisgeistes in den Schnee. Er hatte sich nicht von der Stelle bewegt, keine Anstalten gemacht, anzugreifen. Und dann sprach er: „Adheyn. Wenn Euch etwas gefällt, nehmt es.“
Überrascht hielt Eirik den Atem an. Firas war nicht weniger erstaunt. Der Fremde sprach Ishia mit einer melodischen Stimme und einem eigentümlich singenden Akzent, aber er war klar zu verstehen, erstaunlich klar. Die Legenden berichteten davon. Es zu hören, war eine andere Sache.
„Was meint er?“ zischte Shay seinem Bruder zu.
„Frag nicht!“ antwortete Firas nur. Sein Blick war fest auf den Eisgeist gerichtet, ohne auch nur für einen Herzschlag zu weichen. Dieser Gegner war jenseits von allem, was sie jemals zu fürchten gewagt hätten auf dieser Reise. Mochte noch so freundlich klingen, was er sagte, und er noch so friedlich erscheinen, man tat gut daran, auf nichts zu vertrauen, wenn man einem gegenüberstand, nicht einmal den eigenen Sinnen… Firas duckte sich kampfbereit, als der Neshtia überraschend das Messer hob. Sein Instinkt sagte ihm im selben Moment, dass es kein Angriff war, aber das Misstrauen war stärker. Das Blut hatte die Aufschläge des weißen Fellmantels rot gefärbt, von unten von der flackernden Flamme beleuchtet, erschienen die Flecken unnatürlich lebendig. Wie in einem seltsamen Ritual legte der Eisgeist das Messer vor sich in den Schnee Er ließ den Blick nicht von ihnen dabei, als wollte er sicher gehen, dass sie ihn beobachteten. Die Spannung war beinahe unerträglich.
„Was will er?“ murmelte Firas.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Shay. Seine Stimme verriet sein Misstrauen gegenüber dem Eisgeist, seine Anspannung. Eine sinnlose Antwort auf eine Frage, die keine echte Frage gewesen war… Stille fiel zwischen sie, dann ergänzte Shay mit einem Mal leise: „Sei in jedem Fall vorsichtig.“
Vorsichtig… Firas hätte beinahe gelacht, resigniert und bitter, aber er beherrschte sich. Es spielte gar keine Rolle, was der Neshtia wollte. Was immer es war, er würde es bekommen. Sie konnten allenfalls versuchen, es so teuer wie möglich zu verkaufen.
Der Eisgeist hatte sich wieder aufgerichtet und wies seine jetzt leeren Hände vor. Firas sah das Blut auf den Handschuhen glitzern, wie eine Mahnung. Eine Erinnerung an das, was gerade geschehen war und an die Fähigkeiten dieses Wesens. Es dauerte eine ganze Weile, bis Firas bemerkte, dass es eine beschwichtigende Geste war, beruhigend sogar. Er zögerte, aber schließlich löste er die Hand von seinem Schwert, und Shay tat es ihm gleich. Was blieb ihnen anderes, als das Friedensangebot anzunehmen?
„Der Shonascoukha ist eine Gabe. Wenn Euch etwas gefällt, nehmt es.“
Auch diesmal war deutlich zu verstehen, was der Eisgeist sagte. Wieder nur ein fremdes Wort - er wandte den Kopf damit und sah auf den Kadaver neben sich hinunter, wie um zu verdeutlichen, wovon er sprach. Ihre Blicke folgten seinem.
„Er spricht Ishia!“ murmelte Eirik in diesem Moment, und seine Stimme ließ die Brüder zusammenfahren. Der Naskyr hatte nichts mehr gesagt, seit der Neshtia begonnen hatte zu sprechen, und er hatte sich auch nicht mehr gerührt. Noch immer lag seine Hand um den Schwertgriff, wenn auch mehr aus Überraschung als aus Furcht vor einem Angriff. „Was für ein Mensch ist das?“
„Er ist kein Mensch“, antwortete Firas ruhig. „Er ist ein Neshtia.“
Der Eisgeist sah sich wieder um, als er das Wort hörte. Firas hielt seinem prüfenden Blick regungslos stand, auch wenn es schwer fiel.
—
„Ich denke, wir können ihm trauen“, urteilte Eirik. „Zumindest macht er keinen gefährlichen Eindruck.“
Der Freund warf ihm einen Blick zu, der Eirik völlig überraschte. Warnend, zurechtweisend schon. Was hatte er denn gesagt? Der Fremde wirkte harmlos, nicht einmal wie ein Krieger. Er hatte kein Schwert dabei, die Harpune war eine Jagdwaffe, und das Messer, das er jetzt wieder aufnahm, war es auch. Seine Bewegungen verrieten lange Übungen, er wusste, was er tat, aber letztendlich war er nur ein Jäger. Wie sollte er drei erfahrenen Kriegern gefährlich werden? Er schnitt sich nur vom Fleisch seiner Beute etwas ab, genug für ein üppiges Mahl.
Es dampfte schwach, als er es auf den Schnee legte, das glänzende Rot des Fleisches wurde zusehends blind. In dieser Kälte gefror einfach alles. Firas beobachtete es völlig bewegungslos und so entschied auch Eirik nichts weiter zu unternehmen. Sein Freund hatte den Fremden einen Geist genannt und ihm war es ernst gewesen mit seiner Warnung, so viel hatte er verstanden, auch wenn er selbst nicht an Geister glaubte. Vielleicht war der Fremde kein Mensch eines Volkes, das sie kannten, aber ein Geist?
Er schien jetzt mit seinen Bemühungen zufrieden, denn er steckte das Messer ein und strich sich die Haare aus der Stirn, ohne sich um das Blut an seinem Handschuh zu kümmern. Sein Blick glitt suchend über die Umgebung, streifte Firas, Shay und Eirik ohne jedes Interesse und blieb schließlich an ihrem Boot hängen und dem kleinen Rest ihres Holzvorrates. Ohne zu zögern oder gar um Erlaubnis zu fragen, ging er hinüber und begann, die Scheite aus dem Boot zu holen. Eirik sah Firas fragend an, aber der Freund bemerkte es nicht. Er starrte wie gebannt auf dem Fremden, der hier einfach so in ihren Sachen wühlte, nicht einmal wütend, nur angespannt. Und noch etwas lag im Gesicht des Freundes. Eirik stellte verblüfft fest, dass es Hilflosigkeit war.
Firas machte einen widerstrebenden Schritt auf den Fremden zu und blieb dann doch wieder stehen, zögerte. Endlich fasste er sich ein Herz. „Entschuldige“, sagte er. Bestimmt, aber ungewohnt freundlich, und seine Stimme klang rau. Noch nie hatte Eirik ihn so nervös gesehen. „Das gehört uns.“
Der Fremde hielt inne und sah sich um, dann richtete er sich auf und wandte sich Firas zu. Es lag keine Drohung in seiner Haltung, und dennoch schien es dem Ishia sichtbar schwer zu fallen, dem Blick dieser dunklen Augen standzuhalten. Sie wirkten ruhig, allenfalls erstaunt über diese Einmischung, ansonsten aber vollkommen ausdruckslos. Undurchdringlich.
„Gehören?“ wiederholte der Fremde. Aus seinem Mund und mit seinem singenden Akzent klang das Wort eigentümlich fremd.
„Ja“, antwortete Firas. „Es gehört uns. Es ist nicht für andere. Niemand darf es nehmen.“
Eirik sah, wie langsam das Verstehen in die Augen des Fremden trat. Sein Gesicht blieb unbewegt. „Du meinst, es ist dein Eigentum?“
„Genau“, Firas nickte. „Unser Eigentum.“
Der andere lächelte. Es wirkte milde, sogar nachsichtig.
„Eigentum“, wiederholte er belustigt. „Adheyn.“
Eirik warf Firas einen fragenden Blick zu, aber der Freund beobachtete noch immer den Fremden, als wolle er sichergehen, dass ihm keine noch so kleine Bewegung entging. Das Wort hatte er schon einmal benutzt… In diesem Moment drehte sich der Fremde um und ging in seiner Spur zurück zu dem Kadaver. Dort sammelte er alles wieder ein, was er mitgebracht hatte. Das Bündel, die Lampe… er rammte die Harpune in das Stück Fleisch und wuchtete es so auf seine Schulter.
„Bringt das andere“, befahl er völlig selbstverständlich. „Es ist mehr als genug.“
Keiner von ihnen rührte sich, aber Shay nickte Eirik zu. „Er will seine Beute mit uns teilen.“
„Es ist gefährlich, mit einem Eisgeist zu teilen.“ Firas hatte noch immer keinen Blick von dem Fremden gelassen, gerade so, als beobachte er ein sprungbereites Raubtier. Der hingegen schien das nicht einmal zu merken. Er sah die drei Söldner über die Schulter an, offenbar überrascht davon, dass sie sich noch immer nicht bewegt hatten. „Wir werden essen“ Es klang, als versuche er, ihnen damit Mut zu machen. „Kommt.“
Er stapfte durch den Schnee auf die Eisklippe zu und verschwand dahinter. Eirik sah ihm nach, bis er außer Sicht war.
„Ihr glaubt wirklich, dass er ein Geist ist?“ fragte er dann. „Mir erscheint er sehr real.“
„Er ist ein Eisgeist“, schnappte Firas. „Es ist ihre Art, real zu erscheinen.“
„Hört auf!“ bat Shay, bevor Eirik darauf antworten konnte. „Das bringt uns nicht weiter. Firas hat Recht, er ist ein Eisgeist, er hat uns das Leben gerettet und er hat gesagt, wir sollen den Rest des Vogels mitbringen und dann mit ihm essen.“ Er machte eine Pause, als warte er auf eine Antwort, obwohl er keine Frage gestellt hatte. Als keine kam, sah er sich nach seinem Bruder um. „Firas?“
Firas sah sich nicht um, den Blick noch immer auf den Kadaver gerichtet und auf etwas dahinter, weit weg und unsichtbar. „Wir sollten ihn nicht warten lassen.“
„Erst möchte ich wissen, um was es hier eigentlich geht.“ Eirik wurde allmählich wütend. Er musste sich anstrengen, um ruhig zu bleiben. „Was ist ein Eisgeist und was an ihnen ist so schrecklich? Mir erschien er eher harmlos.“
„Er hat den Narichka getötet“, erinnerte Firas seine Gefährten. „Er ist nicht harmlos.“
„Er wusste, wie“, antwortete Eirik. „Hätten wir das gewusst, hätten wir das ebenso gekonnt.“
„Er war alleine.“
„Jeder von uns könnte das auch alleine!“
„Ich erkläre es!“ unterbrach Shay, bevor sich das Gespräch weiter aufschaukeln konnte. „Aber wir sollten anfangen, den Vogel zu zerteilen, bevor er einfriert.“
Eirik erwartete halb, dass Firas widersprechen würde, doch er tat es nicht. Stattdessen zog er wortlos den Dolch und ging zu dem Vogel hinüber. Shay zuckte die Achseln und folgte ihm, und so tat Eirik es ihm gleich.
„Der Balg ist riesig, aber mit etwas Mühe können wir ihn wohl tragen“, sagte Firas, noch bevor sie ihn erreicht hatten. „Vielleicht sollten wir auch einen der größeren Knochen mitnehmen. Vogelknochen geben gute Pfeilspitzen ab, und bei dieser Größe könnte man fast schon einen Speer daraus machen.“
„Vergiss das Fleisch nicht“, mahnte Shay halb im Scherz. Eirik lächelte darüber, keiner von ihnen würde vergessen, soviel Fleisch mitzunehmen, wie der Vogel zu geben hatte. Nahrung war wichtig im Griff des Eises. Auch sie zogen ihre Dolche, und zu dritt machten sie sich an die Arbeit. Sie wurde bereits mühselig, denn das Fleisch fror immer weiter ein.
„Wir nennen dieses Volk die Eisgeister“, begann Shay nach einer Weile, „oder auch die Neshtia. Sie sind mächtige Geister, so machtvoll, dass sie sich selbst Körper erschaffen können, oder uns wenigstens glauben machen können, dass sie welche haben. Ein Eisgeist kann dir alles vorgaukeln und du würdest es für wahr halten. Sie treten immer nur einzeln auf oder in kleinen Gruppen und manchmal kommen sie zu den Menschen, um Dinge zu tauschen.“
„Warum tun sie das?“ fragte Eirik. „Wenn sie so mächtig sind und außerdem Geister…“
Shay zuckte die Achseln. „Wir wissen es nicht. Aber sie verändern sich niemals, sehen immer gleich aus, auch wenn viele Jahre zwischen ihren Besuchen liegen. Man sagt, dass sie in den Ahnbergen leben und dass sie das Eis bewahren. Es heißt auch, dass es ohne sie kein Eis gäbe und wir in einem ewigen Sommer leben könnten.“
Eirik dachte über das Gehörte nach. Bis jetzt klang es tatsächlich nur nach Legenden. Dinge, die fremden Völkern nachgesagt wurden, wenn man sie nicht kannte. Und es klang nicht so, als würden sie sich Sorgen machen müssen. Wenn sie freundlich zu dem Neshtia waren, würde er ihnen nichts tun. Immerhin hatte er ihnen das Leben gerettet.
„Sie strafen, wenn sie es für richtig halten“, sagte Shay, als Eirik diesen Gedanken aussprach. „Sie sind mächtig genug, jeden Menschen zu verschlingen… du hast gesehen, was er mit dem Narichka gemacht hat.“
„Mit dem Geist eines Menschen bekommen sie auch all sein Wissen“, ergänzte Firas. „Niemand in deiner Familie, in deinem Stamm ist dann noch sicher, wenn so ein Neshtia auf Rache aus ist.“
„Bis jetzt haben wir ihm aber noch nichts getan, oder?“ Es klang härter, als Eirik es beabsichtigt hatte. Firas half ihm nicht weiter mit seinen Warnungen und seiner Wut. Auch jetzt knurrte der Freund statt einer Antwort nur, stand auf und steckte seinen Dolch ein.
„Ich hole die Axt“, sagte er nur. Weder Eirik noch Shay antwortete.
„Wir haben etwas viel Schlimmeres getan“, sagte Shay leise, als Firas außer Hörweite war. „Wir haben uns von ihm das Leben retten lassen.“
„Das ist schlimmer?“
Shay nickte und etwas daran ließ in Eirik ein ungutes Gefühl aufsteigen. Shay hatte sich vernünftig verhalten bis jetzt, nicht so ablehnend und verbittert wie Firas, aber er spürte deutlich, dass da auch für den jüngeren Bruder mehr war. Shay hatte Angst und das allein war Grund zur Furcht.
„Die Neshtia sehen in einem geretteten Leben eine Schuld.“ Shay sagte das langsam, beinahe vorsichtig. „Es heißt, dass man mit großer Belohnung rechnen kann, wenn man einem der ihren das Leben rettet, aber es bedeutet auch, dass jetzt wir in seiner Schuld stehen. So lange, bis wir ihm einen ähnlich großen Dienst erweisen konnten, der uns loskauft. Tut man das nicht… wie Firas schon sagte. Sie machen auch vor den Familien nicht halt.“
Eirik starrte Shay eine ganze Weile einfach nur an, während der weiter an dem Balg des Vogels arbeitete.
„Und wenn man die Schuld nicht begleichen kann?“ fragte er tonlos.
„Dann muss man ihn so lange begleiten, bis man es kann.“
„Wir wären also so etwas wie seine Leibeigenen?“ vergewisserte sich Eirik. Er musste dafür ein Wort aus dem Belidischen benutzen, denn in Ishia, der Umgangssprache unter ihnen, gab es keines.
„Nicht ganz“, wehrte Shay ab. „Er kann uns zu nichts zwingen. Außer, ihm zu folgen, bis die Schuld beglichen ist.“
Eirik lachte laut auf. Es war keine Heiterkeit darin, eher Fassungslosigkeit. Shay lächelte als Antwort, ohne aufzusehen. Es war ein resigniertes Lächeln.
„Du glaubst es?“ fragte Eirik schließlich. „Du glaubst, dass dieser Neshtia ein Geist ist und nicht aus Fleisch und Blut?“
Shay wich Eiriks Blicken aus. „So sagen es die alten Lieder.“ Dann, als spüre er, dass dem Freund damit nicht geholfen war, riss er sich zusammen und sah ihm in die Augen. „Ich weiß es nicht“, fügte er leiser hinzu.
„Probieren wir es aus“, schlug Firas vor. Er war wieder herangekommen, und seine Stimme war reine, bittere Herausforderung. „Lasst uns das Risiko doch eingehen. Gehorchen wir nicht und sehen, was passiert.“
Shay senkte den Kopf und auch Eirik schwieg. Firas glaubte den Legenden, seine Aufforderung war eine Einladung zum Spiel mit dem Tod. Mehr noch, zu einem Spiel, in dem nicht nur ihr eigenes Leben der Einsatz war. Hatte er recht… Eirik dachte an Alessa und die Kinder und sein Herz krampfte sich zusammen. Er glaubte nicht an Geister, aber wenn nur die geringste Möglichkeit bestand, dass die Legenden einen wahren Kern enthielten, dann würde auch die große Entfernung sie nicht schützen. Er konnte das nicht auf sich nehmen. Es war keine Frage dessen, ob er den Legenden glaubte.
„Er teilt seine Beute mit uns“, sagte er langsam, „und er hat uns eingeladen, mit ihm zu essen. Ist das eine Falle?“
Shay und Firas sahen einander an, dann schüttelten sie die Köpfe. Wenigstens etwas, was eindeutig war, dachte Eirik bitter.
„Was ist mit Feinar?“ fragte er weiter.
„Der muss auf jeden Fall warten“, antwortete Firas. „Die Nacht ist noch lang und nach diesem Kampf brauchen wir eine Rast. Wir werden vor Torbinga wieder in ein Gefecht geraten.“
—
Er hatte das Lager erst an diesem Abend aufgeschlagen, es war nicht gedacht für einen längeren Aufenthalt. Es war nur wenige Schritte vom Wasser entfernt, gut verborgen zwischen den Eisklippen, das Feuer gerade groß genug, um etwas zu essen aufzutauen. Das Licht der Flammen tanzte rot und golden auf dem Schnee, eine schwache Ahnung des Sonnenlichts, das sich für die lange Nacht zurückgezogen hatte. Nicht genug Feuer, um sich für die Nacht zu wärmen, doch Dándrren wusste, seine Kleidung und die Felle würden ihn schützen. Es war nur eine Nacht. Eine klare, stumme Nacht. Im Mondlicht lag keine Musik.
Die Menschen suchten sich schwer beladen ihren Weg durch den Schnee. Dándrren beobachtete, wie sie in die Senke hinab rutschten. Drei waren sie, und so verbreiterten sie seine Spur und zerbrachen mehr von der makellos glänzenden Oberfläche. Jeder von ihnen war schwer beladen, blutige Last, die ihre eigene glitzernde Fährte hinterließ. Sie alle waren groß gewachsen, mit den groben, gleichförmigen Gesichtszügen der Menschen und ihren blassen, farblosen Augen. Alle trugen sie Leder: enge Hosen und weite, gegürtete Hemden, dazu pelzbesetzte Stiefel, die bis zu den Knien reichten. Alle waren sie mit Kriegswaffen behängt, alle waren sie blond. Krieger, von denen zwei ihre Haare lang und gebunden trugen, die des dritten waren dagegen kurz geschnitten. Abgesehen von diesem Merkmal würde es Dándrren schwer fallen, sie auseinanderzuhalten, wenn nicht gar unmöglich, doch das war nicht von Bedeutung. Sie stapften heran, viele Verse später, als er sie erwartet hatte, doch sie kamen.
Eine Seele für eine Seele. Jede Tat muss abgegolten sein. Das älteste Lied von allen warnte davor, das Gleichgewicht zu stören. Es hatte ihn gezwungen zu helfen, jetzt band es ihn an jene drei Menschen. Sie würden seine Reise langsamer machen. Das ließ sich nicht ändern, also versuchte er, es ohne Ärger hinzunehmen.
Die Menschen luden ihre Last ab und Dándrren sah den Balg des Shonascoukha, außerdem Fleisch und Knochen. Die Wahl von Jägern: Waffen und Nahrung. Er war überrascht, dass sie offenbar keine der Krallen genommen hatten oder gar die Zunge des großen Vogels des Nordens. Für solche Andenken waren die Menschen auf den Märkten sonst immer bereit, viel im Austausch zu geben, ob Getreide oder bunt schillernde Stoffe. Dándrren hatte immer geglaubt, dass Dinge dieser Art für Menschen einen geheimnisvollen, besonderen Wert haben mussten.
Der mit den kurzen Haaren kam als erster heran. Der Schein der Flammen enthüllte, dass sein Hemd nicht aus Leder war, sondern aus gewebter Wolle, ganz anders als die Kleidung seiner Gefährten. Auch die Farbe war ungewöhnlich, ein tiefes Grün, wie Dándrren es noch nie gesehen hatte. Es machte das Hemd noch fremder als das Material allein. Ob die Farbe eine Bedeutung hatte, den Kurzhaarigen kennzeichnen sollten? Er war es, der vorausging. Er kam halb um das Feuer herum, um es nicht zwischen sich und Dándrren zu lassen, während die anderen beiden einen größeren Abstand wahrten. Der Mensch zögerte einen Moment, bevor er es wagte, die Stimme zu erheben.
„Danke, dass Ihr Euer Mahl mit uns teilt“, sagte er.
Dándrren antwortete nicht. Er sah zu dem Mann hinauf und musterte sein Gesicht einmal mehr interessiert. Es war unfassbar, wie sehr Menschen einander glichen.
„Wir haben den Rest Eurer Beute mitgebracht. Sie gehört Euch.“ Der Kurzhaarige zögerte kurz. „Sie ist Euer Eigentum. Wir haben es Euch gebracht.“
Wieder dieses Wort. Dándrren lächelte. Das Wort war ihm immer fremd geblieben, ohne Bedeutung und Gefühl, wie oft er es auch von Menschen gehört hatte. Es war eine leere Hülle, ein Wort ohne etwas, was es bezeichnete, und das amüsierte ihn immer wieder. „Eigentum“, sagte er vergnügt, um den Klang noch einmal zu kosten.
Die drei Menschen tauschten schnelle Blicke, rührten sich aber nicht, auch nicht, als Dándrren begann, weitere Teile des Fleisches zurechtzuschneiden. Sie beobachteten ihn nur stumm. Ob sie nicht wußten, wie man ein Essen zubereitete und was man dafür brauchte? Er sah sie an und deutete auf den Kessel, der nun leer neben dem Feuer stand, doch auch das hatte keinen Erfolg. Sie waren wie Kinder, denen man alles erklären musste.
„Nehmt Schnee.“ Dándrren legte das Messer beiseite und nahm eine Hand voll des weißen Pulvers auf. „Dann Sisyayn.“ Er wies mit der freien Hand auf das Feuer. „Wasser.“