Stojan räumt auf - Norbert Möllers - E-Book

Stojan räumt auf E-Book

Norbert Möllers

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Beschreibung

Immer noch sieht der längst pensionierte Kriminalkommissar Peter Stojan genau hin und mischt sich ein, wenn er ein Verbrechen wittert. Dass das Sauerland nicht von den Ungerechtigkeiten auf der Welt verschont wird, weiß er. Giovanni Amuso aus dem tiefen Süden Italiens erfährt es am eigenen Leib. Eine vermeintliche Traueranzeige erscheint in der Zeitung, die sich als Fälschung entpuppt. Denn niemand trauert um den Verstorbenen. Behutsam und beharrlich sucht Stojan nach Zusammenhängen. Er verreist, lässt sich belehren über Mafiaorganisationen und Gefängnisstrukturen, hinterfragt den Zusammenhalt in Familien und Partnerschaften und scheut sich nicht, gesellschaftliche Missstände anzuprangern. Dabei verliert er sich selbst und sein privates Umfeld aus den Augen. Während Zeugen, Opfer und Täter Rollen tauschen, droht ihm das Heft des Handelns zu entgleiten.

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Seitenzahl: 342

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Norbert Möllers

Stojan räumt auf

Kriminalroman

© 2021 Norbert Möllers

Verlag und Druck:tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-30768-1

Hardcover:

978-3-347-30769-8

e-Book:

978-3-347-30770-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Prolog

„Porco dio, Gesu Maria! Warum steht der Idiot da mit seinem Fahrrad? Spring zur Seite, Herrgott spring! Der sieht mich nicht, madre Maria!“

Die Reifen quietschten, wenigstens die drei, auf denen Giovanni in die letzte Kurve gerauscht war. Rasch hatte er das Steuer von rechts nach links geworfen. Und wieder nach rechts. Fahren konnte er, da machte ihm keiner etwas vor. Keinen besseren hätten sie haben können. Verdammt, jetzt hatte er ihn erwischt. „Spring, Idiot! Spring, habe ich gesagt, spring, die schießen, idiota!“

Der Radfahrer rutschte, hielt sich soeben aufrecht. Er musste ihn so anfahren, dass er kippte, platt wurde, zu platt, für die Gewehrkugeln. Vielleicht gelang es ihm sogar, den Kerl in den Graben zu schubsen. „Hör auf zu schreien, Idiota!“

Soll froh sein, wenn die ihn nicht sehen. Tempo, durchtreten! Quietschen. „Porco dio!“ Warum haben die bloß geschossen?

Nach rechts. Nicht bremsen! Schleudern. Jetzt war er dran. Der Wagen gehorchte ihm nicht. Gott sei Dank freie Bahn. „Gesu Maria.“ Falscher Gang. Der Motor heult. Hinten flattert was, haben sie endlich die Türen zu gekriegt, diese Idioten, verdammt. Der Wagen schlingert. Jetzt langsam beschleunigen, nicht überstürzen. „Gesu Maria, verdammt, merda!“ Hoffentlich ist der nicht tot, der mit der Uniform.

„He, Itaker, hast du eben gehupt? Sag mal, hast du sie noch alle? Mach doch Blaulicht an! Du Schwachkopf! Hast du einen Knall? Lebensmüde? Brauchst du nur zu sagen. Wir sind das aber nicht, ist das klar! Los, zeig mal, was du kannst, Itaker, drück mal auf die Tube!

Brauchst du Anfeuerung von hinten? Und was murmelst du da die ganze Zeit, meinst du wir hören das nicht?“

1

Sollte er Bilanz ziehen? Vorsätze formulieren? Weil ein neues Jahr anfing? Das sah Stojan nicht ein. Außerdem witterte er Gefahr für seine Bequemlichkeit.

Vorsätze waren etwas für Träumer. Träumer und Hellseher. War er nicht. Behaupteten einige. Er wusste es.

Dieses Mal war es anders, zugegeben. Er war nicht mehr allein. Emotional, unterbewusst. Streng genommen war er das vorher auch nicht, wenn er sich richtig entsann. Und wenn allein, dann nicht einsam. Die Rolle des Partners hielt Fido, der Boxerrüde, besetzt. Darüber war zu reden. Mit sich selbst. Und mit dem Hund. Gleich.

Ging es ihm gut? War das stumme Ertragen des Älterwerdens die richtige Strategie? Oder sollte er sich wehren?

Gelegentlich tat ´s irgendwo weh, linkes Knie, rechte Hüfte. Er ging regelmäßig mit seinem Hund spazieren, hin und wieder aß er mal einen Apfel. Wenn so Älterwerden funktioniert, konnte das seinetwegen weitergehen.

War ´s das? Neue Batterien konnte er seinem Blutdruckmessgerät mal spendieren, die letzte Messung nach seinem Unfall vor einem halben Jahr hatte er nicht mehr ablesen können. Konnte auch an den Augen liegen, da war manchmal ein feiner Schleier. Dass es im Kopf schon mal hämmerte, war wohl normal. Aber er aß gesund, selten Fast Food, wenig Süßigkeiten. Oder er ging zu Tasso.

„Griechische Küche ist die gesündeste der Welt!“, sagte der auch ungefragt oft und gerne. Bei Tasso spielte er auch wieder Schach. Mit anderen Rentnern, dienstags abends ein paar Stunden. Dann wurden Könige, Damen und Springer bewegt, Stirne gerunzelt, Haare gerauft, gelegentlich „Schach“ gesagt. Ansonsten schwieg man sich die meiste Zeit an. Das war zweifelsohne gesund.

Nach wie vor pflegte er freundschaftlichen Kontakt zu seinen ehemaligen Mitarbeitern. Sonja Steeger ließ ihn immer mal wieder an aktuellen Fällen teilhaben. Seine Perspektive hatte Gewicht und sie nahm gerne Tipps ihres alten Chefs wenigstens zur Prüfung mit. Gelegentlich wurde es etwas sentimental, wenn man in Erinnerung an frühere Fälle ins Schwelgen geriet. Die meisten hatten sie im Team gelöst, den letzten nach Stojans Pensionierung.

Mit Jankowski traf er sich alle paar Wochen zum Angeln. Das heißt, Jankowski angelte und Stojan sah zu. Es wurde diskutiert, philosophiert, geblödelt, man tauschte sich aus. „Von Mann zu Mann“, nannte Helen das. Kriminalfälle, die Fragen offengelassen hatten, die ungelöst abgelegt worden waren, tauchten in ihren Gesprächen ab und zu auf wie Fische an der gebogenen Angel. Stojan brauchte das, die Erinnerung an alte Fälle war er den Opfern schuldig.

Jankowski selbst schätzte die abwägende Grübelei seines ehemaligen Chefs. „Der Chef denkt eben noch analog“, war das eine oder andere Mal dann sein eher bei- als abfällig gemeinter Kommentar.

Aber was war mit Helen? Das war die wichtigste Frage. Darum kam sie auch zuletzt. Sie hatten an den Weihnachtstagen harmonische Stunden verbracht, die Zeit vergessen, vertrunken, verschlafen und sich in den Winterberger Wäldern verlaufen. Sie hatten beide gespürt, dass da etwas gewachsen war. Gesprochen hatten sie nicht darüber, keiner wollte auf ein zartes Pflänzlein trampeln. Zunächst nur genießen. Aber dass Helen Silvester bei ihrem Bruder in Süddeutschland verbracht hatte, hatte ihm schon einen Stich versetzt.

Stojan hatte mit Fido in seinem Bungalow an einer möglichen Zukunft gemalt, war bei seinen Überlegungen aber schon am Wort Bungalow hängen geblieben und hatte viel Zeit verschwendet mit Recherchen über die Herkunft dieses Begriffs. Ja, Zeit verschwenden zu können, erschien ihm durchaus ein reizvolles Privileg des Single-Daseins zu sein. „Wenn Helen da ist, riecht es besser, was meinst du, Fido?“ Der Hund schnupperte: Da lag ein Stück Käse von gestern, drei Teller standen in der Spüle und warteten auf heißes Wasser, ein paar Gläser daneben. Die Flaschen müssten zum Altglas. Die gelben Säcke hatte er längst schon untersucht, seine Fleischdosen schienen alle leer zu sein. Die Socken auf dem Sofa gehörten Herrchen, der Knochen daneben ihm. Ein 2016er.

Nein, der Hund hatte an dem Geruch im Hause Fido-Stojan nichts auszusetzen. Aber Helen sollte trotzdem gefälligst bald wiederkommen.

Die klare Winterluft, die sie dann mittags auf dem Spaziergang begleitete, räumte die Nasen von Herrn und Hund auf. Wenig Schnee an den Wegrändern, ein paar angetaute Regenpfützen, der Blick nach vorne und nach oben war angenehmer: ein bisschen Blau, ein heller Schimmer. Der Kopf wurde geputzt, freier. Und beschloss, dass im Moment keine Entscheidungen anstanden. Keine, die an Bedeutung die Frage nach der nächsten Mahlzeit übertraf.

Beinahe hätte er die Wildkamera übersehen, die an einem Weidezaunpfahl kaum dreihundert Meter hinter seinem Grundstück befestigt war. Er wusste, dass solche Kameras auf Bewegung reagierten, zur Wildbeobachtung und Grundstücksüberwachung eingesetzt wurden. Oder gestörten Persönlichkeiten beim Spannen ihre Dienste anboten. Zu letzteren zählte er unbedingt seine nächsten Nachbarn, ein Geschwisterpaar. Sie besaßen einige Wiesen und Waldstücke. Früher hatte Stojan den ehemaligen Soldaten und seine als Seherin firmierende Schwester für schrullig gehalten. Mittlerweile hatten sich die beiden als äußerst unangenehme Zeitgenossen entpuppt. An Fensterscheiben und an den vorgelagerten Schuppen pinnten sie wechselnde Slogans, die ihre rassistische Grundeinstellung kaum verhehlten. Und deren strafrechtliche Relevanz nach Stojans Meinung längst mal überprüft gehörte. Selten, dass er ohne irgendwelche Mensch oder Hund beleidigende Nachrufe an dem Grundstück vorbeikam. Stojan war froh, dass deren Wohnhaus zwar in Sichtweite, aber dennoch weit genug entfernt von seinem eigenen lag.

Die Ausrichtung der Kamera machte ihn stutzig. Wieso auf den Gehweg? Der Asphaltbelag war längst übergegangen in einen schmierigen Untergrund aus vereistem Laub und mit wenig feuchtem Kies gefüllten Furchen, dazwischen standen vereinzelte Grasbüschel. Hier gab es nichts zu überwachen. Wild hielt sich nicht an Wegbegrenzungen. Selbst Liebespaare mit spärlicher Fantasie sollten romantischeres und komfortableres Ambiente finden, mit Sicherheit im frühen Januar. Hier fuhren gelegentlich Trecker her, Fahrzeuge der Forstbetriebe. Selten sah man Spaziergänger. Stojan wollte es jetzt wissen. War die Kamera mit einem Weitwinkel- oder einem Teleobjektiv ausgestattet? Er blickte zurück. Sein Grundstück lag gut sichtbar vor einer Kurve.

Völlig in Gedanken verpasste er eine Abzweigung und fand sich vor Tassos Kneipe wieder. Geschlossen. Er drehte um und schlug gemächlicheren Schrittes den Rückweg ein. Er würde die Kamera mitnehmen, beschloss er. Wenn sich einer deswegen zu beschweren hatte, wusste er wenigstens, mit wem er es zu tun hatte. Notfalls konnte er sich immer auf Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte berufen. Fido, der sich an die bummelige Gangart gewöhnt hatte, wurde ihm auf einmal zu langsam.

„He, Boxer, mach vorwärts!“ Ein paar Mal ruckte er an der Leine, bevor der Hund einsichtig war. Bald hatten sie die Wiese mit den Weidepfählen wieder erreicht. Sie standen im Abstand von circa sechs Metern zueinander, Stojan suchte sie mit den Augen ab. Welcher von den acht war es? Einen Drahtzaun zwischen den einzelnen Pfählen gab es nicht. Weit und breit waren weder Vieh noch Pferde zu sehen. Die Kamera war mit einem mehrmals um den Pfahl gewickelten Gurt befestigt, auffällig genug von beiden Seiten. Auf jeden Fall, wenn man aufmerksam war. Fünf der Pfähle hatten sie passiert, auch an den drei letzten hing keine Kamera. Stojan ging zurück, suchte Pfahl um Pfahl ab. War sie hinuntergerutscht? Er kontrollierte die Perspektive. Sein Haus lag am sichtbaren Ende des Wegs, kurz bevor er sich in einer Rechtskurve verlor. Hier war es, kein Zweifel. Vor knapp einer halben Stunde jedenfalls.

Stojan schritt ein weiteres Mal die Pfähle ab. Neuerdings ertappte er sich gelegentlich dabei, wie er seine eigenen Wahrnehmungen hinterfragte. „Reine Vorsichtsmaßnahme, Fido, solltest du auch mal machen!“ Fido guckte unverständig. „Verdammter Mist! Warum habe ich die nicht sofort mitgenommen? Mist, verdammt!“

Das Fluchen half nicht. War das Zufall? Alles harmlos? Nirgends eine Wildkamera. Irgendwer hatte seine Beute eingetütet. Ob jetzt der Tierfreund seine Familie mit verwackelten Wildschweinen nervte oder der Wissenschaftler am Bildschirm die sauerländische Fauna einem internationalen Vergleich unterzog, war ihm schnuppe. Und wenn der Liebhaber schlüpfriger Filmchen seine Sammlung um menschliches Paarungsverhalten im Winter bereicherte, viel Spaß dabei. Ging ihn nichts an.

Wohl aber, wenn er die Zielscheibe war. Oder seine Gäste. Sollte er jemandem davon erzählen? Oder lachte man ihn aus?

In jedem Fall würde er etwas unternehmen. Aktiv. Mal beim Arzt durchchecken lassen. Oder war das passiv? Mal zum Friseur gehen. Das war eindeutig passiv. „Fido, was meinst du?“

2

Die Tabletten wirkten. Nicht dass die Schmerzen nachließen, nein, kein bisschen, eher das Gegenteil war der Fall. Der alte Mann ächzte. Das Sofa wurde ihm unbequem. Aber das Rumoren im Bauch und die aufsteigende Übelkeit ließen keinen Zweifel aufkommen: Ein Prozess war in Gang gesetzt worden. Musste ein chemischer Prozess sein. Er kannte das. Bald würde sich der Druck verstärken, kaum aufhalten lassen und dann musste er wieder gehen, sich bücken und hocken und hoffen, sich später wieder hochhangeln zu können. Morgen wollte er die Tabletten weglassen, ausprobieren, ob sie eine andere Wirkung hatten als Grimm und Revolte in den Eingeweiden. Eine Nebenwirkung, die er erst wahrnahm, wenn sie fehlte. Zum Beispiel Unterdrücken von anderen Schmerzen, die sich dann frei entfalten durften: im Kopf, im Nacken, in den Fingern, da, wo er sonst wenig Qual verspürte.

„Danke! Danke, dass ich nicht auch Schmerzen an der Nasenspitze habe, danke. Liebe Nasenspitze, dich mag ich lieber als den Rücken, weißt du das schon?“

Manchmal halfen Selbstgespräche. Überhaupt war er seltsam klar, konnte von gestern bis morgen denken. Oder weiter.

Vielleicht hatten die Tabletten einen weiteren Nutzen. Einen, indem man sie nicht nur nicht einnahm, sondern sammelte. Damit sie dann alle ihren gemeinsamen Auftritt bekommen, als großes Orchester. Ein Tutti, hieß das nicht so? Oder Tutto. Nein, Tutto hieß die Nachbarskatze.

„Hoffentlich muss ich nicht kotzen.“ Er hatte Geräusche vernommen. Oder sich eingebildet?

Manchmal helfen Selbstgespräche nicht. Seine Augen suchten nach einem Handtuch.

Alle hatten ihn ausgenutzt. Hätte er einen Sohn gehabt, wäre das anders ausgegangen. Oder eine Tochter. Aber das lag nicht an ihm, das lag an seiner Frau und ihren Gitanes. Ohne Filter. Gott habe sie selig.

Er war feige. Irgendwann war es zu spät. Ist nicht alles irgendwann zu spät? Jetzt ist es sowieso zu spät. Die Nichte sah traurig aus, wenn sie kam.

„Sie weiß etwas. Sie guckt in mich hinein.“ Seine Stimme war leise, er konnte sie selbst kaum hören. „Immer muss ich irgendetwas unterschreiben, was ich nicht verstehe.“ Gemurmel.

Und dann halfen sie doch wieder. Die Selbstgespräche.

Irgendjemand war im Raum. Er war sicher. Ohne die Augen zu öffnen. Er schob das Handtuch vom Gesicht.

So viel war ihm entglitten. Immer nur unterschreiben. Früher hatte er gearbeitet. Er merkte, dass es nicht gut war, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen, die Schmerzen kamen wieder.

Jetzt wusste er, woher die Geräusche kamen. „Habe ich mehr Krebs oder mehr Kopfdurcheinander, weißt du das, Doktor?“ Er duzte die Menschen, die ihn besuchten. Das war einfacher für ihn. Manchmal kamen Menschen, die er nicht kannte, gestern erst oder vorige Woche. Der Arzt machte irgendetwas, drückte und horchte, schrieb etwas auf. Das musste er nicht unterschreiben.

„Du bist doch mein Hausarzt, oder?“

„Sicher, ich bin Ihr Hausarzt. Haben Sie heute wieder Schmerzen?“ Dr. Thilo Hebert duzte ihn nicht, er vermied die Anrede. Er hatte es mal mit „Heinz“ und „Sie“ versucht, sich aber dabei nicht wohlgefühlt. Und ihn mit Nachnamen anzusprechen, kam ihm nicht passend vor. Auf Respekt und Höflichkeit verzichtete der Arzt nicht, erst recht nicht bei alten und dementen Menschen. Und dieser hatte sicher etwas geleistet in seinem Leben, seinen Mann gestanden in dem Betrieb, in den er eingeheiratet hatte. Soweit Hebert wusste, hatte man es seinem mittlerweile ziemlich hinfälligen Patienten nie leicht gemacht.

„Du bist doch kein Neger, Doktor?“

Hatte er richtig verstanden? Der Regen klatschte laut gegen die Scheiben, stürmisch war es den ganzen Tag schon. Die Stimme des Alten schien von weit her zu kommen.

„Oder Jude?“

Was ging in dem Alten vor?

„Oder schwul?“ Lauter, bohrender.

Der Regen hatte einen schnell peitschenden Rhythmus gefunden. Der Arzt überlegte, ob er antworten sollte ober lieber so tun, als habe er nichts gehört. In einer halben Stunde fing seine Nachmittagssprechstunde an. Das Wartezimmer war donnerstags immer überfüllt, meistens schon um diese Zeit. Er war müde, und ihm war ein wenig übel. Er war völlig überrascht von dieser Attacke des Alten.

Ihn in die Schranken zu weisen, das war auch eine Sache der Hygiene. Hatte er die Kraft, die Zeit, die Lust dazu?

Der alte Mann sah auf einmal wieder klarer. Hatte der Doktor ihm eben eine Spritze gegeben? Ihm war so. Er hatte irgendetwas gesagt, was er besser nicht gesagt hätte. Die Miene des Doktors schien ihm abweisend. Aber auch abwesend.

„Ich brauche mehr Tabletten gegen Schmerzen, hörst Du, Doktor?“, sagte er. Dann habe ich sie schneller zusammen, sagte er nicht.

Dr. Hebert nahm noch etwas Auszeit. Dann war er wieder im Dienst. „Und wie ist es mit Übelkeit?“

„Geht so.“ Aber wenn er jetzt an die Firma dachte und wie das alles passieren konnte, dann wurde ihm wieder schlecht. Früher hatte er es verstanden. Es ging um Geld, das ihm gehörte, das war kompliziert. Dann spendete er es und es gehörte ihm nicht mehr. Das war verständlich.

„Ich schreibe welche auf.“ Der Alte sah, dass die Hände des Arztes zitterten. Was hatte er zu ihm gesagt? Er hatte es vergessen. Er war doch nicht unhöflich gewesen? Das war nie seine Art. Die Gedanken hüpften.

„Bist du etwa ein alter Nazi?“ Dr. Hebert hatte den Respekt verloren. Ganz nah war er ans Sofa getreten. „Ja? Bist du das?“ Jetzt rann dem Doktor sogar etwas Speichel aus dem Mundwinkel. Rasch packte er seine Utensilien in den kleinen Koffer und verließ den Raum und das Haus ohne Gruß.

Er musste mit der Nichte sprechen. Unbedingt. Es gab Grenzen.

3

Irgendwo summte etwas. Dann schepperte ein altes Klavier. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Stojan sein Handy unter der Zeitung gefunden hatte.

„Hallo, Herr Stojan! Gut, dass ich Sie endlich erreiche. Oft scheinen Sie nicht auf Empfang zu sein. Kleefisch hier, Paul Kleefisch, JVA Werl. Ich wollte Sie informieren, Sie hatten mich gebeten …, Herr Stojan? Hören Sie?“

Peter Stojan hörte. Hörte und dachte und überlegte: Wer zum Teufel war Paul Kleefisch?

„Ja? Was wollte ich?“ Kleefisch, Kleefisch, nee. Paul …? Schon mal gar nicht.

„Herr Stojan, ich rufe an wegen Amuso, Giovanni Amuso. Sie haben mich gebeten, Ihnen Bescheid zu geben, wenn es etwas Neues gibt.“

Noch ein Name. Aber einer, der Stojan sofort etwas sagte, ihn elektrisierte. Die Scheiben frei kratzte. Mit einem Ruck hatte er sich aus seinem Sessel erhoben. „Ach Kleefisch, Herr Kleefisch, klar, Sie sind das. Warum sagen Sie das nicht gleich. Was ist mit Amuso?“

Was zu schreiben, Moment, wer hat meinen Kuli schon wieder…? „Warten Sie, Herr Kleefisch, ich suche gerade einen Stift, warten Sie, hier …, gleich …“. Er war jetzt an seinem Schreibtisch angelangt. Vom Fenster drang keine Helligkeit mehr nach innen, obwohl es kaum fünf sein konnte. Aber seit Tagen hatte dichter Nebel wenig Licht ins Rothaargebirge gelassen. „Was ist mit Amuso, kommen Sie schon! Hat er was gesagt?“

Er hatte endlich einen Bleistift ertastet und ein Schreiben von der Haftpflichtversicherung. Die Rückseite war zwar schon zur Hälfte vollgekritzelt, aber für die Neuigkeiten sollte der freie Platz reichen. Seinen Lieblingskuli musste Marina, seine Putzhilfe, verschleppt haben. Wie immer. Wer sonst.

„So, ich höre jetzt, Herr Kleefisch, bitte.“ Er ließ sich zurück in den Sessel fallen, streckte die Beine von sich. Um im nächsten Moment allerdings wieder kerzengerade im Raum zu stehen.

„Was sagen Sie?“

„Tot. Amuso ist tot, Herr Stojan. Am 7. Januar ist Giovanni Amuso gestorben.“

4

„So geht der Deal, junge Frau. Die Anzeige muss raus. Sie haben das doch verstanden? Der alte Herr und seine Sünden interessieren mich nicht, ich bin nicht sein Beichtvater. Mir hat der nichts getan. Der nicht. Mir nicht. Aber ewig kann ich nicht warten. Ich will nicht, dass die Bombe in meiner Hand hochgeht, dann ist die auch im Arsch, junge Frau. Die hier. Sie verstehen das?“ Er hob seine rechte Hand in die Höhe und drehte sie im Gelenk und winkte langsam hin und her.

Das sieht unbeholfen aus, dachte die junge Frau, die wenig älter war als der Mann. Unbeholfen, obwohl es doch seine bessere Hand war. Überhaupt war er ihr unheimlich, sie leugnete es nicht. Er passte in die muffige Wohnung mit den vollgestellten Wänden und den abgelebten Möbeln, zu der es mindestens sechs Stufen hinunterging. Das nächste Mal würde sie zählen.

Zuerst hatte sie den Eingang nicht gefunden, nirgendwo stand ein Name. Aber das hatte man ihr vorhergesagt: Sie würde nicht nur räumlich in die Souterrains eintauchen. Das Benehmen konnte genauso unterirdisch sein. Zu diesem armen Teufel hatte sie ein spezielles Verhältnis. Manchmal war er witzig, zumindest besaß er eine makabre Art von Humor, sagte mal etwas, das sie kurz stutzen ließ.

Allein, wie er sich vorgestellt hatte, damals: „Gestatten, Quasimodo. Sie schickt mir der Himmel oder die Hölle“.

Es hatte gedauert, bis sie sich an seine Aussprache gewöhnt hatte. Er konnte argumentieren, überzeugen, er wusste Bescheid, gut sogar. War er besser vernetzt, als sie vermutete? Den Plan hätte sie ihm zunächst kaum zugetraut. Er war perfide, aber er hatte was.

„Ein Datum kommt ja nicht auf die Anzeige, aber man wird schon wissen, dass die Leiche nicht mehr warm ist. Und man hatte möglicherweise bereits Zeit für irgendwelche Schlaumeiereien. Ihm gehts nicht so gut, dem alten Herrn? Isst und trinkt nicht mehr so richtig? Ganz gelb im Gesicht, sagen Sie? Das sieht doch gut aus, nach Punktlandung. Heißt doch so.“

Er hielt den Kopf schief, sodass die Augen wieder nebeneinanderstanden, und blinzelte sie von unten aus dem Sessel mit dem abgewetzten Cordbezug an. Will sie ihn hinhalten, fragte er sich. Wird sie sentimental? Ach Gott, die doch nicht. Die weiß, was sie tut. Die hat das genau bedacht. Von ihr hatte er das Programm. Er hatte ihren Namen vergessen. Irgendetwas mit G, war es nicht so?

Alles war möglich. Sogar, dass nichts passiert. Oder man denkt, es passiert nichts.

Wie bei einer Lunte, die so tief ist, dass sie keiner riecht, so lang, dass man sie vergisst.

„Dass das in Gang kommt! Nicht ewig fackeln! Wir brauchen eine Deadline. Sonst wird ´s kompliziert, für alle Beteiligten.“ Mit der linken, schlechteren Hand schob er seine Steppjacke von einem Hocker und wies auf die neu geschaffene Sitzgelegenheit. „Mittwoch würde gut passen.“

„Danke, lassen Sie mal. Ich stehe gerne.“ Außerdem war alles gesagt. Mittwoch. Könnte klappen. „An mir solls nicht liegen. Ich werde Vollzug melden.“ Sie wollte weg. An die frische Luft. Auch wenn es draußen trüb war, neblig und kalt, so war es dennoch fraglos besser als stickig, abgewetzt und hinterhältig.

„Hat der Vogel genug Futter?“ Sie war ja nicht nur subversiv unterwegs.

Der Mann, der sich Quasimodo genannt hatte, antwortete nicht. Die Frau, deren Namen er vergessen hatte, schloss die Tür, tastete sich durch den Gang, zählte die Stufen. Sie war verwirrt.

Hatte sie nichts verkehrt gemacht? Immerhin war es eine Entscheidung von beträchtlicher Tragweite.

5

Das Gewerbegebiet war unübersichtlich, schmuddelig. Entstanden wie Wildwuchs, nicht sorgfältig auf dem Reißbrett entworfen von ambitionierten Stadtplanern mit Soziologie im Nebenfach. Wildwuchs, Unkraut, Warzen.

Oder Metastasen, schoss Stojan in den Kopf, dessen Blick auf die Autowracks fiel, die Reifenstapel vor den Hallen mit zerbrochenen Fenstern. Sie waren da hineingeraten, Anfang oder Ende mochte es geben, er sah nichts dergleichen. Pfeifender Wind und peitschender Regen statt der kecken Sonnenstrahlen und man hätte die perfekte Kulisse für sozialdramatisches Kino. Die spärlichen Farbtupfer in den schlierigen Pfützen würde man durchgehen lassen.

Instinktiv checkte Stojan ihren Gehweg auf Ratten, Gift und Scherben, bevor Fido an der kurzen Leine so etwas entdecken würde. Sonja schien ihm in ihren knöchelhohen Tretern gut gerüstet.

„Wie hast du es erfahren?“, fragte Sonja.

„Kleefisch hat mich angerufen.“ Stojan schauderte. Es war nicht die Tristesse der Umgebung, nicht das Februarwetter. Davor wusste sich Stojan zu schützen. Aber gegen dieses latente innere Zittern half weder der doppelte Anorak noch die Wollkappe. Seit dem Anruf nahm er es fast ständig wahr. „Ich hatte ihn damals gebeten, mir Bescheid zu geben, wenn er irgendetwas mitkriegt. Gerede, verdächtiger Besuch, mögliche Komplizen, Beute, irgendwas. Tja, jetzt hat Amuso sein Schweigen mit ins Grab genommen. Trotzdem gibt es Grund, da mal nachzufassen.“ Er zögerte und sah Sonja an. „Du weißt, wer Kleefisch ist?“

Sonja wusste, wer Kleefisch war. Einer von den Justizvollzugsbeamten, mit denen man beruflich gerne Kontakt hatte: vernünftig, kooperativ, nicht so abgestumpft wie andere oft schon nach der Hälfte an Dienstjahren auf dem Buckel. Deshalb hatte der Alte sie also abgeholt. Da hat ihm einer mal wieder einen Floh ins Ohr gesetzt, dachte sie. Eine der Hallen sah solider aus, ein paar Container aus grauem Wellblech hatte man angebaut, mit Graffiti in Gelb und Rostrot verziert und dann das ganze ordentlich eingezäunt.

„Umgekehrt. Erst der Zaun, dann die Zierde“, sprach Stojan leise zu sich. Sonja kümmerte sich nicht darum. So etwas war nicht wichtig, eher privat. Das kannte sie von früher, wenn sie zusammen unterwegs ermittelten. Egal, ob bei Saubermanns zuhause oder im Müll, im Schatten: Stojan öffnete ein Ventil und ließ Druck ab.

„Weißt du, wie viele sie hier eingepfercht haben?“

Einige Männer fegten den Hof. Bedächtig. Frauen rieben mit Lappen über eine Bank vor einem Klettergerüst und einem Sandkasten.

„Nee, aber es gibt sicher schlimmere Auffangheime. Hier scheinen Familien untergebracht zu werden. Es ist zu kalt, um draußen zu spielen. Damals gabs das nicht, das wüsste ich. Tagelang sind wir herumgestreift und haben nach Zeugen gesucht, glaub ’s mir. Du hattest an der Sache Amuso doch mitgearbeitet.“

Klar, er erinnerte sich. „Aber nicht selbst verhört. Ich war schon außer Dienst, hatte bloß keinen Nachfolger. Ich war als Zeuge geladen und habe dementsprechend die Verhöre durchgesehen.“ Doch: Verhören hilft nichts, wenn der Verhörte nichts sagt. Man kann den verhören, solange man will. Statt den anderen hat man sich verhört. Warum war ihm nie diese Doppeldeutigkeit von verhört aufgefallen?

Dann war er wieder zurück bei der Unterkunft. Dass das Attentat am Berliner Breitscheidplatz jetzt die Asylpolitik beeinflusst und Einwanderung und Familiennachzug beschränkt, gefiel ihm nicht. Helen hatte vor, in der nächsten Woche in Meschede zusammen mit Flüchtlingen und ihrem Verein Menschen auf der Flucht gegen Abschiebungen nach Afghanistan zu demonstrieren. Er beabsichtigte mitzufahren.

Wegen damals waren sie hier. Konzentrier dich, Stojan, hörte er seine eigene Stimme. Und gehorchte. Sich den Tatort einprägen, mal reinschnuppern. In den alten Fall.

Sie gingen weiter. Von einem ehemaligen Sägewerk fehlten ganze Wände. Eine weitere Ruine zeigte Reste einer Heizungsanlage. War das Privatgelände? Warum kümmerte sich keiner?

Hatte auch damals niemanden interessiert, dass hier Millionenwerte aufbewahrt wurden, ungenügend gesichert. Aber man gibt so etwas doch nicht so bereitwillig preis. Warum guckt da die Versicherung nicht hin?

Auf den Tatortfotos hatte die Bahre mit der Plane darüber rechts nahe am Zaun gestanden. Stojan orientierte sich. Dass man in einer solch kleinen Halle solche Werte lagern konnte, fand er beachtlich. „Respekt!“, zollte er nachträglich Anerkennung. Fido nahm das für sich. Wenn es ein Lob abzuholen galt, fragte er nicht groß nach. Sonja war schon weiter vorausgegangen und stellte diesbezüglich keine Ansprüche.

Die Halle wurde offenbar wieder genutzt. Äußerlich erinnerte nichts mehr an die Geschehnisse vor fast drei Jahren. Ein schief hängendes Schild wies mit einem Pfeil auf den Eingang zum Gelände eines Schäferhundevereins.

Hoffentlich vertragen die Hunde sich mit den Flüchtlingskindern, dachte Stojan. Wenn die rausdürfen. Die Kinder.

„Sonja, lass uns fahren, mir reicht’s hier. Im Ort gibt ´s einen urigen alten Gasthof mit Fachwerk und einem lateinischen Spruch über der Tür, der holt uns aus dieser Trübsal heraus.“ Hatte Stojan gehofft, aber dann war ihm der Appetit vergangen. Auch Sonja stocherte trotz des Ambientes nur lustlos in ihrem Salat herum.

„Ich habe Kleefisch ein bisschen gelöchert, von sich aus erzählt der nichts. Amuso hatte ein Karzinom, seit einem halben Jahr bekannt. Inoperabel. Hat sich klaglos in sein Schicksal ergeben, sich sogar mit dem armen Teufel ausgesprochen, den er bei der Tat über den Haufen gefahren hat. Zuletzt hat er nur von Morphium und Zigaretten gelebt. Und Opernmusik, sagt Kleefisch. Schon eine umwerfende Kombination auf der letzten Etappe unterwegs zur Hölle. Road to hell, kennst du? Nicht deine Musik, Chris Rea, glaube ich. Angenehme Stimme. Wohl auch nicht Amusos Musik, wenn er auf Opern stand. Zu der ganzen Szenerie von eben passt sie gut.“ Wieder dieses Beben. Ob andere das merkten?

„Aber bis zuletzt hat Amuso nichts verraten? Keiner Menschenseele?“, fragte Sonja.

„Kleefisch sagt nein. Amuso sei ständig kontrolliert worden, Posteingang, Postausgang, Besuch, mögliche Kassiber. Handys werden immer wieder eingeschmuggelt. Nichts hätte darauf hingedeutet, dass er eins hatte. Und kaum Besuch oder Post bekommen. Sagt Kleefisch.“ Stojan nahm einen Schluck. Der Kaffee, eben nur dünn, war jetzt kalt und dünn. „Amuso sei harmlos gewesen, nicht durchtrieben.“

„Und bei seinen persönlichen Sachen? Manchmal taucht doch im Nachlass etwas auf, was bis dahin das Tageslicht gescheut hat.“

„Ich habe ihn gefragt. Ein armseliger Karton mit seinen Sachen, ein Kalender, eine Bibel, ein MP3-Player, Papierkram. Etwas Schmuck, Kette, Uhr, so etwas, nichts von materiellem Wert. Ist alles zur Tochter geschickt worden nach Apulien. Aber das ist ja nett und clever von Kleefisch: Er hat die Sachen fotografiert. Ob das so Usus ist, weiß ich nicht. Er hätte es für mich getan, hat er gesagt. Schicken will er die Fotos trotzdem nicht. Man redet mit dem Mann besser von Angesicht zu Angesicht, werde mich verabreden.

Ich sag´ dir, die Geschichte ist nicht zu Ende. So etwas rieche ich.“

„Dann waren wir ja nicht umsonst da und haben uns das ganze Elend angeguckt. Tröstlich.“ Sonja warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Los, komm, ich muss weitermachen. Wie heißt der Spruch auf Deutsch?“ Sonja zeigte auf die verzierte Inschrift an dem Fachwerkbalken.

„Friede den Eintretenden, Wohlergehen den Hinausgehenden. Dem Sinne nach. Gilt auch für mein bescheidenes Haus, steht bloß nirgendwo. Sonst würde es der Nachbar für sich reklamieren und genau der ist nicht gemeint. Okay, danke für deine Zeit. Wenn du wieder Appetit hast, gebe ich dir einen aus. Und wenn ich etwas erfahre, erzähle ich´s dir.“

Stojan setzte sie an ihrer Dienststelle ab und fuhr nach Hause. Er brühte sich einen Tee auf. Die wohlige Wärme des Specksteinofens genoss der Boxer, das Innere seines Herrchens erreichte sie kaum.

Draußen hatte ein Paket gelegen. Er hatte nichts bestellt. Nichts, an das er sich erinnerte. Trotzdem lag eines vor der Haustür. Hundefutter? Das kam hin und wieder vor. Sollte er es hereinholen? Der Tee brauchte fünf Minuten.

„Los, Fido, lass uns gucken.“ Er stieß es mit seinem Wanderstiefel an. Kaum Gewicht. Er suchte den Absender, vergebens. Der Name auf dem Adressaufkleber war korrekt: Herrn Peter Stojan, Kriminalhauptkommissar a.D.. Das war er, ohne Zweifel. Dann: Winterberg. Die Postleitzahl groß davor, anderer Stift, andere Farbe.

„Das haben sie an der Verteilstelle dazugeschrieben, Fido, so war das, pass auf! Aber die Straße haben sie vergessen.“ Der Hund unterzog mit Pfote und Schnauze das Paket einer gewissenhaften Vorprüfung, verlor aber schnell das Interesse. Stojan hatte keine Lust auf kriminalistische Überlegungen. Sonst hätte er zusammengefasst: An der Verteilstelle war bekannt, wo er wohnte. Ist das ungewöhnlich? Auffällig? Nein. Er war weit und breit der Einzige dieses Namens. Er wohnte seit über zwanzig Jahren in einem Ortsteil Winterbergs. Post bekam er täglich, allein schon die Zeitung. Er hatte nichts Verdächtiges an dem Paket auszusetzen. Aber der Tee war fertig, deshalb blieb es zunächst vor der Tür liegen und wurde für den Rest des Tages vergessen.

6

Sonja Steeger hatte sich ihrer Jacke entledigt und die Heizung auf vier gedreht. Einige Ermittlungs- und Recherchearbeiten delegierte die stellvertretende Dienststellenleiterin der Kripo telefonisch. Dann scrollte sie durch Ordner, die sie damals zu dem Raubüberfall und Raubmord angelegt hatten.

Anhand der Spuren, der gefundenen Patronenhülsen und der Aussage des einzigen Zeugen waren sie von drei Tätern ausgegangen, einem Fahrer und zwei Schützen. Die Kriminaltechniker waren sicher, dass aus der Fahrerkabine nicht geschossen worden war, sondern nur aus den geöffneten Türen zur Seite und am Heck. Den Fahrer hatten sie gefasst, Giovanni Amuso, bis dahin nicht vorbestraft. Von den Mittätern und der Beute fehlte nach wie vor jede Spur. Der Wachmann war von acht Schüssen aus zwei automatischen Gewehren getroffen worden, eine Kugel war durchs Ohr ins Gehirn gedrungen und sofort tödlich. Zeit, seine eigene Pistole zu ziehen, hatte man ihm nicht gelassen. Die Flucht über kleine Straßen musste die Täter bis zur L 740 geführt haben und dann weiter Richtung Meschede. Aber das war schon Spekulation.

Ein Fahrradfahrer hatte sich an der Ausfahrt aus dem Gewerbegebiet nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht, wurde am Hinterrad gerammt und kam zu Sturz. Dabei brach er sich das linke Schlüsselbein in mehrere Stücke und zog sich im Gesicht Verletzungen zu, die ihm für einige Zeit zusetzen würden. So war der erste Eindruck. Dass aus einiger Zeit ein ganzes Leben lang werden würde, war nicht abzusehen. Mehrere Operationen später war leidlich die Funktion der Kau- und Riechorgane wieder hergestellt.

Halb im Unterbewusstsein, aber dennoch überzeugt in seiner Aussage schon im Rettungswagen, hatte er Eindrücke vom Geschehen wiedergeben können. Die Aufschrift an der Seite des Fluchtfahrzeugs hätte er erkannt: sport und darunter de. An der Fahrerseite hätte etwas geflattert.

Am Abend nach erfolgter Operation des Schlüsselbeins hatten sie Henry Z., so hieß er in den Akten, erneut vernommen. Er stand unter starken Schmerzmitteln. Oberlippe, Wange und Nasenpartie waren dermaßen geschwollen und verzogen, dass ein sinnvolles Gespräch nicht zustande kam. Sonja Steeger und ihr Kollege Jankowski, denen man eine Befragung von höchstens 15 Minuten zugestanden hatte, hatten es mit einer Zeichnung versucht. Hinweise auf einen weißen Kastenwagen verdichteten sich, der durch Auf- oder Anbauten nicht mehr im Originalzustand war. Wieder bestand Z. auf der Aufschrift an der Fahrerseite: Sport und etwas nach rechts versetzt darunter de mit einem Schrägstrich. Das umkringelte er zweimal und klopfte zur Bestätigung nickend wiederholt mit dem Bleistift auf das Papier.

„Der Schrägstrich, das muss doch eine Webadresse sein, oder was meinst du?“. Manche Dialoge mit Jankowski konnte sie auch nach Jahren fast wörtlich aus dem Gedächtnis zurückholen. Vorzugsweise, wenn sie sich in gelungene Frotzeleien verlaufen hatten. So wie an diesem Abend. Sie hatten eben den Krankenhausparkplatz in Meschede verlassen. Der Motor nörgelte, weil Sonja früh den dritten Gang eingelegt hatte.

„Kann sein“, hatte Jankowski vom Beifahrersitz her gemurmelt, „dann hieße der Schrägstrich aber Slash.“ Das letzte Wort war in einem Gähnen untergegangen. Ein langer Tag neigte sich seinem Ende zu. „Und zwei davon wären dann ein Doubleslash…". Wieder ein Gähnen. „Und drei, warte mal, ich hab ´s gleich …“. Gähnen mit krauser Nase.

„Du kannst gerne zu Fuß gehen, täte dir sicher gut. Du scheinst ein bisschen unter Sauerstoffmangel zu leiden. O2, verstehst du?“ Der Motor hatte dann sein Nörgeln eingestellt und den Polizeipassat in gleichmäßiger und zügiger Fahrt nach Schmallenberg gebracht.

Sie waren in den nächsten Tagen mehrmals ins Krankenhaus gefahren, um den Zeugen zu befragen, der von dem Fluchtfahrzeug angefahren und schwer verletzt worden war. Aber entweder war er im Tran nach einer weiteren Narkose oder zum wiederholten Male frisch operiert. Eine brauchbare Aussage zum Hergang des Überfalls war nicht zu bekommen. Einmal hatte er eine krakelige 1 hinter Sport und vor de gemalt. Bei den Ermittlern erwachte Hoffnung auf Fortschritte. Der Fernsehsender Sport1 war Sonja ein Begriff. Gelegentlich sah sie sich Zweitligaspiele an. Ihre Nachforschungen ergaben, dass der Kanal vier Kastenwagen mit der Aufschrift sport1 im Einsatz hatte. Keiner war gestohlen oder verliehen oder verkauft worden, gerne werde man ein Foto schicken. Jedoch verwahre man sich gegen eine ungeprüfte Information der Öffentlichkeit, die den Eindruck erwecken könne, der Sender sei in ein Verbrechen verwickelt.

Kajott Sernau war der Mann, der ihnen damals auf die Sprünge geholfen hatte. Er war der zuständige Polizeigrafiker. Sein Büro befand sich in Arnsberg, seine Aufgaben erledigte er am liebsten am heimischen PC. Die zunehmende Vernetzung und die schnellen Leitungen kamen ihm zupass. Mal waren es Tatortskizzen, mal Phantombilder und Täterporträts, mit denen er sich zu beschäftigen hatte. Manchmal waren Bildausschnitte zu vergrößern oder zu vergleichen. An seinen nebenberuflichen Tätigkeiten im Werbedesign hatten seine Dienstherren nichts auszusetzen, solange er jederzeit verfügbar blieb.

Sernau war eine Autorität in seinem Metier. Seinen glänzenden Ruf verdankte er einem guten Auge, Fantasie und einem phänomenalen Gedächtnis für Bilder, Symbole und Logos. Lust und Freude an der Arbeit waren Zugabe.

Sonja erinnerte sich. Sie arbeitete gerne mit Menschen zusammen, die schnell verstanden, um was es ging. Bei ihren Kollegen im Team setzte sie voraus, dass diese ähnlich tickten wie sie selbst. Nicht gar so schnell, aber doch in die richtige Richtung weiterdachten, möglichst ohne Umwege das Ziel suchten und fanden. Wenn das sogar bei Menschen funktionierte, die aus einem anderen Fach ihr zuarbeiteten, war sie beeindruckt. Nur die Pathologen hatten einen schweren Stand bei ihr. Sobald sie einen Vertreter dieser Spezies von Ferne sah, stieg ihr eine Mischung aus Seifen-, Desinfektionsmittel- und Leichengeruch in die Nase, die sie dann den ganzen Tag nicht mehr loswurde. Das klappte sogar per Telefon über Hunderte von Kilometern und hatte nichts mit mangelndem Respekt oder Klischeedenken zu tun. Eher hing das mit der Beziehung zu einem Medizinstudenten zusammen, die in grauer Vorzeit traurig gescheitert war, nicht zuletzt an dessen Gewohnheit, gemeinsame Mahlzeiten mit anschaulichen Erzählungen aus dem Seziersaal zu würzen.

Kajott Sernau trug kein solches Handicap mit sich. Er hatte immer geliefert. Er kannte seinen Wert. Tat gerne geheimnisvoll, kam nicht sofort auf den Punkt, erging sich in Andeutungen, holte aus. Unterbrach man ihn und stachelte ihn zur Eile auf, dauerte es meistens länger, weil er mindestens die letzten beiden Sätze wiederholte. Und wenn man Pech hatte, war einer von denen einer seiner langen. Ein Workaholic war er nie. Gelegentlich ließ er alles stehen und liegen, lud seine Partnerin Annette in sein altes Golfcabriolet und juckelte Richtung Alpen oder weiter ans Mittelmeer. Falls dann dringende Aufträge anfielen, hatte er eine Vertretung in der Hinterhand. Die abgekürzte Neuschöpfung seines Vornamens Karl-Josef war ein Überbleibsel aus seiner Zeit als junger suchender Künstler. Damals war ihm die Anstellung bei einer staatlichen Behörde und erst recht der Polizei hauptsächlich peinlich und auf keinen Fall einer Erwähnung wert.

Mittlerweile waren die über den Kragen reichenden Locken silbergrau. Das goldene Halskettchen lugte ins Freie. Dass die edlen Halbschuhe glänzten, darauf konnte man unbesorgt setzen. Die Mischung aus Gelassenheit, Selbstbewusstsein, Schlampigkeit und Eitelkeit schuf bei den meisten seiner Gegenüber Vertrauen.

Erst kürzlich hatte Sonja ihm alte Fotos gezeigt von einem Verdächtigen, der sein Aussehen mit der Zeit erheblich verändert hatte. Aufgrund welcher Merkmale es sich doch um ein und dieselbe Person handele, hatte er etwas weitschweifig, aber logisch und überzeugend dargelegt.

„Erinnern Sie sich an Ihre Kastenwagen?“, hatte er daraufhin gefragt. Ja, er holte sich ein Lob gerne nach einer gewissen Zeit ein zweites oder drittes Mal ab. Sonja hatte kurz überlegt, wie sie geschickt in eine Kurzfassung der Geschichte abbog, ließ Sernau dann aber gewähren. Es gab schlechtere Geschichten. Damals hatte er fünf Kastenwagen mit einer weißen Verkleidung entworfen. In die erste Variante hatte er das Logo des Fernsehsenders Sport1 hineinkopiert, so wie man es kannte. Den anderen vier Wagen verpasste er das Logo mit einem .de/ darunter, wie es der Zeuge beschrieben hatte. Er probierte verschiedene Schriftarten, groß und klein, fett und kursiv, und bedauerte nur, dass ihm kein Tatzeuge über die Schulter sah, um „Stopp! Genauso hat er ausgesehen!“ zu rufen, spontan und felsenfest überzeugt.

Sernau gab das alles so wieder, als sei es gestern passiert und vollkommen neu für die Kommissarin. Wie er versucht hatte, sich aus ästhetischen oder werbestrategischen Erwägungen an eine Version heranzutasten. Sein kritisches Gespür hatte ihn nicht befriedigt. Dann hatte er seinen Rechner hinuntergefahren, seinen Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Lauter Kastenwagen mit Aufschriften sport1 und .de/ waren in seinem Kopfkino vorbeigefahren, dann hatte der Geistesblitz gezündet. Gelächelt hatte er, einen Bleistift zur Hand genommen und rasch ein paar Worte auf ein Blatt Papier gekritzelt. Dann gepustet, als sei Tinte zu trocknen, die rechte Hand zur Faust geballt und mit der linken sein Handy aus der Hosentasche gepflückt.

„Und dann war bei Ihnen nur die Mailbox zu erreichen.“

„So etwas nehmen Sie persönlich, nicht wahr?“, hatte sie geantwortet. Der Mailbox hatte er nichts verraten. Seine Ansage hatte sie wichtigtuerisch empfunden und sich geärgert.

„Hallo, Frau Seeger. Sernau hier. Hören Sie, Ihr Zeuge hat sich vertan. Nicht genau hingeguckt, sich etwas eingebildet, wer weiß. Aber ich weiß, was in Wahrheit auf dem Wagen, den Sie suchen, steht. Rufen Sie bitte zurück?“ Und dann war er selbst mitsamt seinem Handy einen Tag nicht erreichbar.

Der Sernau war schon etwas speziell. Morgen würde sie sich wieder um die aktuelle Arbeit kümmern, heute kriegte sie den Kopf nicht mehr frei. Sonja fuhr nach Hause. Sie wollte ein wenig nachdenken. Aber den Ball flach halten.

7

„Stellt es schon mal bereit. Wenn wir mit den Ausländern fertig sind, kommen wir zu euch!“ Der Bogen im DIN-A4-Format mit dem Text in großen Computerlettern lag oben auf. Darunter Schaufel und Besen aus grauem Plastik, eingeschlagen in Zeitungspapier. Bei schneller Durchsicht offenbar alles rechte Blätter: Nationalzeitung, Junge Freiheit, Plakate von Freiwahl-Konzerten. Die Rockgruppe kannte Stojan dem Namen nach und wusste, dass sie aus Südtirol stammte und dem deutschnationalen Spektrum zugerechnet wurde. Und überraschenderweise viele Fans im Sauerland hatte.

Er hatte keine Lust, irgendetwas anzufassen, nicht ermittlungstechnisch begründet, sondern schlicht, weil er Ekel empfand. Kurz taxierte er den Wert des Pakets. Kaum fünf Euro, wobei das Porto den größten Batzen ausgemacht haben dürfte. Stojan setzte sich auf die Holzbank neben seinem Garagentor und seufzte. War das ein Dummejungenstreich? War er ins Visier der Neonazis geraten? Ein Grund, Helen im Büro anzurufen. Ihr Handy war ausgeschaltet. Dann eben später. Das Diensttelefon war für ihn tabu; die Sozialarbeiterin mochte da keine Störungen und grundsätzlich nicht den Eindruck erwecken, private Gespräche mit ihrer Arbeit zu mischen. Wenn sie mit Menschen am Rande der Gesellschaft zu tun hatte und neben sämtlichen legalen Möglichkeiten auch Auslegungen, Tricks und Schliche prüfte, war sie hoch konzentriert und duldete keine Ablenkung. Nur so schaffte sie es, Verhältnisse erträglicher zu gestalten. Entsprechend genoss die ehemalige Pfarrerin großes Ansehen bei den Schwachen und Unterprivilegierten.

Ihr Vorgesetzter im Amt war nicht immer begeistert, wenn Helen ihre Arbeit mit Engagement und wenig Rücksicht auf Budgets und Paragrafen betrieb. Deshalb war er angetan von ihrer Entscheidung, ihre Arbeitszeit auf 30 Stunden in der Woche zu reduzieren. Die Kollegin und alleinerziehende Mutter Judith Gerold, die keine Flausen im Kopf hatte, konnte aufstocken, Helen Bell ihre sozialromantische Ader privat und zu Hause bedienen. Regelmäßig machte sie Propaganda für Aktionen im Rahmen der Flüchtlingshilfe. Inzwischen war auch Peter Stojan eingestiegen und beteiligte sich nicht mehr nur als Sympathisant und Spender kleiner und mittlerer Geldbeträge, sondern investierte Zeit und Fantasie. Einerseits für die gute Sache, andererseits im Gespür, dass es der frischen Partnerschaft nicht abträglich war, wenn man ein gemeinsames Ziel verfolgte.

„Hey, was gibt´s? Ich habe gesehen, dass du mich angerufen hast.“ Helen war im Auto, Stojan hörte es an den Nebengeräuschen.

„Wo bist du? Hast du Lust, vorbeizukommen? Mit Fido eine Runde drehen, bei Tasso ein Bier trinken, was hältst du davon?“

„Klingt verlockend. Ich bin in Meschede, lass mir eine Stunde, okay? Ich muss erst zur Nachbarin, die hat ein Paket für mich angenommen.“

„Ein Paket habe ich auch bekommen, ein ekliges. Ich erzähle es dir gleich. Bis dann.“