Straftat - Verurteilung - und dann? Community Justice - Wiedereingliederung als gemeinschaftliche Aufgabe -  - E-Book

Straftat - Verurteilung - und dann? Community Justice - Wiedereingliederung als gemeinschaftliche Aufgabe E-Book

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Beschreibung

Eine erfolgreiche soziale Integration muss als eine soziale Einbindung, Anerkennung sowie Wiedergutmachung verstanden werden, die nur gelingen kann, wenn alle Seiten in einem Konflikt mitwirken und im Gemeinwesen nach tragbaren Lösungen suchen. Erforderlich ist eine Gesellschaft, die sich durch ihre Grundhaltung, durch engagierte Personen und durch vorhandene Unterstützung und Dienste für die soziale Integration von Straffälligen einsetzt. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Soziale Arbeit? Welche (neuen) Methoden und Modelle von Intervention sind erfolgsversprechend? Was wissen wir aus dem Bereich der Wirkungsforschung und der Desistance-Forschung? Welche Merkmale, Mechanismen und Situationen sind es, die zu einem Ausstieg führen? Mit der vorliegenden Dokumentation der 23. DBH-Bundestagung geben Autor*innen aus Praxis und Wissenschaft auf diese Fragen Antworten. Das Buch beinhaltet weiterhin Beiträge zu aktuellen Themen aus dem breiten Spektrum der Kriminalpolitik, Strafrechtspflege und der Sozialen Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen.

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Seitenzahl: 288

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Vorwort

„Straftat – Verurteilung – Und dann? Community Justice – Wiedereingliederung als gemeinschaftliche Aufgabe!“, mit diesem Motto war die 23. Bundestagung des DBH - Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik (e.V.) überschrieben, die vom 09. bis 11. Oktober 2018 in Kooperation mit der Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg (BGBW) und dem Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg in Heidelberg stattfand.

In den letzten Jahrzehnten gab es verschiedene Bestrebungen, die soziale Integration von straffällig gewordenen Personen zu verbessern. Bundesweit wurden unterschiedliche Konzepte und Strategien entwickelt, von der beruflichen Qualifizierung bis hin zu umfassenden sozialintegrativen Konzepten. Soziale Integration bzw. Wiedereingliederung meint hier nicht nur einen technokratischen Prozess zur Erlangung von Wohnungsraum, Einkommen und Arbeit, sondern eine aktive Integration - eine soziale Einbindung, Anerkennung sowie Wiedergutmachung, die nur gelingen kann, wenn alle Seiten in einem Konflikt miteinander und im Gemeinwesen nach tragbaren Lösungen für die Zukunft suchen. Resozialisierung ist in diesem Sinne keine einseitige Leistung des zu Resozialisierenden. Erforderlich ist vielmehr eine Gesellschaft, die sich durch ihre Grundhaltung, durch engagierte Personen und durch vorhandene Unterstützung und Dienste für die soziale Integration von Straffälligen einsetzt. Straffällig gewordene Personen bewegen sich zwischen verschiedenen Institutionen. Daher kann das Risiko einer erneuten Straffälligkeit nicht allein durch die Justiz gesteuert werden. Sie ist ebenso von der Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Sozial- und Wohnungspolitik abhängig. Neben einer ressortübergreifenden Zusammenarbeit unterschiedlicher beteiligter Ressorts wie Justiz, Arbeit, Bildung und Gesundheit ist es erforderlich, die Einbindung verschiedener Akteure des Stadtteils zu stärken. Kriminalität und Straffälligkeit betrifft nicht nur Täter*innen und Opfer, sondern genauso die Gemeinschaft. Nach den Ergebnissen der Desistance-Forschung (Ausstiegs-Perspektive) scheint es wirkungsvoll zu sein, Interventionen in Form von Unterstützung und Betreuung zu fördern, um straffällig gewordene Personen zur Veränderung der Persönlichkeit, des eigenen Selbstkonzeptes sowie zur Übernahme von Verantwortung für sich selbst und sein Leben zu motivieren.

Vor diesem Hintergrund bot die 23. DBH-Bundestagung seinen circa 200 Teilnehmer*innen die Gelegenheit, sich in Plenarvorträgen und 16 Workshops über aktuelle und grundlegende Themen aus dem breiten Spektrum der Kriminalpolitik, Strafrechtspflege und der Sozialen Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen auszutauschen und zu informieren.

In Anbetracht der großen Themenvielfalt ist es sehr erfreulich, dass in diesem Tagungsband ein Großteil der Vorträge und Workshops dokumentiert sind. Wir möchten uns bei allen Autorinnen und Autoren, sowie Referentinnen und Referenten recht herzlich bedanken. Die Bundestagung lebt vom Engagement und der Unterstützung zahlreicher Personen und Akteuren. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich gedankt, ebenso dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz für die Förderung der DBH-Bundestagung einschließlich dieser Dokumentation.

Köln, August 2019

Daniel Wolter

Geschäftsführer des DBH-Fachverbandes

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Daniel Wolter

Teil 1: Grußworte

Eröffnungsrede des ehemaligen Präsidenten des DBH-Fachverbandes

Marc Coester

Grußwort der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz

Katarina Barley

Teil 2: Plenarvorträge

Strafkultur, Punitivität und Kriminalpolitik

Kirstin Drenkhahn

Programme, Checklisten, Desistance – Soziale Arbeit mit Straffälligen, quo vadis?

Ineke Pruin

Übergangsmanagement in Baden-Württemberg durch das Netzwerk Straffälligenhilfe in Baden-Württemberg

Horst Belz

WieNeT – Über die Vernetzungsarbeit im Bereich Wiedereingliederung von Straffälligen in Bremen

Eduard Matt

Teil 3: Workshops

Ambulante Sanktionsalternativen für junge, straffällige Flüchtlinge – Erfahrungen aus Schleswig-Holstein

Udo Gerigk, Kim Magiera, Joachim Tein, Christopher Wein

Professionelle Haltung und professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit mit straffällig gewordenen Menschen

Heinz Cornel

Herausforderungen und Grenzen des ehrenamtlichen Engagements in der Straffälligenhilfe

Mike Gehrenbeck, Andrea Majer

Community und Restorative Justice – nationale & internationale Modelle & Erfahrungen

Johanna Muhl, Christoph Willms

Videodolmetschen in der Bewährungs- und Straffälligenhilfe

Silvia Tischberger

Suchthilfe im Zwangskontext – wie können Leitlinien die Betreuung von Suchtbetroffenen in der Bewährungshilfe verbessern?

Ilonka Grill

Datenschutz in der Straffälligenhilfe?

Klaus Riekenbrauk

Ehrenamtliche Bewährungshilfe in Baden-Württemberg

Ute Engel, Alina Sfia

Wiedergutmachungskonferenz und Familienrat in der praktischen Umsetzung – der Einbezug des sozialen Umfeldes

Wolfgang Schlupp-Hauck

Wenn’s schwierig wird… – Methoden und Strategien zum Umgang mit herausforderndem Klient*innenverhalten

Anna Kaplan, Lisa Schneider

Anhang

Programm der 23. DBH-Bundestagung

Verzeichnis der Mitwirkenden

Teil 1

Grußworte

Eröffnungsrede des ehemaligen Präsidenten des DBH-Fachverbandes

Prof. Dr. Marc Coester

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

herzlich willkommen zur 23. DBH-Bundestagung 2018 im schönen Heidelberg, die wir alle drei Jahre durchführen und die dieses Mal in Kooperation mit der Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg und dem Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg durchgeführt wird. Ich begrüße Sie alle im Namen des gesamten Präsidiums ganz herzlich.

Ich freue mich sehr, dass wir in Heidelberg sind und dass wir in Vergleich zu den vorherigen Bundestagungen einen deutlichen Zuwachs in der Teilnahme an der Bundestagung verzeichnen können: etwa 200 Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus der gesamten Bundesrepublik aus der Bewährungshilfe, der freien Straffälligenhilfe, dem Strafvollzug und der Wissenschaft. Ich möchte nicht nur auf die Quantität verweisen, sondern auch auf die Qualität der uns erwarteten Inhalte und Diskussionen für die kommenden Tage.

Herzlich begrüßen und danken möchte ich an dieser Stelle insbesondere Herrn Ministerialdirigent Martin Finckh, Leiter der Abt. Justizvollzug im Ministerium der Justiz und für Europa Baden-Württemberg. Frau Prof. Dr. Beatrix Busse, Prorektorin der Universität Heidelberg und Herrn Prof. Dr. Dieter Dölling, Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität Heidelberg grüße ich und danke für die tolle Unterstützung und natürlich die Möglichkeit der Ausrichtung der Tagung an Ihrer Universität.

Herrn Christian Ricken, Vorstand der Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg, möchte ich für die Unterstützung danken und erwähnen, dass mehr als 30 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Bewährungs- und Gerichtshilfe die Teilnahme hier ermöglicht wurde. Das ist sicher nicht selbstverständlich und daher: vielen Dank hierfür.

Frau Constanze Schneider vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz in Vertretung der Referatsleiterin Frau Mädrich. Dem BMJV gilt insbesondere auch der Dank an der finanziellen Förderung der diesjährigen Bundestagung. Ein Grußwort der Bundesjustizministerin Dr. Barley liegt den Tagungsmappen bei.

Last not least grüße ich – im Block – alle anwesenden Mitglieder des DBH-Fachverbandes ohne die unsere tägliche Arbeit nicht möglich wäre. Alle anderen Referenten, Moderatoren kann ich aus Zeitgründen nicht namentlich nennen, möchte sie aber an dieser Stelle ausdrücklich insgesamt begrüßen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

der DBH-Fachverband setzt sich seit über 67 Jahren und mit über 6.000 Mitgliedern für eine soziale Strafrechtspflege und Kriminalpolitik, für eine humanistisch geprägte Straffälligenhilfe ein. Wir arbeiten gemeinsam mit unseren Partnern und Partnerinnen an der Beseitigung und Minderung von Ursachen von Kriminalität, betonen hierbei alle Möglichkeiten der Kriminalprävention und setzen uns insbesondere auch für den Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung ein. Das alles verfolgen wir engagiert mit viel guter Man- und Woman-Power in der Geschäftsstelle und in einem Netzwerk in ganz Deutschland und Europa. Hierfür gilt auch allen Beteiligten mein herzlicher Dank.

Wenn ich sage, dass sich der DBH-Fachverband für eine soziale Strafrechtspflege einsetzt, dann müssen wir für die letzten Jahre feststellen, dass in einem gesamtgesellschaftlichem Klima, welches geprägt ist von rechtspopulistischer Meinungsmache in der Welt, in Europa und auch in Deutschland, in dem sehr gezielt wieder tief „schwarz“ und „weiß“ gezeichnet wird und kein Platz für Zwischentöne herrscht, in dem ab- und ausgegrenzt wird, in dem Menschengruppen gegeneinander ausgespielt werden, in dem Verteilungskämpfe betont werden, in dem Gewalt verklausuliert und relativiert wird und in dem, gerade im Internet, der politische Diskurs verbal aggressiv geführt wird, dass in einem solchen Klima insbesondere die Schwachen und Ausgegrenzten noch weiter aus der Gemeinschaft gedrückt werden. In diesem Klima wird gerade auch kriminelles Verhalten stark an die ethnische und soziale Herkunft der Täter und Täterinnen geknüpft, Kriminalität wird als individuelles Versagen, als gänzlich eigene Schuld der Täter und Täterinnen betrachtet. Beim Strafaspekt wird daher auch gerne die harte Bestrafung, die Abschreckung, der Sicherheitsaspekt und die Vergeltung in den Mittelpunkt gestellt. In diesem Diskurs bleibt wenig Platz für neue und alte Gedanken an Resozialisierung, an eine echte Wiedereingliederung von Straftätern und Straftäterinnen in die Gemeinschaft. Die Arbeit mit Straffälligen – die Hilfe und Unterstützung für Straffällige – wird hierbei oftmals torpediert und erschwert. Trotz dem oder gerade deshalb haben wir uns dieses Jahr ganz bewusst für das Thema Straftat – Verurteilung – Und dann? Community Justice – Wiedereingliederung als gemeinschaftliche Aufgabe! entschieden. Wir wollen damit ein klares Zeichen gegen das beschriebene gesellschaftspolitische Klima setzen und Resozialisierung nicht nur als technokratischen Prozess der Erlangung von Wohnung, Einkommen und Arbeit verstehen, als Bringschuld von Straftätern und Täterinnen sondern Resozialisierung als echte soziale, aktive Integration und Einbindung, als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachten, bei der es nicht um eine einseitige Leistung des bzw. der Resozialisierenden gehen kann sondern auch um Anerkennung und Wiedergutmachung, um Restorative Justice, eine Wiederherstellende Gerechtigkeit, die nur gelingen kann, wenn alle Seiten in einem Konflikt miteinander und im Gemeinwesen nach tragbaren Lösungen für die Zukunft suchen. Wir adressieren damit auch Sie, Fachmänner und Fachfrauen, sind uns aber natürlich bewusst, dass Sie diesen Anspruch an eine soziale Integration jeden Tag in ihrer Arbeit verwirklichen. Wir adressieren mit unserer Tagung auch insbesondere die Gesamtgesellschaft und wollen mit dem Diskurs nicht weniger als einen neuen Fokus, eine neue Bewertung der Straffälligenhilfe anregen. Es geht also um die gesamtgesellschaftliche Verantwortungsübernahme für die Aufgaben einer erfolgreichen Resozialisierung, Einbindung und Integration von Straftätern und Straftäterinnen, wie dies auch schon in anderen Ländern Europas erprobt wird. Auch daher bleibt dies keine unrealistische Vision für unsere Tagung.

Wir hoffen, dass dieser Geist, diese Sichtweise nicht nur durch alle Plenumsvorträge sondern auch durch alle spannenden Themen und Diskussionen in den Arbeitsgruppen in den kommenden Tage wehen wird, dass wir uns alle zusammen immer wieder fragen, wie das Diskutierte am Ende auch für den aktuellen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, für das Ziel einer echten sozialen Integration in der Straffälligenhilfe, nutzbar gemacht werden kann. Ich wünsche uns in diesem Sinne eine tolle Tagung, viel Spaß und Erfolg!

Grußwort der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz

Dr. Katarina Barley

Als Expertinnen und Experten aus Praxis und Wissenschaft setzen Sie sich mit großem Engagement für unseren sozialen Rechtsstaat ein. Als Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz danke ich Ihnen hierfür sehr herzlich. Die gesamtgesellschaftliche Herausforderung „Kriminalität“ kann nur im Zusammenwirken einer wirksamen Strafrechtspflege mit einem effektiven Resozialisierungsprogramm gelingen. Notwendig ist auch der stetige Erkenntnisgewinn aus der Forschung. Politik wird zurzeit zu häufig von lautstarken Meinungen, unbestimmten Gefühlen oder schlichtweg Lügen beeinflusst. Umso wichtiger ist Ihre Bundestagung, auf der sachlich fundiert an praktischen Lösungen für ein gesellschaftliches Problem gearbeitet wird.

Die Vorträge und Workshops bieten einen idealen Rahmen, um in den fachlichen Austausch zu treten und neue Denkanstöße gewinnen zu können. Das Programm ist so vielseitig, wie die Herausforderungen, die Ihnen begegnen. Es wird um altbekannte Probleme gehen, wie die hohe Anzahl suchtabhängiger Straffälliger. Und um die Weiterentwicklung von Bewährtem, wie dem Instrument des Täter-Opfer-Ausgleichs. Zugleich werden neuartige Herausforderungen in dem Bereich „gewalttätiger Extremismus“ thematisiert und Schwierigkeiten und Chancen diskutiert, die eine fortschreitende Digitalisierung mit sich bringt. Ganz im Sinne des Tagungsmottos werden die kommenden drei Tage einige Antworten auf die Frage liefern: „Straftat – Verurteilung – Und dann?“.

Auch wenn es manchen nicht bewusst ist: Das wesentliche Ziel der Strafe ist, die Wiedereingliederung von Straftäterinnen und Straftätern in die Gesellschaft zu erreichen. Dieses Ziel dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, auch wenn es Menschen gibt, denen die Rache wichtiger zu sein scheint als die Resozialisierung. Deshalb scheitert diese Wiedereingliederung auch in vielen Fällen trotz Ihrer gemeinschaftlichen Anstrengungen an der Ablehnung und Missachtung in der Gesellschaft. So müssen die einen zwar Teilhabe wollen, diese muss ihnen von den anderen aber auch gewährt werden.

Der DBH spielt eine entscheidende Rolle als Gesprächspartner und Meinungsbildner. Seine wichtige Arbeit wollen wir daher als Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz auch weiterhin in besonderem Maße unterstützen. Als bedeutender Fachverband nimmt er mithilfe seiner erfolgreichen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen. Dies tut er im Namen seiner insgesamt über 6.000 Mitglieder. Gesprächspartner und Meinungsbildner sind Sie jedoch auch ganz persönlich. Als landesweit, regional und lokal tätige Akteurinnen und Akteure sind Sie die unermüdlichen Stimmen dafür, Straftäterinnen und Straftätern auch nach Ableistung ihrer Strafe eine Chance zur Rückkehr in die Gesellschaft zugeben. Auch dafür danke ich Ihnen und ermutige Sie, Ihr Engagement fortzusetzen. Es muss jedem klar werden, dass das Recht auf Resozialisierung nicht nur die staatlichen Institutionen bindet, sondern sich aus der Menschenwürde als Wesenskern unserer gemeinsamen Verfassung und dem Gebot der Menschlichkeit in einem gemeinschaftlichen Miteinander ergibt.

Ich wünsche der Bundestagung ein gutes Gelingen und dem DBH und Ihnen als Mitgliedern weiterhin viel Erfolg bei Ihren wichtigen Aufgaben.

Teil 2

Plenarvorträge

Strafkultur, Punitivität und Kriminalpolitik

Kirstin Drenkhahn

I. Einführung

Dieser Beitrag bietet einen kurzen Überblick über die Forschung in einem Feld, das in der englischsprachigen Kriminologie mittlerweile als „Punishment & Society“ bezeichnet wird. Es wird dabei auch darum gehen, was diese wissenschaftlichen Erkenntnisse mit uns und mit der heutigen Kriminalpolitik zu tun haben. Außerdem werden einige Ergebnisse aus dem eigenen Projekt „Strafkulturen auf dem Kontinent“ berichtet.

II. Strafkultur und Punitivität – was ist das?

Im Titel steht neben dem Begriff „Punitivität“ auch der Begriff „Strafkultur“, der eher ungebräuchlich ist. Was ist das also? Hier bietet sich der Bezug auf Cunneen u. a. (2016) und Garland (2006) an, die zu den wenigen gehören, die sich mit dem Begriff auseinandergesetzt haben. Cunneen u. a. gehen dabei von einem umfassenden Konzept von Strafe aus, das sich auf die Gesamtheit der Institutionen, Praktiken, Diskurse und sozialen Beziehungen bezieht, die mit Bestrafung zu tun haben.1 In Anlehnung an Garland verstehen wir im eigenen Projekt Kultur nicht in Abgrenzung von sozialen oder ökonomischen Perspektiven.2 Vielmehr verstehen wir sie als einen umfassenden Begriff, der für alle charakteristischen Traditionen, Bräuche, Institutionen und Werte steht, die zu einer bestimmten Zeit mit einer bestimmten sozialen Gruppe oder Gesellschaft in Zusammenhang gebracht werden. Damit ist dieser Begriff gut als Übersetzung des Forschungsfelds „Punishment & Society“ brauchbar. Es geht also um die Bedeutung von Strafe und Bestrafung für eine Gesellschaft.

Punitivität kann als wichtige Dimension der Strafkultur verstanden werden und ist ihr damit untergeordnet. Üblicherweise wird dieser Begriff auch als „Strafbedürfnis“ übersetzt, was bei den meisten Autor*innen bereits eine Wertung enthält, denn es geht zumeist um ein steigendes oder ein großes Strafbedürfnis, das durch die Bevorzugung vergeltender Sanktionen und die Vernachlässigung versöhnender Maßnahmen gekennzeichnet ist.3 Allerdings sind auch nicht alle Forscher*innen, die ein steigendes Strafbedürfnis konstatieren oder sogar beklagen, davon überzeugt, dass versöhnende Maßnahmen, wie sie in der Restorative Justice zu finden sind, die bessere Alternativen zu traditionellen Vergeltungsstrafen sind. Bei Restorative-Justice-Maßnahmen wie Friedenszirkeln oder Familiengruppenkonferenzen spielt die Gemeinschaft, also Laien, eine wesentliche Rolle, und in der Forschung zu Strafkulturen herrscht häufig ein gewisses Misstrauen gegenüber der Bevölkerung.4

Wenn wir von einem steigenden Strafbedürfnis sprechen, stellt sich für den Vergleich die Frage des Anknüpfungspunkts. In der englischsprachigen Forschung zu Strafkulturen werden häufig Entwicklungen in den USA und Großbritannien im Vergleich mit West-Mittel-Europa und Skandinavien untersucht. Man vergleicht also die Punitivität in verschiedenen Gesellschaften im selben Zeitraum. Eine andere Möglichkeit ist der Vergleich mit einem früheren Zeitpunkt in derselben Gesellschaft. Bemerkbar macht sich Punitivität dann mit Lautmann & Klimke, indem „zuvor erreichte Niveaus der Humanisierung, Resozialisierung und Liberalisierung aufgegeben werden, um zu härteren Antworten zurückzukehren“.5 Ob eine Antwort auf einen sozialen Konflikt härter ist und hinter das zuvor erreichte Niveau zurückfällt, ist allerdings nicht immer ganz einfach auszumachen6 und setzt eine Wertung durch die Forscherin oder den Forscher voraus.

Auch wenn mit der Bevölkerung bereits eine Protagonistin im Feld identifiziert ist, ist trotzdem nicht geklärt, um wessen Strafbedürfnis es noch gehen könnte. Es ist letztlich auch nicht klar, ob es sich um ein stabiles Merkmal handelt oder ob das Strafbedürfnis sich ändern kann. In der Literatur versucht man, verschiedene Kategorien zu bilden, wobei einmal zwischen der Mikro- und der Makro-Ebene unterschieden wird, also Individuum und Gesellschaft, ein anderes Mal nach Institutionen und zwar zwischen Legislative und der Judikative.7 Wichtig ist, sich hierbei klarzumachen, dass die Institutionen aus einzelnen Akteuren bestehen, die in einem bestimmten – institutionellen – Kontext handeln oder sprechen.8 So sind bei der DBH-Bundestagung Menschen versammelt, die im weitesten Sinne zum justiziellen Bereich gehören und in ihrem Handeln auch an bestimmte Regeln gebunden sind. Sie sind von Berufs wegen Expert*innen und gehören gleichzeitig zur Allgemeinbevölkerung, sie konsumieren Medieninhalte und beteiligen sich vielleicht auch durch Ausübung politischer Ämter an der Gestaltung des politischen Raums. Jede*r Einzelne gehört also eventuell mehreren Institutionen an. Diese Kategorisierungen sind daher starke Vereinfachungen.

III. Internationale Forschung zur gesellschaftlichen Bedeutung von Strafe

Wenn wir uns die internationale, also englischsprachige Forschung zur gesellschaftlichen Bedeutung von Strafe ansehen, so fallen zwei Herangehensweisen auf. Ein Teil der Literatur konzentriert sich auf eine Erzählung von Entwicklungen im Zeitverlauf in einem bestimmten Land. Bekanntestes Beispiel ist David Garlands Buch „The Culture of Control“ (2001, deutsch „Die Kultur der Kontrolle“, 2008). Zu diesen Ansätzen zählt aber auch Jonathan Simons Buch „Governing through Crime“ (2007) sowie Loïc Wacquants „Punir les pauvres“, das 2009 unter dem Titel „Punishing the Poor“ auf Englisch erschien.

Der andere Schwerpunkt liegt auf dem Vergleich der Punitivität oder Strafkultur in verschiedenen Ländern zur selben Zeit, also ein Querschnitt, bei dem man politikwissenschaftliche Ansätze insbesondere aus der politischen Ökonomie verwendet. Als Merkmal für Punitivität dient hierbei häufig die Gefangenenrate, also die Zahl der Gefangenen pro 100.000 der Bevölkerung. Dahinter steht die Idee, dass es einen Zusammenhang zwischen der Gefangenenrate in einem Land und Merkmalen des politischen Systems gibt. Zu nennen sind hierfür Jim Dignan und Mick Cavadinos „Penal Systems “ (2006) sowie Nicola Laceys Werk „The Prisoners’ Dilemma“ (2008). Außerdem zählen in diese Gruppe die Arbeiten von Tapio Lappi-Seppälä, deren Ergebnisse in einem Kapitel über „Vertrauen, Wohlfahrt und politikwissenschaftliche Aspekte“ von 2010 auf Deutsch zusammengefasst sind.

3.1. Entwicklungen im Zeitverlauf

Der internationalen Forschung zu einer punitiven Entwicklung über die Zeit liegen einige Beobachtungen aus den USA zu Grunde. Das ist vor allem der kräftige Zuwachs bei der Anzahl und der Rate der Gefangenen (Tabelle 1).

Tabelle 1: Anzahl und Rate der Gefangenen in den USA, 1980–2014

Jahr

Anzahl der Gefangenen

Rate (pro 100.000 der Bevölkerung)

Gefangenenrate BRD

1980

503.586

220

1985

744.208

311

1990

1.148.702

457

1995

1.585.586

592

79

2000

1.937.482

683

86

2004

2.135.335

725

103

2008

2.307.504

755

97

2012

2.228.424

707

89

2014

2.217.947

693

86

Quelle: World Prison Brief, online.

Die Zahl der Gefangenen umfasst hierbei alle Gefangenen auf County-, Staats- und Bundesebene, einschließlich Untersuchungshaft. Zur Einordnung wird die Gefangenenrate für die Bundesrepublik Deutschland gegenübergestellt, allerdings erst ab 1995, da es eine Strafvollzugsstatistik für Gesamtdeutschland erst ab 1992 gibt. Dabei zeigt sich zunächst tatsächlich ein erstaunlicher Anstieg der absoluten Zahl der Gefangenen und der Rate in den USA, die nach den Daten des World Prison Brief die höchste der Welt ist.9 Als weiterer Vergleich mag die Volksrepublik China dienen, die Mitte 2015 wohl eine Gefangenenrate zwischen 118 und 164 hatte – die Zahlen des World Prison Brief sind hier eher unsicher (absolut: 1,6– 2,3 Millionen).10 Wir können jedenfalls festhalten, dass in den USA ein verhältnismäßig hoher Anteil der Bevölkerung im Gefängnis lebt.

Insgesamt machen alle Autor*innen einen veränderten Umgang mit Kriminalität und Straftäter*innen aus, wobei Letztere vom gesellschaftlichen Leben mehr und mehr ausgeschlossen werden. Der zeitliche Bezugspunkt, ab dem diese Veränderungen gesehen werden, ist das Ende der 1960er Jahre, also ausgerechnet der Zeitpunkt, den wir sonst mit einer Öffnung und Liberalisierung der Gesellschaft in Verbindung bringen. Garland liefert in „The Culture of Control“ eine analysierende Beschreibung des Wandels der sozialen Kontrolle in den USA und im Vereinigten Königreich ab diesem Zeitpunkt. Als entscheidend sieht er vor allem Faktoren außerhalb des Kriminaljustizsystems an und zwar die ökonomischen Veränderungen unter dem Einfluss des politischen Neoliberalismus unter Reagan und Thatcher ab den 1980er Jahren. Das habe zu einer Übertragung von wirtschaftsorientierten Denkmustern und Handlungsstrategien auf alle Politikbereiche und damit auch auf die Strafrechtspflege geführt.11

Ausgangspunkt ist der bis Mitte der 1970er Jahre vorherrschende „Penal welfarism“, d. h. ein liberales und wohlfahrtsstaatlich orientiertes Strafen einer modernen, sozialliberalen Strafrechtsschule: Täterorientierung, Resozialisierung, Behandlungsoptimismus, Alternativen zur Freiheitsstrafe. Garland konstatiert eine Krise dieses modernen Strafkonzepts ab den 1970er Jahren, die sich in menschenrechtlicher Kritik an der „Behandlungsideologie“, in Forschungsergebnissen, die die Wirksamkeit von Resozialisierungsmaßnahmen in Zweifel zogen, im Aufkommen des Etikettierungsansatzes mit seiner Kritik an den Instanzen der Verbrechenskontrolle, in der Normalität hoher Verbrechensraten und im Bewusstwerden der Grenzen der staatlichen Kriminaljustiz geäußert habe. Diese Abkehr vom Penal welfarism nennt er „punitive Wende“, die er anhand von zwölf Indikatoren beschreibt:12

der Niedergang des Resozialisierungsgedankens,

die Wiederkehr vergeltungsorientierter Sanktionen und ausdrucksstarker, symbolisch aufgeladener Strafrechtspflege,

Veränderungen des Tonfalls in der Kriminalpolitik,

die Rückkehr des Opfers,

die Betonung des Schutzes der Allgemeinheit,

Politisierung und neuer Populismus,

die Neuerfindung des Gefängnisses,

ein Wandel des kriminologischen Denkens in Richtung einer Normalisierung abweichenden Verhaltens,

expandierende Kriminalprävention und kommunale Sicherheit,

Privatisierung und Kommerzialisierung der Verbrechenskontrolle,

Übernahme von Managementstilen und Arbeitspraktiken aus der Privatwirtschaft in den öffentlichen Dienst sowie

ein ständiges Krisenempfinden und der Verlust des Vertrauens in Expert*innen der Strafrechtspflege.

Diese Indikatoren lassen sich scheinbar recht gut operationalisieren und auf andere Länder bzw. Justizsysteme übertragen – zumindest kann man untersuchen, ob solche Änderungen auch im eigenen Land eingetreten sind. Sie sind jedoch selbst bereits das Ergebnis einer Interpretation und damit nicht bloß eine Checkliste.13

3.2. Politische Regime als Ausgangspunkt

Beim anderen Strang der Forschung dienen politikwissenschaftliche Ansätze als Ausgangspunkt. So gehen Dignan & Cavadino in ihrer vergleichenden Untersuchung über Strafrechtssysteme von verschiedenen Typen kapitalistischer Wohlfahrtsstaaten aus, die auf eine Typologie von Gøsta Esping-Andersen (1990) zurückgeht. Dabei handelt es sich um den neoliberalen Wohlfahrtsstaat, den konservativkorporatistischen, den sozialdemokratischen und den orientalischkorporatistischen Wohlfahrtsstaat.14 Dignan & Cavadino machen bei diesen verschiedenen Modellen des Wohlfahrtsstaates im Hinblick auf bestimmte sozio-ökonomische und strafkulturelle Faktoren wesentliche Unterschiede aus, sodass die Strafkultur eines Landes mit Unterschieden in der Ausprägung des Wohlfahrtsstaats zusammenhängt.

Abbildung 1: Typologie spätkapitalistischer Staaten und Konsequenzen für die Punitivität

Tatsächlich scheint es gut zu passen, obwohl es gerade in der Gruppe der neoliberalen Staaten eine große Spannweite gibt. In der Abbildung sind die Gefangenenraten von 2009 sowie die letzten im World Prison Brief enthaltenen von 2016 aufgeführt. Man sieht, dass die Zuordnung auch im Zeitverlauf recht gut funktioniert. Allerdings wird auch deutlich, dass es sich hierbei nicht um statische Beschreibungen handeln kann, sondern Prozesse ablaufen, die vielleicht von dieser Typologie nicht erfasst werden. Deutschland und die Niederlande sind in den vergangenen Jahren wahrlich nicht zu skandinavischen Wohlfahrtsstaaten geworden, und trotzdem fällt beider Länder Gefangenenrate jetzt in die Spanne von Schweden und Finnland 2009. Lacey und Lappi-Seppälä knüpfen unter anderem an das Konzept von Arend Lijphart (2012) an, der zwei Demokratie-Modelle unterscheidet. Das Westminster- oder Konkurrenz-Modell ist eher wettbewerbsorientiert und setzt auf das Motto „the winner takes it all“, während das Konsens-Modell eben eher konsensorientiert ist. Beide Kategorien sollen zudem typische Merkmale haben: Das Westminster-Modell habe z. B. eher ein Zwei-Parteien-System statt eines Mehrparteiensystems, ein Mehrheitswahlrecht statt eines Verhältniswahlrechts und eine zentralistische Staatsorganisation statt eines föderalen Aufbaus. Wenig überraschend ist Großbritannien ein gutes Beispiel für das Westminster-Modell, während Deutschland eines für das Konsensmodell ist.15 Für die Forschung zu Strafkulturen ist dieses Konzept bedeutsam geworden, weil es bei beiden Demokratie-Modellen auch typische Unterschiede im Umgang mit Strafe bzw. zumindest hinsichtlich des Ergebnisses „Gefangenenrate“ geben soll.16 Konsens-Demokratien hätten demnach eine stabilere Kriminalpolitik mit weniger extremen Änderungen, weil bereits geringfügige Änderungen, z. B. von Gesetzen, umfangreiche Verhandlungen zwischen verschiedenen politischen Parteien und Gesetzgebungsorganen bedeuten können.17

3.3. Was bedeutet das für uns?

Wenn man sich die Forschungsansätze ansieht, die auf die politische Ökonomie zurückgreifen, sieht es für Deutschland recht gut aus mit dem konsensorientierten Demokratie-Modell und dem konservativkorporatistischen Wohlfahrtsstaat, in dem die Gefangenenrate sinkt. Trotzdem gibt es eine Vielzahl von Analysen zur Entwicklung in Deutschland, die letztlich zu dem Ergebnis kommen, dass die Punitivität zugenommen hat oder die punitive Wende auch bei uns stattgefunden hat bzw. stattfindet.18 Man kommt auch leicht auf Beispiele zu den Merkmalen einer punitiven Wende. Außerdem gibt es einige Beispiele aus den vergangenen Legislaturperioden, in denen es trotz der konsensorientierten Demokratie zu deutlichen Veränderungen kam. Diese Veränderungen müssen nicht unbedingt viele Personen betreffen, können aber eine große symbolische Bedeutung haben.19 Als Beispiele seien hier nur die Ausweitungen der Sicherungsverwahrung ab 1998 bis 2008 und die politische Debatte rund um die Entscheidung des EGMR zur Sicherungsverwahrung von 200920 genannt sowie die Erhöhung der Höchststrafe für Heranwachsende bei Mord auf 15 Jahre im Jahr 2012. Man kann vielleicht festhalten, dass sich der Wind auch in einer eher behäbigen Konsensdemokratie drehen kann, dass Bedingungen herrschen können, die erhebliche Veränderungen einfacher machen oder dass auch eine eher langsame Entwicklung mit der Zeit und in der Summe große Veränderungen herbeiführen kann.

Bei anderen Gesichtspunkten, die als Merkmale der punitiven Wende genannt werden, ist aber vielleicht weniger offensichtlich, in welche Richtung es geht. Man kann hierbei von ambivalenten Entwicklungen sprechen. Einige Aspekte problematischer Entwicklungen mögen sogar positives Potenzial haben. Es fällt jedenfalls schwer, diese Gesichtspunkte in der Forschung unterzubringen. Man hält eben in der Regel nicht fest, dass etwas gut ist oder gut funktioniert. Vielmehr wird unter einem kritischen Umgang eher der Bericht von negativen Beispielen verstanden.

Das gilt z. B. für das Merkmal der „neuen Managementstile“. Ab Ende der 1990er Jahre war auch die öffentliche Verwaltung in Deutschland Gegenstand von Organisationsentwicklungsprozessen, die Strategien aus der Privatwirtschaft einführen und insbesondere Personalmittel einsparen sollten. Das ist in erheblichem Umfang geschehen, und es wurden viele Stellen gestrichen. Diese Organisationsentwicklungsprozesse haben aber auch dazu beigetragen, die Anforderungen an ordentliche Aktenführung und insgesamt an Dokumentation zu erhöhen. Das könnte dazu geführt haben, dass behördliche Entscheidungen nachvollziehbarer und besser überprüfbar wurden, dass also die Verantwortlichkeit gegenüber den Bürger*innen erhöht wurde. Vielleicht wurde auch die Qualität der Entscheidungen verbessert.

Auch die „Rückkehr des Opfers“ ist vielleicht in Deutschland nicht ohne Weiteres ein Ausweis einer punitiven Entwicklung. Soweit es um den Ausbau der Rolle von mutmaßlich Geschädigten im Strafverfahren und insbesondere die Ausweitung ihrer Rechte zulasten der Verteidigungsrechte von Beschuldigten und Angeklagten geht, gibt es in Kriminologie und Strafrechtswissenschaft eine sehr kritische Diskussion.21 Diese Entwicklung wird zu Recht auch als Steigerung der Punitivität begriffen. Trotzdem birgt die aktivere Beteiligung von Geschädigten an der Lösung des sozialen Konflikts Straftat viel positives Potenzial, wie es die Forschung zu Restorative-Justice-Maßnahmen gezeigt hat.22

IV. Community Justice: Wie sieht es die Gemeinschaft?

Damit sind wir bei der Bevölkerung, die ja an den größeren Restorative-Justice-Maßnahmen als Gemeinschaft (community) beteiligt ist. Es wurde bereits erwähnt, dass der Bevölkerung in der Forschung oft ein gewisses Misstrauen entgegengebracht wird. Viele scheinen davon auszugehen, dass die anderen Leute sich unglaublich leicht von Medieninhalten und Politikersprüchen beeinflussen lassen und so das berühmte Bedürfnis der Bevölkerung generiert wird, mit dem viele Verschärfungen des Strafrechts begründet werden. Gleichzeitig ist es fast schon eine Binsenweisheit aus der Forschung zum Strafbedürfnis normaler Menschen, dass sie umso milder bzw. differenzierter urteilen, je mehr Informationen sie haben.

Ein Ansatz in der Forschung zu Strafbedürfnissen in der Bevölkerung versucht einen Vergleich von Strafzumessungsentscheidungen von Laien und Profis. Dabei werden Fallvignetten eingesetzt, also kleine Strafrechtsfälle, zu denen eine Sanktionsentscheidung getroffen werden muss. In der eigenen Untersuchung „Strafkulturen auf dem Kontinent“ haben wir in einer Online-Befragung sowohl Laien als auch Profis aus Staatsanwaltschaft und Strafgerichtsbarkeit in Deutschland und Frankreich dieselben Fälle und dieselbe Auswahl an möglichen Reaktionen vorgelegt. Die Fälle sind aus dem Bereich der leichten und mittleren Kriminalität, um das Tagesgeschäft der Strafverfolgung abzubilden. Als Beispiel sollen hier nur Ergebnisse der deutschen Laien und Profis zu einem Fall des Ladendiebstahls dienen. Da wir bei den Laien einige Fälle differenziert nach Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit gestellt haben, während die Profis nur die Variante mit einem männlichen Verdächtigen mit typisch deutschem bzw. französischem Namen bekommen haben, vergleiche ich im Folgenden nur die Ergebnisse für den männlichen Angeklagten mit deutschem Namen.

Der Grundfall lautet wie folgt:

Herr Zimmermann hat in einem Kaufhaus einen Pullover im Wert von 50 € entwendet, indem er in einer Umkleidekabine das Sicherungsetikett entfernte und den Pullover dann anzog. Er gesteht die Tat und gibt an, dass der Pullover ihm so gut gefallen habe, dass er ihn habe mitnehmen müssen. Der Pullover wird zurückgegeben.

Herr Zimmermann ist 25 Jahre alt, deutscher Staatsangehöriger, ledig und hat zwei Kinder. Er ist arbeitslos und lebt von Arbeitslosengeld II. Im Bundeszentralregister ist für Herrn Zimmermann keine Verurteilung verzeichnet.

Welche Sanktion oder Beendigung des Verfahrens halten Sie für angemessen?

Einstellung ohne Auflagen

Anordnung einer Therapie

Einstellung mit Geldauflage

Gemeinnützige Arbeit

Geldstrafe: nicht mehr als das Nettoeinkommen für einen Monat

Geldstrafe: mehr als das Nettoeinkommen für einen Monat

Freiheitsstrafe mit Bewährung

Freiheitsstrafe ohne Bewährung: bis zu einem Jahr

Freiheitsstrafe ohne Bewährung: mehr als ein Jahr

Es werden alle Informationen bereitgestellt, die nötig sind, um auf das verwirklichte Delikt zu kommen – hier ein Diebstahl an der Geringwertigkeitsgrenze. Außerdem enthält der Fall Informationen über den Verdächtigen, die für die Strafzumessung relevant sind. In den Abwandlungen gibt es jeweils Änderungen im Hinblick auf diese Informationen. Die Liste der Sanktionen enthält auch Reaktionsmöglichkeiten, die es in dieser Form nicht im deutschen Allgemeinen Strafrecht gibt. Es war allerdings zu berücksichtigen, dass es in Frankreich sehr viel mehr verschiedene Sanktionen mit vielen Kombinationsmöglichkeiten gibt, sodass diese Liste für Französinnen und Franzosen eher karg wirkt. Damit deutsche Richter*innen und Staatsanwält*innen nicht nur auswählen, was sie im Alltag zur Verfügung haben, wird die Frage gestellt, welche Sanktion sie für angemessen halten.

Abbildung 2: Ladendiebstahl – Grundfall

In der Auswertung wurden die verschiedenen Geldstrafen-Optionen und die zwei Optionen für die unbedingte Freiheitsstrafe zusammengefasst. Alle Unterschiede zwischen Laien und Profis sind statistisch signifikant. Folgende Befunde erscheinen besonders bemerkenswert:

Es halten mehr Richter*innen und Staatsanwält*innen die Tat für so unbedeutend, dass sie von einer Verfolgung absehen wollen. Andererseits halten mehr Profis die Tat für so bedeutsam, dass sie mit einer Strafe geahndet werden soll, die ins Bundeszentralregister eingetragen wird.

Die Hälfte der Laien halten gemeinnützige Arbeit für angemessen, während knapp die Hälfte der Profis es für angemessen hält, zu einer finanziellen Sanktion zu greifen, obwohl es nahe liegt, dass der Angeklagte finanziell nicht leistungsfähig ist.

Mehr als ein Drittel der Profis halten gemeinnützige Arbeit für angemessen, obwohl es diese Möglichkeit in Deutschland nur über Umwege gibt.

Abbildung 3 zeigt die Ergebnisse für eine Abwandlung des Falls, in der Herr Zimmermann bereits drei Mal einschlägig jeweils mit einer Geldstrafe vorbestraft ist. Alle Unterschiede zwischen Laien und Profis bis auf diejenigen hinsichtlich der Geldstrafe sind statistisch signifikant. Während man in den Ergebnissen für die Profis sehr deutlich die Eskalationslogik der Strafzumessung sieht – Geldstrafe hat mehrfach nicht funktioniert, dann also Freiheitsstrafe, aber erstmal zur Bewährung –, zeigt sich bei den Laien eine größere Bandbreite. Zwar halten hier 12% eine unbedingte Freiheitsstrafe für angemessen, allerdings ist der Anteil, der für irgendeine Freiheitsstrafe votiert, immer noch deutlich geringer als bei den Richter*innen und Staatsanwält*innen. Das liegt unter anderem daran, dass fast 20% der Laien auch bei einem vorbestraften Angeklagten gemeinnützige Arbeit für angemessen halten, während es nur gut 2% bei den Profis sind. Auch bei den übrigen ambulanten Sanktionen finden sich bei den Laien höhere Anteile als bei den Profis. Wir wissen von den Teilnehmer*innen an dieser Untersuchung nicht, wie ihre Entscheidung motiviert war. Bei den Richter*innen und Staatsanwält*innen kann man aber zumindest auf bekannte Strafzumessungserwägungen als Erklärung zurückgreifen.

Abbildung 3: Ladendiebstahl – Variante einschlägige Vorstrafen

V. Fazit

Die Forschungsergebnisse zu Strafkulturen und Punitivität sind zwar zahlreich, aber nicht einheitlich: Einerseits werden Entwicklungen hin zu einer größeren Bedeutung von Strafe in der Gesellschaft und einem härteren Umgang mit Straftäter*innen berichtet, die auch für Deutschland plausibel sind. Andererseits finden sich Hinweise auf günstige politische Voraussetzungen und positive Veränderungen. Viele Veränderungen lassen sich vielleicht auch nicht ohne eine kräftige Wertung einordnen. Trotzdem möchte ich mit einer optimistischen Bemerkung enden: Wenn man sich die Ergebnisse aus der Untersuchung zu Strafkulturen auf dem Kontinent ansieht, ist jedenfalls nicht ausgemacht, dass eine härtere Kriminalpolitik immer den „Bedürfnissen der Bevölkerung“ entspricht.

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1 Cunneen et al. (2016), S. 4.

2 Garland (2006), S. 423.

3 Lautmann & Klimke (2004), S. 10; Matthews (2005).

4 Kunz (2011), S. 128 f., § 13 Rn. 16; Kunz & Singelnstein (2016), S. 134 f., § 11 Rn. 17.

5 Lautmann & Klimke (2004), S. 14.

6 Dollinger (2011).

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