Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte - Wilhelm Raabe - E-Book

Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte E-Book

Wilhelm Raabe

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Beschreibung

Ein Roman über Außenseiter, unerwartete Gewinner im Leben und einen Mord: Der Ich-Erzähler Eduard hat sich als Schiffsarzt in Südafrika niedergelassen. Nun besucht er seine Heimatstadt in der deutschen Provinz, um seinen Kindheitsfreund Heinrich und den alten Briefträger Störzer wiederzusehen. Doch zwei Überraschungen warten dort auf ihn, und Heinrich hat eine erschreckende Entdeckung gemacht..-

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Wilhelm Raabe

Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte

 

Saga

Stopfkuchen. Eine See- und MordgeschichteCoverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1890, 2020 Wilhelm Raabe und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726614657

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Wieder an Bord!

Es liegt mir daran , gleich in den ersten Zeilen dieser Niederschrift zu beweisen oder darzutun, daß ich noch zu den Gebildeten mich zählen darf. Nämlich ich habe es in Südafrika zu einem Vermögen gebracht, und das bringen Leute ohne tote Sprachen, Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie eigentlich am leichtesten und besten zustande. Und so ist es im Grunde auch das Richtige und Dienlichste zur Ausbreitung der Kultur; denn man kann doch nicht von jedem deutschen Professor verlangen, daß er nach Afrika gehe und sein Wissen an den Mann, das heißt an den Buschmann, bringe, oder es im Busche sitzenlasse, bloß – um ein Vermögen zu machen.

«Geben wir den Beweis aus der ‹Verhängnisvollen Gabel›, Eduard, daß wir immer noch unsere Literaturkunde am Bändchen haben!» Eduard ist nämlich mein Taufname, und Mopsus heißt bei August von Platen der Schäfer in Arkadien, welcher «auf dem Vorgebürg der guten Hoffnung mit der Zeit ein Rittergut zu kaufen wünscht und alles diesem Zweck erspart».

«Wie kam er drauf?» fragte Damon, der Schultheiß von Arkadien, und dieselbe Frage an mich zu stellen, ist die Welt vollauf berechtigt.

Aber vielleicht weiß gerade sie das mir mitzuteilen! Wie kommen Menschen dahin, wo sie sich, sich besinnend, zu eigener Verwunderung dann und wann finden?

Ich an dieser Stelle kann nur soviel sagen, daß ich glaube, den Landbriefträger Störzer als dafür verantwortlich halten zu dürfen. Meinen alten Freund Störzer. Meinen alten guten Freund von der Landstraße der Kinderzeit in der nächsten Umgebung meiner Heimatstadt in Arkadien also – von allen Landstraßen und Seewegen der weitesten Welt.

Nachdem man also seinen Berechtigungsgrund, im alten Vaterlande mitzusprechen, wo gebildete Leute reden, auf den Tisch gelegt hat, kann man hoffentlich weitergehen. Dieses tue ich jetzt mit der Zwischenbemerkung, daß ich absolut nicht sagen kann, ob ich für das heutige Vaterland bloß nur allein orthographisch noch recht oder richtig schreiben kann. Es sind selbst in dieser Richtung während meiner Abwesenheit zu große kleine Leute am Werke gewesen und können unter polizeilicher Beglaubigung das wundervolle ironische Wort des französischen Erbfeindes gebrauchen: «Nous avons changé tout cela.» Das haben wir am verkehrten Ende aufgenommen, sagt freilich leider der deutsche Mann nicht! Der nimmt immer die Sache ernst, vorzüglich wo sein Vorteil, sein Ehrgeiz oder seine Eitelkeit mit im Spiel sind.

Aber es ist doch hübsch im Vaterlande, und wenn dem nicht so wäre, so würde ich dieses sicherlich nicht der Rückreise-Unterhaltung wegen an Bord des «Hagebucher» auf den langen Wogen des Atlantischen Ozeans niederschreiben. Zum wenigsten werde ich mir, wenn das Wetter gut bleibt, dreißig nicht ganz unnütz verträumte Seefahrtstage – von Hamburg aus gerechnet – durch die ungewohnte Federarbeit verschaffen. Wie aber würden sich meine Nachbarn am Oranjefluß und im Transvaalschen über unsern gemeinsamen Vetter Stopfkuchen wundern und freuen, wenn sie das Kajütengekritzel lesen könnten, so sie es in die Hände kriegten! Zu dem letzteren ist aber so wenig eine Aussicht wie zu dem ersteren, und unser Präsident, mein guter Freund daheim im Burenlande, hat wirklich auch wenig Zeit zu so was, sonst täte er mir wohl den Gefallen und sagte mir seine Meinung über mein Manuskript.

 

Es war eine sternenklare Nacht, und wir waren auf dem Heimwege. Nicht nach dem Kap der Guten Hoffnung, sondern vom «Brummersumm». Einer gottlob unter einem ganzen, ja auch unter einem halben Dutzend deutscher Männer hat immer Astronomie ein wenig gründlicher getrieben als die übrigen und weiß Auskunft zu geben, Namen zu nennen und mit seinem Stabe zu deuten, wo die andern vorübergehend in der schauerlichen Pracht des Weltalls verlorengehen und kopfschüttelnd sagen: Es ist großartig.

Man kann in vielen Wissenschaften Bescheid wissen und sich doch bei passender, stimmungsvoller Gelegenheit belehren lassen müssen, wo der Sirius zu finden ist, wo die Beteigeuze und wo der Arktur und der Aldebaran. Die den Orion kennen, sind den andern schon weit voraus; denn auch was die Sternbilder anbetrifft, tappen die meisten im Dunkeln. So allein und einfach wie mein Südliches Kreuz steht das nicht am Himmel, und wenn nördliche Männer den Großen Bären zu finden wissen, ist das schon viel; doch verfallen auch hierbei nicht üble Kenner manchmal in den Irrtum, daß sie den Polarstern ihm zurechnen und nicht dem Kleinen Bären.

Wir sahen auf dem Heimwege vom Brummersumm nach den Sternen. So gegen Mitternacht, wo sie dann und wann am schönsten zu sehen sind und einer am wenigsten bei seiner Betrachtung gestört wird. Zu den Stunden auf einem Feldwege allein mit den noch übrigen Genossen seiner Jugend zu sein – das ist etwas! Wovon man reden mag, ob von Politik, Börsengeschäften, Fabrikangelegenheiten, Ästhetik: jeder Mann und berufenste Mitredner in allem diesem darf ungehöhnt sein gescheitestes Wort abbrechen und aufblinzelnd bemerken: Da liegt auch was drin! – Nachher darf er natürlich eine Prise nehmen, wenn er schnupft; ich für meinen Teil rauche und zünde mir gern beim Anblick des unendlichen Heeres der himmlischen Lichter eine frische Zigarre an, denn das leuchtet doch auch; und der Mensch auf Erden ist darauf angewiesen, gegen alles und also auch gegen das «Übermaß der Sterne» zu reagieren.

Ja, ja, und wenn man auch noch ein Deutscher älterer Generation ist, so bleibt man doch am liebsten bei dem Nächstliegenden, dem angenehmen Abend, der guten Gesellschaft und was sonst so dazu gehört, wenn man sich auch, der Abwechslung wegen, einmal auf «Siriusweiten» in das Glitzern und Flimmern überm Kopfe davon entfernt. Und das ist unser gutes Erdenrecht. Es ist uns, wenigstens fürs erste, wichtiger, zu wissen, was für Menschen hier mit uns leben und mit welchen von ihnen man es zu tun gekriegt hat, eben kriegt und morgen kriegen wird, als herauszukriegen, ob der Mond und der Mars bewohnt sind und von wem oder was. –

Nun mußte mir aber die Weggenossenschaft grade dieses Abends näher liegen als alles, was auf dem Mars, dem Monde, dem Sirius und der Beteigeuze, der Venus und dem Jupiter herumlaufen konnte. Es waren die Leute, mit denen man ging, die einem in der Fremde im Wachen und im Träumen, vorzüglich im Halbwachen und im Halbtraume, plötzlich vorübergleiten oder sich in den Weg stellen! Die, an welche man lange Jahre nicht gedacht und an die man dann um so intensiver zu denken hat:

I, der und der! Ob der gute alte Kerl wohl noch lebt und es ihm nach Verdienst wohl ergeht?. . . Und nun – da – guck den Stänker – den hämischen Schulbankpetzer! Wie kommt mir der Bursche in seinen zu kurzen Hosen und Rockärmeln grade jetzt, hier an dieser Straßenecke am Hafen, in den Sinn? Hier unter den Palmen und Sykomoren und andern Mohren und bei der äquatorialen Hitze? Aber es freut einen doch, grade bei der Hitze und unter dem exotischen, heidnischen Niggerpack, daß man in kühler Zeit mal mit dem heimatländischen, germanischen Christen zu tun gehabt hat und von ihm mit der Nase darauf gestoßen worden ist, wie treuherzig es in der Welt und unter den Leuten zugeht! . . . Herrgott, da kommt ja Maier! . . . Maier! aber wie von einer Teekistenbemalung, mit dem seligen Porzellanturm von Nanking hinter sich! Wie kommt denn der liebe alte Junge und Schafskopf zu dem wundervollen Zopf und dem Mandarinenknopf vierter Rangklasse? . . . Herrje, und Stopfkuchen? Wie komme ich denn gerade hier auf Stopfkuchen, auf meinen dicken Freund Stopfkuchen, den ersten auf unserer Bank in der Tertia, von unten auf gerechnet? Ei, Stopfkuchen! . . . Stopfkuchen! –

Ich hatte weder in der Stadt noch im Brummersumm alle wieder beieinander angetroffen. Den einen hatte der Tod, den anderen das Leben daraus weggeholt. Und was den Brummersumm im besonderen anbetraf, so war der eine zu gut verheiratet und der andere zu schlecht, als daß sie noch die gehörige Stimmung für die abendliche, ja manchmal auch nächtliche Gesellschaft und Geselligkeit dort aus ihrem Eheleben hätten herausschlagen können. Einer von uns hatte auf den Brummersumm Verzicht geleistet und blieb bei seinem Weibe aus ganz besonderem Grunde, und sein Name oder vielmehr sein Spitzname war:

stopfkuchen

Er wird sehr häufig auf diesen Blättern das Wort haben; es war aber auch eine längere Zeit in der alten Schenke die Rede von ihm gewesen und auf dem Heimwege unter dem glitzernden Sternenhimmel und in der langen Pappelallee auch. Ich aber war eine geraume Zeit hinter den andern gegangen, ohne an der Unterhaltung teilzunehmen, und hatte nur wiederum alte Erinnerungen lebendig werden lassen und hatte nur gedacht:

Stopfkuchen! Und Stopfkuchen auf der Roten Schanze! Eduard, solltest du das dir als den besten Bissen vom Kuchen bis zuletzt aufgehoben haben? Welch ein Gott hat dir den wunderlichen Gesellen und guten Jungen hier bis jetzt aus dem Wege geschoben? Also Stopfkuchen wirklich auf der Roten Schanze! Und wenn sich Afrika und Europa dir morgen in den Weg stellt: du schiebst sie zur Seite und bist morgen so früh als möglich auf dem Weg nach der Roten Schanze und zu deinem dicksten Freunde Stopfkuchen. Also Stopfkuchen wirklich und wahrhaftig auf der Roten Schanze!

 

Ich war, wie gesagt, nach Jahren der Abwesenheit einmal wieder ihr Gast, der Gast der Heimatstadt, im Kruge zum Brummersumm gewesen oder hatte vielmehr endlich einmal wieder daselbst einen Stuhl eingenommen.

Natürlich könnte man hier Gedanken, Gefühle, Stimmungen und Anmerkungen aus der Tiefe des deutschen Herzens, Busens und Gemütes heraus noch recht erklecklich weiter, und zwar ins Behaglichste ausmalen; man tut es aber nicht, sondern bemerkt nur das Notwendige.

Nämlich als Kind schon begleitete ich meinen jetzt längst verstorbenen Vater dorthin. Er hatte seine Pfeife da stehen, doch dann und wann hatte ich ihm auch eine neue hinauszutragen. Viele Leute werden nun sagen: Der selige alte Herr gab da seinem Jungen ein recht sauberes Beispiel! Und sie haben recht und wissen gar nicht, wie sehr sie recht haben. Er tat es auch und gab mir ein nettes Beispiel – freilich nicht bloß in dieser Hinsicht.

Ich bin also Stammgast des Brummersumms von Kindesbeinen an gewesen und habe schon um dessentwegen mit geheiratet, um gleich dem wackeren alten Vater allerlei von dorther an meine eigenen Jungen drunten im «heißen Afrika» weitergeben zu können. Die verwilderten, halbschlächtig deutschholländischen Schlingel geben gottlob unter den Buren, Kaffern und Hottentotten manch ein Kulturmoment weiter, was aus dem Brummersumm stammt. Sie sagen dann gewöhnlich dabei: Mein Vater hat’s gesagt, und der hats’ schon von seinem Vater, unserm Großvater in Deutschland.

Ja, so ein richtiger deutscher Spießbürger in seiner Kneipe!

Man zieht die Achseln nur deshalb über ihn, weil man selbstverständlich stets den unrichtigen für den richtigen nimmt. Wo in aller Welt als wie so im Brummersumm läßt sich denn der Spieß leichter umdrehen, auf daß man die langweilige, die dumme, die abgeschmackte, die boshafte, die neidische Welt drauflaufen lasse? Und wo kann man kräftiger nachstoßen, um das überleidige Untier völlig zu Boden zu bringen?

Wie sich freilich die Frau Spießbürgerin zu dem Brummersumm verhält, das steht auf einem ganz anderen Blatte. Auf einem ganz besonderen Blatte aber steht, wie sich meine selige Mutter zu ihm verhielt. Erst in reifern Jahren natürlich habe ich den Saohverhalt herausgekriegt durch wehmütig-fröhliche Rückerinnerung, und da ist der Gesamteindruck ein höchst erfreulicher. Das brave Weib hatte sich nicht nur mit dem Brummersumm abgefunden, sondern es ermahnte dann und wann meinen Vater: «Du, es ist wohl Zeit für deinen Abendweg!» Und seltsamerweise geschah dieses am häufigsten dann, wenn Sorge, Kummer und Verdruß unser Haus in der Stadt umkrochen und böser Lebensdunst sich darüber, und also zumeist über ihrem teuren Haupte, zusammengezogen hatte. Es gibt wohl nichts, was mehr für die Frau und den Brummersumm spricht.

Ich hatte auch an dem Abend, unter dessen Sternkonstellationen diese Blätter sich auftaten, alle möglichen alten Erinnerungen von neuem aufgefrischt. Sie hatten im Brummersumm gemeint, ich sei doch recht schweigsam aus dem Kaffernlande auf Besuch nach Hause gekommen; und sie bedachten wie gewöhnlich nicht, daß man den Mund halten und doch die lebendigste Unterhaltung mit einem, mit mehreren, mit vielen führen kann. Dazu hatte ich wirklich das meiste vernommen, was an diesem Abend um mich her gesprochen worden war, und ein im Vorübergehen rasch und leicht hingesprochenes Gesprächsthema hatte mich in der Tat länger und eingehender beschäftigt und nachdenklicher bei sich festgehalten als die andern um den alten Tisch herum.

Es gehört nämlich jetzt einer von uns der kaiserlichen Reichspost als Beamter an, und der erzählte oder gab vielmehr beiläufig in die Unterhaltung hinein:

«Es wird vielmehr einige der Herren interessieren, daß man uns heute angezeigt hat, daß Störzer tot ist. Unser ältester und weitgelaufenster Landpostbote. Es sollte mich wundern, wenn einer hier unter uns wäre, dem er nicht über den Weg gelaufen wäre.»

«I, natürlich!» klang es im Kreise. «Der alte Störzer! Also der hat endlich auch seinen Pilgerstab in den Winkel gestellt.»

«Mit allen Ehren. Volle einunddreißig Jahre ist er gelaufen, und wir haben uns unter dem ersten Eindruck der Nachricht drangemacht und haben es ihm postamtlich nachgerechnet, welchen Weg er in seinem Dienste treu und redlich, ohne einen einzigen Urlaubstag zu verlangen, zurückgelegt hat. Wie viele Male glauben die Herren, daß er hätte rund um die Erde herum gewesen sein können?»

«Da bin ich doch neugierig!» sagte der ganze Brummersumm.

«Fünfmal. Rund um den Erdball. Siebenundzwanzigtausendundzweiundachzig Meilen in vierundfünfzigtausendeinhundertvierundsechzig Berufsgehstunden! Und, wie gesagt, keinen Tag hat der Glückspilz in seinen einunddreißig Dienstjahren ausgesetzt – aussetzen müssen aus Gesundheitsrücksichten. Wie viele der Herren würden gegen seine Beine die ihrigen mit anhängendem Rheuma, mehr oder minder ausgesprochener Ischias und was sonst zu den Beigaben einer seßhaften Lebensstellung gehört, mit Vergnügen ausgetauscht haben! Ach, und wenn er sie hätte vererben können!»

«Das weiß der liebe Gott!» seufzten verschiedene der Herren, indem sie noch einmal hinzufügten: «Also der alte Störzer ist tot!» –

«Also der alte Störzer ist tot!» hatte auch ich gemurmelt. «Hat sich zur Ruhe gesetzt, nachdem er fünfmal die Weglänge um den Erdball zurückgelegt hat. Hm, hm, den hättest du gern auch noch einmal gesehen und gesprochen vor seinem allerletzten Wege, der nicht mehr zu seinen irdischen, amtlichen gehörte!» – Und ein unbehagliches Gefühl, eine Pflicht und Verpflichtung leichthin versäumt zu haben, überkam mich. «Mußte der Mann es denn diesmal so eilig haben? Konnte er es keinen Augenblick ruhig abwarten, bis du dich auch seiner erinnern würdest, Eduard, um auch ihm seinen ihm zukommenden Freundschaftsbesuch bei diesem deinem Besuch in der Heimat abzustatten?»

«Du mußt dich doch seiner vor uns allen gut erinnern, Eduard?» hatte vorhin einer am Lebenstisch mich gefragt.

«Jawohl, ich erinnere mich seiner sehr gut», hatte ich geantwortet; und nun sind die folgenden Blätter seinetwegen, Störzers wegen, mit geschrieben worden.

«Jawohl, jawohl, wie gut ich mich seiner erinnere!» wiederholte ich mir, eine halbe Stunde oder eine Stunde später, als ich im Wirtshause, in meinem Absteigquartier in hiesiger Stadt, mit mir und den Heimatseindrücken des eben abgelaufenen Tages allein war. Er, Störzer, gehörte freilich zu meinen allerbesten Jugendbekannten, und mein Vater war’s gewesen, der mich mit ihm bekannt gemacht und auf seinen Umgang hingewiesen hatte, indem er mir riet:

«Sieh einmal, mein Junge, an dem nimm dir ein Beispiel. Der macht sich weder aus dem Wege noch aus dem Wetter was. Und was alles trägt er täglich den Leuten in seiner Ledertasche zu und macht dabei an dem einen wie an dem andern Tage das gleiche Gesicht.»

Der letztere Teil dieser Rede war mir damals wohl etwas dunkel geblieben; heute weiß ich, daß mein seliger Papa vor dem Worte «Gesicht» wohl die dazugehörigen Beiwörter: dumm, gleichgültig, stillvergnügt, unterschlagen hatte. Aber welch ein richtiger Junge achtet nicht einen Menschen, der ihm als ein Muster aufgestellt wird, weil er sich weder aus dem Wetter noch aus dem Wege etwas macht?

«Wo das Kind eigentlich wieder stecken mag?» pflegte in jenen glücklichen Tagen meine arme selige Mutter zu fragen.

Das Kind steckte bei Störzern, seiner Kunst, sämtlichen autochthonen und auch einigen exotischen Vögeln nachzupfeifen, -flöten, -zirpen und -schnarren, bei seiner «Kriegsbereitschaft» Anno achtzehnhundertfünfzig und bei seiner – Geographie. Die Sache war doch ganz klar, so dunkel sie auch einem den Deckel vom Suppennapf abhebenden und vergeblich um sich schauenden Muttergemüt sein mochte. Beiläufig, daß wir ebenfalls zur Post (damals noch nicht kaiserlichen) gehörten und daß mein Vater in seinen letzten Lebensjahren sogar Herr Postrat genannt wurde, trug wohl auch das seinige zu dem angenehmen und innigen Verhältnis zwischen mir und Störzer bei. Wir rechneten uns einander, wie man das ausdrückt, zueinander; und auf meinen Wegen nicht um, sondern durch die Welt habe ich niemals ein selten Posthorn zu Ohren bekommen, ohne dabei an meinen seligen Vater, meine selige Mutter und den Landbriefträger Störzer zu denken. Übrigens bekam Störzer auch jedesmal eine Zigarre mit auf den Weg, wenn er dem Vater und mir draußen vor der Stadt begegnete. Da war’s wohl kein Wunder, wenn er jedesmal, wo er mich allein traf, zu fragen pflegte:

«Nu, Eduard, wie ist es? Willst du mit? Darfst du mit?» –

Ich hätte ihm doch, wenn nicht zuerst, so doch unter den ersten meinen Besuch machen sollen. Jetzt war es wieder einmal zu spät für etwas. Auch die kaiserliche Reichspostverwaltung hatte ihr Recht an ihm verloren, holte ihn nicht mehr zu neuem Marsch durch gutes und böses Wetter vor Tage aus den Federn, oder besser, von seinem Strohsack; und ich – ich saß bei meinem Freunde Sichert, dem Wirt zu den Drei Königen, und gedachte seiner, wie man eines gedenkt, zu dem man in seiner Kindheit aufgesehen hat und mit dem man Wege gegangen ist, aller Phantasien, Wunder und Abenteuer der Welt voll.

Man hat so Stunden, wo einem alles übrige Leben und alle sonstige Lebendigkeit zu einem fernen Gesumm wird und man nur eine einzelne Stimme ganz in der Nähe und ganz laut und genau vernimmt.

«Damit ist es nun nichts, Eduard!» hörte ich Störzer ganz deutlich seufzen. Er hatte mir aber, das heißt an dem Tage, damals, ein Kuckucksei in einem Grasmückenneste zeigen wollen, und es hatte sich gefunden, daß schon andere Naturforscher vor uns dagewesen waren und daß der Kuckuck die ganze naturhistorische Merkwürdigkeit aus dem Busch in dem alten Steinbruche, rechts abseits der Landstraße und des Postdienstweges, geholt hatte.

Und wieder, von einem andern Tage her, höre ich diese Stimme:

«Siehst du, Eduard, wenn ich heute deine Mutter gewesen wäre, so hätte ich dich an diesem Morgen doch vielleicht nicht mit mir gehen lassen, und wenn es auch hundertmal die großen Ferien sind. Noch hält dies zwar jeder, der nichts davon versteht, für einen recht schönen Tag; aber, ich sage nichts, wie ich die Gegend hier herum und die Wetteraussichten kenne. Mir wölkt es sich trotz allem gegenwärtigen Sonnenschein dahinten und vorn so ganz herum, aber grade aus unserer Wetterecke hinter Maiholzen, doch ein bißchen zu verdächtig auf. Willst du lieber noch umkehren, Eduard, so tust du vielleicht deinen lieben Eltern und deinem Anzug einen großen Gefallen. Ich will nichts sagen, aber es könnte doch eine Stunde kommen, wo sie dich am liebsten zu Hause wüßten.»

Es ist nicht immer dieselbe Stimme. Es fällt noch eine andere ein, und das ist die meinige, die sich aber noch lange nicht «gesetzt» hat, und sich erst in einigen Jahren «setzen» wird.

«In Südamerika ist ein großes Erdbeben gewesen, Störzer. Mein Vater hat es heute früh beim Kaffee aus der Zeitung vorgelesen. Das hat viele Ortschaften übereinandergeschmissen und darunter eine Stadt so groß wie unsere. Donnerwetter, wer da hätte bei sein können, Störzer!»

«Ja, Eduard, das sagten Anno fünfzig auch viele von uns bei der großen Mobilmachung, wenn alte Leute, die dabeigewesen waren, von der Schlacht bei Leipzig oder der Schlacht bei Waterloo und den Drangsalen auf den Märschen erzählten. Nachher war’s uns allen aber doch recht lieb, daß es diesmal zu nichts Rechtem kam. Das größte Großmaul von uns hatte die Geschichte bloß nur auf dem Exerzierplatz bald satt. Und selbst Karl Drönemann, den sie zu einem reitenden Postillon bei der Kriegspost gemacht hatten, meinte: zu Hause davon nachher zu erzählen, wiege es doch nicht auf, es vorher mit seinem eigenen menschlichen Leben selber durchgemacht zu haben. Das ist wie mit den Reisebeschreibungen. Nimm da nur unsern Levalljang, wie hübsch sich das liest, weil er es so hübsch zu Hause beschrieben hat . . . Also in Südamerika ist das große Erdbeben diesmal gewesen? Ja, ja, die Geographie ist doch die allerhöchste Wissenschaft für uns alle von der Post! Wie viele sind wohl umgekommen, Eduard?»

«Na, so an die Hunderttausend. Auf das genaueste kann man das wohl nicht ausrechnen.»

«Hm, ein paar Tausend mehr oder weniger! Einer mehr oder weniger! Ja, einer mehr oder weniger – weniger. Eduard, unser Herrgott muß es doch wohl verantworten können. Ist das nicht auch deine Meinung?»

Das weiß ich nicht; aber ihre dortige Brief- und Paketbestellung muß das höllisch in Unordnung bringen, sagt mein Vater, und da kommt doch sicherlich vieles als unbestellbar zurück. Meinst du nicht auch, Störzer?»

«Einer mehr oder weniger in der Welt.»

«Kaufmann Katerfeld, der da einen reichen Bruder hat, wie meine Mutter sagte, ist auch schon heute beim Kaffee beim Vater gewesen und hat danach angefragt.»

«I, sieh mal, Eduard! Auch einer mehr oder weniger! Ja, diesen auswärtigen Katerfeld, er heißt mit Vornamen Sekkel, kenne ich noch ganz gut aus meinen Jungensjahren. Das muß also in Chile gewesen sein, dein Erdbeben; denn dahin ist er ausgewandert und hat’s zum Millionär gebracht. Und das sollten wir alle tun. Er ist unverheiratet geblieben, weil ihn hier eine Gewisse nicht gewollt hat. Das kannst du halten, wie du willst, Eduard, denn das ist doch die Nebensache. Sieh, sieh, also der ist mit in das Erdbeben hineingeraten! Ja, da hätte ich an Herrn Samuel Katerfelds Stelle mich auch gleich bei deinem Herrn Vater, dem Herrn Postmeister, nach dem Nähern erkundigt. Aber – das verstehst du noch nicht, Eduard. Also du willst auf gut und schlecht Wetter heute morgen wieder mit. Nun, denn nimm den Weg unter die Füße und laß uns von dem Levalljang sprechen. Das ist doch unser Buch! Und der Welt- und Reisebeschreiber treibt einem die trüben Grillen aus dem Kopf. Und so ein Leben wie der sollten wir alle führen unter den wilden und zahmen Hottentotten. Ich habe wieder die halbe Nacht in dem Buche studiert.»

«Du hast heute eine schwere Tasche.»

«Eine schwere Tasche! . . . Ja, was schreiben die Leute! Allein die Rote Schanze! Der Bauer von der Roten Schanze! Wer mir im Amte von der Roten Schanze und ihren Poststücken hülfe, Eduard, dem wollte ich auf den Knien für die Erlösung danken. Es ist freilich heute bloß nur die Zeitung. Die trägst du mir wohl wieder einmal über den Graben nach der Schanze hinüber. Nicht wahr, du tust mir den Gefallen? Ich sortiere mir derweilen die übrigen Briefe und Gartenlauben und Modezeitungen an die Herren Ökonomen und Pastöre und Fabrikinspektoren ein bißchen handgerechter diesseits des Grabens.»

Was hätte ich damals nicht dem Landpostboten Störzer zu Gefallen getan?

«Natürlich bringe ich deine Sachen zu Quakatz, Fritze, und wenn er auch noch so sehr sein Sauerampfergesicht mir schneidet und seine wilde Katze mir am liebsten in mein Gesicht springen möchte. Setze du dich dreist untern Baum vor dem Graben und sortiere deine Geschichten. Ich springe schon hinüber zur Roten Schanze und nehme sie mit Sturm, wie Stopfkuchen sie nehmen will. Damit werden wir noch fertig, ehe dein Gewitter heraufkommt, Störzer!»

«Je, so rasch kommt’s hoffentlich nicht, Eduard.»

Wir steigen nun, trotz aller schlimmen Wetterzeichen rundum am Horizont, in der Morgensonne wacker zu.

«Eine schwere Tasche!» hörte ich in meinem Absteigequartier zu den Heiligen Drei Königen meinen harmlosen Jugendbekannten Störzer noch einmal stöhnen oder vielmehr seufzen; aber wenn ich auch noch so sehr ein Herz und eine Seele mit ihm war: was kümmerte mich die Korrespondenz der Bauern, der Gutsherrschaften, der Fabrikleute, die er in der Tasche über Land trug? Dafür kroch, flog, lief, schwirrte, leuchtete, flimmerte und glänzte doch allzuviel Wichtigeres sowohl an der Landstraße wie an den Beiwegen. Ja, wenn sich der Kuckuck, die Grasmücke, der Igel, der Hase und diese übrige Gesellschaft, eingeschlossen die Sonne, der Schatten, der Wind, der Regen, der Blitz und der Donner, auch auf schriftlichen Verkehr untereinander durch Störzers Vermittlung eingelassen haben würden, dann hätte es vielleicht noch wunderwoller sein können. Aber es war auch so ganz gut, wo der Roggen und der Weizen, die Kornblume und die Klatschrose rundum ohne Tinte, Feder und Papier auskamen und sich ohne fortgeschrittene Bildung innerhalb ihrer Isotheren und Isothermen freundschaftlich und geschäftlich beieinander zu halten wußten!

Isotheren! Isothermen! Wie diese gelehrten Worte zu den lieben Namen, den Heimatsnamen von allem, was «auf dem Felde» («Sehet die Lilien» und so weiter) wächst, paßten, so paßten sie auch zu unserer übrigen Erdkunde (Geographie) damals. Und doch, was für wundervolle Geographen, Erdkundige, Erdbeschreiber wir damals waren, Störzer und ich! Wir wären die rechten Leute damals für den alten freundlichen und gelehrten Karl Ritter gewesen, wenn er seine Landschaftsbilder auf die große schwarze Tafel hinter seinem Katheder in Berlin malte.

Und wie weit man um diese Lebenszeit auf den paar Stunden Weges von einem Dorf, Pastorhaus und Gusthof zum andern in die weite unermeßliche Welt hinauskam!

Zu Hause, in Neuteutoburg, weiß ich nur zu gut, daß die Welt, oder in diesem Falle der Erdball, durchaus nicht unabmeßlich ist, sondern daß dieser im Äther schwimmende Kloß gar nicht so dick ist, wie er sich einbildet. Aber wenn ich wenigstens bis zu den Kaffern und Buren und zu einem anständigen Vermögen gekommen bin: wem anders verdanke ich das als dem Landbriefträger Friedrich Störzer und seinem Lieblingsbuch «Le Vailiants Reisen in das Innere von Afrika», aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen von Johann Reinhold Forster?

Wie deutlich ich in den Heiligen Drei Königen die Stimme höre: «Die Geographie, die Geographie, Eduard! Und so ein Mann wie dieser Levalljang! Was wäre und wo bliebe unsereiner ohne die Geographie und solch ein Muster von Menschen und Reisenden? Nimm nur mal an, so Tag für Tag, jahrein, jahraus die nämlichen Wege. Jedes Dorf wie deine Tasche. In jedem Hause, von der ältesten Großmuter bis zum eben ausgekrochenen jüngsten Wurm, alles wie deine eigenen Leute in deinem eigenen Hause! Und aus jedem Hause der Ruf: da kommt Störzer! Und in jedwedem Hause: Störzer hat die Zeitung gebracht, Störzer bringt ’n Brief! – Könntest du das auf Lebenszeit und immer auf denselben Wegen aushalten, Eduard, ohne deine Gedanken und Einbildungskraft und Phantasien und Lektüre, Eduard? Müßte dir das nicht auch auf die Länge langweilig werden ohne die Geographie?

«Ne, Störzer! Denn wir haben sie auf dem Gymnasium, und da haben sie mich gestern erst ihretwegen eine Stunde länger in der Schule behalten. Bithynien, Paphlagonien und Pontus wußte ich: aber ich sollte alle alten Staaten von Kleinasien wissen.»

«Das tut mir deinetwegen ja sehr leid, Eduard, aber mir hättest du doch einen Gefallen getan, wenn du sie beim Nachsitzen noch auswendig gelernt hättest, wenn auch bloß für mich.»

«Für dich, Fritze? Nun denn: Mysia, Lydia, Karia, Lycia, Pisidia, Phrygia, Galatia, Lykaonia, Cicilia, Kappadocia, Armenia minor, das sind sie alle; denn Bithynien, Paphlagonien und Pontus habe ich dir schon genannt.»

«Donnerwetter, Eduard, das ist ja grade, als ob du uns Deutsche in allen unsern Unterabteilungen aufzähltest! Es klingt bloß ’n bißchen hübscher und ausländischer. Nun sieh mal, was für ein Vergnügen muß das für dich sein, daß du dieses alles so an der Schnur hersagen kannst und dir dabei was denken kannst, hier auf der Landstraße mit der ganzen altbekannten Umgebung rundherum und da – hier – der Roten Schanze vor der Nase».

«Campes Reisebeschreibungen sind mir lieber. Und du bist mir auch lieber, Störzer. Mysien, Lydien, Karien, bringe du das da unten in dem dumpfigen Schulstall mal in deinen Kopf und sehne dich mal nicht nach dem Le Vaillant seinem Afrika und seinen Hottentotten, Giraffen, Löwen und Elefanten. Stopfkuchen haben sie auch mit mir eine Stunde über den Unsinn dabehalten. Der frägt aber nichts nach Afrika. Dem seine tägliche Sehnsucht ist dort die Rote Schanze; na, das weißt du ja.»

«Das weiß ich freilich, und es ist närrisch genug von dem Dicken – deinem närrischen Kameraden. Weißt du, Eduard, wenn ich mir aus der Weltkunde ein Faultier vorstelle, so muß ich mir dabei immer diesen deinen Freund und Schulkameraden mit vorstellen. Der und die Rote Schanze!»

 

Die Rote Schanze! Ich hatte doch allmählich ein wenig in all diese Erinnerungen, in diesen Wechsel von Stimmen und Gestalten hineingegähnt und das Bedürfnis gefühlt, nun auch Störzer seiner ewigen Ruhe zu überlassen und selber für diese Nacht zur Ruhe zu gehen, als mich dieser Name doch noch eine Weile wach und bei meinem Jugendleben lebendigst festhielt. Die Rote Schanze!

Es überkam mich ein lachendes Behagen über die Rote Schanze in ihrer Verbindung mit dem Dicksten, dem Faulsten, dem Gefräßigsten unter uns von damals.

«Im Bette habe ich sie am festesten beim Wickel, Eduard», pflegte Stopfkuchen zu sagen. «Wenn ich mal träume, dann träume ich von ihr, und wer dann Herr auf ihr ist und keinen Schulrat, Oberlehrer und Kollaborator über den Graben läßt, das ist nicht der Bauer Quakatz, sondern das bin ich. Ich! sage ich dir, Eduard.»

Und in den Traum nahm auch ich sie, die Rote Schanze, mit hinein in dieser Nacht in den Heiligen Drei Königen der Heimatstadt. In diesem Traume sah ich ihn noch einmal in meinem Leben so traumhaft aller Wunder voll, wie ich ihn von der Oberquarta und Untertertia aus gesehen hatte, diesen Bauernhof – diese Rote Schanze, diesen alten, herrlichen Kriegs- und Belagerungsaufwurf des Prinzen Yaverius von Sachsen, den Hof des Bauern Andreas Quakatz, aus welchem der kursächsische Herr Prinz in den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts nicht nur die Stadt da unten, sondern auch die Hohe Schule, unser Gymnasium, darin so gründlich beschossen hatte, daß sie beide sich ihm sofort übergeben mußten, obgleich er wahrlich nicht der erste und größte Held des Siebenjährigen Krieges war. Der Siebenjährige Krieg war ein paar Jahre länger vorüber als meine und Stopfkuchens Kindheit; aber die Rote Schanze war noch immer vorhanden in diesem Traume, wie sie unser Jungensideal gewesen war.

Da stieg sie auf im wohlerhaltenen Viereck. Nur durch einen Dammweg über den tiefen Graben mit der übrigen Welt in Verbindung! Mit allem, was sie der Knabenphantasie zu einem Entzücken und Geheimnis gemacht hatte: mit den Kanonen und Mörsern des Prinzen Xaver und mit der undurchdringlichen Dornenhecke, die der böse Bauer Andreas Quakatz auf ihrer Höhe um sich, sein Tinchen, sein Haus, seine Ställe und Scheunen und alles, was sonst sein war, zum Abschluß gegen die schlimme Welt gezogen hatte!

Ich höre ein dumpfes Rollen und Krachen in meinen Traum von der Roten Schanze hinein; aber es ist nicht der kursächsische Kanonendonner gegen den König Fritz von Preußen: es ist das Gewitter, bei dem Störzer sagt:

«Es kommt doch noch rascher über uns, als ich mir dachte. Da, Eduard, nun tu mir den Gefallen und lauf zu dem Adressaten Quakatz mit seinen Sachen hinüber. Da, seine Zeitung – hier auch ein, zwei, drei Briefe. Was der Mann eine Schreiberei um sich hat! Ach, Eduard, und immer ein paar mit den Gerichtssiegeln! Da – das Kind, sein Tinchen, kuckt schon um den Torpfeiler! Gib sie ihm ab, die Sachen; ich sortiere hier unter der Hainbuche derweil das Übrige, ehe das Unwetter ganz da ist.»

«Was willst du von uns, dummer Junge?» höre ich nun ein feines Stimmchen, das gar böse tut, und zwar inmitten des Gekläffs von einem halben Dutzend vor Wut und Gift außer sich geratener Haus- und Hofköter aller Sorten und Gattungen. Und sie lassen es nicht bei dem Blaffen und Zähnegefletsch. Sie fahren mir nach der Hose und springen mir gegen die Kehle: man hatte das vollste Recht, dabei aus jedem Traume selbst als älterer Herr und südafrikanischer Bur mit einem hellen Schrei zu erwachen.

Ich bleibe aber doch darin, auf dem Damm, vor den beiden Torpfeilern vom Quakatzenhof auf der Roten Schanze, und die Kinderstimme kreischt lachend und höhnisch: «Laßt ihn! Wollt ihr herein! Das ganze Gerichte! Präsendent, Akzesser, Reffrendar! Kusch alle! Kusch Geschworener Vahldiek! Kusch Meier, kusch Brauneberg! Kusch das ganze Geschworenengerichte!»

«Da sind eure Postsachen, eure Schreibsachen und die Zeitung, du Giftkatze!» rufe ich, der rotköpfigen Krabbe des Bauern von der Roten Schanze die Korrespondenz des Bauern in die aufgehaltene Schürze werfend, und von dem ungastlichen Anwesen über den Fahrdamm auf das freie Feld und zu der Hainbuche und zu Störzer zurückweichend.

«Komm, Eduard», sagt Störzer, «wir wollen den Weg zwischen die Beine nehmen, daß wir wenigstens Maiholzen noch trocken abreichen. Da, sieh mal hin, wie es dahinten schon gießt. Das ist nun so’n schöner Sommertag. Na, gottlob, daß wir wenigstens die Rote Schanze und Quakatz hinter uns haben.»

Nun war es seltsam, wie sich in dieser Nacht in den Heiligen Drei Königen Vergangenheit und Gegenwart im Bett, Schlaf, Traum und Halbtraum vermischten. Es rauschte und rollte wie großer Platzregen und schwerer Donner: ich lag im Bett in den Heiligen Drei Königen als Gatte, Vater, Grundbesitzer und großer Schafzüchter am Oranjefluß und lief zu gleicher Zeit mit dem Landbriefträger Störzer als zwölfjähriger Schuljunge im strömenden Gewitterschauer, unter Blitz und Donner über das freie Feld, um Maiholzen, das gute Dorf hinter der Roten Schanze, zu erreichen – wenn nicht mit trockenen Kleidern, so doch wenigstens bei lebendigem Leibe.

Erst als der Kellner mit dem Rasierwasser kam, erfuhr ich, daß es wirklich gegen Morgen noch ein heftiges Gewitter gegeben habe, und es war wirklich nichts dagegen zu sagen, daß der junge Mann den höflichen Wunsch äußerte, ich möge «die Sache angenehm verschlafen haben.»

Das wirkliche Gewitter der Nacht hatte ich angenehm verschlafen, oder sein Getöse hatte ich doch so sehr mit dem Rollen und Rauschen der Vergangenheit vermischt, daß ein Unterscheiden von Traum und Wahrheit nicht möglich war. Nun aber hatte ich, ehe der Kellner anklopfte, längere Zeit auf etwas anderes horchen müssen, was ebenfalls in Traumbeschreibungen häufig literarisch vorkommt: die Turmglocken der Heimatstadt. Ich hatte es sechs schlagen hören und halb sieben und sieben. Und dabei, grade bei diesem angenehmsten wachen Liegen und Dehnen und Strecken im Bette und dem Glockenklang dieser Stunden, war mir ein anderes von neuem lebendig in der Seele geworden – süß und schauerig lebendig! Die Stunde nämlich, in welcher man in der Schule zu sein hatte – im Sommer um sieben, im Winter um acht, und, von mir ganz abgesehen, Stopfkuchen schändlicherweise auch! Stopfkuchen! er, den «der ganze Quark gar nichts anging, wenigstens ein Beträchtliches weniger als den ganzen übrigen Cötus zusammen».

Er fragte wahrhaftig gar nichts danach, was «die Leute» (er meinte die Herren Lehrer) wußten und lächerlicherweise ihm mitzuteilen wünschten. Er war ganz gut so, wie er war, und – kurz und gut, es war eine Niederträchtigkeit, im Sommer um sieben und im Winter um acht «da sein» zu müssen, um sich doch nur mit völliger Verachtung strafen zu lassen; da «alles andere doch nichts half».

Stopfkuchen! Wahrlich nicht der Kirchenglocken wegen (obgleich er auch den Versuch gemacht hatte, Theologie zu studieren), sondern einzig und allein der Turmuhr halber stieg er mir nun so hell wie Störzer in der Seele empor, mein Freund Stopfkuchen, mein anderer Kindheits-, Feld-, Wald- und Wiesenfreund Stopfkuchen, den ich nur dann seinen Schritt etwas beschleunigen sah, wenn ihn der alte Konrektor mit der Haselnußgerte im Kreise nicht um die Welt, sondern um die schwarze Schultafel und die ungelöste mathematische Aufgabe jagte.

Ja, zu unserer Zeit kriegte man noch die Prügel, die einem gebührten . . . Gott sei Dank! – «Stopfkuchen» nannten wir ihn auf der Schule. Eigentlich hieß er Heinrich Schaumann und war das einzige Kind so dürrer, eingeschrumpfelter, zaunkönighaftnervös-lebendiger Eltern, daß die in der Stadt nicht unrecht zu haben schienen, die da behaupteten, er habe in einem Kuckucksei gelegen und sei schändlich doloser Weise dem Herrn Registrator und der Frau Registratorin Schaumann ins Nest geschoben worden. Wie dem auch sein möchte: sie hatten ihn herangefüttert und ihm zu und in den Schnabel getragen, was sie vermochten; und es war ihm gediehen.

Und wie ein Zaunkönigspaar seine Freude und seinen Stolz an seinem dicken Nestling hat, so hatten auch Vater und Mutter Schaumann ihren Stolz und ihre Freude an ihrem «Dicken» und wollten selbstverständlich auch noch nach einer andern Dimension hin etwas aus ihm machen, nämlich etwas Großes. Natürlig einen Pastor, Regierungsrat, Sanitätsrat oder dergleichen.

«Die Sache könnte mir schon passen, Eduard», sagte Heinrich damals häufig zu mir. «Wenn nur nicht die verdammten Vorstrapazen wären; das schauderhafte Latein und gar Griechisch und nachher, um einen verrückt zu machen, das Hebräische!» seufzte er dazu und rieb sich nicht selten die Schultern dabei.

«Und die Rote Schanze, Heinrich.»

«Die auch, Eduard, obgleich das nur eine Dummheit von euch andern ist. Na, mir ist’s übrigens eins, was ihr Esel von mir sagt und denkt! Und dann läßt sich das auch gar nicht in einem Atem nennen: das Gymnasium und Quakatzen seine Rote Schanze. Herr, du mein Gott, wenn mich einer zum Bauer auf der Roten Schanze machen wollte; ich hinge jedes Pastorhaus in der Welt drum an den Nagel und schlüge Kienbaum mit Vergnügen dreimal tot!»

«Aber Stopfkuchen!»