Störfahrt - Saskia Troche - E-Book

Störfahrt E-Book

Saskia Troche

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Beschreibung

Ein kleiner Junge kämpft mit seinem Leben. Sein einziger Halt: eine Brieffreundschaft mit jemandem, der wie er seinen Weg nicht findet. Doch wem schreibt er da eigentlich seine Geheimnisse? Zur gleichen Zeit steht die Münchner Polizei vor einem Rätsel. Hat jemand wirklich einen Anschlag auf die U-Bahn geplant? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Und welche Rolle spielt dabei der kleine Junge?

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Seitenzahl: 223

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln zeigt sich,

dass die Bahn die größte Sicherheit bietet.

allianz-pro-schiene.de

 

Prolog

Der Tag, der alles verändern sollte, war ein Freitag. Obwohl die Sonne vom Himmel lachte, war es kühl geworden. Ein frischer Herbstwind durchstreifte die bayerische Landeshauptstadt, als Claudia Schuster an diesem Nachmittag in der Mitte des Monats Oktober nach Hause kam und die schweren Einkaufstüten auf die Ablage neben der Küchenzeile wuchtete.

Blätterteig, Backmischung, Mandeln, Erdbeeren, Himbeeren, Kerzen, Kerzenstecker, Süßigkeiten… Hoffentlich hatte sie an alles gedacht. Na ja, spätestens morgen würde sie es wissen, wenn die ganze Doppelhaushälfte unter Kindergeschrei und Herumtollen erbeben würden. „Nur ein paar Freunde“ hatte sich Hermine als Gesellschafter bei der Feier ihres zwölften Geburtstags gewünscht. Aber als sie gemeinsam eine Liste gemacht hatten, waren es am Ende stolze 22 Namen gewesen. Na, das konnte ja heiter werden.

Bis heute Abend, wenn Hermine vom Schulausflug zurückkehren würde, hatte Claudia nun Zeit für die Vorbereitungen. Sie begann erst mal mit einer guten Tasse Cappuccino aus dem Vollautomaten für sich selbst. 

Claudia schaltete das DAB-Radio ein, das geschickt in die moderne Küchenzeile integriert worden war, und wählte ihren Lieblingssender, der rund um die Uhr Pop-Musik aus den achtziger und neunziger Jahren spielte.  Dann heizte sie den Backofen vor und machte sich an den ersten der drei Kuchen. Wenn Claudia Glück hatte, dann kam Robert noch vor Hermine nach Hause und konnte ihr ein bisschen zur Hand gehen bei den Vorbereitungen.

Gerade als Claudia auf einem Zettel die Reihenfolge der morgigen Spiele notierte, läutete ihr Smartphone. „Mama“ stand auf dem Display, das außerdem eine herzlich lachende Frau in den Sechzigern zeigte.  „Hi Mama“, sagte Claudia, nachdem sie auf das Rufannahmesymbol getippt hatte. „Hey Schatz, wie schaut’s aus für morgen? Alles bereit?“ Claudia entgegnete, dass man davon noch weit entfernt, aber doch auf einem guten Weg sei.  Dabei fiel ihr Blick auf die beiden noch nicht mal halb fertigen Obstkuchen. Aber egal.

„Es reicht übrigens, wenn ihr gegen halb zwei kommt“, riet Claudia ihrer Mutter. Sie würde sich sowieso nicht daran halten und mindestens eine Stunde eher an der Haustür der Schusters läuten. „Und Mama“, fügte Claudia hinzu, „bitte nicht wieder so viele Geschenke wie beim letzten Mal. Hermine lässt momentan in der Schule ein bisschen nach. Es täte ihr ganz gut, wenn sie sich mehr ihren Hausaufgaben widmen würde.“ Ihre Mutter tat dies erwartungsgemäß ab: „Ach, sie ist ein Kind. Du warst in dem Alter auch nicht anders, Schatz. Wenn Du willst, such ich mal Deine alten Aufgabenhefte auf dem Speicher.“ Claudia schloss die Augen. War ja klar. Sie hörte sich noch ein paar Tipps für eine perfekte Geburtstagstorte an, dann beendete sie das Gespräch.

Claudia ließ gerade einen zweiten Cappuccino in die inzwischen leere Tasse laufen, als sich ein Schlüssel in der Haustüre drehte. „Mist, da bin ich wohl zu früh“, lachte Robert, als er die Küche betrat und das Chaos erfasste. „Nein, genau richtig“, entgegnete seine Frau trocken, gab ihm einen Kuss und machte dann eine ausladende Handbewegung: „Du kannst Dir Deinen Aufgabenbereich sozusagen noch selbst aussuchen.“ Robert winkte ab. „Ne, ne, lass mal. Wenn wir unsere Kleine morgen nicht vollends blamieren wollen, dann halte ich mich von den Kuchen besser ganz weit fern.“ Er deutete in die Ecke rechts neben der Küchenzeile, wo ein einzelner Kasten Gerolsteiner Sprudel stand. „Ich zieh mich schnell um, dann fahr ich zum Getränkemarkt und hol eine kleine Auswahl an Säften und Limonaden.“ Robert verschwand nach oben in Richtung Schlafzimmer. Zwei Minuten später hatte er den Anzug gegen Jeans und Sweatshirt getauscht. Er griff sich den Autoschlüssel, warf seiner Frau eine Kusshand zu und verließ das Haus.

Der Getränkemarkt war nur ein paar Kilometer entfernt. Robert Schuster lenkte den noch fast nagelneuen dunkelblauen VW Passat rückwärts aus der Garageneinfahrt hinaus auf die Zehntfeldstraße und fuhr Richtung Westen. Kurze Zeit später bog er links in die Bajuwarenstraße ein, ein paar Meter später wieder nach rechts auf die Heinrich-Wieland-Straße. Gut gelaunt wegen des bevorstehenden freien Wochenendes drehte Robert das Radio lauter, doch genau in diesem Moment war der gerade gespielte Song zu Ende, und das Intro einer Ballade erklang aus den Lautsprechern. 

Roberts rechte Hand wanderte zum geschmackvoll in die Mittelkonsole integrierten Touchscreen, auf dem die Landkarte des Navigationssystems zu sehen war. Wo war gleich noch mal das Feld zum Umschalten auf die Radiobedienung? Rechts oben oder… Mann, bei seinem vorherigen Toyota war das einfacher gewesen. Aber da lagen auch gut 15 Jahre technischer Fortschritt dazwischen. Dennoch, Robert hatte echte „analoge“ Druckknöpfe immer zu schätzen gewusst. Jedenfalls fand er die Bedienung damit deutlich bequemer. „Ah ja, wusste ich es doch.“ Endlich hatte er gefunden, wonach er suchte, und das Display zeigte eine Liste der verfügbaren Radiosender an. Robert tippte auf „Antenne Bayern“, und „Shallow“ von Lady Gaga featuring Bradley Cooper flutete den mit Leder ausgekleideten Innenraum des Fahrzeugs.

Als Robert den Blick wieder auf die Fahrbahn vor sich richtete, war es bereits zu spät. Der junge Mann, der nur wenige Meter vor ihm auf die Straße getreten war, den Blick gedankenversunken auf das Smartphone in seiner rechten Hand gerichtet, war schon viel zu nah. „Scheiße!“ Robert trat das Bremspedal voll durch und drückte gleichzeitig auf die Hupe. Der junge Mann sah erschrocken auf und Robert direkt in die Augen, als der Kühlergrill des Passats ihm mit guten 45 Stundenkilometern Restgeschwindigkeit die Beine wegriss.

Der Mann wurde nach oben geschleudert, prallte mit voller Wucht gegen die Windschutzscheibe, deren Sicherheitsglas sich mit einem lauten Knall in ein engmaschiges Spinnennetz verwandelte und vom Blut des Unfallopfers rot färbte. Robert hörte einen erneuten Knall vom Dach des Passats her, dann endlich stand das Fahrzeug.

Im Rückspiegel sah Robert den jungen Mann etwa 30 Meter hinter sich auf der Straße liegen, den Körper merkwürdig verdreht. 

Er rührte sich nicht mehr.

Freitag 19. Oktober, 18.25 Uhr

Unfallstelle Heinrich-Wieland-Straße, München

Es passierte in dem Moment, als Simpert Rader sich vom Fahrersitz des Dienstfahrzeugs erheben wollte. Wie eine Feuerwalze brannte sich der Schmerz durch sein Rückgrat und breitete sich in Sekundenbruchteilen über seinen Körper aus. Stöhnend ließ sich der Kriminalhauptkommissar wieder in den Sitz zurückfallen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht saß er so eine ganze Weile da. Selbst das Atmen fiel ihm in solchen Momenten schwer.

„Alles ok?“, fragte ein uniformierter Kollege der Verkehrspolizei, der auf das Stöhnen Raders aufmerksam geworden und an den schwarzen Volvo V40 herangetreten war. Rader machte eine wegwerfende Bewegung mit der linken Hand, vermied aber den Blickkontakt zu dem besorgten Kollegen. „Passt schon“, presste er zwischen den Zähnen hervor, „ist nur meine Bandscheibe. Ich brauch einen kleinen Moment.“ Der Uniformierte nickte, hielt noch einen Augenblick unschlüssig inne, dann entschwand er aus Raders Blickfeld.

Mehr als zwei Jahre lag sein Bandscheibenvorfall inzwischen zurück. Einer der schwereren Sorte, wie ihm sein Freund und Stiefvater, seines Zeichens Orthopäde, damals erklärt hatte. „Ein Fünfer, damit ist nicht zu spaßen“, hatte Artur beim Blick auf die Röntgenbilder gesagt und eine besorgte Miene aufgesetzt. Eine Zeit lang stand zur Diskussion, dass sich Rader unters Messer legen sollte, aber dann entschied sich sein Stiefvater doch für eine andere Therapie. Rader hatte nichts dagegen einzuwenden. Auch er war nicht scharf aufs Krankenhaus gewesen. Heute jedoch fragte er sich manchmal, ob eine OP nicht doch die bessere Lösung gewesen wäre. Alle paar Monate meldete sich seine Bandscheibe zurück, und dann litt Rader gute ein bis zwei Wochen unter Schmerzen sowie stark eingeschränkter Bewegungsfreiheit. Mit seinen inzwischen 48 Jahren wirkte er auf Außenstehende dann immer wie ein 88-Jähriger. Tja, und jetzt war’s also wieder mal soweit. Großartig. Wie immer im unpassendsten Moment.

Rader atmete ein paarmal tief durch, dann startete er den nächsten Anlauf. Mit der linken Hand hielt er sich am Dach des Volvos fest und zog sich gleichzeitig mit dieser ein wenig in die Höhe, um die Wirbelsäule zu entlasten. Langsam setzte er erst den linken Fuß nach draußen, dann drehte er im Zeitlupentempo den Oberkörper nach links und zog das andere Bein nach. Erneut durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, als er sich vorsichtig in die Höhe wuchtete. „Ich muss unbedingt mehr Sport treiben“, ermahnte er sich, als er endlich aufrecht stand. Oder zumindest annähernd aufrecht. Artur hatte ihn von Anfang an gedrängt, sein Muskelkorsett rund um die Wirbelsäule durch intensives Training aufzubauen. Andernfalls würde sich seine Bandscheibe immer wieder bemerkbar machen, mahnte er damals. Wie recht er doch gehabt hatte.

Eingetaucht in das zuckende Blaulicht des Streifenwagens, der ein paar Meter weiter quer über die Fahrbahn geparkt war, watschelte Rader hinüber zu der weißen Plastikplane, unter der – wie er bereits wusste – die Leiche eines jungen Mannes lag. Zwei Uniformierte, von denen einer gerade etwas auf einem Klemmbrett notierte, standen neben dem abgedeckten Körper. Als Rader nur noch ein paar Meter entfernt war, blickten die Beamten auf und nickten ihm zu. Rader hob grüßend die rechte Hand. Zehn Meter weiter packten die Sanitäter ihre Sachen zusammen und verluden sie im Rettungswagen.

Raders Blick fiel auf einen leicht querstehenden VW Passat mit eingeschlagenen Vorderrädern und zerborstener Windschutzscheibe. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung war gerade dabei, jede Menge Fotos des Unfallwagens zu schießen. Ein paar Meter hinter dem Passat waren kleine Tafeln mit Zahlen auf der Straße aufgestellt worden. Etwas abseits des Geschehens erblickte der Kriminalhauptkommissar zerbrochenes Glas, was von einem Blinker zu stammen schien.

Eine Handvoll Schaulustiger hatte sich hinter dem rot-weißen Absperrband versammelt. Einer hielt ein Smartphone in der Hand, ließ es aber schnell in seine Jackentasche gleiten, als Raders grimmiger Blick ihn traf. „Blöder Wichser“, brummte der Kriminalhauptkommissar. Er hasste diese Gaffer, die sich am Leid und Unglück anderer ergötzten, aus ganzem Herzen.

In diesem Moment entdeckte der Notarzt Rader inmitten der Menschenmenge und kam zu ihm herüber. „Ich hoffe, Sie meinen nicht mich“, sagte der Mediziner, der Raders Schimpftirade gerade noch so aufgeschnappt hatte. Anstelle einer Antwort deutete der Polizist nur auf die Schaulustigen. „Ist nicht mein bester Tag heute“, nuschelte Rader entschuldigend und bemühte sich um eine einigermaßen bequeme Standposition. „Ja, das sehe ich.“ Der Notarzt legte den Kopf leicht schief und musterte Raders Körperhaltung. „Die Bandscheibe?“, fragte er. „Der Kandidat hat 100 Punkte“, erwiderte Rader. „Soll ich Ihnen was spritzen?“ Der Arzt deutete über seine Schulter hinweg auf den Rettungswagen. Rader schüttelte den Kopf: „Danke, nein, ich habe das leider öfter. Erzählen Sie mir lieber was über unseren Freund hier.“ Er zeigte auf die weiße Plastikplane.

„Tja, da gibt’s nicht viel zu sagen.“ Der Notarzt zuckte mit den Schultern. „Erst ein Aufprall mit 40 bis 50 Stundenkilometern. Dann noch voll mit dem Schädel auf die Windschutzscheibe geknallt. Hat ihm nicht gutgetan. War schon tot, als wir ankamen. Da war nichts mehr zu machen.“ Der Arzt deutete auf die Plane: „Ist auch kein wirklich schöner Anblick.“ Rader murmelte etwas Unverständliches, bedankte sich und schlenderte rüber zu den beiden Uniformierten. 

Der Beamte mit dem Klemmbrett war etwa Mitte Fünfzig und wirkte abgeklärt – ganz im Gegensatz zu seinem deutlich jüngeren Kollegen, der eine recht ungesunde Gesichtsfarbe hatte und offensichtlich jeden Blick in Richtung der abgedeckten Leiche vermied. Der Kriminalhauptkommissar stellte sich als diensthabender Mitarbeiter des Kriminaldauerdienstes vor und schüttelte seinen beiden Kollegen die Hand. „Aus der Schnellmeldung weiß ich, dass der Mann überfahren wurde, als er die Straße überqueren wollte“, eröffnete Rader das Gespräch. „Was habt ihr dem noch hinzuzufügen?“

Der ältere Polizist warf einen Blick auf seine Notizen, dann ließ er das Klemmbrett wieder sinken. Er blies kurz die Backen auf, dann nickte er mit dem Kinn in Richtung der weißen Plastikplane. „Also, vor einer guten Dreiviertelstunde trat der Mann plötzlich zwischen zwei parkenden Autos auf die Fahrbahn. Wir haben einen Zeugen, einen älteren Herrn, der mit seinem Hund 20 Meter weiter stadteinwärts die Straße überqueren wollte und darauf wartete, dass die Autos vorbeifuhren. Er hat gesehen, dass das Unfallopfer weder nach links noch nach rechts geschaut hat, sondern nur auf sein Smartphone.“ Wie aufs Stichwort hielt der jüngere Uniformierte einen durchsichtigen Beutel in die Höhe, in dem Rader die Überreste eines Mobiltelefons erkennen konnte.

Das Klemmbrett wedelte in Richtung des Passats. Der Beamte der Spurensicherung hatte gerade die Fahrertür geöffnet und blickte sich im Innenraum um. „Der Fahrer, ein gewisser Robert Schuster, hatte wohl kaum eine Chance zu bremsen. Das Ganze hat ihn voll mitgenommen. Der Typ ist total durch den Wind. Sitzt im Sanka und weint.“ Der Beamte zeigte auf den Rettungswagen. „Der Notarzt hat ihm eine Beruhigungsspritze gegeben, soviel ich weiß.“ Rader griff sich mit der rechten Hand an den schmerzenden Rücken. „Also unschuldig?“, fragte er. Beide Uniformierten nickten. „Sieht ganz danach aus“, erklärte der ältere Beamte. „Schuster war auf dem Weg zum Getränkemarkt. Seine Tochter hat morgen Geburtstag.“

Rader rieb sich die Augen, dann sah er auf seine uralte Casio-Armbanduhr. Eigentlich wollte er schon lange zu Hause sein, sich beim Italiener nebenan eine Pizza holen und den Tag mit einer guten DVD ausklingen lassen. Zehn Minuten vor Feierabend hatte das Diensttelefon geläutet. Bis dahin war es eine ruhige Woche gewesen, und Simpert Raders Welt schien in Ordnung – seine Bandscheibe eingeschlossen. Nein, das war wahrlich nicht sein Tag heute. Aber das würde der Mann unter der Plane wahrscheinlich auch über seinen Tag behaupten, wenn er noch sprechen könnte.

„Und wer ist das Opfer?“, fragte Rader. Der ältere Beamte hob bedauernd die Schultern: „Wissen wir nicht. Er trug keine Papiere bei sich. In der Innentasche seiner Lederjacke hatte er einen 20-Euro-Schein, ein paar Münzen und einen Bund mit drei Schlüsseln. Aber“ – der Polizist hob zweimal kurz hintereinander die Augenbrauen – „wir wissen möglicherweise, wo er wohnt. Am Schlüsselbund ist ein Anhänger mit einer Adresse drauf.“ Wie auf Kommando hielt der jüngere Beamte einen weiteren Plastikbeutel in die Höhe, in welchem etwas Bargeld und ein Schlüsselbund zu sehen waren. Am Bund war deutlich ein roter Anhänger zu erkennen, in den die Zahlen-Buchstaben-Kombination „GHR 284/4“ eingeprägt war.

„GHR für Gerhard-Hauptmann-Ring“, meinte der junge Kollege, dessen Gesicht inzwischen etwas an Farbe gewonnen hatte. „Sind Sie Hellseher?“, fragte Rader. „Nein, das war geraten“, gab der Beamte zu, „allerdings passt die Buchstabenkombination. Außerdem ist die Straße nicht allzu weit entfernt, in Neuperlach. An der Kreuzung da hinten fährt der Bus ab, der hält am Gerhard-Hauptmann-Ring dann quasi vor der Haustür. Wir fahren da mal hin, sobald wir hier fertig sind.“ Wie aufs Stichwort hoben zwei weitere Uniformierte, die die Unfallstelle weiträumig absicherten, das rot-weiße Flatterband in die Höhe, so dass der Leichenwagen des städtischen Bestattungsdienstes hindurch fahren konnte.

Simpert Rader überlegte kurz, sah erneut auf seine Uhr, dann zuckte er mit den Schultern. Was soll’s, der Feierabend war ohnehin schon im Arsch, und zu Hause wartete sowieso niemand auf ihn. Familienangehörige über den Tod eines lieben Menschen zu informieren, zählte zwar nicht zu seinen bevorzugten Beschäftigungen, aber gehörte nun mal zum Job dazu.

„Geben Sie her“, sagte Rader zu dem jungen Beamten und zeigte auf den Bund mit den drei Schlüsseln in dem durch-sichtigen Beutel. „Ich fahr da noch vorbei. Hab am Sonntag sowieso Bereitschaft, da kann ich dann den Papierkram in Ruhe machen.“ Mit dankbarem Gesichtsausdruck fischte der Polizist die Schlüssel aus dem Beutel und überreichte sie dem zivilen Kollegen. Rader gab ihm im Gegenzug seine Visitenkarte des KDD, damit die Beamten in ihrem Bericht vermerken konnten, an wen sie die Schlüssel ausgehändigt hatten. Er registrierte, dass es zu nieseln begann.

Rader ging ein paar Schritte weiter zu den beiden Angestellten des Bestattungsdienstes hinüber und reichte ihnen die Hand. Routiniert entfernten die Männer die weiße Plastik-plane. Meine Güte, der Notarzt hatte nicht übertrieben, dachte Rader bei sich. Die Leiche sah tatsächlich ziemlich übel aus. Das Gesicht des Toten war, wohl durch den heftigen und gleich mehrfachen Aufprall auf den Passat, stark deformiert und zudem über und über mit Blut verschmiert. Der rechte Arm des Mannes stand merkwürdig verdreht ab, und das linke Bein wirkte auf Rader irgendwie so, als gehöre es gar nicht richtig zum Rest des Körpers.

Der Kriminalhauptkommissar registrierte zudem, dass der Tote eindeutig nicht europäischer Abstammung war. Das dichte schwarze Haar, das mit Schmutz und getrocknetem Blut durchsetzt war, sowie die kaffeebraune Hautfarbe des Mannes und seinen gepflegten schwarzen Bart ordnete Simpert Rader dem arabischen Raum zu. „Na großartig, warum zum Teufel konnte ich mein blödes Maul nicht halten“, murmelte Rader vor sich hin, während er sich vor seinem geistigen Auge bereits im Wohnzimmer einer arabischen Großfamilie sah und ihnen die Nachricht vom Tod eines lieben Cousins übermittelte.

Vor ein paar Jahren hatte er so etwas schon einmal gemacht. Die 15 anwesenden Familienmitglieder, die kaum der deutschen Sprache mächtig gewesen waren, hatten ihn fast tätlich angegriffen, weil sie seine Mitteilung für einen schlechten Scherz hielten. Noch in derselben Nacht wollten sich dann einige Familienmitglieder auch noch gewaltsam Zutritt zur Rechtsmedizin verschaffen, um den Leichnam ihres verstorbenen Onkels abzuholen und in die Heimat zu bringen. 

Insgeheim hoffte Rader, dass „GHR“ vielleicht doch nicht für den Gerhard-Hauptmann-Ring stand und er sich so in aller Ruhe am Wochenende um die Angelegenheit kümmern konnte. Als er gerade in seinen Dienst-Volvo einsteigen wollte, machte sich erneut seine Bandscheibe schmerzhaft bemerkbar. Vorsichtig ließ sich Rader auf den Fahrersitz hinab gleiten, legte den Sicherheitsgurt an und drehte den Zündschlüssel herum.

Kurz darauf lenkte er seinen Wagen in Richtung des angrenzenden Stadtteils Neuperlach, während die Mitarbeiter des Bestattungsdienstes die Leiche des unbekannten Toten in einen grauen Kunststoffsarg hoben.

Lieber Brieffreund,

heute habe ich Geburtstag. Ich mag diesen Tag nicht. Am liebsten würde ich ihn einfach vergessen. Ich übe schon fleißig. Seit vier Jahren. Und ich bin schon ganz gut darin. Heute habe ich es fast bis zur großen Pause geschafft. Dass ich dann doch wieder daran denken musste, war nicht meine Schuld. Denn in Elsas roter, ziemlich verbeulter Blechdose, die sie immer in ihrem Schulranzen bei sich hat, war ein riesiges Stück Schokoladen-Keks-Kuchen. „Kalter Hund“. Mein Lieblingskuchen. Und das heute, an meinem Geburtstag. „Kalten Hund“ hat meine Mama immer für mich gebacken. Immer einmal im Jahr. Immer am gleichen Tag. Bis vor vier Jahren. 

Es war unser Ritual. An diesem Tag lief alles immer genau gleich ab. Sobald die Schulglocke erklang, rannte ich los. Ich rannte im Slalom zwischen den Kindern aus den anderen Klassen hindurch. Ich war so schnell wie der Wirbelwind. Im rasenden Galopp stürmte ich die schweren Steinstufen der alten Schultreppe hinunter, hinaus in den Vorhof. Weiter, immer weiter. Ich hörte erst auf zu rennen, als unser Haus in Sicht kam. Dann hielt ich an. Ich schwitzte.

Ich bin nicht so gut im Sport, musst Du wissen. Eigentlich hasse ich Sport. Und Mama mag es nicht, wenn ich zerzaust nach Hause komme. Schon gar nicht an einem so besonderen Tag. Ich kämmte mir also mit den Fingern die Haare und zog meine schwarze Jacke wieder gerade. Hoffte, so zumindest die offensichtlichen Spuren, die der Schultag an mir hinterlassen hatte, beseitigt zu haben. Jetzt war mein Schaal noch im Weg. Der besteht fast nur noch aus Löchern und musste deswegen verschwinden. Ich stopfte ihn in den Ranzen. Dann ging ich ganz langsam, als hätte ich alle Zeit der Welt, auf die Eingangstür unseres Hauses zu. 

Ich wollte die Zeit ausdehnen. Das Gefühl der Vorfreude konservieren wie Mama die Gurken. Manchmal ging ich sogar soweit, dass ich noch den Alten aus der Wohnung ganz unten rechts von unserem Haus grüßte. Der alte Griesgram, so hat ihn Papa immer genannt, hatte mal wieder seinen Posten bezogen. Er saß immer in seinem Sessel ganz dicht am Fenster und glotzt hinter der Gardine hervor. Der denkt wahrscheinlich, niemand kann ihn sehen. Aber ich weiß genau, dass er da ist. 

Klingeln musste ich an meinem Geburtstag nie. Wie von Geisterhand öffnete sich die Türe, sobald ich vor ihr stand. Als ich noch klein war, dachte ich wirklich, dass in unserem Haus Geister wohnen. Ich brauchte mich nur gegen die schwere Scheibe zu lehnen, und schon konnte ich die Türe aufschieben. Seit ich denken kann, öffnet sich einmal im Jahr die Tür ganz von alleine; nur für mich. Es ist der einzige Tag im Jahr, an dem ich nicht erst meinen Ranzen abstellen und zwischen all den Schulsachen nach der kleinen blauen Weltkugel mit dem braunen Lederband suchen muss, an der meine Schlüssel hängen.

Die Weltkugel war die Idee von Papa, weil ich mich früher manchmal ausgesperrt habe und sogar einmal vor dem Haus bis spät am Abend warten musste. Dabei habe ich mich so schlimm erkältet, dass Papa auf die Idee mit der Weltkugel kam. Die durfte ich mir ganz allein im Laden an der Ecke mit den vielen Spielsachen aussuchen. Der Laden ist wunderschön. Jeden Tag auf dem Weg zur Schule laufe ich an ihm vorbei. Was da alles im Schaufenster liegt. All die ganzen Bücher, Autos, Spielkarten und Kuscheltiere hinter der Scheibe würden nicht mal in mein Zimmer passen. Mein Zimmer ist nicht so groß. Aber es ist ok. Einmal habe ich den Laden betreten dürfen. Gemeinsam mit Papa. Er sagte ganz laut zu mir, sodass auch die schwerhörige Dame hinter der Kasse es verstehen musste, dass ich das Schönste nehmen soll, was ich finde, denn so würde ich nie wieder meinen Schlüssel vergessen. Das hat funktioniert. 

Jetzt muss ich Schluss machen. Mama ist aufgewacht. Mamas schlimmster Albtraum ist das Wachsein. Ich kann sie hören. Ich glaube, sie weint. 

Nur eine Frage noch: Wann hast Du Deinen Geburtstag vergessen?

Dein Brieffreund

Freitag 19. Oktober, 19.54 Uhr

Gerhard-Hauptmann-Ring 284, Neuperlach, München

Als Simpert Rader vor der Eingangstür des Wohnblocks Gerhard-Hauptmann-Ring 284 stand, wollte er am liebsten sofort wieder umkehren und nach Hause fahren. Es war genau jene Art von Gebäude, in der er niemals würde leben wollen: gute 25 Stockwerke hoch, Graffiti an den Mauern, ein grauer Block ohne Charme, hochgezogen Ende der 60er Jahre, als die Landeshauptstadt München aus allen Nähten zu platzen drohte und dringend neue Wohnungen notwendig waren. 

Es war bereits dunkel geworden. Aus einem offenen Fenster im ersten Obergeschoß hörte Rader eine Frau schimpfen. Offenbar waren ihre Kinder mit der Qualität des Abendessens unzufrieden, womit wiederum die Frauenstimme unzufrieden war. Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund. 

Die Eingangstür besaß eine von einem Drahtgitter durchzogene Milchglasscheibe, auf die irgendein Scherzbold mit schwarzem Edding „Tor zur Höle“ gekritzelt hatte. Rader ging davon aus, dass es „Hölle“ heißen sollte, mit zwei „L“, aber eigentlich war es ihm egal. 

Er nahm die Schlüssel des Unfallopfers zur Hand und probierte sie der Reihe nach durch. Der zweite Schlüssel ließ sich in den Zylinder einführen und nach rechts drehen. „Bingo“, sagte Rader zu sich selbst. Jetzt galt es nur noch, die zu einem der beiden anderen Schlüssel passende Wohnungstür zu finden. Die Ziffer „4“ auf dem roten Plastikanhänger konnte sowohl eine Wohnungsnummer als auch ein Stockwerk meinen. Raders Blick streifte die Türen im Erdgeschoß, aber auf keiner waren Zahlen zu sehen. Also war wohl die vierte Etage sein Ziel. Da der Aufzug schon von außen wenig vertrauenserweckend wirkte und Rader beim Öffnen der Lifttür beißender Uringestank in die Nase stieg, entschied er sich trotz seiner Rückenschmerzen fürs Treppenhaus.

Im vierten Stock angekommen, registrierte er, dass praktisch keine der insgesamt 18 Wohnungstüren ein Namensschild hatte. Anonymität wurde in diesem Block offenbar großgeschrieben. „Nun denn“, murmelte Rader und beschloss, sich von links nach rechts vorzuarbeiten.

Er näherte sich leise der ersten Tür und betrachtete den Schließzylinder, der – wie er im Vorbeigehen schon bemerkt hatte – an allen Türen vom selben Hersteller stammte. Dazu passen konnte nur einer der beiden übrig gebliebenen Schlüssel. Rader lauschte auf ein Geräusch von innen, dann steckte er den Schlüssel vorsichtig in den Schließzylinder. Er ließ sich problemlos bis zum Anschlag einführen, aber nicht drehen. Langsam, um kein Geräusch zu machen, zog der Polizist den Schlüssel wieder heraus.

Die klassische Methode wäre natürlich einfacher gewesen. An jeder Tür läuten, ein Foto des Unfallopfers zeigen und fragen, ob man diesen Mann kennt. Leider jedoch war das Gesicht der Leiche wegen des mehrfachen Aufpralls in einem dermaßen desolaten Zustand, dass die Foto-Methode diesmal keinesfalls in Frage kam. 

Das grelle Deckenlicht flackerte kurz. Rader hörte, wie irgendwo, wahrscheinlich ein Stockwerk über oder unter ihm, eine Tür geöffnet wurde. Lautes Lachen drang durch den nach Abfällen stinkenden Flur. Dann war es wieder still.

An der nächsten Tür klappte es wieder nicht. An der übernächsten Tür ebenso wenig. Als Rader den Schlüssel in den Zylinder der vierten Türe steckte, wurde diese plötzlich aufgerissen. Ein kräftig gebauter Mittvierziger in Jogginghose und fleckigem weißen T-Shirt stand vor Rader und herrschte ihn an: „Was willst Du hier, Du Spacko!?“ Noch ehe Rader antworten konnte, bekam er einen heftigen Stoß vor die Brust, der ihn rückwärts an die gegenüberliegende Wand taumeln ließ. „Das ist nicht Deine Tür, Du versoffenes Schwein!“, schrie ihn der Mann an, „zieh Leine und such Deine Bude woanders.“ Dann knallte er die Tür zu. 

Rader überlegte kurz zu läuten und dem blöden Kerl seinen Dienstausweis unter die Nase zu reiben, ließ es aber dann bleiben. Womöglich würde er nur unnötig Aufsehen erregen. Also ging er weiter zur nächsten Tür. Der Schlüssel ließ sich wiederum bis zum Anschlag einführen. Und als Rader die Hand vorsichtig nach rechts drehte, drehte sich der Schlüssel mit.

Weder am Türblatt noch am Klingelknopf stand ein Name. Langsam zog Rader den Schlüssel wieder aus dem Zylinder und ließ ihn in seine Jackentasche gleiten. Dann holte er seinen Dienstausweis hervor, richtete sich zu voller Größe auf, schnaufte einmal tief durch und drückte auf die Klingel. Nichts passierte. Er versuchte es ein zweites Mal, wieder ohne Ergebnis. Der Polizist legte sein Ohr an die Tür, vernahm aber keinerlei Geräusche. Erneut läutete er, diesmal deutlich länger, aber niemand öffnete. 

Simpert Rader trat einen Schritt zurück und kratzte sich am Kinn. Sein Blick ging nach links, dann nach rechts. Die Wohnungstüren auf der linken Seite des Flures standen gute acht bis zehn Meter auseinander, was bedeutete, dass sich dahinter größere Wohnungen mit mindestens zwei oder mehr Zimmern befinden mussten. Auf der rechten Flurseite – also dort wo auch der Schlüssel passte – lagen nur circa fünf bis sechs Meter zwischen den Türen. Es handelte sich demzufolge höchstwahrscheinlich um kleine Ein-Zimmer-Apartments. Die Chance, dass hier eine ganze Familie oder auch nur jemand zusammen mit seinem Partner lebte, bestand zwar, war jedoch erfahrungsgemäß gering. 

Simpert Rader griff zum Telefon. „Also, ich würde das Risiko eingehen“, meinte dann auch Franz Rettenbichler, einer von seinen Kollegen beim Kriminaldauerdienst, während er offensichtlich auf etwas herumkaute. „Ich trag den Zutritt ins System ein. Meld Dich dann gleich wieder, ja?“, forderte ihn sein Kollege auf. Rader bestätigte, legte den Finger auf den roten Beenden-Button des iPhone-Displays und ließ das Smartphone zurück in die Innentasche seiner Windjacke gleiten. Er schob den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal nach rechts.