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Strahlende Rache Jennifer Wurm kennt die Details des Krankenhausalltags. Die Götter in Weiss sind Gynäkologen und Chirurgen. Intrigen um die Macht in einem städtischen Krankenhaus tragen nicht zur Heilung der Patienten bei. Eine Verwaltungsratspräsidentin wird tot aufgefunden. Alle Verdächtigen sind Ärzte. Zwischen Direktion und Chefarztetage ist subtile Korruption im Spiel. Der Leser wird in die dunkelsten Ecken der Radiologie geführt. Und Jean-Luc Quendlin, der schon im ersten Band («weisse Machenschaften») bekannt gewordene Kriminalbeamte, muss wieder ermitteln.
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Seitenzahl: 202
Veröffentlichungsjahr: 2022
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«Wer bin ich,
wenn ich bin,
was ich habe, und dann verliere,
was ich habe?»
Erich Fromm
Die Geschichte ist frei erfunden. Gemeinsamkeiten mit noch lebenden Personen sind rein zufällig.
Nadine Huguenin-Morel: Verwaltungsratspräsidentin des Krankenhauses
Lionel Sanders: administrativer Direktor
Ruth Amberg: medizinische Direktorin, ehemalige Chefärztin der radiologischen Abteilung, also Vorgängerin von Hassan Jourdani
Hassan Jourdani: Chefarzt Radiologie
Ludovic Debroise: Chefarzt Gynäkologie
Francesco Devillo: Chefarzt Medizin
Dietger Franke: Oberarzt Radiologie
Joseph Bouzenar: Radiologe
Xavier Berthier: Radiologe
Jürgen Möller: Oberarzt Notfallstation
Martin Lambert: Chefarzt Chirurgie
Hervé Grossen: Chirurg. Seine Tochter ist Kaderärztin in der Gynäkologie und hat mit Martin Lambert ein uneheliches Kind, Patrizia.
Patrizia: Technikerin in der radiologischen Abteilung
André Berger: Kriminalbeamter von der lokalen Polizei
Jean-Luc Quendlin: Kriminalbeamter
Geraldine: Radiologin, Lebenspartnerin von Jean-Luc Quendlin
Annabelle: Rezeptionistin in der radiologischen Abteilung
Zwei Patienten: Paul Schnyder und Chantal Matthey de l’Endroit
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
MEOPA (Mélange équimolaire oxygène-protoxyde d'azote) wird in der Kinderheilkunde als Zaubergas bezeichnet. Es handelt sich um ein Gemisch aus Lachgas und Sauerstoff, dessen schmerzlindernde und sedierende Wirkung bereits im achtzehnten Jahrhundert entdeckt wurde.
Jürgen Möllers Natel klingelte und pflichtbewusst nahm er den Anruf an. Er hatte den Rückruf vom Leiter der Bettenkoordination erwartet. Es war aber der Direktor persönlich.
«Herr Sanders, das Krankenhaus ist voll.»
«So.»
«Und wohin mit den Kranken? Nach Osten auf die Insel, nach Süden ins Weinland?»
«Entlassen Sie zuerst die auf Stock C für Montag zur Entlassung vorgesehenen Patienten.»
«Das habe ich schon und auch schon wieder aufgefüllt.»
«Dann verlegen Sie die zur Reha vorgesehenen vorzeitig!»
«Der Krankenwagen bringt gerade zwei im Doppelpack nach oben!»
«Dann schichten Sie um, zwingen Sie die Neurologen auf der Intensivstation aufzuräumen.»
«Es sind alle verlegt, wir erwarten noch zwei aus dem Aufwachraum und einer wurde schon in die Vorbereitung der Anästhesie gebracht. Ich sage Ihnen, das Krankenhaus ist voll.»
«Hören Sie zu, das gibt es nicht. Finden Sie eine Grossmutter, die nur da ist, um ihren Dekubitus zu pflegen oder nur um den Zucker besser einzustellen. Das können auch die Hausärzte tun. Ich gebe ein Rundmail raus, das alle auffordert, möglichst alle Patienten ambulant zu behandeln.» Natürlich musste er schlussendlich auch informieren, dass sein Krankenhaus voll war.
Jürgen Möller hatte alle Massnahmen bereits selbstständig erledigt. Er hasste diese Telefongespräche. Er hatte zwei Assistenten eigens darauf angesetzt, Patienten zu finden, bei denen eine Umstellung auf eine orale Medikation möglich wäre. In der Zeit hatte er die Notaufnahmen gemacht. In dieses Krankenhaus kam man nicht mit einer Bagatelle, schon gar nicht an einem verlängerten Wochenende. Es war bekannt dafür, dass man hier lange wartete, sogar jenseits des Röstigrabens. Er war erst seit letztem Jahr hier, mit dem Französisch hatte er noch etwas Mühe.
****
Während Sanders mit seinem Handy telefonierend in die Eingangshalle blickte, überquerte jemand, in Weiss gekleidet, die Eingangshalle, riss die Glastür zum Treppenhaus auf, hastete gleich rechts durch den Warteraum ins Labor. Gleichzeitig stülpte er sich Mundschutz und Handschuhe über. Er sah sich im Labor um, fand den Inkubator und die Sputum-Proben, griff nach einem weissen Röhrchen eines schwerkranken, beatmeten, von einem neuartigen Virus infizierten Patienten und steckte es ein. Er blickte noch in den hinteren Teil des Labors, auf eine Tür mit der Aufschrift, dass sich dort radioaktive Substanzen befanden. Er konnte diese Tür mit seiner Karte öffnen und schaute sich um. Es standen mehrere durch Blei geschützte Behälter herum. Er nahm einen, öffnete ihn und verstaute die Röhrchen aus drei anderen strahlendichten Behältern darin. Mit dem Behälter als Beute verliess er das Labor und gelangte ungesehen in sein Büro im dritten Stock.
****
Jürgen Möller ging zum Röntgenrapport und obwohl ihm die Augen fast zufielen, bekam er doch mit, dass etwas nicht stimmte. Es fehlte der für den Rapport eingeteilte Radiologe. Kurzfristig war dieser lustige Kleine eingesprungen, der kannte allerdings die Fälle nicht. Das meiste hatten sie ja geklärt, aber noch lagen zwei unklare Abdomen auf der Notfallstation.
Der Chefarzt der Radiologie tigerte den Gang auf und ab. Sein leitender Arzt war nicht zur Arbeit erschienen.
Lionel Sanders war administrativer Direktor, schritt nach seinem Telefonat zum ehrwürdigen Saal im ersten Stock, wo sich die Mitglieder der Spitaldirektion trafen. Die Stühle waren im Biedermeierstil mit aus Holz geschwungener Lehne und dunkelgrünem Stoffbezug. Der Tisch war aus lackiertem Holz und an den Wänden hingen die Porträts ehemaliger Spitaldirektoren und einiger Persönlichkeiten der Stadt. Ruth Amberg hatte ihre langen rotbraunen Haare zu einem Zopf geflochten und warf sich diesen energisch über die linke Schulter, räusperte sich und versuchte, die Sitzung zu eröffnen. Als medizinische Direktorin hatte sie, so war ihr bei Amtseintritt erklärt worden, diese Aufgabe. Der administrative Direktor nahm nur an den Sitzungen teil, wenn es um finanzielle Strategien ging.
****
Noch während des Röntgenrapports war Jürgen Möller weggerufen worden. Die Sanitäter hatten ihn über eine kurvige Strasse in ein entlegenes Seitental gebracht. Er beugte sich über seinen Patienten. Der lag im hintersten Kantonszipfel am Strassenrand. Möller war gerufen worden und da er für seinen Assistenten das Dienstnatel gehütet hatte, musste er auch ausfahren. Seinen Assistenten hatte er auf die Abteilung geschickt, damit er noch mehr Platz schaffe.
Der Mann hatte sich aus eigener Kraft aus seinem Wagen gerettet, den er in den Strassengraben gefahren hatte. Es war ein grünblauer Renault Combi, der dort unten in der Schwemmebene des kleinen Flüsschens in Schräglage zum Stehen gekommen war. Der Typ kam Möller bekannt vor, nein, er kannte ihn, es war einer der Spitalradiologen. Er hatte mit ihm am Pfingstwochenende Dienst gemacht. Sie waren sich x-mal begegnet und hatten verschiedene CTs zusammen angeschaut. Der Typ war echt hilfreich gewesen. Was machte der jetzt hier hinten, fast vierzig Minuten vom städtischen Krankenhaus entfernt? Die Sanitäter hatten ihn schon auf die Bahre gelegt. Er war nicht ansprechbar, wirkte schläfrig. Jürgen kniff seinen Kollegen in den Arm.
«Merde.»
«Was?»
«Sie haben mir etwas gegeben.»
«Was?»
Sein Patient war schläfrig und wurde in den Krankenwagen gehievt. Jürgen stand davor. Die Tür wurde geschlossen. Plötzlich begann der Kleinbus zu schwanken. Jürgen stand immer noch da, stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch die Milchglasscheibe zu gucken. Der Patient hatte sich aufgerichtet und begann, sich loszumachen. Die Tür öffnete sich wieder. Der Fahrer schaute aus dem Führerstand und stieg schliesslich aus. Jürgen stand weiterhin nur da. Sein Patient beziehungsweise sein Kollege schien wacher, irgendwie aufgebracht. Er stieg aus, schaffte sogar die grosse Stufe aus der Patientenkabine allein, wenn auch etwas unbeholfen. Er erbrach sich in Gebüsch und richtete sich auf.
«Ich muss zum Auto zurück.»
Die Polizei stand um das Auto in der Schwemmebene und diskutierte. Mühsam kletterte Xavier den Hang hinunter. Ihm war genauso schlecht, wie einem ist, wenn man aus einer Narkose aufwacht. Die Polizisten wirkten auch nicht gerade frisch. Alle gähnten und rieben sich die Augen. Es war erst sieben Uhr dreissig und dieser Unfall war nach einem langen Wochenende wirklich sehr früh.
Xavier schaute in sein Auto und schloss dann den Kofferraum auf, sah hinein und knallte die Heckklappe schnell wieder zu. Er hatte genug, genug von all dem hier. Er wäre am liebsten im Wald spazieren gegangen, aber ein Polizist stellte sich ihm in den Weg.
«Nicht so schnell; wo wollen Sie denn hin?»
Xavier musste sich arg zusammenreissen, um sich nicht nochmals zu übergeben. Er wollte weg hier. Er gab also brav seine Daten an und sagte, dass er sich selbst um den Abtransport des Wagens kümmern werde. Da klingelte sein Spitalhandy. Es war sein Chef, da musste er wohl drangehen. Xavier entschuldigte sich für den Rest des Tages. Der Chef solle auch in der Aussenstation Bescheid sagen, dass Xavier nicht kommen würde.
Jürgen Möller wartete immer noch neben dem Krankenwagen. Er hatte die Szene von oben verfolgt und sich gewundert, wie gut es dem Opfer wieder zu gehen schien. Der Verunfallte hatte all seine Schläfrigkeit verloren und wollte sich gerade zu Fuss auf den Weg machen. Jürgen rief ihm zu, dass er gerne mitfahren könne, sie würden hinten im Dorf einen Kaffee trinken.
Xavier überlegte kurz. Einen Kaffee könnte er gut gebrauchen. Er wies schlussendlich einen Sanitäter an, das Ultraschallgerät aus dem seinem Wagen zu holen, und so fuhren sie durch die morgendliche Landschaft. Sie sassen nun zu dritt vorne. Jürgen fuhr ihnen im Spitalwagen hinterher. Die Nebelschwaden lösten sich über dem Talboden auf. Man sah die Pappeln auf der anderen Flussseite. Die Sonne schien auf den noch zartgrünen bewaldeten Hang gegenüber. Die Felsen waren schon voll in der Sonne. Xavier hatte es einfach satt. Normalerweise machte er diesen Weg zweimal die Woche und schallte die Patienten in der Aussenstation, arbeitete dann nachmittags wieder im Hauptgebäude. Seine Mittagszeit verbrachte er vor allem mit Fahren.
Die Sanitäter schienen etwas befangen, so früh morgens schon wieder Pause zu machen. Aber sie liessen es sich auch nicht zweimal sagen. Schliesslich waren sie in Begleitung von zwei Ärzten. Einer der beiden erzählte, dass sein Vater einen Hof hier im Tal habe und dass dieser den Wagen wohl mit seinem Traktor aus der Schwemmebene rausziehen könne. Xavier nahm dankend an. Entschlossen telefonierte der Sanitäter sofort mit seinen Eltern. Seine Mutter nahm ab und wollte sich diesen Xavier erst mal ansehen, dann mit ihrem Mann reden und ihn vom Feld holen.
Schliesslich fuhren sie Xavier zum Hof seiner Eltern, der doch einige Dörfer in Richtung Frankreich gelegen war. Xavier malte sich aus, wie er mit einem Traktor mit dreissig Stundenkilometer diese Strecke wieder zurückfahren sollte. Er griff in seine Gürteltasche und vergewisserte sich, dass er sein Portemonnaie, seine Ausweise und auch die Autoschlüssel hatte. Alles war da, auch die beiden Natels. Seine Frau hatte ihm mittlerweile eine SMS geschickt, sie sei gut angekommen. Sie passierten eine schmale Stelle des Tals, wo links oben eine Burg lag. Xavier schaute hoch und stellte sich vor, wie die Aussicht von dort oben wäre. Der Krankenwagen schaukelte durch die Pfützen in der Hofeinfahrt. Ein Köter kam angerannt und sprang ihnen kläffend entgegen. Die Mutter des Sanitäters stand in der Tür. Der Sanitäter wollte eigentlich nicht aussteigen, da der Hund die dumme Angewohnheit hatte, an ihm hochzuspringen, aber er musste Xavier mit seiner Mutter bekannt machen. Diese hielt dann den immer noch laut bellenden Hund fest, drückte ihrem Sohn einen Kuss auf die Backe.
«Adieu!» Eine eigenartige Begrüssung, mit der man sich sofort als Bewohner des oberen Kantonsteils outete.
«Das ist Xavier. Papa soll ihn rausziehen. Mit Gummistiefeln geht es heute.»
«Das wird schon. Macht, dass ihr zurück in die Zentrale kommt. Sonst bekommst du noch Schwierigkeiten.»
Xavier sah noch, wie Jürgen mit seinen zwei Sanitätern kehrt machte, als der Bauer ankam.
Jürgen fuhr todmüde zurück, schlich sich ins chirurgische Dienstzimmer, unmittelbar danach fielen ihm die Augen zu.
Eine tödlich verlaufende Allergie bezeichnet man als einen anaphylaktischen Schock; die Verengung der Atemwege und das Wasser in der Lunge führen zu Atemnot und schlussendlich zu einem Kreislaufstillstand.
Am Mittwoch kam Doktor Dietger Franke, Oberarzt in der Radiologie, und stellte seinen dunkelvioletten VW auf einen kleinen Parkplatz. Nach einem fünfzehnminütigen Fussweg näherte er sich von hinten dem Krankenhaus und trat dann durch die Schiebetüren des Personaleinganges. Die zweite Tür öffnete sich frühmorgens und in der Nacht nur mit einem Batch. Diesen musste Dietger mühsam aus seinem Rucksack fischen, um ihn dann an den Detektor zu halten. Unterdessen hatte ihn aber eine Dame überholt, die ihren Batch schon griffbereit in der Hand gehalten hatte und so die Tür für ihn mit öffnete. Kopfschüttelnd legte er den einen Riemen seines kleinen blauen Sportrucksackes wieder über seine rechte Schulter. Er konnte entweder zuerst zum Kiosk gehen und einen Kaffee trinken oder aber sich direkt an die Arbeit machen, um seinen Rückstand von gestern aufzudiktieren. Pflichtbewusst entschied er sich, direkt in die Abteilung zu gehen. Seit zwei Jahren war er Oberarzt in der Radiologie, ursprünglich stammte er aus Deutschland. In der Schweiz war der Radiologenmangel derart gross gewesen, dass man ihn trotz seines eigenwilligen Lebenslaufes genommen hatte.
Als er in der Abteilung angekommen war, grüsste er die eritreische Putzfrau und ging zu der Befundungsstation des CTs. Natürlich hatte sich gestern sein Kollege nicht ausgeloggt, so musste er den PC neu starten, um in seine Session reinzukommen. Er warf seinen Rucksack in die Ecke, drückte lange den Startknopf, so lange, dass er ihn abwürgte, setzte ihn aber gleich wieder in Gang. In der Zwischenzeit konnte er sich getrost umziehen.
Eigentlich warteten noch einige CTs von gestern auf ihn, aber das Pariser Opernprogramm des nächsten Wochenendes interessierte ihn wesentlich mehr. So loggte er sich erst mal im Internet ein und verweilte auf einer seiner Lieblingsseiten.
Im Raum, wo der Computertomograf stand, diskutierten zwei Techniker über ein Konzert, das der eine gestern Abend gehört hatte, während der andere gelangweilt das Kontrastmittel aufzog. Dieses musste aus den versiegelten Flaschen mit einem sterilen Röhrchen aufgezogen werden. Daneben stand ein Behälter mit Kochsalzlösung, die zum Spülen benutzt wurde. Der Frühdienst musste jeweils mit dem Nachtdienst zusammen diese Pumpe bereitstellen. Dazu gehörte das Aufstarten des Gerätes, der sogenannte Check-up. In dieser Zeit durfte sich allerdings niemand im Raum aufhalten, da das Gerät dann Strahlen aussandte. Der eine Techniker holte aus dem Materialraum zusätzliche Kontrastmittelflaschen und stellte sie auf eine Ablagefläche neben dem Lavabo. Dann setzte er wieder zum Aufziehen an und erzählte gleichzeitig von dem Konzert, das er am gerade in der Stadt stattfindenden Festival gehört hatte. Die Akustik sei sehr schlecht gewesen. Der zweite Techniker kontrollierte gedankenverloren die Materialschubladen. Wieder war eine Flasche leer und er konnte noch eine dritte zur Hälfte in die Druckspritze laden. Anschliessend brachte er die Verbindungsschläuche an. Diese mussten sorgfältig entlüftet werden.
Wenn man aus Versehen Luft in den Patienten spritzt, kann dies tödlich enden, denn falls diese Luft in eine lebenswichtige Arterie gelangt, kommt es zur Unterversorgung bzw. zur sogenannten Luftembolie. Dies kommt jedoch nur vor, wenn eine gewisse anatomische Variante vorliegt, zumal das Kontrastmittel vorerst in den Lungenfilter gelangt, doch zwei Prozent der Bevölkerung hat eine kleine Verbindung zwischen der rechten und der linken Herzkammer und die Luft kann so in eine Herzkranzarterie oder ins Gehirn gelangen.
Sie verliessen den Raum, ohne die Spritze fertiggestellt zu haben, um den Check-up zu starten. Der Tagdienst würde kommen und alles Weitere erledigen. Sie mussten dringend fortfahren, alle Räume aufzuschliessen und die Geräte zu starten. Während sie die Putzfrau überholten, erzählten sie weiter von ihren privaten Erlebnissen.
****
Gleichzeitig standen an diesem Morgen Ludovic Debroise, Chefarzt der Gynäkologie, und Francesco Devillo, Chefarzt der Inneren Medizin, in ihren langen weissen Kitteln an einem Stehtisch vor dem Kiosk. Ludovic hatte in seiner rechten Hand einen Espresso, seine linke Hand schloss sich um das kleine Laborröhrchen mit den Keimen innerhalb seiner Kitteltasche.
«Wie läuft es bei dir?»
Francesco Devillo kannte Ludovic schon zu lange, um nicht zu begreifen, dass er etwas von ihm wollte: «Gut, und bei dir?»
Ludovic antwortete: «Exzellent. Der neue Abrechnungsmodus bringt der Gynäkologie mindestens eine Million pro Jahr. Wir bekommen nun zehn Prozent der technischen Leistung aller radiologischen Untersuchungen, falls der Absender die Gynäkologie ist, während ihr weiterhin pro Tagespauschale zehn Prozent abgeben müsst, falls der Patient eine radiologische Untersuchung bekommt.»
Francesco schluckte einmal und sagte: «Wie hast du das hingekriegt?»
Ludovic war zu stolz, um nicht ein bisschen von seiner Strategie zu erzählen: «Ich liefere, was man von mir verlangt: Informationen an die Direktion, auch wie gewisse Patienten auf der Medizin versterben. Aber das könnten wir ändern.»
Ludovics Spannung war enorm, doch das Röhrchen in seiner Hand lag ruhig dort, wie ein kalter Revolver.
Francesco fragte pflichtgetreu: «Wie soll sich das ändern?»
Ludovic: «Hassan in der Radiologie hat Probleme, seine leitenden Ärzte zu zahlen, sie beginnen ihn zu durchschauen. Das könnte man wunderbar in Geld umwandeln. Die Direktion in ihrem Elfenbeinturm hungert nach Informationen. Versuchst du es für mich? Hassan sollte doch besser bei uns beiden im Boot sitzen.»
Dietger hatte die Techniker zwar wahrgenommen, aber sie nicht begrüsst. Er hatte das Opernprogramm mittlerweile mit seinem Dienstplan abgeglichen und in seine Agenda eingetragen. Sanft fuhr er sich über seine Glatze und startete das Patientendatenprogramm. Er rief sich die Anmeldung einer Felsenbeinuntersuchung in Erinnerung und begann, durch die Bilder zu scrollen. Er liebte diese drei Zentimeter des menschlichen Körpers, fühlte sich wohl zwischen Hammer, Amboss und Steigbügel, sonnte sich in den anatomischen Bezeichnungen der kleinen Nischen des Mittelohres. Er konnte sich wunderbar in den Bogengängen des Innenohrs verlieren, auch den inneren Gehörgang mochte er, der erschien ihm aber etwas fad mit dem Nervus Facialis und Vestibulocochlearis. Selten fand sich die gesuchte Pathologie dort, meistens war sie für niemanden sichtbar in der Physiopathologie des Innenohres versteckt. Er rekonstruierte beide Ohren nochmals fein, denn die von den Technikern angefertigten Schnitte waren eigentlich zu dick, als dass man wirklich etwas sehen konnte. In Gedanken wog er allerdings Verdi in Berlin gegen Offenbach in Paris ab, beides würde ein Drittel seines Monatsgehaltes auffressen, aber das war ihm egal. Halt, da fehlte doch einer der drei Bogengänge auf der rechten Seite! Er klickte sich durch die Berichte der Voruntersuchungen und schüttelte den Kopf. Er nahm das Mikrofon und diktierte in kurzen Sätzen den Bericht für den Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Die Schwerhörigkeit konnte er natürlich auch nicht erklären, aber den jeweils auszuschliessenden Kleinhirnbrückenwinkeltumor konnte er klar verneinen. Dann ging er nahtlos an die zwei Onko-CTs, die von gestern übriggeblieben waren. Er begann die aktuelle Untersuchung und die Voruntersuchung zu laden und machte sich daran, die mit Tumor befallenen Organe durchzusehen. Verdis Nabucco war sicher klassisch inszeniert und die Sopransängerin hervorragend, Hoffmanns Erzählungen in Berlin waren wahrscheinlich modern und nüchterner, zumal der Regisseur bekannt dafür war, auf jegliche Spielereien zu verzichten. Dieser Lymphknoten war doch gewachsen seit dem letzten Mal, abdominal hingegen schienen sich die Tumormassen verringert zu haben. Bei kontroversen Befunden musste man schon genauer hinsehen, um etwas Kohärentes sagen zu können. Das zweite CT konnte er runterrasseln, da er es gestern schon am Rapport vorgestellt hatte. Es war eigentlich wie diese kleinen Rätsel in den Zeitungen «Findet die sieben Unterschiede». Wenn man sie gefunden hatte, konnte man loslegen. Jetzt hatte er definitiv einen Kaffee verdient, allerdings begann in sieben Minuten der interne Frührapport. Er nahm also nur den Weg in die Notfallstation in Kauf und liess sich den Kaffee am Automaten raus. Mit diesem in der Hand tauchte er gerade rechtzeitig am Rapport auf. Alle sassen schon da, während einer sich noch mit dem PC des Beamers herumschlug. Die Pathologen hatten wieder mal die Priorität der Bildschirme so verändert, dass man als Zuschauer gar nichts sah. Mühsam liessen sich die Bildschirme wieder auf die ursprüngliche Form konfigurieren, allerdings brauchte das zusätzliche fünf Minuten und verkürzte die schon knapp bemessene Zeit für die Vorbereitung der Rapporte. Dietger entspannte sich erst einmal, er brauchte sich da gerade nicht mit herumzuquälen. Gerne hätte er sich noch ein Croissant geholt, vielleicht lag das ja noch drin, bevor das Programm losging. Sein Kollege, der eigentlich den Rapport halten sollte, fragte schliesslich um Hilfe, da man doch in die Tiefen des Systems vordringen musste, um wieder die Monitore und die Beamer in Übereinstimmung zu bringen. Das hatte irgendwie Priorität, zumal er ohne Bilder keinen Rapport halten konnte. Wenn man sich die Untersuchungen nicht vorher ansehen konnte, musste man sich durchwursteln. Endlich gelang es den beiden, dass auch die Zuschauer etwas sahen und sie gleichzeitig auf das Patientendatenprogramm Zugriff hatten. Dietgers Gedanken schweiften wieder von seinen Frühstückswünschen zu den Opernprogrammen. Eigentlich konnte er ja auch wieder mal nach Mailand fahren. Was da wohl gerade lief? Dort könnte er seinen alten Freund, der ebenfalls Opernliebhaber war, besuchen.
«Wer war gestern am CT?»
Dietger kam sehr plötzlich wieder in die Wirklichkeit zurück und schaute hoch an die Leinwand. Dort liess sein Kollege ein CT passieren.
«Das war im grossen Ganzen normal, nur ein bisschen basale Lungenfibrose und vielleicht auch eine Leberzirrhose. Sie suchten eine Aortendissektion, aber der Patient war lachend auf zwei Beinen ins CT marschiert. Absurd!»
Als erst zwei Untersuchungen gezeigt worden waren, begannen die Chirurgen einzudringen und die Radiologen mussten den Raum verlassen. Nur zu gerne liess Dietger sich von seinen Kollegen zu einem zweiten Kaffee überreden. Es war erst Viertel vor acht und er fand, dass man eigentlich nicht vor acht anfangen sollte. Sie schlenderten den verspäteten Chirurgen entgegen und liessen sich von einem noch den neuesten Klatsch berichten:
«Ein Chirurg von oben hat in das im unteren Kantonsteil gelegene Privatspital gewechselt!«
Für Dietger würde es ein langer Tag werden, denn die zwanzig CTs waren ein harter Brocken. Er brauchte dringend noch ein Croissant, und zwar mit Schokolade. Alle Radiologen entschlossen sich schliesslich, zusammen in den fünften Stock hochzufahren und in der Kantine zu frühstücken. Abends würde noch eine Weiterbildung stattfinden.
Nach der Stärkung setzte Dietger sich an seine Befundungskonsole und machte sich daran, die Untersuchungen mit Protokollen zu versehen. Viele Untersuchungen waren Standard, und er musste nur sagen, von wo bis wo die Techniker das CT zu fahren hatten. Doch ab und zu war eine interessante Fragestellung dabei. Am meisten hasste er es, wenn sich die Kliniker herausnahmen, ihm Protokolle vorzuschreiben. Der hausinterne Pneumologe war so ein Spezialist. Er schien die radiologische Weisheit mit Löffeln gegessen zu haben. Dietger bekam eine Aversion, wenn er nur schon die Anmeldung las, in deren Titel nicht einmal das zu untersuchende Organ vorkam, hingegen welche Schichtdicke und in welcher Atmungsphase. Eine schlichte Zumutung!
Bei der fünfzehnten Anmeldung kam schon eine magere Technikerin und wollte, dass er die erste Untersuchung abnahm. Dietger schaute kurz hoch und fragte:
«Bewegungsartefakte?«
«Nein.»
«Gut, dann runter.»
«Keine Spätphase?»
«Doch, das habe ich doch verordnet! Also Spätphase.»
«Wann?»
«Nach drei Minuten.»
«Aber wir sind jetzt schon bei fünf Minuten.»
«Dann halt jetzt sofort.»
«Er müsste aber dringend auf die Toilette.»
«Dann eben nicht!»
Diegter schüttelte den Kopf und vertiefte sich in die folgenden Anmeldungen. Diese magere Wespe von Technikerin hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. Er musste erst im Patientendatensystem suchen, wo er stehen geblieben war, doch mittlerweile erinnerte er sich nicht mehr, ob er die Liste alphabetisch oder zeitchronologisch bearbeitet hatte. Er war bei einem Abdomen gewesen und hatte gezögert, einen Kontrastmitteleinlauf anzuordnen, zumal dies die Untersuchungszeit um fünf Minuten verlängern würde und er so vielleicht während dieses CTs essen konnte. Er tippte zwischendurch ein paar Kurzberichte und der Morgen nahm seinen normalen Lauf. Gegen halb zwölf meldete sich ein Chirurg und wollte eine Abzessdrainage. Dietger hatte keinen Bock darauf. Erstens war er unsicher, was die technische Durchführung anbelangte, und zweitens brauchte er eine Mittagspause. Er redete schliesslich mit Xavier, der sich darum kümmern wollte. Dietger wartete noch, bis sich ein paar andere Radiologen zu ihm gesellten und sie dann alle gemeinsam in den fünften Stock fuhren. Sie kamen an den Damen der Anmeldung vorbei, die immer etwas neidisch schauten, wenn sich die Ärzte der Abteilung gruppierten und die Treppe hochstiegen. Sie hatten zwar auf die Minute genau geregelte Arbeitszeiten mit fixen Mittagspausen, aber die einen gingen nach Hause und die anderen schlugen sich irgendwie mit den Schreibkräften rum, damit sie ihnen die Anmeldung hüteten. Es herrschte ein jahrelanger Krieg zwischen den zwei Gruppen von Sekretärinnen.
Kaum waren sie oben angelangt, klingelte Dietgers Natel mit der CT-Technikerin am Draht:
«Wir sind fertig mit dem TAP.»
«Ja, und?»
«Die ganze Equipe des Schockraums wartet auf dich!»
«Hm, ich habe gerade mein Essen vor mir, kannst du schauen, ob noch jemand unten ist? »
«Nein, auch die vom MR sind nicht unten; he, es warten alle auf dich. Der ganze Schaltraum ist voller Leute, ausserdem hat der Patient ein Aortenaneurysma. Jetzt beweg dich!»
«Okay, ich komme!»
Dietger schob sein Tablett zur Seite, liess es aber auf dem Tisch stehen, er würde sein Essen später in der Mikrowelle aufwärmen. Er hasste die Technikerin, die er am Draht gehabt hatte, denn wenn er nicht am Essen war und brav neben seiner Maschine hockte, liess sie die Patienten einfach aufs Klo gehen und die Spätphasen waren im Eimer. Wenn er aber beim Essen war, war er unersetzlich für die Abnahme der Untersuchung.