Stille Kommunikation - Marcel Pieles - E-Book

Stille Kommunikation E-Book

Marcel Pieles

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Beschreibung

Smartphone, Internet, Satellit – mal ehrlich, wer kommuniziert heute noch per Post? Und weshalb, fragt sich FBI-Agent Cobbs, als er zwei identische Briefe untersucht, frei von Fingerabdrücken und DNA-Spuren. Ihr Inhalt: eine handgeschriebene Zahlenreihe mit den Koordinaten von New York City. Cobbs weiß sofort: Das heißt nichts Gutes. Waghalsige Ermittlungen und zwielichtige Hinweise führen ihn nach Deutschland, Frankreich, Brasilien und weiter, wobei gnadenlos im Hintergrund ein Countdown herunterzählt, von dem nur ein Mann weiß, was die Welt an Tag X in Atem halten wird.

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Marcel Pieles

Stille Kommunikation

Dachbuch Verlag

1. Auflage: Oktober 2022Veröffentlicht von Dachbuch Verlag GmbH, Wien

ISBN: 978-3-903263-49-9EPUB ISBN: 978-3-903263-50-5

Copyright © 2022 Dachbuch Verlag GmbH, WienAlle Rechte vorbehalten

Autor: Marcel Pieles

Lektorat: Nikolai UzelacKorrektorat: Rotkel e. K.Satz: Daniel UzelacUmschlaggestaltung: Katharina NetolitzkyDruck und Bindearbeiten: Rotografika, SuboticaPrinted in Serbia

Besuchen Sie uns im Internet:www.dachbuch.at

TEIL 1

Die Uhr ticktoder Der (verzweifelte) Wettlauf gegen die Zeit

Berlin, noch 54 Tage

Wieder war der Brief unbeantwortet geblieben – das geschah jetzt schon zum zweiten Mal, was sehr ungewöhnlich war. Vor vier Wochen hatte Thomas den Brief an die übliche Adresse in den USA geschickt und keine Antwort erhalten, ebenso wenig wie auf den zwei Wochen darauf. In der Regel kam spätestens nach einer Woche ein leerer Umschlag zurück. Das war das Zeichen, dass sein Brief den Empfänger erreicht hatte.

Da er sich diesen Umstand nicht erklären konnte, beschloss er, Christoph zu schreiben, wie immer ohne Angabe eines Absenders. Auch musste er darauf achten, keinerlei Spuren zu hinterlassen, wie es ihm Christoph wiederholt eingebläut hatte. Er fand ihn sehr pedantisch, in dieser Hinsicht fast schon paranoid. Alles, was mit den zu verschickenden Briefen zu tun hatte, sollte er mit Handschuhen durchführen, das Papier und den Briefumschlag zusätzlich mit einem Mikrofasertuch abwischen und auf keinen Fall die Briefmarke mit der Zunge anlecken.

Er dachte daran zurück, wie er sich vor drei Jahren auf die Zeitungsannonce gemeldet hatte, mit der Christoph jemanden für einen guten Nebenverdienst für leichte Schreibtätigkeiten gesucht hatte. Er hatte ihn seither zweimal getroffen, aber beide Male hatte Christoph nichts von sich preisgegeben. Dafür hatte er das Gefühl, dass Christoph alles über ihn wusste. Er war sein Bote und bekam tausend Euro für jeden Brief, den er, nachdem er ihm von Christoph ohne Absenderangabe zugesandt worden war, an eine Adresse in den USA weiterleitete. Es war leicht verdientes Geld, und er hielt sich immer penibel an die Anweisungen.

So konnte Thomas ein sehr gutes Leben führen, ein viel Besseres, als es ihm ohne diesen Nebenverdienst möglich gewesen wäre, nur mit seinem Gehalt von der Arbeit im Schichtbetrieb in der kleinen Pharmafirma, die Arzneimittel herstellte. Vor sechs Jahren hatte der mittlerweile sechsundzwanzigjährige Junggeselle eine Ausbildung zum Pharmakanten absolviert und war trotz der kleinen Verfehlungen, die er sich in seiner Ausbildung hin und wieder geleistet hatte, in der Firma fest angestellt worden. Obwohl er das Abitur mit einer guten Zwei abgeschlossen hatte, war er zu faul zum Studieren gewesen und hätte dann ja außerdem kein Geld verdient. Wenn er am Wochenende zum Feiern in Bars und Klubs ging, musste er immer schmunzeln, wenn er sah, wie manche Leute den ganzen Abend mit fünfzig Euro auskommen mussten. Sein persönlicher Rekord waren einmal siebenhundert Euro gewesen, die er verprasst hatte.

Er zog sich die Latexhandschuhe an, die er in seiner Firma hatte mitgehen lassen, und schrieb sehr langsam und sorgfältig die Ziffernreihe 6.256.810.000 auf ein Blatt Papier. Diese Zahl war der Code für ihren vereinbarten Treffpunkt für den Fall, dass er mit Christoph in Kontakt treten musste. Er wischte das Blatt mit einem Mikrofasertuch ab und steckte es in einen Briefumschlag. Anschließend schrieb er das Postfach in Freiburg auf den Umschlag, frankierte diesen mit einer Briefmarke, die er zuvor mit Wasser befeuchtet hatte, und steckte ihn zusammen mit dem Mikrofasertuch in seine Jackentasche. Danach suchte er im Internet die nächste Bahnverbindung nach Freiburg heraus und gab als Zwischenhalt in die Suche »Paris« ein. Er entschied sich schließlich für den Nachtzug mit Weiterfahrt am nächsten Tag.

Erst 17.05 Uhr, dachte er, holte seinen Koffer aus dem Schrank, packte Sachen zum Wechseln für eine Woche hinein und bestellte sich ein Taxi für achtzehn Uhr. Es würde ihn innerhalb von knapp dreißig Minuten zum Berliner Hauptbahnhof bringen. Bevor er die Wohnung verließ, unterschrieb er die vorbereitete Krankmeldung und steckte sie ebenfalls in die Jackentasche.

Auf dem Weg zum Bahnhof ließ er sich zunächst zu seiner Arbeitsstelle fahren, was kein großer Umweg war, um die Krankmeldung bei der Firma einzuwerfen. Die Krankmeldungen hatte er sich vor einiger Zeit im Internet bestellt, und bis jetzt war es in der Personalabteilung nicht aufgefallen, dass sie gar nicht echt waren und er sie mit einer unleserlichen Unterschrift versehen hatte.

Am Bahnhof kaufte er sich das Ticket für den herausgesuchten Nachtzug im Schlafwagen nach Paris. Knapp zweihundert Euro war ein stolzer Preis für eine Zugfahrt, aber er wollte unbedingt liegend schlafen. An seine Fahrt im Nachtzug nach Wien auf einem Sitzplatz konnte er sich noch allzu gut erinnern.

Nach dem Abendessen an einem Imbiss begab er sich zum Gleis, wo der Zug nach Paris bereits wartete. Er stieg in den dritten Wagen und ging direkt zu seinem Abteil, verstaute den Koffer unter dem Sitz und schaute auf dem ausgelegten Reiseplan nach der besten Möglichkeit, unterwegs den Brief einzuwerfen. Laut Reiseplan würde der Zug in Hannover einen zwanzigminütigen Aufenthalt haben, den er dafür nutzen würde.

Er hatte sich etwas zu lesen mitgenommen, und so verging die zweieinhalbstündige Fahrt nach Hannover wie im Flug. Allerdings schreckte ihn die Durchsage kurz vor der Ankunft einigermaßen auf, denn da der Zug mit sieben Minuten Verspätung ankommen würde, blieben ihm nur dreizehn Minuten Zeit, um einen Briefkasten zu finden. Wenn er aber den Brief erst in Paris einwarf, wäre nicht gewährleistet, dass er rechtzeitig in Freiburg ankäme, und Christoph brauchte ja eine gewisse Vorlaufzeit. Jetzt verfluchte Thomas dessen Vorsichtsmaßregel, auf jegliches elektronische Kommunikationsmittel zu verzichten. Wie einfach wäre es gewesen, ihn vom Smartphone aus anzurufen oder ihm per Messengerdienst eine Nachricht zu schicken! Immerhin konnte er auf dem Handy vorab den nächstgelegenen Briefkasten am Bahnhof suchen. Laut App lag der etwas außerhalb, also musste er sich beeilen. Ansonsten stünde ihm eine ungemütliche Nacht am Bahnhof bevor. Den Koffer würde er im Zug lassen. Er musste es einfach schaffen.

Bereits fünf Minuten vor der Einfahrt in den Bahnhof stand er an der Tür bereit. Die paar Minuten fühlten sich an wie eine Ewigkeit, und die Nervosität ließ seinen Puls nach oben schießen. Jede Sekunde zählte. Zu allem Überfluss fuhr der Zug im Schneckentempo in den Hauptbahnhof ein, und dann dauerte es eine Ewigkeit, bis die Türen sich endlich öffneten.

Er sprang mit dem Smartphone in der Hand aus dem Zug, rannte die Treppen in Richtung Bahnhofshalle hinunter und ließ sich per GPS vom Display zum Briefkasten leiten. Er war nicht gerade sehr fit, und sein Puls raste, als er ankam, aber wenigstens wäre die Abendleerung um 22.30 Uhr, also ginge der Brief heute noch auf den Weg nach Freiburg. Er wischte den Umschlag nochmals mit dem Mikrofasertuch ab und warf ihn ein. Fünf Minuten hatte er bis hierher gebraucht, also blieb für den Rückweg etwas mehr Zeit und er musste nicht ganz so schnell rennen. Als er die Bahnhofshalle wieder erreichte, fiel ihm direkt ein anderer Briefkasten ins Auge, der von seiner App nicht angezeigt wurde. Ich werde zu alt für so einen Stress, dachte er.

Wieder im Zug musste er erst einmal runterkommen und sich den Schweiß abwischen, kühlte sich dann am Waschbecken ab, machte sich etwas frisch und begab sich in den Speisewagen. Mit einer kalten Flasche Bier setzte er sich ans Fenster und beobachtete die vorbeiziehenden Lichter der kleinen Städte und Orte entlang der Bahnschienen. Nachdem er noch ein zweites Bier getrunken hatte, kehrte er zurück ins Abteil, wo sein Bett für die Nacht schon vorbereitet worden war. Es sah sogar sehr bequem aus, und der Liegetest war vielversprechend. Jetzt hatte er etwas mehr als acht Stunden Zeit bis Paris.

Er zog sich aus, stapelte seine Sachen ordentlich auf den Sitzplatz, putzte sich die Zähne und legte sich hin. Nach Schlafen war ihm allerdings nicht zumute. Er hatte noch zu viel Adrenalin im Körper und ihm schossen immer wieder dieselben Gedanken durch den Kopf – immer wieder die eine Frage: Warum blieben die Antworten auf die Briefe aus? Nach einer Weile merkte er, wie das leichte Schaukeln des Zuges ihn dann doch schläfrig machte.

Mit zehn Minuten Verspätung fuhr der Zug in Paris ein, aber da der Anschlusszug nach Freiburg ohnehin erst in gut zwei Stunden abfahren würde, nahm er sich die Zeit, in einem kleinen Bistro außerhalb vom Bahnhof ausgiebig zu frühstücken. Er liebte die Baguettes in Frankreich – knusprig, aromatisch und herzhaft belegt, nicht so ein weiches Zeug wie in Berlin. Er bestellte sich ein Salami-Käse-Baguette, einen frisch gepressten Orangensaft und einen Kaffee Americano und setzte sich vor dem Bistro in die Sonne. Es schmeckte vorzüglich, und während des Essens beobachtete er die vielen Menschen, die auf ihrem Weg zur Arbeit hektisch vorbeieilten. Noch war die Luft kühl an diesem Sommertag, aber das würde sich laut Vorhersage noch ändern.

Eine halbe Stunde vor der Abfahrt kaufte er sich das Ticket nach Freiburg über Basel. Der TGV war sehr voll, und da er keinen freien Sitzplatz fand, setzte er sich kurzerhand im Einstiegsbereich auf den Boden. Zumindest bis nach den ersten Halten würde es eine unbequeme Fahrt werden.

Der Zug kam pünktlich in Basel an, und der ICE nach Freiburg wartete bereits auf dem gegenüberliegenden Gleis. Als Thomas den klimatisierten Zug verließ, traf ihn fast der Schlag. Die Luft in Basel war sehr warm, und er beeilte sich, in den ICE einzusteigen, in dem jedoch dieselbe Temperatur herrschte wie auf dem Bahnsteig. Er hatte keine Sitzplatzreservierung, aber das war auch nicht nötig. Er fand ein freies Sechserabteil für sich allein. Mit einer kurzen Durchsage gab der Zugbegleiter bekannt, dass die Klimaanlage nicht funktionierte, und entschuldigte sich für die dadurch auftretenden Unannehmlichkeiten. Thomas fächelte sich mit einer ausliegenden Zeitschrift die ganze Fahrt über Luft zu, um den Aufenthalt erträglicher zu machen, und suchte sich nebenbei über eine App ein kleines Hotel in Freiburg direkt am Bahnhof, in dem er gleich für vier Nächte ein Zimmer buchte. Bis Freitagmittag würde er ein Leben als Tourist führen, mit etwas Sightseeing und gutem Essen.

Gaithersburg, noch 53 Tage

Für Steven Cobbs, Fallanalytiker beim FBI, war es ein typischer Montagmorgen – fast, bis auf die Tatsache, dass er am Abend zuvor noch spät eine Mail von seinem Chef mit der Aufforderung erhalten hatte, am Morgen direkt um neun Uhr in dessen Büro zu erscheinen.

Sein Wecker klingelte pünktlich um 4.30 Uhr.

»Denk gar nicht erst daran, die Schlummertaste zu drücken!«, mahnte ihn Vanessa.

Dreimal die Woche stand er zu dieser unchristlichen Zeit auf, um joggen zu gehen, weil er es abends sowieso meist nicht schaffte. Entweder wurde es im Büro spät oder es standen andere Verpflichtungen auf dem Plan – Elternabende, Baseball mit seinem zehnjährigen Sohn oder was auch immer.

Steven musste lächeln. Er küsste seine Frau und flüsterte ihr ins Ohr: »Gut, dass du so hohe Ansprüche an mich stellst, Schatz, steh bitte noch nicht auf.«

»Ganz sicher nicht«, antwortete sie und verkroch sich unter die Decke.

Er seufzte, machte sich fertig und zog um 4.45 Uhr die Haustür hinter sich zu. Seine Runde führte ihn in den Park. Etwa neunzig Minuten würde er unterwegs sein – anderthalb Stunden hätte er also zum Joggen und Meditieren. Die Luft war noch kühl, und seine Augen gewöhnten sich schnell an das diffuse Licht der Morgendämmerung. Wie ruhig es noch war, und wie normal. Er traf dieselben Menschen wie immer: ein paar andere Jogger, die er mit einem kurzen Handzeichen grüßte, ein paar Hundebesitzer, die meist völlig schläfrig ihre Hunde Gassi führten. Es könnte schön sein, sich selbst einen Hund zuzulegen, aber schon aus Zeitgründen käme das nicht infrage, da war er sich mit Vanessa einig.

Sein Atem hatte sich normalisiert und die Beine liefen wie von selbst. Er merkte, wie er lächelte. Er konnte sich doch glücklich schätzen. Er war siebenundvierzig Jahre alt, Vater zweier Kinder und mit seiner Jugendliebe verheiratet – glücklich verheiratet. Sie waren seit der Highschool zusammen, hatten aber erst geheiratet, als das erste Kind unterwegs war. Seinen streng christlichen Schwiegereltern war die Hochzeit so lächerlich wichtig gewesen. Wenn er nur daran zurückdachte, was für ein Skandal es für sie gewesen war, als ihre Tochter als unverheiratete Frau schwanger geworden war. Er genoss den Lauf, und die Zeit verging wie im Flug, auch wenn nach und nach wieder die Schmerzen in der linken Wade einsetzten. Vielleicht brauchte er neue Schuhe, oder sein Laufstil hatte sich geändert.

Um 6.45 Uhr war er geduscht und rasiert und ging hinauf, um Claire zu wecken, seine zwölfjährige Tochter, die allerdings bereits wach im Bett lag und mit ihrem Smartphone beschäftigt war. »Guten Morgen, mein Schatz! Ich weiß gar nicht, wie wir in unserer Jugend ohne Smartphone überleben konnten«, sagte er mit einem Augenzwinkern.

»Morgen Daddy, das verstehst du eben nicht.« Sie blickte nur kurz hoch.

»Vergiss nicht aufzustehen«, sagte er noch, bevor er in Franks Zimmer hinüberging. »Guten Morgen, Großer.«

»Morgen Daddy«, murmelte der Junge verschlafen. Man sah ihm die Pyjamaparty vom Vorabend deutlich an. Unfassbar. Wie kam man nur darauf, zu so etwas an einem Sonntag einzuladen? Aber man konnte es dem Jungen kaum verbieten, wenn alle Freunde hingingen.

»Los, raus aus den Federn!«, rief er. »Wer abends lange feiern kann, der kann auch morgens aufstehen.« Aber er würde wohl in fünf Minuten noch mal nach ihm schauen müssen, denn die Wahrscheinlichkeit war groß, dass er wieder einschlafen würde.

Eine Viertelstunde später saß die ganze Familie am Tisch, und da die Kinder wie immer vor der Schule recht schweigsam waren, genoss Steven die letzten ruhigen Minuten des Tages, bevor er zur Arbeit fuhr.

Nach einer zweiten Tasse Kaffee zog er sein Jackett an, richtete die Krawatte und verabschiedete sich schweren Herzens von den Kindern und Vanessa. Sie würde die Kinder später zur Schule bringen. Er selbst brauchte circa dreißig Minuten bis ins Büro. Sie wohnten in einer kleinen Stadt in Maryland, fünfunddreißig Kilometer von Washington D. C. entfernt, wo er arbeitete.

Jack erwartete ihn bereits. Er war immer vor ihm da. Er vertrat die Philosophie, dass der, der früher kommt, auch eher gehen kann.

»Morgen Steven, schön, dass du auch schon da bist«, begrüßte er ihn. »Der Boss will uns alle um neun bei sich im Büro sehen.«

Steven nickte. Jack Meyers, ein stämmiger Rotschopf irischer Abstammung, war wie er Fallanalytiker beim FBI, und sie teilten sich ein Büro. Sie waren im selben Alter, und Jack war ebenfalls verheiratet, hatte aber keine Kinder. Sie kannten sich bereits seit der Uni und waren über die Zeit gute Freunde geworden. Dass Steven im Rang über ihm stand, störte Jack zum Glück nicht. Der Chef muss ja auch einen haben, der die Arbeit erledigt, sagte er höchstens scherzhaft, wenn die Rede darauf kam, was aber nicht oft passierte. Wirklich ernst meinte er das aber nicht, er sagte es immer mit einem leichten Grinsen im Gesicht. Jack war einfach ein unkomplizierter Typ, und das mochte Steven sehr an ihm.

»Ich weiß. Hab die Mail gestern Abend noch gelesen. Muss wohl wichtig sein, wenn ein Assistant Director des FBI sich für die Uhrzeit ankündigt. Weißt du, was Coussins will?«

Steven legte die Aktentasche auf den Schreibtisch und stellte den Kaffee daneben, den er sich unterwegs bei Murphy’s zusammen mit vier Donuts noch schnell gekauft hatte.

Jack zuckte nur mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

Steven bot ihm einen Donut an, aber Jack lehnte dankend ab. Er war wohl wieder mal von seiner Frau auf Diät gesetzt worden. Sein Angebot zum gemeinsamen Joggen nahm er auch nie an. Für ihn zählte morgens jede Minute, die er länger schlafen konnte, und Sport schaute er lieber im Fernsehen.

Ihr Weg zum Büro von Assistant Director Jeffrey Coussins führte sie durch das Großraumbüro ihrer Abteilung, in dem die Frischlinge saßen, Agens, die noch keine fünf Jahre beim FBI waren. Sie hatten jeder einen Schreibtisch, der von Trennwänden umgeben war, mit Telefon und PC. Hier musste man sich erst beweisen, um von einem Vorgesetzten wahrgenommen zu werden. Viele junge Agents scheiterten daran und verließen innerhalb der ersten fünf Jahre das FBI, um sich später als Privatermittler oder Sicherheitsbeamte zu verdingen.

Im Büro des Assistant Directors warteten außer Coussins selbst noch zwei weitere Agents, die Steven nicht kannte.

Coussins war ein Agent der alten Schule, der sein gesamtes Berufsleben beim FBI verbracht hatte. Man sah ihm sein Alter im Gesicht nicht an, lediglich die grauen Haare zeugten von langjähriger Erfahrung. Seine Brille wirkte etwas zu groß für sein markant kantiges Gesicht, aber über Geschmäcker lässt sich bekanntlich streiten.

Mit federndem Gang ging er auf die Agents zu. Er begrüßte sie mit seinem festen Händedruck und stellte sie einander vor: »Morgen Steven, Morgen Jack. Das sind Samuel Culpepper von unserer kryptologischen Abteilung und Peter North vom United States Postal Inspection Service.«

Das ist also Culpepper, dachte Steven. Er hatte von dem neuen Leiter der kryptologischen Abteilung gehört, und wenn er nach dem ersten Eindruck gegangen wäre, hätte er ihn nicht gerade als Zahlenfreak eingeschätzt, sondern ihn eher für einen Agenten vom Personenschutz gehalten. Er war sportlich und muskulös, man sah ihm trotz des Anzugs an, dass er Stammgast im Fitnessstudio sein musste.

Peter North vom USPIS war eher der durchschnittliche Typ, nicht dick, aber auch nicht dünn. Der Sitz seines Anzugs verriet, dass er in der letzten Zeit ein paar Kilo abgenommen haben musste, denn er war ihm augenscheinlich eine Nummer zu groß, ja es wirkte, als hätte er ihn sich für die Gelegenheit ausgeliehen. Wahrscheinlich war er Single, denn keine Frau der Welt hätte ihn mit diesem abgetragenen Jackett ins Büro gehen lassen.

Coussins’ Sekretärin kam herein. »Möchte jemand einen Kaffee?«

»Ja, gerne. Schwarz, mit zwei Stück Zucker bitte«, erwiderte Jack.

Steven bestellte einen schwarzen Kaffee ohne Zucker, Culpepper und North schüttelten nur den Kopf.

»Meinen bitte wie immer«, sagte Coussins, »und danach möchten wir nicht gestört werden.«

Knapp zwei Minuten später, als der Kaffee serviert war, saßen alle Agents an dem großen Schreibtisch und blickten den Assistant Director erwartungsvoll an. Coussins lehnte sich in seinem Chefsessel zurück.

»Der United States Postal Service konnte vor zwei Wochen in Newark, New Jersey, einen Brief nicht zustellen, weil der Empfänger nicht eindeutig zu bestimmen war. Aufgrund des fehlenden Namens auf dem Briefumschlag und eines übervollen Briefkastens an der angegebenen Adresse hat der Briefzusteller den Brief nicht eingeworfen und ihn zum Post Office zurückgebracht, wo er aussortiert wurde. Daraufhin gab man die Sache zur Ermittlung des Empfängers intern vom USPS an den United States Postal Inspection Service weiter. Peter ist der zuständige Agent des USPIS in dem Fall.« Er wandte sich an North, der im Sitzen noch mehr in seinem Anzug versank. »Bitte, Peter, bringen Sie uns auf den aktuellen Stand der laufenden Ermittlung.«

»Wie Sie sicherlich alle wissen«, begann North mit leiser, sehr ruhiger Stimme, »haben wir nach den Anthrax-Anschlägen im Jahr 2001 damit begonnen, alle Postsendungen, die innerhalb der USA aufgegeben oder zugestellt werden, zu überwachen. Dazu nutzen wir ein System mit der Bezeichnung Mail Isolation Control and Tracking, kurz MICT. Dabei werden alle Postsendungen fotografiert und die Beschriftungen in Klarschrift überführt. Dadurch sind wir jederzeit in der Lage, jede postalische Korrespondenz auf Anfrage der US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden nachzuverfolgen. Nach der Übertragung des Falls an meine Behörde öffneten wir im Rahmen unserer Befugnisse den Brief, um gegebenenfalls die Identifizierung des Empfängers zu ermöglichen. Dies erfolgt immer unter großen Sicherheitsvorkehrungen, da man nicht weiß, ob die Briefe gefährliche Substanzen enthalten. Der betreffende Brief enthielt lediglich ein Blatt Papier mit einer Zahlenkombination darauf, mit der wir nichts anfangen konnten.« Er blickte auf einen Notizzettel, den er aus seiner Sakkotasche gezogen hatte. »40.42,4674.0,21«, las er vor und steckte den Zettel wieder ein. »Dabei ist dem MICT-System aufgefallen, dass vor knapp vier Wochen ein identischer Brief an dieselbe Adresse geschickt worden war, der ebenfalls nicht zugestellt werden konnte. Dieser wurde aus Kapazitätsgründen damals nicht untersucht, was wir nun nachholten, und dabei stellten wir fest, dass auch der Inhalt beider Briefe identisch ist. Da wir mit der Zahlenkombination nichts anfangen konnten, zogen wir das FBI hinzu und leiteten die Briefe als Kopien an euch weiter.«

North gab Jack und Steven jeweils eine Kopie der Briefe. Sie musterten die Zahlenkombination, aber auch sie konnten spontan nichts damit anfangen.

»Was wissen wir über die Adresse, und warum wird ein Brief zugestellt, der keinen Adressaten enthält?«, fragte Steven.

»An der Zustelladresse wohnte fünf Jahre lang ein gewisser Matthew Kilmer. Aufgrund der seit mehreren Wochen nicht aus dem Briefkasten geholten Post gehen wir davon aus, dass er vor circa zwei Monaten das Haus verlassen haben muss. Es gab keinen Nachsendeantrag, und das USPS stellt Briefe auch ohne Adressaten zu, solange die Adresse eindeutig ist.«

»›Eindeutig‹ heißt, dass es reicht, wenn an einer Adresse nur ein einziger Briefkasten vorhanden ist, oder wie darf ich das verstehen?«

»Genau. Wenn Sie zum Beispiel in der Madison Avenue 5, Apartment 31 in Washington D. C. wohnen, dann ist das eine eindeutige Adresse, an der wir die Post zustellen, da es dieses bestimmte Apartment mit der Nummer an dieser Straße nur einmal gibt. Man geht heutzutage immer mehr dazu über, keine Namen zu nennen, aus dem Wunsch nach Anonymität heraus. In anderen Ländern ist das schon lange üblich.«

Zum ersten Mal ergriff Samuel Culpepper das Wort: »Was wir bis jetzt wissen, ist, dass die Briefe zweifelsfrei von einer uns unbekannten Person geschrieben und abgeschickt wurden. Die Handschrift ist nicht in unserem System gespeichert, das konnte mein Team bereits bestätigen. Meine Leute haben einen forensischen Handschriftenvergleich für beide Briefe durchgeführt. Die Zahlen und Buchstaben der Adresse auf den Briefen und dem Papier darin wurden identisch und zweifelsfrei von ein und derselben Person geschrieben. Die Zahlen und Buchstaben sind aber so sauber und deutlich geschrieben, dass es danach aussieht, als würde hier jemand eine andere Handschrift vortäuschen beziehungsweise vorsätzlich nicht in der eigenen Handschrift schreiben. Alle Zahlen und Buchstaben sind sehr präzise geschrieben. Es sieht optisch nach einer kindlichen Schrift aus, so wie man es in der ersten Klasse in der Schule lernt. Die Übereinstimmung der beiden Handschriften liegt bei zweiundneunzig Prozent. Die Briefe wurden von unterschiedlichen Orten aus abgeschickt, der zweite vor zwei Wochen aus Köln, einer Stadt in Deutschland, der erste vor vier Wochen aus Nizza in Frankreich. Das ist klar an den Poststempeln auf den Briefmarken erkennbar.«

Steven runzelte die Stirn. So klar konnte man das mit bloßem Auge sicher nicht erkennen, da musste man schon sehr genau hinsehen, um auf den verblassten Poststempeln etwas erkennen zu können, aber der USPIS verfügte sicher über die besten technischen Hilfsmittel, um so etwas feststellen zu können.

»Da auf beiden Briefen kein Absender steht, wissen wir im Moment nur, wo sie aufgegeben wurden und wer der mutmaßliche Empfänger ist, aber nicht, wer sie abgeschickt hat. Für eine Identifikation der Person nach der Handschrift haben wir noch zu wenig. Jede Handschrift ist einmalig, so wie ein Fingerabdruck, aber leider ist die Adresse in Druckbuchstaben geschrieben, was die Identifikation zusätzlich erschwert«, fügte Culpepper hinzu.

»Wie identifiziert man denn eine Person an ihrer Handschrift?«, wollte Steven wissen.

»Das ist eigentlich ganz einfach«, erklärte Culpepper. »Zum Beispiel wird bei den heutigen Ausweisformaten die Unterschrift elektronisch gescannt, und da es Pflicht ist, seinen Namen im Antrag für einen Ausweis in Druckbuchstaben einzutragen, kann man beides eindeutig identifizierbar aufeinander beziehen. Wir haben ein Programm entwickelt, durch das wir weltweit auf alle Unterschriftenproben Zugriff haben. Weiterhin ist jedes Dokument, das eingescannt wird und eindeutig einer Person zuzuordnen ist, über dieses Programm identifizierbar. Wenn Sie irgendetwas unterschreiben und zum Verschicken im Netz hochladen, können wir an Ihrer Handschrift herausfinden, welche Dokumente im gesamten Internet von Ihnen stammen.«

»Was weiß Ihr Team über die Zahlenkombination? Gibt es schon erste Erkenntnisse oder vielleicht Vermutungen?«, fragte Coussins.

Culpepper zuckte mit den Schultern. »Es verschleiert mit größter Wahrscheinlichkeit die Koordinaten von New York City. Die Kombination war nicht schwer zu entschlüsseln. Es sind exakt die Koordinaten, die für New York in allen handelsüblichen Lexika angegeben sind, nur ohne Angabe von Längen- und Breitengraden. Wir sind uns da relativ sicher, andere Möglichkeiten spucken die Computer auch nicht aus, darum gehen wir im Moment keinen anderen Optionen nach.«

»Konnten verwertbare Fingerabdrücke gesichert werden?«

»Nein, Steven, die Techniker konnten auf den Blättern keine finden. Es scheint, als wären sie vor dem Versenden gründlich abgewischt worden, oder der Absender hat Handschuhe getragen. Der Briefumschlag enthält dagegen viele Fingerabdrücke, aber das ist natürlich kein Wunder. Da ein Brief auf seinem Weg durch viele Hände geht, wird das vernachlässigt. Ebenso konnte keine spezifische DNA gesichert werden. Die Briefmarken sind in beiden Fällen nicht angeleckt worden, sondern wurden zum Aufkleben mit Wasser befeuchtet. Hautschuppen oder Ähnliches konnten nicht daran gefunden werden, was ein gründliches Abwischen oder sonstige Reinigung nahelegt. Dasselbe gilt für die Klebefläche des Briefumschlags, die mit Wasser befeuchtet wurde. Gemessen am Aufwand für das Verwischen der Spuren ist die Zahlenkombination stümperhaft einfach.«

Steven ging kurz im Kopf die bisherigen Einzelheiten durch. »Gut«, sagte er, »fassen wir mal kurz zusammen. Wir haben also zwei Briefe, die – warum auch immer – wahrscheinlich aufgrund eines Umzuges oder der Abwesenheit des Empfängers nicht zugestellt werden konnten. Beide enthielten weder einen Absender noch Fingerabdrücke oder sonstige Spuren. Aufgrund der entschlüsselten Zahlenkombination und des Aufwands, der getrieben wurde, um keine Spuren zu hinterlassen, müssen wir davon ausgehen, dass der Absender nichts Gutes im Schilde führt.«

»Jetzt kommen Sie ins Spiel, Steven! Sie sollen die Puzzleteile zusammenfügen und das Rätsel dieser Briefe lösen. Aufgrund der jetzigen Informationslage ist ein geplanter terroristischer Anschlag nicht auszuschließen, und wir haben keinerlei Informationen zum genauen Zeitpunkt und Ort, daher wird der Fall mit hoher Priorität behandelt. Sie haben die Leitung in dem Fall. Stellen Sie ein Team zusammen und halten Sie mich auf dem Laufenden. Hat noch jemand Anmerkungen dazu?«, fragte Coussins.

Jack und Steven schüttelten leicht den Kopf, und auch North und Culpepper hatten nichts hinzuzufügen.

»Danke, meine Herren, dann bitte an die Arbeit. Samuel und Peter werden Sie mit ihren Teams bei den Ermittlungen unterstützen.«

Die vier Agents verließen das Büro. Auf dem Gang sprach Culpepper Steven an: »Wir prüfen weiterhin die Zahlenkombination. Wenn wir was Neues haben, schicke ich euch das per Mail.«

Steven nickte und machte sich mit Jack auf den Weg zu ihrem Büro. »Stell du gleich mal ein Team zusammen, Jack. Vier Leute, okay? Alles Analytiker, bitte.«

»Mit oder ohne Billup?« Jack grinste.

»Mit. Er hat zwar manchmal seltsame Ideen, aber die haben uns auch schon sehr geholfen. Besprechung um zwölf Uhr bei uns im Büro.«

Als sie am Großraumbüro vorbeigingen, ließ Jack Steven allein weitergehen und wählte gezielt drei Analytiker aus. Das Team würde nur aus Agents bestehen, mit denen sie bereits zusammengearbeitet hatten. Anschließend ging er zum Ende des Großraumbüros, an das sich vier Einzelbüros anschlossen. Eines davon war das von Casey Billup.

Der Typ war ein echter Nerd. Brillenträger, minderwertiger Anzug und altmodische Frisur. Er konnte sich stundenlang etwas anschauen, und dann kam ihm plötzlich eine irrwitzige Idee, oder ihm fiel direkt die Lösung zu etwas ein. Caseys Einzelbüro lag am Ende des Flures, obwohl ihm das von seinem Rang her nicht zustand. Gewährt wurde es ihm einerseits aufgrund seiner Arbeitsweise und andererseits aufgrund seiner Verschlossenheit. Er hatte kaum Kontakt zu seinen Kollegen, war aber dennoch recht beliebt, weil er sich wie alle in der Abteilung an der wöchentlichen Donut-Aktion beteiligte. Jeden Mittwoch brachte immer ein anderer Kollege Donuts für alle mit. Für Jack war das der einzige Tag in der Woche, an dem ihm seine Frau zugunsten der Kollegialität die ungesunden Sachen nicht verbieten konnte – und wollte.

Jack klopfte an den Türrahmen. Caseys Bürotür stand wie üblich offen. »Hey, Casey, zwölf Uhr bei mir und Steven im Büro, okay? Wir haben einen neuen Fall und brauchen deine Hilfe.«

Casey blickte kurz vom Schreibtisch auf, nickte und widmete sich wieder seiner Arbeit. Wie immer sehr gesprächig der Kauz, dachte Jack und setzte seinen Weg ins Büro fort.

»Und? Was hältst du von dem Fall?«, fragte Jack, als er die Bürotür hinter sich zumachte.

Steven zögerte einen Moment. »Kann ich noch nicht sagen. Die Informationen sind ja bis jetzt nicht üppig. Eigentlich haben wir rein gar nichts, nicht mal die Spur einer Spur. Weder das USPIS noch Culpeppers Abteilung haben irgendwelche brauchbaren Informationen für uns. Es sieht im Moment so aus, als müssten wir wie üblich die Nadel im Heuhaufen suchen, und wenn es wirklich um New York City geht, ist der Haufen ziemlich groß.«

Jack nickte.

»Wahrscheinlich müssen wir sogar für die Ermittlungen nach Europa fliegen«, ergänzte Steven.

Jack blies die Backen auf und ließ die Luft zischend entweichen. »Europa ist auch ziemlich groß, und solange wir keine räumliche Eingrenzung vornehmen können, ist das wahrscheinlich wenig sinnvoll.«

Steven konnte ihm da nur zustimmen. Er hasste lange Dienstreisen und war ungern von seiner Familie getrennt. Ihm lag viel daran, seine Kinder täglich beim Aufwachsen zu sehen. Seinen eigenen Vater hatte er in der Kindheit selten zu Gesicht bekommen. Er war ebenfalls FBI-Agent gewesen, aber ständig unterwegs und selten zu Hause. Diese Erfahrung wollte er seinen Kindern ersparen. Er wusste aber, dass Jack sich immer auf die Reisen freute. Er liebte seine Frau zwar, fühlte sich aber von ihr eingeengt. Sie machte ihm seiner Meinung nach zu viele Vorschriften, angefangen von den Essensregeln bis hin zur Abendplanung. Jack war halt eher der Typ, der abends gern auf der Couch lag und sich ein Footballspiel im Fernsehen anschaute, dagegen war seine Frau sehr gesellig, ging gern mit Freunden aus oder besuchte kulturelle Veranstaltungen.

»Stimmt«, sagte Steven, »aber wir sollen ja dafür sorgen, dass sich das ändert, hm? Kannst dich also ruhig schon auf Nizza freuen.«

Er musste grinsen, als Jack ihm scherzhaft zuzwinkerte.

Jack hatte eine gute Auswahl getroffen. Alle Teammitglieder hatten bereits einmal mit ihnen zusammengearbeitet und sich als sehr fähig erwiesen. Niemandem musste man viel erklären, sie waren es gewohnt, ihre Aufgaben selbstständig abzuarbeiten. Steven hatte der Gruppe ausführlich alle im Moment bekannten Details zum aktuellen Fall erläutert.

»Martha, du wendest dich an Peter North vom USPIS. Lass dir das Mail Isolation Control and Tracking System zeigen. Ich möchte alle Informationen über den Weg dieser Briefe bekommen. Die deutsche und die französische Post haben eventuell ein ähnliches System für die Rückverfolgung von Postsendungen. Nimm Kontakt mit beiden auf, Peter North kann dir bestimmt die zuständigen Ansprechpartner liefern. Schau ebenfalls, ob Briefe aus der Nähe von Newark ohne Absender in Richtung Deutschland oder Frankreich verschickt wurden. Das USPS scannt alle Briefe ein, bevor sie weiterversendet werden.«

Martha nickte. Sie band sich ihre langen, dunklen Haare zu einem Knoten und notierte die Anweisungen auf einen Zettel. Sie war neu im Team, hatte sich aufgrund ihrer schnellen Auffassungsgabe und der noch schnelleren Beschaffung von Informationen jedoch rasch unentbehrlich gemacht.

»Carl, du nimmst Kontakt mit der NSA auf. Sie sollen auch ihre deutschen und französischen Kollegen kontaktieren und schauen, ob ihnen etwas Ähnliches bekannt ist. Vielleicht hatten sie in der Vergangenheit mal einen ähnlichen Fall. Tom, du nimmst dir das Papier der Briefe und die Briefumschläge vor. Alles, was du rauskriegen kannst – Hersteller des Papiers und der Tinte des Kugelschreibers und so weiter. Die Originale der Briefe bekommst du bei Samuel Culpepper, dem Chef der kryptologischen Abteilung. Vielleicht kann man den Herstellungsort des Papiers aufgrund lokaler Gegebenheiten eingrenzen. Geh weiterhin gemeinsam mit den Kryptologen allen Möglichkeiten nach, was die Zahlenkombination betrifft. Jede noch so absurde Möglichkeit soll überprüft werden. Arbeitet auch an der Identifizierung der Handschrift, vielleicht kann man den Absender zumindest örtlich etwas einschränken. Jack, du konzentrierst dich auf die Adresse. Anscheinend ist der Empfänger unbekannt verzogen. Finde diesen Matthew Kilmer. Solche Briefe ohne Absender könnte es schon mal gegeben haben. Hat er vielleicht zuvor Briefe erhalten, bei denen nach demselben Muster vorgegangen wurde? Sicher kann auch dir Peter North behilflich sein.«

Er wandte sich an Casey, der etwas teilnahmslos dasaß, als interessierte ihn das alles hier nicht: »Deine Aufgabe ist es, den Zusammenhang der beiden Briefe herauszufinden. Warum wurde der eine Brief aus Deutschland und der andere aus Frankreich verschickt? Ich selbst werde versuchen, mögliche Anschlagsziele in New York einzugrenzen. Da die Sicherheitsmaßnahmen nach 9/11 überall in der Stadt standardmäßig sehr hoch sind und jeder potenzielle Aggressor das weiß, muss es um ein Ziel gehen, das nicht primär im Fokus der Behörden steht, jedoch bedeutend genug ist, um den Aufwand an Schutzmaßnahmen, der sich hier zeigt, zu rechtfertigen. Wir treffen uns morgen um siebzehn Uhr hier in meinem Büro. Geht jeder Spur nach. Hat noch jemand Fragen?« Steven schaute kurz in die Runde. »Dann los, und viel Erfolg!«

Washington D. C., noch 52 Tage

»Und, wie sieht’s aus? Was habt ihr?«, fragte Steven, als das Team am Nachmittag zum Informationsaustausch zusammenkam.

»Ich bin mit Matthew Kilmer noch nicht viel weitergekommen«, sagte Jack. »Er hat sich bisher weder bei den Behörden in Newark abgemeldet noch sonst wo neu angemeldet.«

Steven blickte auf Martha, die die Aufforderung verstand und als Nächste das Wort ergriff.

»Im USPIS prüfen sie gerade anhand ihrer Datenbank im Mail Isolation Control and Tracking System, ob früher bereits Briefe aus Europa ohne Absenderangabe an Matthew Kilmers Adresse geschickt und zugestellt wurden. Aufgrund der Datenmenge wird es wahrscheinlich ein paar Tage dauern. Da wir davon ausgehen, dass die vorliegenden Briefe nicht die ersten ihrer Art waren, kümmere ich mich anschließend um Hintergrundinformationen. Die Post in Deutschland und Frankreich haben wir kontaktiert. Peter rechnet allerdings nicht mit einer schnellen Antwort, da es sich dort um riesige Firmen handelt, die laut Peters Aussage noch bürokratischer arbeiten als unser USPS.«

»Verstehe. Tom?«

»Die Kriminaltechniker haben das Papier, die Umschläge und die Kugelschreiberfarbe untersucht. Das Papier ist offenbar Standardware, wie sie in Europa überall verkauft wird – normales Druckerpapier. Dasselbe gilt für die Briefumschläge, und die Kugelschreibertinte ist auch nichts Besonderes, sieht also nach einer Sackgasse aus.«

Bei den Worten »normal«, »Standard« und »nichts Besonderes« musste Steven kurz nachdenken. Alles an diesem Fall schien außergewöhnlich und gut durchdacht. So etwas hatte er in seiner Zeit beim FBI noch nicht erlebt.

»Was hast du mithilfe der Kryptologen herausgefunden?«, fragte er weiter.

»Im Moment noch nicht viel. Aufgrund der großen Anzahl an Ziffern gibt es theoretisch unzählige Möglichkeiten für Codes. Es könnte auch ein Wort sein, aber am plausibelsten ist, dass es sich tatsächlich um einen verschlüsselten Hinweis auf New York City handelt, da es den Koordinaten entspricht, die offiziell in Lexika für New York City angegeben sind.«

»Danke, Tom. Carl, was hast du für uns?«

»Bis jetzt noch nichts. Der NSA ist so ein Fall noch nicht bekannt. Da sie auf die Überwachung elektronischer Kanäle spezialisiert sind, vermuten sie, dass sie uns auch nicht viel werden helfen können. Sie haben ihre deutschen und französischen Counterparts kontaktiert, aber bis jetzt noch keine Antwort erhalten. Ich bleibe dran. Darüber hinaus habe ich die Fragen an weitere kooperierende Geheimdienste geschickt und warte noch auf deren Rückmeldungen.«

»Gut. Casey?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass dem Absender daran gelegen ist, außerhalb der von uns standardmäßig überwachten Kanäle zu agieren. Unsere Programme überwachen Telefon, E-Mail, soziale Netzwerke und jegliche Form elektronischer Kommunikation mittels Messengerdiensten und Ähnlichem. Durch unsere lückenlose Überwachung würden wir solche codierten Nachrichten sehr schnell herausfiltern und den Absender identifizieren. Was wir hier haben, ist ein Vorgehen, mit dem man auf dem Weg über Briefe elektronische Spuren vollkommen vermeidet, was die Anonymität massiv fördert und gleichzeitig heutzutage sehr ungewöhnlich ist. Die Art und Weise, der Aufwand, der bei der Versendung der Briefe getrieben wurde, all das erschwert die Suche weiterhin. Theoretisch könnte der Absender überall wohnen. Werden zum Beispiel fünf Briefe aus einem Ort abgeschickt, dann besteht immerhin die Wahrscheinlichkeit, dass der Absender in dem Ort wohnt, arbeitet oder ihn aus einem anderen Grund regelmäßig aufsucht. In unserem Fall kann der Absender zum Beispiel ein Geschäftsmann sein, der sich jeden Tag woanders aufhält.«

»Wer schreibt eigentlich heute noch privat Briefe?«, fügte Steven Caseys Ausführungen leicht deprimiert hinzu.