Stille Tage in Hsin-Chu - Peter Schroer - E-Book

Stille Tage in Hsin-Chu E-Book

Peter Schroer

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Beschreibung

Der Ingenieur Peter arbeitet seit geraumer Zeit auf der fernen tropischen Insel Taiwan. Seine Freundin Lin-Lin würde gern sein unstetes Matrosenleben unterbinden. Die lokale taoistische Göttin Bin-Ching hingegen setzt ganz auf seine Reiselust. Peter will dem göttlichen Werben auf den Grund gehen. Er will aber ebenso seine taiwanesische Freundin nicht verlieren. Er fällt durch fieberhafte Träume und irre Wahnvorstellungen immer tiefer hinein in die Vergangenheit der Stadt Hsin-Chu. Er muss sich entscheiden, zwischen seiner heimatliebenden Lin-Lin und der rastlosen Bin-Ching.

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Seitenzahl: 340

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis :

Austernschmaus

Schmetterlingsglück

Drachensilber

Zikadenschloss

Nudelgeschlabber

Palmenfrische

Garnelentanz

Zypressenrot

Straßenwind

Tangramgestade

Tofupalaver

Märchenblüten

Paradiesleuchten

Kapitel I.

Austernschmaus

„Peter, du musst schon wieder verreisen?“ Meine taiwanesische Freundin Lin-Lin schaut von den dutzenden, der bratenden Eieromeletts zu mir auf.

„Die Fahrt dauert diesmal nur fünf Tage. Ich bin spätestens am Freitagabend wieder zurück“, antworte ich und streife über meinen kurz geschorenen Hinterkopf und den darunter liegenden Nacken. Die Haut fühlt sich blättrig an. Schrumpelige Fasern bleiben an meiner schweißnassen Hand kleben.

„Aber du warst doch gerade erst für zwei Wochen drüben, auf dem chinesischen Festland?“ Lin-Lin lächelt dem Koch der Garküche vor uns zu und wechselt einige Sätze auf Chinesisch mit ihm.

Die kugelrunde Silhouette unseres taiwanesischen “Chef de Cuisine“ ist aus jeglicher Form geraten. Er schwitzt und schmort in den körpereigenen Ergüssen seiner übergewichtigen Sumoringerfigur. Er schwitzt, weil er den ganzen Tag gebeugt über der heißen Pfanne steht. Ich schwitze, weil ich mit dem örtlichen Klima nicht im Ansatz zurechtkomme.

„Ja, aber die Fahrt ging nach Wuhan, jetzt muss ich nach Ninghai“, wehre ich ihren Vorwurf ab.

Ich blinzele Himmelwärts. Die taiwanesische Sonnenglut hat in der letzten Stunde ganze Arbeit geleistet. Der fernöstliche Helios, der taiwanesische >tai-jang< meint es nicht gut mit mir.

„Die beiden Städte sind für mich einerlei. Das sind irgendwelche Häuseransammlungen, irgendwo tief im chinesischen Hinterland. Verstehst du mich?“ Lin-Lins Handbewegung ist mir mittlerweile Vertraut.

„Komm lieber zu mir in den Schatten, du siehst jetzt schon aus, wie ein feuerroter Hummer.“ Den Arm leicht gesenkt, bewegt sie das Handgelenk, als ob sie sportlich mit einem Basketball trippeln würde. Die global verbreitete Geste, näher zu treten.

„Mir können diese beiden Orte nicht gleichgültig sein! Wuhan und Ninghai sind vor allem die Produktionsplätze zweier unserer Kunden. Die kann ich nicht einfach durcheinander würfeln“, antworte ich undiplomatisch, rein den technischen Fakten gehorchend.

Der Omelettmeister brutzelt auf seiner riesigen, ranzigen Pfanne unbeirrt und emsig weiter seine Verkaufsschlager. Das Geschäft muss fantastisch laufen, die Pfanne hat gut und gerne den Umfang eines soliden Hula-Hup-Reifens. Ein gutes Dutzend der Omeletts schmoren gleichzeitig in der Gewalt des Gasfeuers. Leider spritzt das Öl und Fett nicht nur nach allen Seiten, sondern vor allem auf meine Hose. Ich weiche zurück und stehe unversehens wieder in der heißen Sonne.

„Nein, du hast mich nicht verstanden.“ Lin-Lin streicht sich die Haare zur Seite. Auch sie besitzt, wie unser Gourmetkoch und meine Wenigkeit, keinen natürlichen Schutz gegen diese tägliche Hitze. Trotzdem wirkt ihr Gesicht leicht unterkühlt. Ich sollte mich in Acht nehmen!

„Peter, wenn du wieder zum chinesischen Festland gehst, dann bist du nicht hier, hier bei mir. Hörst du, egal wohin du reist, du bist fort von mir. Du solltest dich vorsehen. Du solltest deine Reisetätigkeiten überdenken, sonst bin ich diejenige, die fort ist und nicht du!“

„Was?“ Meine Hand drückt, einem Scheibenwischer gleich, eine Welle wässrigen, nassen Schweißes von Stirn und Augenbrauen. Das Unhaltbare platscht, als psychologisches Tintenfleckenmuster, auf mein T-Shirt. Ich bin mit Fett, Öl und Schweiß besudelt von oben bis unten.

„Schau unsere Omeletts sind fertig. Schnell, da vorne ist gerade ein Tisch frei geworden.“ Lin-Lin trippelt los. Sie trägt die beiden fertigen Eiergerichte auf zwei Pappschälchen vor sich her.

Ich taumele ihr willenlos hinterdrein. Nicht nur unser Essen ist fertig, ich bin es ebenso!

„Lin-Lin, was soll das? Das Reisen gehört zu meinem Beruf. Ich kann diese Stelle nicht einfach wechseln, wie andere Leute ihre Hemden.“

Was ist das? Der Tisch, ein billiges weißes Plastikprodukt, kippelt in alle Richtungen. Das ganze Gestell schwankt und schaukelt, wie ein ruderloser, leckgeschlagener Frachter.

Wir können den Tisch aber wenigstens unser eigen nennen. Der Ellbogen des Essnachbarn verfehlt nur knapp meine Eierspeise.

„Davon rede ich nicht.“ Lin-Lin schnippelt mit den Essstäbchen ihr Omelett geschickt in mundgerechte Stücke: „Anstatt jedes Mal selber los zu rennen, könntest du einen deiner taiwanesischen Ingenieure schicken. Du weißt das! Ich weiß das! Peter, dein Job ist nicht, andauernd und jederzeit in den nächsten Flieger zu springen!“

Na Prima, Lin-Lin ist jetzt nicht mehr zu halten. Sie hat sich zielsicher auf mich eingeschossen. Was kann ich nur tun? Ich schweige und lasse sie gewähren. Soll sich die Gute einfach mal wieder ihren Frust vom Leib reden.

Moment Mal, das ist doch nicht nur ein gemeines, gewöhnliches Omelett? Ich meine nicht, dass sie dem Ei jede Menge Salat beigemengt haben. Ich beschwere mich auch nicht darüber, dass sie die gesamte Mixtur in einer braunrötlichen Soße ersäuft haben. Ich will wissen, was in Dreiteufelsnamen schimmert denn da, so hässlich Graubläulich, unter der gelblichen Hühnernatur hervor?

Oh gottgütiger Buddha, Lin-Lin wirft mir ihren Frust direkt ins Gesicht, die Hitze ist mir zu Kopf gestiegen und jetzt soll ich etwas essen, das aussieht, wie eine aufgedunsene Wasserleiche!

„Peter, hörst du mir überhaupt zu! Seit einem halben Jahr sehe ich dich nur, um entweder “Hallo“ oder “Tschüss“ zu sagen. Ich gewinne langsam den Verdacht, gar nicht mehr deine Freundin zu sein. Die Flughäfen und Hotels in China sind deine eigentlichen Geliebten.“

Lin-Lin zuckt resigniert mit den Schultern. Sehe ich da eine Träne in ihrem Auge?

„Wieso auch nicht“, fährt sie fort: „Wie lautet doch das Lebensprinzip der Matrosen? In jedem Hafen eine andere!“

Ein Gehilfe unseres Gourmetkochs unterbricht Lin-Lins temperamentvollen Ausbruch. Er serviert eine kalte Sojamilch für sie und eine kalte Coca-Cola für mich. Ich erkenne die Coca-Cola nicht an den taiwanesischen Schriftzeichen. Der bekannte, globale Coca-Cola Weihnachtsmann trotzt dem Hochsommer in der asiatischen Fremde. Er grinst mit geblähten Backen seinen neuen Besitzer an.

Wie ich ihn beneide!

„Sag mal, könntest du dir vorstellen, eines Tages nicht mehr zu verreisen? Du verstehst doch? Ich meine, das du hier bleibst, hier bei mir!“ flüstert Lin-Lin.

Ich schweige weiterhin. Ich schweige, weil ich über diese Frage noch nie ernsthaft nachgedacht habe.

„Verstehst du, wieso tun wir uns das nur an?“ Sie schaut mich eindringlich an.

Wieso tun wir uns das nur an? Ich habe auch über diese Frage noch nie nachgedacht? Sie ist mir nicht einmal im Entferntesten in den Sinn gekommen! Könnte ich wirklich eines Tages mein Leben derart umkrempeln?

„Ich weiß, Peter, Reisen ist dein Leben. Aber musst du denn unbedingt ein Leben lang reisen? Ich meine, verstehe mich bitte nicht falsch, aber bist du dir sicher, das du auf immer und ewig so weiterhetzen willst?“ Lin-Lin schaut weg zur Seite. Sie neigt ganz leicht ihren Kopf. Ihre Haare fallen ihr über die Stirn. Sie entzieht sich meinen Blicken.

Moment Mal, was ist jetzt los? Mein Körper versteift im Schauer eines Schweißausbruches, die Muskeln und Sehnen verspannen unter einer kribbelnden Gänsehaut. Ich verkrampfe, wie in der Erwartung eines eisigen, eines polaren Windhauches.

Sind das die ersten Zeichen eines soliden Sonnenbrandes oder gar eines handfesten Sonnenstiches? Habe ich mir in diesem Ort, am anderen Ende der Welt, eine hässliche Pestilenz, eine Seuche eingefangen? Etwas von dem Namenlosen, Unaussprechlichen, welches in keinem Bertelsmannlexikon oder gar in einer ärztlichen Enzyklopädie aufgelistet wäre?

„Schau nicht so missmutig, das Essen ist wirklich gut hier“, deutet Lin-Lin meine Gesichtszüge falsch ein: „Mein Lieber, du musst nur ein bisschen, ein >i-dien-dien< Mut investieren.“

„Ein Krümelchen Mut riskieren? Du weist nicht, was du von mir verlangst. Ich meine, was essen wir hier?“ Ich ergreife ihren dargebotenen Strohhalm. Oder sollte ich in diesen Breiten lieber sagen, ich greife zum rettenden Reiskorn? Wie auch immer. Das Thema muss gewechselt werden. In meiner Verfassung stehe ich keinen Streit mit Lin-Lin durch.

„Du weißt nicht, was das ist?“ Sie deutet mit ihren Essstäbchen auf ihr Omelett.

„Nein, deshalb frage ich ja. Das Omelett ist gelb, das sehe ich. Der Salat ist grün, dagegen ist nichts einzuwenden. Die Soße ist feuerrot, vielleicht eine geeignete Warnfarbe.“ Ich atme tief durch: „Meine Frage zielt auf das grässliche und hässliche Graubläuliche darunter ab.“

„Weißt du, wo wir hier sind?“ antwortet Lin-Lin mit einer Gegenfrage. Ihre Essstäbchen vollführen eine angedeutete kreisende Bewegung.

„Wir sind in dem alten und ehrwürdigen Tempel Cheng-Huang, wir sind in der Altstadt von Hsin-Chu.“ Ich zucke mit den Schultern und schaue sie fragend an: „Willst du meinen Orientierungssinn testen?“

Was will sie von mir? Für den Rückweg nehmen wir ein Taxi. Das weiß sie so gut wie ich. Noch einmal tue ich mir diesen Wüstenmarsch nicht an!

Wir sind vom Lakeshore Metropolis Hotel im labyrinthischen Zick-Zack durch die Innenstadt Hsin-Chus geirrt. Wir sind immer tiefer, in diesen Stadtdschungel marschiert. Zu meiner Verwirrung hat die Kleine keine Verzweigung ausgelassen.

Lin-Lins Pfadfindertrip endete hier, am historischen Cheng-Huang Tempel der taiwanesischen Stadt Hsin-Chu. Wer kennt diesen Tempel? Wer, in Buddhas Namen, interessiert sich für dieses alte Gelump?

„Weist du auch, weswegen wir hier sind?“ Lin-Lins Augenschlitze verengen sich ein wenig, kaum merklich. Oh, oh, da brodelt etwas unter der hauchdünnen Fassade!

„Ich dachte, wir nehmen einen kleinen, gemütlichen Snack ein?“

„Nein, deshalb sind wir nicht hier“, antwortet Lin-Lin kurz und knapp.

Soweit also zu unserem fröhlichen Frage und Antwort Spiel!

Hoppla, ich werde am Rücken unsanft angestoßen. Ein weiterer Gast drückt und ruckelt sich an mir vorbei. Die zähflüssige rote Soße schaukelt stoßweise zum anderen Papprand.

„Ganz schön voll hier“, versuche ich schwach, einen neuen Gesprächsfaden aufzugreifen und weise nach hinten, „zudem auch ein wenig stressig!“

„Ganz im Gegenteil. Wir haben momentan Glück. Die letzten Male durfte ich im Stehen essen. Du müsstest mal während unseres >que-üä< hier sein! Dann würdest du verstehen, was wir Taiwanesen unter Quetschvoll verstehen.“

„Euer was?“

„Unser >que-üä<, unser >Ghostmoon< (Geistermond), für dich auch >Ghost-month< (Geistermonat), mein Lieber. Das ist die Zeit, in der wir uns ganz unseren verstorbenen Ahnen widmen. Ihr habt doch auch so etwas?“

„Ja, wir nennen das Fronleichnam.“ Ich lifte mit den Essstäbchen ein wenig das Omelett an. Nein, der eklige Schleim ist nicht attraktiver, sondern eher fronleichner geworden. Wer kann das nur essen wollen?

„Das ist eine Delikatesse. Die gibt es nur hier auf Taiwan. Unser berühmter Cheng-Huang Tempel ist bekannt für diese einzigartige Spezialität“, frohlockt meine Freundin vergnügt.

Soviel zu dem Bekanntheitsgrad dieses Tempels, er ist eine gelungene und ausgewogene Kombination aus kulinarischen Spezialitäten und religiösen Glauben.

Ich pieke vorsichtig in das leicht zuckende und vibrierende Ungemach: „Könntest du für mich ein wenig präziser werden, Darling? Mit wem oder was habe ich hier zu rechnen?“

„Das sind Austern. Ich sagte dir doch, dass das eine Besonderheit dieses Tempels ist! Für dich: Wir nennen es >o-a-tzen<. Na los, nur nicht so zaghaft. Ich bin mir sicher, dein kleiner Snack wird dir gefallen.“

„Mögen mir eure verstorbenen Ahnen beistehen, Lin-Lin! Ich weiß, wir sind hier auf einer Insel. Aber muss deshalb unbedingt auf deinem Speiseplan Fisch immerzu ganz oben stehen?“

Autsch, ich wollte doch nur das Thema wechseln! Ich wollte nicht den schlafenden Drachen in ihr wecken. Herumjammern und nörgeln kann ich mir für ein anderes Mal aufsparen.

„Du isst das jetzt! Du kannst dich nicht Wochenlang von Fastfood und Hotelkost ernähren!“ Na Prima, genau das meine ich!

„Ich kann Eieromlette auch in München essen“, nein, so auch nicht: „Ich meine, die Austern wirken auf mich etwas ungewohnt!“

„Ich war noch niemals in München, genauso wie du noch niemals wirklich auf Taiwan warst!“ platzt es aus Lin-Lin heraus.

„Was?“

Meine kleine taiwanesische Freundin ist nicht wieder zu erkennen. Ihr Gesicht hat jede Freundlichkeit und Offenheit verloren. Sie fixiert mich aus bösen, harten Augen.

„Entschuldige, aber ich werde ja wohl sagen dürfen, was ich denke!“ versuche ich mich, dem entfachten Taifun entgegenzustemmen.

„Darum geht es gar nicht!“

„Ach ja! Sprich dich aus! Was passt dir jetzt schon wieder nicht?“

„Was heißt hier schon wieder. Habe ich mich jemals beschwert?“

„Nein. Das meine ich doch auch nicht.“

„So, was meinst du denn?“

„Ich meine, was willst du von mir?“

„Ich will mit dir nur hier sein!“

„Hier sein! In diesem Tempel! Lin-Lin, ich meine, was? Ja, wieso sind wir denn überhaupt hier?“

„Das weißt du immer noch nicht?“

„Nein.“

Wieso habe ich das Gefühl, in allen Punkten klar den Kürzeren gezogen zu haben?

So geht das nicht weiter!

„Also, ich werde ohne Vorurteile, von unserem Austernomelett naschen. Du wirst mir im Gegenzug anvertrauen, wieso wir jetzt in diesem Tempel sind. Bist du einverstanden?“

„Du fängst an“, flüstert Lin-Lin kalt.

Ich nicke, habe ich doch noch einen Fuß in der Türe!

Ich schaue auf mein Essen.

Mein Omelett und ich!

Jetzt nur nicht klein beigeben! Ich gebe mir einen beherzten Ruck: „Hier sind also meine Essstäbchen. Nun ein anständiges Stück Omelett, mit dem herrlichen Austernschlei ...“

„Mh…, das schmeckt ja richtig gut!“ Ich bin wirklich überrascht. „Ich nehme mir gleich noch eine kleine Kostprobe.“

„Siehst du, war doch gar nicht so schwer!“ Lin-Lin prostet mir mit ihrer Sojamilch zu.

Ich erwidere mit meiner Cola.

Vielleicht hat Lin-Lin doch Recht und ich sollte häufiger meinen Imbiss in den hiesigen Straßen suchen.

„Jetzt aber noch einmal von vorne. Wie sagtest du, heißt diese Tempel-Spezialität?“

„>o-a-tzen<, für dich im Einzelnen: >o-a< bedeutet “Austern“ und >tzen< heißt “Braten“. Also zusammen gesagt, du isst gerade gebratene Austern“, erklärt Lin-Lin im besten Oberschullehrerinnen Stil.

„Das Eieromelett und der Salat werden nicht erwähnt?“ hake ich nach.

„Nein, das war alles“, schließt Lin-Lin.

„Na dann, guten Appetit!“

„Guten Appetit.“

Unsere Essstäbchen langen in den Austernschmaus, zerteilen und zerkleinern, sortieren und verpacken die Partien neu. Ich habe schnell Lin-Lins Methode kopiert. Zu einer guten, mundgerechten Portion gehört ein kleiner Happen von allem, von der Auster, von dem Omelett und von dem grünen Salat. Das ganze wird mit den Essstäbchen zusammengehalten und mit einem Tüpfelchen der scharfen, roten Soße zum Mund geführt.

Endlich kann ich durchatmen und mich entspannen, die Sinne beruhigen und die Seele neu austarieren. Ich fühle mich frei und ungezwungen, zu keiner Verpflichtung verdammt und zu keiner Order verdonnert.

Wendet sich das Blatt!

Meine Stimmung steigt. Neuen Mutes schaue ich mich um. Wo bin ich hier nur gelandet?

Natürlich, das ist er also, der Cheng-Huang Tempel der taiwanesischen Stadt Hsin-Chu! Der zentrale Mittelpunkt der Altstadt. Eines der ältesten, wenn überhaupt, das älteste Bauwerk weit und breit. Ein unbedingtes Muss für alle Reisenden, die sich jemals hierher verirren.

Die schweren, althölzernen Pforten des Gotteshauses sind geöffnet. Chinesische Laufschrift, flinke rote LED Pünktchen huschen über den Einlass und verkündet die Öffnungszeiten sowie diverse Veranstaltungshinweise.

Lustige Lindwürmer und verspielte Drachen ringeln sich an den Türsäulen hinab. Sie sind in bleiches Schwarz gehüllt und weisen auf das Höhere, das nicht Sichtbare, das immer Anwesende hin.

Goldene Fabelwesen wandern über die schwarzen Tür -und Dachbalken. Welchen Weg weisen sie? Ich folge dem Blick eines dieser kleinen, verspielten Kobolde und lande wieder bei meinen Füßen.

Der nicht überdachte Vorplatz ist schutzlos der Sonne preisgegeben. In seiner Mitte glänzen zwei monströse, brusthohe Ascheurnen. Den Urnen dienen fußballgroße, bronzene Frösche, als simple schmucke Füße. Oder sind die Frösche weitere Chimären und Götzen, Anhängsel einer fremden, einer den Urzeiten entsprungenen Religion?

Den runden dicken Bäuchen der Ascheurnen entsteigen rußige, grauschwarze Rauchschwaden, eher Rauschschwaden. Ein aromatisierender, narkotisierender und einlullender Qualm, der aus hunderten der unzählbaren Räucherstäbchen kokelt und glimmt. Wenn der Wind sich drehen würde, er würde nach mir greifen, mich packen, wie in einem Alp, aus alkoholisierten Träumen und fiebrigem Wahn.

Zwischen den Urnen steht ein Grillgestell. Das metallische Gerippe sieht aus, wie die Rippenknochen eines verstorbenen, eines ausgeweideten und auf den Rücken gedrehten Tieres. Weitere Räucherstäbchen qualmen in und aus seinem Leib.

Überall hängen gelbe oder rote Papierbänder und Papierstreifen. Schwarze chinesische Schriftzeichen sind auf ihnen zu sehen. Wünsche und Bitten, Gebete und Hoffnungen stehen dort in einer anderen, einer doch so fernen, meinem Verständnis sich verschließenden Sprache, festgehalten in ihren eigenen Bedeutungen und Symbolen.

Über dem Vorplatz, an mir vorbei, zieht ein nicht abreißender Strom von Tempelbesuchern. Die Flut dieser kleinen, schwarzhaarigen Wesen ist immer in Bewegung. Ein Betrieb ist das in diesem Gotteshaus, ganz so, wie in den Metrostationen so mancher modernen Großstadt.

Ob alt oder jung, ob arm oder reich, die einen verbeugen sich hier, die anderen schauen mit gelangweilten Gesichtern auf ihren Uhren. Die einen halten Räucherstäbchen in ihren Händen, die anderen drücken die Auslöser ihrer Digitalkameras. Die einen schreiten im respektvollen Gang, im Gebet versunken, die anderen prüfen die Zeit und pressen die Mobiltelefone an ihre Ohren. Die einen huldigen ehrfürchtig ihren Göttern, die anderen gehorchen ihren Magen. Die Zeit der Garküchen gehört der Vergangenheit an. Fastfood-Buden wäre die nähere, die treffendere Beschreibung. Das Personal, ob Koch oder Kellnerin, ob Lauf, -oder Reinigungskraft, sie alle stecken in den eigenen, der Küche firmeneigenen Uniform. Die Fastfoodketten unserer Welt, haben auch an diesem entlegenen Flecken, Grund und Boden gewonnen.

Taiwan liegt nicht am Ende der Welt. Taiwan liegt auf der anderen Seite der Welt. Wieso sollte die Welt auf der anderen Seite anders sein?

Das Mahl ist beendet und die Essstäbchen ruhen, wie weggeworfen, in der Pappschachtel. Ich räuspere mich: „Also, Lin-Lin, ich habe meinen Teil unserer Abmachung erfüllt!“

„Du hast überhaupt keine Ahnung?“ Lin-Lin presst ihre Lippen zusammen und schaut mich aus traurigen Hundeaugen an.

„Ich weiß, ich bin zu häufig fort!“ Ich zucke mit den Schultern. Hätte ich die Wahrheit leugnen oder verschweigen sollen?

„Du bist seit einem Jahr hier, auf Taiwan! Du arbeitest und du wohnst hier, du isst hier und du schläfst hier!“ Lin-Lins Stimme klingt blechern und mechanisch.

„Ja, ganz genau“, antworte ich fröhlich, hoffend auf meine positiven Wellen.

„Nein, du bist nicht wirklich hier auf Taiwan!“ Lin-Lins Stimme ebbt ab, sie klingt immer müder, sie schwindet, wie aus weiter Ferne.

Sie wendet ein zweites Mal ihr kleines Köpfchen von mir ab. Ihr Blick ist tief in ihr Inneres gerichtet. Ich kann die Zahnräder knacken hören. Die Gute sammelt ihre Gedanken.

Sie hat Recht!

Die Zeit ist uns gestohlen worden!

Sollte ich mir an ihr nicht ein Beispiel nehmen? Wo ist nur mein Verstand hin? Hat der taiwanesische >tai-jang<, das Sonnenauge, mein Hirn ausgetrocknet?

Anstatt endlich einen gemütlichen Nachmittag zu zweit zu verbringen, zanken wir uns um jede Kleinigkeit. Wo bleibt die Wende? Geht das so weiter, können wir uns die nächsten Omeletts gleich an die Köpfe werfen!

Meine Nase rebelliert. Nicht des stinkenden Tofu wegen, nicht des alles überlagernden Fischgeruches wegen und auch nicht der Räucherstäbchen wegen. Sie verweigert sich der faulenden, der gärenden Ausdünstungen des Dschungels und der unvermeidbaren, der unliebsamen Mitbringsel hunderter Menschenleiber, die sich zwischen die schmalen Passagen der Buden hindurchdrängeln und stupsen.

Verdammt, die Sonne hat sich ebenso weiter gedreht. Ihre ersten Strahlen tasten über meine Arme und über mein T-Shirt!

Wieso mir?

Ich überhitze total. Die Frequenz dieser Welt lässt mich rund und hohl laufen. Die Pulsgeschwindigkeit überdreht mich. Ich brenne aus, ein Leuchtturm im Taifun, den entfesselten Naturgewalten hilflos ausgeliefert.

Meine überreizten Sinne heben meine Schädeldecke, das Gehirn will zerspringen und bersten. Ich werde von der Klaustrophobie, der Platzangst gepackt. Ich rücke tiefer in den Schatten und will mich in Sicherheit bringen, ich will raus in die Freiheit, ich will fort laufen und mich verstecken.

Was geht hier nur vor? Wen, um Himmelwillen, habe ich böse auf den Fuß getreten?

Welcher Logik folgt der heutige Nachmittag? Die Sonne hat mich geröstet, der elendige Qualm hat mich betäubt, die taiwanesischen Horden trampeln mich tot, der Gestank schreit zum Himmel und wenn ich glaubte, das könnte nicht noch schlimmer kommen!

Verflixt, was ist das?

Was passiert dort vor mir?

Das darf doch nicht war sein!

Sind das die ersten Fieberphantasien, die mich närrisch werden lassen? Ich beobachte, wie ein weißes Pferd, ein richtiger, ausgewachsener Schimmel aus den Garküchen vor mir emporsteigt. Seine vorderen Läufe, seine Hufen erheben sich, wie zum Sprung, es bäumt sich vorne auf. Ich traue meinen Augen kaum. Was für ein Trugbild, was für eine Fata Morgana!

Was ist das? Ein Hunnenkrieger, nein, hier ist das eher ein wilder, mongolischer Steppenreiter im zügellosen Ritt. Mit einem gewagten Sprung schweben Ross und Reiter hinüber zur nächsten Garküche. Das Gespann ist mit einem heißen Schrei nach Freiheit, den mannigfaltigen Töpfen, Kesseln und Woks unseres Sumoringers entronnen. Sie schweben vor mir, getragen und eingehüllt in einer Wolke aus Wasserdampf. Das ist ein gasförmiges Irrwesen, nicht gebunden in seinen Atomen und Molekülen. Das ist ein Wesen, erweckt aus Wahnvorstellungen und Halluzinationen!

Ich folge seinem dämonischen, geisterhaften Galopp über die Garküchen hinweg. Das kann doch nicht wahr sein! Was treibt der Krieger dort? Er hält seinen Bogen vor sich. Er zieht einen Pfeil aus seinem Köcher und legt an. Ich bin das Ziel seiner Attacke. Das Geschoss schwirrt ab in meine Richtung, genau auf mich zu.

Aus, alles ist vorbei! So schnell, wie der Sturm ausbrach, so rasch ist er auch wieder verflogen. Eine darauf folgende Stille findet nicht statt. Im Cheng-Hang Tempel von Hsin-Chu, mit seinem nicht abreißenden Besucherströmen und seinen dutzenden von Garküchen, herrscht niemals Ruhe.

Mir rinnt der kalte Schweiß ein x-tes Mal die Schläfen entlang. Niemand außer mir hat das flüchtige Spektakel über den Garküchen bemerkt. Weder den Köchen und Kellnern, noch den Gästen oder den Tempelbesuchern ist irgendetwas aufgefallen. Nicht einmal Lin-Lin hat etwas registriert.

Ich benötige keinen Arzt mehr, ich kann direkt zu einem Irrendoktor gehen. Ich bin reif für das Engelkostümchen, die Wände aus weichen Kunststoffen, auf das ich mir nichts Böses antue.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Wasserdampf rein Zufällig die Gestalt eines stürmischen Steppenreiters annimmt, der ein Pfeil auf mich abschießt? Ich atme tief durch.

Ich habe gesehen, was ich gesehen habe!

„Peter, alles in Ordnung mit dir?“ Lin-Lin betrachtet mich besorgt.

Sehe ich wirklich schon so schlimm aus? Ich muss mich ablenken und versuchen, wieder mit beiden Beinen auf dem Boden zu landen.

„Wie müssten also unsere Fragen lauten?“ Ich nippe von meiner kalten Cola und lasse das letzte Viertel meines Omeletts ruhen: „Wieso sind wir hier? Also, ich meine, wieso war ich noch niemals auf Taiwan? Auch nicht, wie soll ich deiner Meinung nach meine Geschäftsreisen reduzieren?“

Lin-Lin beginnt zu kichern. Als gut erzogene taiwanesische Tochter bedeckt sie dabei ihren Mund mit einer Hand. Lin-Lins Augen werden groß und kugelrund. Das ich das heute noch erleben darf!

„Bravo, bravo, ich sehe, du fängst endlich an, mich zu verstehen.“ Die Kleine klatscht begeistert in ihre Hände.

Ich weiß nicht wie, aber ist mir doch noch das Kunststück gelungen, das Ruder herum zu schmeißen? Wenigstens bei Lin-Lin ist die Welt wieder in Ordnung.

Nein, nicht schon wieder! Wie zur Antwort zischen und brodeln die Elemente in den Garküchen aufs Neue los. Stechender Schweiß läuft mir in die Augen. Neue Dampfwolken erheben sich himmelwärts. Ich bin verdammt. Was für ein grausiger Fluch lastet auf mir?

Meine Augen müssen jetzt auch im Durchmesser zugenommen haben, geradezu Untertassen groß, aber nicht vor Freude, sondern in totaler Panik. Ich kontrolliere jeden, der davon schwebenden Blasen aus Wasserdampf. Puh! Dschingiskahns Männer verzichten auf ein weiteres Stelldichein.

Der Spuk muss doch ein Ende finden! Nur, der Bursche auf dem Gaul hat bestimmt keinen armorschen Liebespfeil auf mich abgeschossen! Wer oder was, führt hier was im Schilde?

„Peter, was ist mit dir?“ reißt mich Lin-Lin zurück in die Gegenwart.

„Wo waren wir stehen geblieben?“

„Wir waren bei unseren drei Fragen.“ Lin-Lin ist meinen Blicken über dem Chaos der Tempelgarküchen gefolgt.

„Nun, meine Liebste, mit welcher Frage fangen wir an?“ trete ich die Flucht nach vorne an.

„Ach, deine Liebste? Dann erzähl mal, wer sind denn all die anderen?“ Meine Kleine strahlt mich an, wenigstens von ihrer Seite muss ich mich nicht mehr in Acht nehmen.

„In welcher Reihenfolge hättest du sie gerne?“ entgegne ich.

„Ganz wie dem Herren beliebt!“

Ich fange an, mit meinen Essstäbchen herum zu spielen. Lin-Lin stupst leicht an ihren Handyanhänger, einem Wackelkaninchen. Ich hatte ihr das Tierchen geschenkt, als sie mir verriet, dass sie im Jahr des Kaninchens geboren wurde.

„Ich werde fragen, wie mir der Sinn steht!“

„Wie du willst.“

„Also, wieso bin ich nicht auf Taiwan?“

„Weil du nicht bei mir bist!“

Ich schüttele verständnislos meinen Kopf. Kann sie nicht endlich auf den Punkt kommen!

„Nein, rede nicht um den heißen Brei! Sag endlich, was du von mir willst!“

„Wirst du mich auch verstehen?“

„Woher soll ich das wissen! Ja, natürlich werde ich dich verstehen.“

„Versprichst du mir das?“

„Ja, was denn noch?“

„Du musst mir das versprechen.“

„Ja.“

„Peter, ich möchte, …“, Lin-Lin stoppt für einen Atemzug.

„Ja.“

„Ich möchte, dass du für mich auf eine Reise gehst!“

„Was?“

„Keine Angst, du benötigst kein Flugticket, keine Hotels, keinen Reiseführer und keine Taxis.“

„Ich verstehe nur Bahnhof.“

„Auch den kannst du links liegen lassen.“

Was will Lin-Lin von mir? Reisen, zuerst Nein, jetzt Ja! „Entschuldige, ich meine, ich kann dir nicht folgen.“

„Das sollst du auch gar nicht! Du sollst deiner eigenen Nase folgen, deinen Instinkten, deiner Laune, deinen Füßen und ach, was weiß ich.“

Ich soll mich durch diese Affenhitze schleppen!

„Las dich schwerelos durch die Straßen treiben. Wie der Wasserdampf dort vorne über den Garküchen. Einfach, wohin der Wind dich weht.“

Und Luftpfeile auf ahnungslose Passanten abschießen. Erneut läuft mir der kalte Schweiß den Rücken hinab. Der traumatische Reiter im weißen Gewand lässt grüßen!

„Benutze alle deine fünf Sinne. Schüttele die Klimaanlagen, das Fastfood, die Kneipen und Bars von dir ab.“

Kein Problem, ich werde mir die Haare schwarz färben und meine Haut gelb anmalen!

„Atme die Luft ein und spüre die Sonne auf deinem Körper, schau dich um und probiere die vielen, kleinen Garküchen und trau dich, Gespräche mit den Einheimischen zu führen.“

Taiwanesisch für Anfänger, versuchen sie sich am anderen Ende, auf der anderen Seite der Welt!

Ich hebe leicht meine Hand, um Lin-Lins Redefluss zu unterbrechen: „Lin-Lin, das hört sich alles schön und gut an. Ich werde durch die Straßen deiner Stadt schlendern und wie ein Spion jedes noch so kleine Detail festhalten und notieren.“

Ein erneuter Schweißausbruch bahnt sich an. Lin-Lin hilft mir, mit einem guten Dutzend, weißer Papierservierten: „Betrachte deinen Gang, als eine Expedition, als eine Reise in das dir unbekannte Land Taiwan.“

Ich räuspere mich: „Ich werde also für dich eine Reise durch die Straßen deiner Stadt unternehmen. Ich denke, das habe ich dir versprochen.“

Lin-Lin nickt mir schweigend zu. Sie beachtet nicht mehr die Mailbox ihres Handys, das in wilder Folge SMS´s vermeldet.

„Und deshalb sind wir hier! Du hast mich zu dem alten Cheng-Hang Tempel geführt, weil du dir vorstellst, dass dieser Platz der ideale Startpunkt für meine Reise ist!“

Lin-Lins Gesicht ist eine Maske, aber ihre Augen verraten sie. Sie leuchten, wie die Nebelscheinwerfer eines LKWs. Ich muss auf der richtigen Fährte sein!

„Kommen wir zur unserer nächsten Frage! Wenn wir ein Alpha haben, dann haben wir auch ein Omega. Wie stellst du dir das Ende meiner Reise vor?“

„Du kennst das Ende!“ Lin-Lins Stimme ist nur noch ein seidenweiches Flüstern.

„Ja, aber was ist mit dir? Wie wirst du wissen, …“, ich stocke, der letzte Schluck Coca-Cola kann den Kloß in meinem Hals nicht lösen.

„Nur nicht so zaghaft, Herr Ingenieur! Das letzte Mal, als du ein bisschen, ein >i- dien-dien< Mut investierst hast, das hat sich doch gelohnt!“

Ich nicke. Der Tisch unter meinen Ellenbogen kippelt immer noch. Ich sollte mich vorsehen, nicht im eigenen Schweiß abzurutschen.

„Ich weiß, das ist nicht fair. Ich habe dir ein Versprechen abgerungen und du hast mir geantwortet, du würdest mich verstehen.“ Lin-Lin verstaut ihr Handy in ihrer LV Handtasche. „Alles was ich dir nun vorschlage, ist eine Idee!“

„Ich höre!“

„Ich möchte, dass du für mich nicht einfach auf eine Reise gehst. Ich möchte, dass du für mich auf eine spezielle Reise gehst. Ich möchte, dass du verstehst, dass die wirklichen Reisen eines Menschen nicht zu irgendwelchen, entfernten Punkten auf der Landkarte stattfinden. Ich wünsche mir, das du feststellst, das die wirklichen Reisen, nur zwischen den Menschen stattfinden.“

Lin-Lin leert ihre Sojamilch: „Peter, du wirst diese Reise nur für mich antreten. Dementsprechend werde auch nur ich wissen, ob du das Ziel deiner Reise erreicht hast.“

Lin-Lin schaut auf ihre Uhr. Ich weiß, das Geschäft ruft. Sie muss noch einmal zurück ins Büro. Die Zeit des Aufbruchs ist gekommen.

„Du bist das Ziel meiner Reise.“

„Ich höre, dass meine Botschaft angekommen ist.“

Kapitel II.

Schmetterlingsglück

Die Luft flimmert träge über der ockergelben Lackierung der Taxikarosserie. Der Fahrer wirft seine brennende Zigarette aus dem Seitenfenster und rastet das Taxameter ein. Das Gefährt startet mit einem kräftigen Ruck und schert in den Verkehr ein.

Lin-Lin wirft mir durch die Heckscheibe einen Handkuss zu. Ich beschirme meine Augen und winke zurück.

Ihr Taxi hat die Nummer 357. Im Chinesischen ausgesprochen:

>zan, wu, tschi<. Die drei Zahlen leuchten in einem hellen, heischendem rot. Wie verspielte Schmetterlinge tanzen sie vor meinen Augen.

Eine Gruppe Motorroller (englisch: >Scooter<) schließt auf und bedrängt das langsamere Gefährt. Unser Blickkontakt wird unterbrochen.

Ein weiteres Taxi folgt. Das KFZ horcht auf den Namen 612. Im Chinesischen ausgesprochen: >liu, i, a<. Die Zahlen schwingen in einem eleganten, rötlichen Zug auf der Beifahrertür.

Ich flüstere die Zahlen ohne die Lippen zu bewegen. Ich spreche die Namen der drei Schmetterlinge auf deutsch, auf englisch und auf chinesisch aus. Ich hatte diese praktische Lernübung aus dem einzigen, englischsprachigen Radiokanal (ICRT International Community Radio Taipei) der Insel erfahren. Ein italienischer Englischlehrer plauderte aus dem Nähkästchen über seine Inseljahre.

Ich gönne mir diese kleine Pause. Eine willkommene Zerstreuung im Schatten eines dunklen, schmalen Seiteneinganges zum Tempel.

Ich lasse die Minuten verstreichen und etliche Taxis passieren. Ich muss den Hals nicht recken. Die roten Schmetterlinge blinken vom weiten im grellen Sonnenlicht. Die Zahlen reflektieren, sie schlagen mit ihren Flügeln die Zeit fort.

Ich weiche zur Seite und lasse eine Schar japanischer Touristen, mit ihren mattschwarzen Digitalkameras, in den Götterpalast eintreten.

Ein Taxi aus vergangenen Tagen, ein älterer Herr, knattert und hustet vorüber. Seine Nummern sind das Ergebnis einer selbstgeschnittenen Schablone und tröpfelnder Ölfarbe. Aus seinem Auspuff blubbert träge ein bläulicher Qualm. Seine jüngeren Kollegen, ebenfalls Söhne aus dem Hause Tokio, bevorzugen Abziehaufkleber.

Die landesüblichen Kennzeichnungen bestehen aus meistens drei Zahlen und ein oder zwei Buchstaben. Die immer roten Schmetterlinge am Bug, den Flanken und dem Heck stimmen natürlich mit den amtlichen, behördlichen Kennzeichen überein. Was hat bloß das taiwanesische Taxifahrervolk, zu diesem bienenfleißigen Rundumnummerierungswahn bewogen?

Ein tattriger Greis, in Begleitung seiner philippinischen Alterspflegerin, erscheint aus dem Inneren des Tempels. Inselgroße Leberflecke schauen nervös unter seinen lichten, strohgelben Haaren zu mir hinauf.

Ein übergewichtiger Inselbewohner, im grünengelben gestreiften T-Shirt, schwitzt aus einem Taxi heraus. Das Fahrwerk ächzt quietschend unter der aussteigenden Last. Der Greis und seine Leberflecken nehmen federleicht hinten Platz.

Wieder hält ein Taxi und noch mehr Taxis, allesamt über und über mit flatternden roten Schmetterlingen bemalt.

Findet ihr nicht, dass ihr mit eurem Nummernreichtum ein wenig übertreibt?

Ganz im Gegenteil, die Antwort fällt nicht schwer: Wer gerne Nadeln im Heuhaufen sucht, der ist hier richtig aufgehoben. Wer zum Handy greift und eine motorisierte Droschke ruft, der will auch nur in dieses bestellte Gut einsteigen. Aber um das Gerufene im ockergelben Meer aufzuspüren, dafür langten die kleinen, amtlichen Kennzeichen nicht mehr aus. Die taiwanesische Taxigilde musste nachhelfen.

Aber wieso muss bei einer derartigen Taxidichte überhaupt das Handy (das >scho-dschi<) bemüht werden?

Diese Antwort ergibt sich ebenfalls von alleine! Meine Firma hat natürlich mit einem Taxiunternehmen ein Abkommen. Das heißt, eigentlich hat auf dieser Insel jede Firma mit irgendeinem Taxiunternehmen ein Abkommen. Ein jeder auf dieser Insel besitzt ein Handy. Ach, was sage ich da, der Trend geht eindeutig zum zweiten oder dritten mobilen Telefon. Der arme Wicht, der keine Taxinummer abgespeichert hat.

Ja, so einfach ist das in unseren heutigen Tagen.

Die Fahrer kennen mich, ich kenne die Fahrer und ihren dreistelligen Code. Sie können von weitem nach ihrem westlichen Gast Ausschau halten, ich kann chinesische Schmetterlinge zählen, bis ich einsteigen darf.

Ja, so einfach ist das in unseren heutigen Tagen.

Sie wissen um die Orte meines Handelns. Ich grüsse nicht das tägliche Murmeltier. Ich muss ihnen nicht jedes Mal mühsam und nervtötend die gewünschten Adressen unter die Nasen reiben.

Halt, stopp, so einfach ist das nicht!

Die Taxifahrer können meinen Namen, das Hotel, die Firma und die wenigen Kneipen in einem Atemzug nennen. Sie könnten mein Revier mit einer Handvoll Sticker auf dem Stadtplan markieren.

Ausnahmen sind ausgeschlossen.

Ich trete mit plötzlicher Rastlosigkeit aus dem Schatten des Tempels und gehe über einen kleinen, mit parkenden Scootern überfüllten Platz, hinüber zur anderen Straßenseite.

Mein Gott, ich habe nicht nur die Zeit vergessen!

Die Schmetterlinge sind nichts mehr wert. Die chinesische Zahlenwelt versinkt in die Annalen der unnötigen Zeitbeschäftigungen.

Die Kompassnadeln in meinem Hirn haben die Pole umgedreht.

Ein stickiger, miefiger Schleier liegt über den Straßen. Gesättigt und durchdrängt mit den rastlosen Aktivitäten eines vergehenden taiwanesischen Tages.

Die orangenen Dachziegel des Tempels glühen im Licht der untergehenden Sonne. Die Stadt Hsin-Chu liegt nur einen Steinwurf vom nördlichen Wendekreis (Wendekreis des Krebses) entfernt. In diesen Breiten schickt sich die Sonne nicht langsam und gemächlich hinab. Sie fällt förmlich vom Himmel. In keiner halben Stunde wird die Nacht den Tag ablösen.

Was hatte Lin-Lin gerade eben gesagt?

Ich wende dem orangfarbenen Feuer meinen Rücken zu. Die Straße vor mir weist stetig und gerade zum ehemaligen alten Nordtor der Stadt Hsin-Chu. Das Tor müsste genau dort stehen, an der nächsten, an der übernächsten Kreuzung. Ein aus Stein gemauertes Ziel, für Touristen und Stadthistoriker. Vorausgesetzt, das antike Gemäuer aus Kaisers Zeiten, wäre nicht der Bauwut moderner Städteplaner zum Opfer gefallen.

Woher weiß ich das denn jetzt mit einem Mal? Ich weiß doch nicht einmal, wo ich hier bin! Natürlich, ich stehe irgendwo in der Altstadt von Hsin-Chu, aber wo genau? Den Rückweg finde ich nur mit Hilfe eines dieser ockergelben Vehikel!

Hat Lin-Lin mir vorhin diese alte Stadthistorie erzählt?

Ein erneuter Hitzeschauer erfasst mich. Die Ursache ist jedoch nicht äußerlicher Natur.

Was hatte Lin-Lin vorhin gesagt? Konzentriere dich endlich, so schwer ist das doch gar nicht!

Was hatte Lin-Lin im Tempel versucht mir mitzuteilen? Sie hatte eine klare und eindeutige Botschaft für mich: Entweder ich schränke meine Reisetätigkeiten ein, oder sie beendet unsere Beziehung!

So einfach ist das!

Das darf doch nicht wahr sein. Soll unsere Freundschaft wirklich so enden? Habe ich sie wirklich richtig verstanden? Oder wirkte ihr “Entweder“ zu bestimmend? Oder klang ihr “Oder“ zu zaghaft?

Nein, so wird das bestimmt nichts!

Die Linien der Straße werden dunkler. Ich starre auf den von mir gewählten Fluchtpunkt, genau dort muss dieses alte, gammelige Tor gestanden haben. Die Sonne berührt fast die ersten Dächer.

Was sollte eigentlich die Geschichte mit diesen Flughäfen, Hotels und Bars? Nicht jeder Seemann hat in jedem Hafen eine andere.

Dieses Gesetz besitzt Gültigkeit, auch auf dem großen, chinesischen Festland. Glaubt sie etwa, meine Reisegründe wären nicht geschäftlicher, sondern menschlicher und insbesondere weiblicher Natur?

Die Schatten kriechen langsam die Straße entlang und gewinnen allmählich die Oberhand. Sie müssen sich aber noch ein Weilchen gedulden, bis sie ihren großen Bruder, die Nacht, begrüßen können.

„Peter, musst du unbedingt ein Leben lang reisen?“ Lin-Lins Worte hallen nach. Sie stellt mich vor die Wahl! Heißt das nicht, dass sie mir die Entscheidung überlässt?

Erst einmal ruhig durchatmen, noch ist nichts verloren. Lin-Lin hat lediglich einen Warnschuss abgegeben, leider einen gut gezielten Schuss. Sie hat ihn Haarscharf vor meinen Bug platziert!

Die Sonne kriecht blutrot hinter eines der Gebäude. Das Licht des Tages taucht ab, hinter Mauern und Dächern.

Ich fühle eine Kälte. Sie steigt nicht langsam in mir hoch, sie ist einfach da. Der Wechsel trifft mich wie ein Schlag, mein Körper stürzt ungebremst in einen neuen Aggregatzustand. Gerade eben keuchte ich noch unter bedrohlicher Überhitzung und schubartigen Schweißausbrüchen, jetzt fröstele ich am gesamten Leib. Meine Haut überzieht ein klebriger, getrockneter Schweiß und meine Glieder zittern unter einem leichten, kaum spürbaren Luftzug.

Was ist bloß los mit mir?

Hat ein mieser, hinterhältiger Virus mein Immunsystem ausgetrickst?

Ich muss hier weg! Nein, Lin-Lin hat mich auf eine Reise geschickt!

Ich kann nicht, meine Füße bleiben an Ort und Stelle.

Der Asphalt klebt nicht unter meinen Sohlen. Ich drehe mich um mich selber. Wo fange ich an? Ich habe nichts in den Händen.

Wann bin ich am Ziel? Mir fehlt ein Plan.

Lin-Lin, wo bist du? Wie würde dein Plan für mich aussehen?

Wie könnte dein Freund, aus dem fernen Europa, die Wege zu deinem kleinen taiwanesischen Herzen erneut einschlagen? Wie lange musstest du diese Frage mit dir herumgetragen haben? Wie lange musstest du dein kleines Köpfchen angestrengt haben?

Du bist nicht in der Lage, ihm die Wanderstiefel auszuziehen. Das Leder ist zu dicht verbunden mit seiner Seele. Er würde dich eher verlassen, als diesen Teil seiner selbst aufzugeben. Ein Matrose, dessen Herz dir, aber dessen Seele der See gehört. Die Wahrheit musste dich schwer treffen!

Wie viele verdorbene Tage musste diese unvermeidliche Erkenntnis, dir eingebrockt haben? Wie viele Nächte musste dieser Gedanke, dir jeglichen Schlaf geraubt haben? Wie lange musstest du grübeln, bis du einen Ausweg aus dieser Zwickmühle fandest?

Wenn dein Matrose des Reisens niemals Müde werden würde, was bliebe als Lösung? Deine Gedanken kreisten lange um diese eine Frage. Du musstest seine Reiselust akzeptieren. Damit musstest du dich unwiderruflich abfinden. Nicht aber mit seiner Art des Reisens!

Da war der Hebel, an dem du ansetzen konntest!

Er darf nicht mehr, wie von einer Tarantel gestochen, über den Erdenball hetzen. Seine neuen Routen mussten anderer Natur sein!

In deinem kleinen Köpfchen nahm mit der Zeit, ein Plan Gestalt an: Gib deinem Burschen ein neues Ziel. Zeichne ihm eine Landkarte.

Schreibe ihm die neuen Routen vor, deine neuen Routen!

Finde mich, musstest du gedacht haben. Wo aber sollte dein rastloser Freund dich suchen?

Die Antwort war beinahe zu einfach: Hier auf Taiwan sollst du deine Freundin suchen, gehe auf die Straßen ihrer Stadt. Sie wird auf dich warten.

Peter, du benötigst nur ein bisschen, ein >i-dien-dien< Mut! Der Weg zu ihr verläuft durch die Häuserschluchten ihrer Stadt. Öffne deine fünf Sinne, siehe, höre, rieche, schmecke und fühle, das ist alles, was du benötigst! Die Aufgabe sollte doch nicht so schwer sein, oder?

Lin-Lin, du bist das einzige Ziel meiner aller zukünftigen Reisen!

Mein Herz bleibt stehen. Was ist denn jetzt schon wieder los! Die Nacht verweigert sich, die Sonne ruht still im Fluchtpunkt. Aber das darf sie gar nicht! Sie müsste bereits hinter der Betonskyline Hsin-Chus untergegangen sein. Aber sie steht nur ruhig da und wacht bewegungslos in ihrer ganzen Pracht.

Das obere Drittel ihrer runden Scheibe blendet in einer weißen Glut.

Die Mitte ihres Sonnenballs wird bestimmt von einem satten, freundlichen Orange und ihr unterer Part zerfließt in einem dunklen Rot über der Straße.

Als wenn das nicht genug wäre! Diese Sonne steht mittig im Bogen eines gewaltigen, mächtigen Steintores. Das blanke Mauerwerk reflektiert das gleißende Sonnenlicht geradewegs in meine Augen und ich hebe schützend meine Hand. Der Rundbogen endet knapp vor der nächsten höheren Etage. Den steinernen Abschluss bildet eine geklinkerte Balustrade mit regelmäßigen Schießscharten. Darüber stützen massive Holzpfeiler die spitzen Schwalbenschwanzdächer. Deren Dachpfannen schimmern in einem goldenen Feuer, dieser doch allzu exotischen, ostasiatischen Abendsonne.

Ach herrje, schon wieder ein Trugbild! Hinter dem Tor steht ein Bambuswald, ich kann meinen Blick nicht losreißen. Ich sehe und höre diesen Bambus.

In einem lebensbejahenden hellen Grün, durchmischt mit einem unscheinbaren matten Graustrich, reihen sich seine Stämme aneinander. Die Sonnenstrahlen gleiten über sein Blätterwerk, das von einem sanften Wind, wie in einem Meeresrauschen, auf und nieder wogt.

Die leichte Abendbrise lässt die Stämme aneinanderschlagen. Die Hölzer klopfen im Takt, nur sie kennen den Rhythmus, die Melodie ihres Liedes. Der Bambuswald singt für mich. Die einzelnen Bambusbäume rufen mich. Ich soll näherkommen und das Tor durchschreiten, ich soll eintreten in ihrem Wald, ihrem Bambuswald. Die einzelnen Stämme, mit ihren Laubkronen winken mir zu, unwiderstehlich und verführerisch. Ich muss mich zusammenreißen und kann ihrer Einladung, nur mit der Anstrengung all meiner Willenskraft widerstehen. Was geht hier vor sich?

Woher kommt dieser Wald? Ein Gehölz, mitten in der City von Hsin-Chu. Ein Hain, der nur im Licht der untergehenden Sonne erscheint.

Ach ja, woher weiß ich denn das schon wieder? Was heißt der chinesische Name >Hsin-Chu< doch gleich? Richtig, >Hsin-Chu< bedeutet >neuer Bambus<.

Na, dann ist ja alles in bester Ordnung. Der abgeholzte Bambusurwald von Hsin-Chu grüßt mich. Morgen werde ich mit dem letzten Kaiser von China Mah-Jongg spielen und übermorgen gehe ich, mit den tönernen Terrakotta-Jungs aus Xi`an, in die nächste Karaoke Bar.

Ohne Zweifel, die Reihe ist an mir. Das muss der Wahnsinn sein!

Oder ist das eine neue Variante des Burn-Out-Syndroms? Vielleicht täten mir ein paar Wochen auf Rezept ganz gut? Oder war Lin-Lins Austernomelett ein Drogencocktail? Das Opium ist außer Mode, ein paar bunte Pillen sind jetzt zeitgemäßer, eine Spezialität des Hauses Cheng-Huang.

Ich wende mich ab, von dem falschen Sonnenball und schlendere langsam zurück zum Tempel. Zuerst ein geisterhafter Reiter aus Pustekuchenwatte. Jetzt ein glitzerndes Spukgemäuer, inklusive Grünanlage. Was für ein Entertainment- Programm lauert als nächstes auf mich?