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Christian Bentenhauer, sozialistischer Stadtrat, wird von einem Fassadenteil direkt vor dem städtischen Krankenhaus erschlagen….Zufall oder Mord? Geraldine, eine bildhübsche Ärztin verliert ihre Stellung in der radiologischen Abteilung und ermöglicht einem Kriminalbeamten in den Machenschaften des Spitaldirektors und des Chefarztes der Radiologie zu schnüffeln. Aber bedroht sind die beiden Mitwisser, Alfons Biche, der Leiter des technischen Dienstes und Anne-Christine Riesen, die Chefin der Informatikabteilung. Ein Kriminalroman, in dem viel Insiderwissen der Schweizer Gesundheitspolitik mit dem Alltag einer radiologischen Abteilung verwoben wurde. Jennifer Wurm
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Seitenzahl: 225
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Die Geschichte ist frei erfunden. Gemeinsamkeiten mit noch lebenden Personen sind rein zufällig.
Die im Schrägdruck eingeschobenen Einblicke in die Spitalpolitik basieren zum Teil auf wahren Details, wurden aber für die Geschichte modifiziert. Sie sind trocken und können beim Lesen übersprungen werden.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Personen
Niemand war auf die Idee gekommen, die Polizei zu rufen. Der Mann war gestorben, noch auf der Notfallstation des städtischen Krankenhauses infolge eines Unfalls.
Assistenzarzt Jürgen Möller war gerade dabei, seine E-Mails zu lesen, als ein dunkler Schatten für kurze Zeit das Tageslicht dämpfte. Er achtete kaum darauf, obwohl er normalerweise immer wieder kurz aus dem Fenster schaute. Man sah auf die Strasse, wo alle sieben Minuten der Bus durchfuhr, so pünktlich, dass man seine Uhr danach hätte stellen können. Einmal in der Stunde hörte man das Signal des Bahnüberganges etwas weiter unten, jeweils kurz vor der vollen Stunde. Es stauten sich kurzzeitig die Autos bis auf Höhe seines Fensters. Dann rauschte der Zug und der Stau löste sich wieder.
Jürgen Möller war noch nicht lange hier, aber er genoss die Vorzüge seiner Anstellung, denn nun verdiente er fast das Doppelte wie in Deutschland. Auch konnte er so das lästige Praktikum umgehen, das er hätte absolvieren müssen. Er wusste sowieso schon mehr als seine Kollegen, die mit ihm hier arbeiteten. Er schaute wieder auf den Bildschirm, wo der Cursor blinkte, an der Stelle, wo er eigentlich seinen Bericht schreiben sollte. Die Titel generierte das Programm selbst. In diesem Fall wollte es ihm nicht so recht gelingen, alles mit den passenden Fachausdrücken zu beschreiben. Der Computer stand im Arztbüro der Notfallstation, das seine Fenster nach Norden zur Stadt hin hatte. Es war klein und diente gleichzeitig als Aufenthaltsraum und Pikettzimmer für den Nachtarzt. Auch die Oberärzte schauten manchmal vorbei, besonders der Radtke kam zum Umziehen, weil er keine Lust hatte, zuerst in den zweiten Stock in sein Büro zu gehen, um die Kleider zu wechseln. Morgens diente es auch als Rapportzimmer. Hier schrieben alle Ärzte ihre Berichte und füllten die Formulare aus. So war auch Jürgen Möller hier oft und sass vor dem Computer. Er war aus der ehemaligen DDR gekommen, hatte aber in Freiburg im Breisgau studiert und sich so der Schweiz genähert. Jetzt dachte er an seinen Patienten, um über dessen Behandlung einen Bericht musste. Die Anamnese war eigentlich klar. Der Schlag auf den Kopf hatte eine Hirnblutung hervorgerufen, welche wiederum den Hirnstamm eingeklemmt hatte, worauf die Vitalfunktionen versagt hatten. Sie hatten ihm noch eine Computertomographie machen lassen unten bei den Radiologen, obwohl seine Pupillen schon weit gewesen waren, als er den Radiologen hatte anrufen müssen. Dieser war schon ausser Haus gewesen, obwohl es gerade mal achtzehn Uhr gewesen war.
Mittlerweile war es schon spät, aber immer noch hell, da es Hochsommer war. Es war immer das Gleiche, bis der ganze Schreibkram erledigt war, wurde es meist einundzwanzig Uhr. Wieder sah er auf den Bildschirm, in der Hoffnung, dass es ihm dann leichter fallen würde, diesen Bericht zu schreiben.
Also, der Mann war sechzig Jahre alt gewesen: Christian Bentenhauer. Er hatte eine Platzwunde gehabt, oben auf seiner Glatze, aber das konnte Jürgen natürlich nicht so schreiben. Man sagte hier RQW für Rissquetschwunde; das tönte schon besser. Wenn die ersten paar Zeilen überzeugten, würde niemand den Bericht fertig lesen, das wusste er schon. Vor allem sein Oberarzt war gar kein Freund vom Berichtedurchlesen und seitdem er gemerkt hatte, dass Jürgen Grammatik besser beherrschte als er selber, las er sie nur noch flüchtig durch. Sie hatten auch noch eine Blutanalyse gemacht, obwohl das ja auch sinnlos gewesen war, aber ein Patient kann doch nicht ohne ein grosses Labor einfach sterben. Nein, das ging nicht mal auf der Geriatrie. Manchmal musste er auch internistische Patienten aufnehmen, denn die chirurgische Abteilung war klein und er hatte mehr Zeit als seine Kollegen, die doch immerhin oft über hundert volle Betten hatten. In der Notfallstation mischten sich die Abteilungen sowieso, da die Oberärzte und Chefs für chirurgische und internistische Patienten zuständig waren. Er loggte sich im Intranet ein, um zu sehen, ob er die Laborresultate schon abrufen konnte oder ob er den Bericht erst morgen würde abschliessen können. Er hatte ein Passwort bekommen, aber in den ersten hektischen Tagen war es ihm nicht gelungen, sich einzuloggen, jetzt benutzte er das von den Krankenschwestern. Das Resultat war noch nicht abrufbar. Und auf den Röntgenbericht konnte er noch tagelang warten. Wieder gab er sich seinen Gedanken hin.
Der Herr Doktor Robert war persönlich erschienen, obwohl er eigentlich nicht Dienst gehabt hatte. Wahrscheinlich hatte ihn sein Oberarzt gerufen, da der Patient irgendein hohes Tier gewesen war in der Stadtverwaltung. Der Robert war sonst sehr zurückhaltend und vernünftig, was das Verordnen von Spezialuntersuchungen anbelangte. Er war überhaupt ein wirklich guter Typ; Jürgen empfand ihn oft als Vater beziehungsweise er fühlte sich als sein Sohn, wenn er mit ihm zusammenarbeitete. Wenn Doktor Robert dabei war, schien alles einfacher und logischer. Aber er arbeitete als Chefarzt auf der Medizinischen Abteilung, während Jürgen als Assistenzarzt auf der Chirurgie angestellt war. Nur die Notfallstation wurde von beiden Abteilungen gemeinsam betreut, da sonst die Dienstbelastung zu gross wäre. Seinen Chef hingegen empfand er oft als unsicher. Er war erst vor Kurzem hier Chefarzt geworden und von einer grossen Universitätsklinik gekommen. Ihm schienen immer wieder kleine Fehler zu unterlaufen. Seine Medizin wirkte wie deplatzierte Spitzenmedizin, die hier in der Kleinstadt nicht funktionieren wollte.
Heute hatte der Robert aber darauf bestanden, dass diese Computertomographie sofort gemacht würde, auch wenn der Patient schon fast tot gewesen war, als sie ihn bekommen hatten. Eigentlich komisch, denn der Unfall hatte sich vor dem Spital abgespielt. Der Krankenwagen war nicht mal losgefahren, sondern sie hatten ihn einfach auf die Bahre gelegt und reingebracht. Was eigentlich genau geschehen war, wusste Jürgen nicht. Er schaute wieder auf und sah die hübsche Frau aus der Verwaltung auf dem Fahrrad vorbeifahren. Er speicherte seine Daten und loggte sich aus. Er musste noch schnell den Schwestern und seinem Kollegen, der die Nachtschicht machen würde, eine kleine Übergabe machen, bevor er nach Hause gehen konnte. Die meisten Patienten hatte er auf die Abteilungen verlegen können, somit blieb nur noch die Frau in Box 2 mit den Bauchschmerzen und die provisorische Anmeldung aus dem Altersheim, die er rapportieren musste.
Er schaute nochmals auf die Notizen, die er gemacht hatte, als der Dienstradiologe gekommen war für den Mann, der gestorben war. Die Schädelkalotte war zertrümmert und darunter war sehr viel Blut gewesen. Das hatte auch er gesehen. Das Hirngewebe war zerstört worden durch den enormen Druck und dann hatte sich wohl der Hirnstamm eingeklemmt, weil er nach unten gedrückt worden war. Der Schlag musste ziemlich heftig gewesen sein.
Schwester Marianne kam plötzlich in das Zimmer und teilte Jürgen mit, dass ein paar Leute von der Tageszeitung hier seien und ihn sprechen wollten wegen dem Bentenhauer. Sie hätten sie gefragt, warum der gestorben sei. Sie hätten sie sehr gedrängt, den zuständigen Arzt zu holen für ein Interview und sie hätten sich auch nicht abwimmeln lassen. Sie würde ihm das aber gar nicht empfehlen, denn damit würde er sich sicher Schwierigkeiten einhandeln. Was sie nun tun solle. Jürgen zeigte auf den Stuhl seines Kollegen vor dem Fenster und sagte, sie solle sich erst mal setzen und berichten. Er schloss die Tür und setzte sich ebenfalls. Ob sie einen Kaffee wolle, fragte er noch, denn er hatte sich gerade einen machen wollen.
„Gerne“, sagte sie und setzte sich auf den Bürostuhl. Sie habe aber Angst, allzu lange hier zu bleiben, weil sie so die Patienten nicht hören könne und die Schwesternschülerin noch ganz neu sei. „Die soll auch auf keinen Fall Auskunft geben!“
„Ist denn der Radtke noch im Haus?“, fragte Jürgen, denn der Oberarzt könnte ja mit denen reden, oder war das gar Chefsache?
„Ja, der ist aber mit dem Urologen immer noch damit beschäftigt, die Blasenspülung einzulegen; das wird noch eine Weile dauern, denn sie mussten den Anästhesisten rufen, da der Patient so Schmerzen gehabt hatte.“
„O. K., dann ruf ich Doktor Robert an.“ Jürgen wählte die Natelnummer von Robert.
Schon nach zweimaligem Klingeln meldete der sich:
„Hier Franz Robert, was gibt es?“
Jürgen erklärte ihm, dass Reporter hier seien, was ja nicht ganz alltäglich sei, und dass er es nicht so sinnvoll fände, selbst mit ihnen zu reden. Er wisse ja nicht, was Christian Bentenhauer für eine Rolle gespielt habe. „Haben Sie ihn persönlich gekannt?“
„Natürlich kenne ich ihn“, entgegnete Robert. Sie seien schliesslich zusammen in die Schule gegangen. Anschliessend habe Bentenhauer Jura studiert, während er eben Arzt geworden sei. Auch er habe keine Lust, mit den Leuten von der Presse zu reden, fügte er hinzu.
„Ich komme und werde versuchen, sie abzuwimmeln.“ Robert brauchte normalerweise nicht lange, bis er im Spital war. Er erschien immer schnell und roch etwas nach Pfeife, die er auf dem Weg zum Spital rauchte. Er kam zu Fuss den kurzen Weg den Hang hinunter. Robert arbeitete normalerweise im Garten, wenn er nicht zu seinem Boot gefahren war. Er hatte eine kleine Jacht auf dem See, der circa eine Stunde westlich der Stadt gelegen war. Dort war auch das Familienanwesen der Familie Robert, das seit Generationen in ihren Händen war. Einmal hatte er ein kleines Fest gegeben dort und auch die Assistenzärzte eingeladen. Aber wenn er Dienst hatte, musste er natürlich in der Stadt bleiben.
„Wo sind sie denn?“, fragte er, als er acht Minuten später in der Tür stand. Er hatte sich nicht umgezogen, sondern trug zivile Bekleidung.
„Schwester Marianne hat sie ins Wartezimmer gesetzt.“
„So, dann wollen wir mal sehen, wer da gekommen ist.“ Franz Robert kannte viele Leute in der Stadt. Eine aus seiner Gymnasialklasse war zur Zeitung gegangen, erinnerte er sich schwach. Ob sie noch dort war, die schüchterne Sybille, oder ob sie Kinder bekommen hatte und dann zu Hause geblieben war? Mit diesen Gedanken schritt er durch den langen Gang. Er schaute auf den Boden, der mit braunem Novilon ausgelegt war. Die Betten hinterliessen Spuren aus schwarzen Strichen, die einmal im Monat weggewichst wurden. Auf der Höhe der Bettrahmen war die Tapete teilweise abgeschabt an den Wänden. Er ging durch das Labyrinth von Türen. Noch heute, nach fast dreissig Jahren, empfand er es als unlogisch, dass man immer erst in den Zwischengang gehen musste, dann durch die Empfangshalle und erst dann zum Wartezimmer der Notfallstation kam.
Jürgen war etwas unentschlossen gewesen, ob er mitgehen sollte, hatte sich aber dafür entschieden, denn es konnte ja nicht schaden, wenn er auch neben der Medizin etwas Erfahrung sammelte. Was der Robert wohl sagen würde? Denn Schwester Marianne war ja eigentlich schon ziemlich selbstbewusst und konnte normalerweise aufdringliche Verwandte von Patienten ganz gut von ihm fernhalten.
„Wer ist von der Presse?“, fragte Robert, als er das Wartezimmer erreichte.
„Die sind da vorne beim Securitaswächter“, sagte eine ältere Dame, die auf einem der angeschraubten Plastikstühle sass. Das hatte gerade noch gefehlt, dass sie mit dem Benito redeten. Benito war eine Figur, die das Spital gerade noch so duldete, obwohl er schon mehrmals betrunken im Dienst gewesen war. Die Stelle hatte auch schon einige Male wegrationalisiert werden sollen, aber die Frauen der Verwaltung hatten immer wieder darauf bestanden, dass die Schwestern gefährdet seien, wenn sie zum Spät- oder Nachtdienst kämen. Der Parkplatz sei sehr dunkel und da sei es ihnen wohler, wenn die Pforte in der Nacht besetzt sei. So hatte Jürgen sich immer wieder um Benitos Alkoholkonsum kümmern müssen, damit er die Stelle besetzt behalten konnte. Benito war eigentlich Bauingenieur, aber als er von Peru in die Schweiz geflüchtet war, hatte man seine Diplome nicht anerkannt. Benito wusste alles, was im Spital vor sich ging. Er wusste genau, wer wann kam und ging und mit wem. Er musste auch die Patienten empfangen, wenn sie nach einundzwanzig Uhr kamen. Ausserdem war es seine Aufgabe, die Leichen nach unten zu bringen. Frank Robert schritt unter erheblichem Schnauben durch die Eingangshalle nach draussen und ging um die Ecke zur Nachtpforte, wo Benito in seinem Glaskasten sass. Und da standen die zwei Herren von der Presse, die Robert beide nicht kannte. Der eine hatte eine grosse Kamera dabei. Benito hatte also mit ihnen geredet. Robert stellte sich zu ihnen. Benito verstummte und wies mit dem Kinn zu ihm. Da sei der Dotores. Die beiden stellten sich vor und wollten wissen, was mit Christian Bentenhauer los sei. Ob er bereit sei, Auskunft zu geben.
„Nein, bin ich nicht. Ich bin an mein Arztgeheimnis gebunden, so wie auch der Nachtwächter des Krankenhauses unter Schweigepflicht steht“, sagte Robert, indem er seinen Blick über die Runde schweifen liess. Wer ihnen denn gesagt habe, dass der Bentenhauer krank sei, wollte er noch wissen, aber da schwiegen auch die beiden Reporter. „Nun, dann schert euch zum Teufel und wagt nicht wieder aufzutauchen!“
Jürgen war nur bis zur Ecke mitgegangen und kam nun auch dazu. Robert strich sich seine grauen Haare glatt, die er immer über seine Glatze kämmte.
Gemeinsam gingen sie zurück zum Assistenzarztbüro auf der Notfallstation. Ob er denn Nachtdienst habe? Andernfalls solle er sich jetzt tummeln, meinte Franz Robert zu Jürgen. Der Fluss sei nur jetzt warm genug, dass man sich darin treiben lassen könne. In einem Monat sei alles vorbei und der Nebel komme wieder. Jürgen hatte noch keinen Winter erlebt hier, denn er war erst vor ein paar Monaten hergekommen, aber sie hatten ihm erzählt von dem Nebel und den tristen Tagen, die die Laune der Leute drückten. Niemand würde mehr abends lange ausgehen und die wirklich schönen Restaurants am Fluss hätten im Winter sogar zu. Nun, er hatte sowieso wenig Zeit, sich in der Stadt rumzutreiben.
„Ja, ich gehe jetzt nach Hause“, womit er sein Zimmer im Schwesternhaus meinte. Auch Robert ging direkt über den Parkplatz Richtung Stadtrand.
Benito war circa um zwanzig Uhr beauftragt worden, eine Leiche nach unten zu bringen. Er hatte sie sich auch angesehen. Es war der ehemalige Stadtrat Christian Bentenhauer gewesen. Der war von der sozialistischen Partei gewesen. Das waren die, die damals auch in den Skandal vor der Abstimmung verwickelt gewesen waren. Und trotzdem waren sie doch wieder an der Macht, auch wenn ein paar Köpfe gerollt waren. Die ganz oben waren nicht in Frage gestellt worden, obwohl sie noch mehr Dreck am Stecken gehabt hatten, als die, die gehen mussten. Und die im Hintergrund arbeitenden Drahtzieher waren immer noch die gleichen. Benito wusste viel, denn er las sehr oft Zeitung und er hörte den ganzen Tag Radio. Er hatte auch ein paar verlässliche Quellen im Spital. So hatte der Leiter des technischen Dienstes, der Alfons, immer wieder mal ein paar Minuten Zeit, mit ihm zu reden. Schliesslich gingen alle technischen Probleme an ihm vorbei. Die Schwestern meldeten sich immer bei ihm, wenn irgendeine Steckdose kaputt war oder ein Gerät nicht mehr funktionierte. Er leitete es dann an Alfons oder an einen seiner Mitarbeiter weiter. Schlussendlich kamen alle zu ihm, wenn etwas nicht funktionierte, auch Direktor Wanner musste sich so lange um sein verstopftes Klo in der Chefetage selber kümmern, bis Benito die Leute vom Sanitärbüro bestellte, denn das hatten die Sekretärinnen von der Chefetage nicht gemacht, obwohl es der Wanner sicher versucht hatte bei ihnen, aber dafür waren die sich zu gut. Oder sie hatten es eben nicht hingekriegt. Benito hatte angerufen und gefragt, ob sofort jemand kommen könne. Die Spengler aber hatten keine guten Erfahrungen mit öffentlichen Aufträgen gemacht und waren erst dazu bereit gewesen, als man ihnen eine schriftliche Auftragsbestätigung hatte zukommen lassen. Aber dumm waren die ja auch nicht, denn ein verstopftes Männerklo im ersten Stock war eher ungewöhnlich und dazu kam die nahe Lage zur städtischen Kläranlage, die dafür bekannt war, viele Probleme in ihrer Umgebung zu verursachen, zumal sie ein paar Meter zu hoch stand im Vergleich zu dem umliegenden Quartier. Heinz Wanner war seit fünf Jahren der Direktor der beiden städtischen Krankhäuser, doch Benito kannte ihn schon viel länger, denn Wanner war schon vorher Direktor des einen Hauses gewesen und nach einem kurzen Zwischenspiel wieder aufgetaucht als Oberchef. Benito war aber schon länger hier, bald waren es dreissig Jahre. Und er wusste sehr viel, auch über den Heinz Wanner, als der noch jünger gewesen war. Damals hatte der Wanner oft seine Ellenbogen eingesetzt, um den Posten zu kriegen, den er wollte. Da war ihm jedes Mittel recht gewesen. Benito hatte gewisse Sachen nicht vergessen, hatte sie aber bis jetzt immer für sich behalten. Denn er hatte auch seine Schwächen, vor allem wenn er Heimweh hatte, brauchte er ab und zu mal einen kräftigen Schluck aus einer Flasche Whisky. Aber arbeiten musste er ja trotzdem.
Auch diese Nacht würde lang, wie alle Nächte. Es war immer schwierig, wach zu bleiben, vor allem zwischen zwei und drei Uhr morgens. Meistens war dann nichts los. Die letzten Patienten kamen zwischen Mitternacht und ein Uhr. Es waren oft Obdachlose, die keinen Unterschlupf mehr gefunden hatten oder nicht mal die fünf Franken für die Notschlafstelle aufbringen konnten. Aber auch diese wurden immer seltener, seitdem sie die neue zentrale Notfallstation aufgemacht hatten. Denn um sich an den Stadtrand zu bemühen, brauchte man schon eine gewisse Motivation oder zumindest das Fahrgeld für den Bus. Aber auch das besassen die wirklich Armen in dieser Stadt nicht und arme Obdachlose gab es sehr viele, im Vergleich zu anderen Städten.
Manchmal setzte sich die Schwester Hannelore zu ihm und sie erzählten ein bisschen, aber heute hatte sie nicht Dienst. Benito nahm sein grosses Schlüsselbund und die Taschenlampe. Er setzte noch seinen Securitashut auf und machte sich auf seine erste Runde, um die Türen zu schliessen, die er immer schloss. Er kontrollierte zuerst die Eingangstür des Schwesternhauses und dann die Tür der Kantine. Im Verwaltungsgebäude war noch Licht im ersten Stock. Entweder war der Wanner noch da oder jemand von der Putzequipe hatte vergessen, das Licht zu löschen. Benito ging hoch und klopfte am Zimmer des Direktors, welcher mit einem kurzen „Herein“ antwortete.
„Ah, Benito“, sagte der Herr Direktor, der im Anzug zurückgelehnt auf seinem drehbaren Bürostuhl sass. Seine Krawatte hatte er etwas gelockert, sonst war sein Äusseres tadellos.
„Guten Abend, Herr Direktor, so spät noch am Arbeiten“, sagte Benito, um überhaupt etwas zu sagen, denn eigentlich wollte er das Licht ausmachen und schon auf seiner ersten Runde das Verwaltungsgebäude schliessen. Er hatte keine Lust, nachher nochmals rauszugehen, aber so war er wohl gezwungen dazu.
Er wollte schon fast die Tür wieder schliessen und nach unten gehen, als der Herr Wanner ihn fragte, was denn los gewesen sei am Abend, dass sogar die Presse hier gewesen sei, zumal er den Zehnder und seinen Adlatus von der Tageszeitung habe über den Parkplatz laufen sehen. Auch der Robert sei noch spät abends hier gewesen. Benito wusste nicht so recht, was er antworten sollte. Er mochte den Wanner nur sehr bedingt leiden. Auch bei den meisten Angestellten war der nicht gut angesehen. So nuschelte er nur etwas von einem prominenten Patienten, ohne zu sagen, dass der Bentenhauer gestorben sei. Dann zog er die Tür wieder zu und machte sich auf den Weg, denn es war ihm auch in den Sinn gekommen, dass er noch den Frey vom Bestattungsdienst anrufen musste, damit sie ihn in der Kapelle aufbahrten. Die Familie war schon da gewesen und hatte sich eigentlich verabschiedet. Aber das war alles ein bisschen schnell gegangen. Die würden sicher nochmals auftauchen und bis dahin musste die Leiche gewaschen und zurechtgemacht sein. So ging er zurück in seinen Glaskasten und suchte die Nummer von Frey. Nach ziemlich langem Läuten kam dessen Frau an den Apparat, und sagte ihm, ihr Mann komme erst gegen Mitternacht zurück, aber sie werde ihm sagen, dass Arbeit für ihn da sei. Benito ging nochmals in den Keller mit den Kühlboxen für die verstorbenen Patienten und schaute sich den Toten an. Er hatte ein verdutztes Gesicht, war aber rasiert und sah gepflegt aus. Sie hatten ihm den Kopfverband dran gelassen, aber der Schädel sah irgendwie flach aus, als ob ihm etwas sehr Hartes und Schweres auf den Kopf gefallen wäre. Die Infusionen hatten sie ihm schon wieder entfernt und ein frisches Nachthemd trug er auch. Benito schob ihn wieder rein und schloss sowohl die Box als auch die Tür der Kühlkammer sorgfältig zu. Dann ging er nach oben und trank einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche Whisky, die er immer in der untersten Schublade versteckt hielt. Die Schlüssel behielt er auf sich. Er machte sich es erst einmal bequem auf seinem Stuhl und guckte, was sich so auf dem Parkplatz tat. Der Urologe und der Anästhesist waren noch beim Erzählen. Der eine hatte sich an die grosse Platane gelehnt, die in der Mitte stand. Das war der Urologe, ein Hüne von Mensch, der nur als Konsiliararzt ab und zu beigezogen wurde. Sonst hatte er seine Praxis in der Stadt. Der andere hatte schon seine Autotüre aufgeschlossen und lehnte den Arm auf die offene Tür. Das war der von der Narkoseabteilung, ein armer Teufel, der ständig arbeiten musste, da der andere Anästhesist ihn nach Strich und Faden ausnutzte. Der war dauernd weg und liess seinen Kollegen schuften. Aber das ging Benito ja eigentlich nichts an. Er war ja schliesslich auch alleine und wenn er Ferien machen wollte, mussten sie einen Nachtwächter von der Stadtverwaltung kommen lassen. Und am Wochenende mussten sie auch alleine zurechtkommen. Er schloss die Türen am Freitagabend und ging um zehn nach Hause. Aber heute musste er bleiben bis am anderen Morgen und alles wieder aufschliessen.
Jean-Luc Quendlin liess sich auf einem Barhocker nieder und bestellte ein Bier. Er war nach einem langen Bürotag im Fluss gewesen und dann gemütlich hoch zur Altstadt gelaufen. Es war schon ein bisschen frisch gewesen, doch noch liess er sich nicht abschrecken. Auch noch viele andere waren dort gewesen. Er kannte eigentlich niemanden, aber die Gesichter im Bad waren ihm gegen Ende Sommer immer vertrauter, denn es waren immer die Gleichen, die abends gegen sieben noch schnell kamen, sich umzogen und dann den schmalen Uferweg hochgingen, um sich anschliessend treiben zu lassen im kühlen Nass.
Heute hatte er sich den ganzen Tag mit Formularen und Berichten abgemüht. Er arbeitete als Polizist bei der Kriminalpolizei. Es war schon seit Wochen nichts mehr passiert in der Stadt, was ihn wirklich als Kriminalpolizisten hätte beschäftigen können. Seit den Ereignissen um die spanische Botschaft war einfach tote Hose. Damals war ihnen der Übeltäter auch noch entgangen, einfach durch die Latten gegangen war der. Seither war Ruhe, ja, es war so ruhig, dass er letzte Woche sogar zur Verkehrspolizei beordert worden war. Strafzettel zu verteilen, war wirklich nicht sein Ding. Es war heiss und stickig gewesen und dann durch die Strassen zu gehen und nach falsch parkierten Autos zu suchen, war einfach öd. Dann doch noch lieber diese Bahnhofsrunden drehen und sich ein bisschen mit den Obdachlosen unterhalten. Doch wie gesagt, hatte er Strafzettel verteilen müssen und hatte den südlichen Stadtrand zugeteilt bekommen. Er war mit dem Bus ein Stück rausgefahren und dann zu Fuss weitergegangen. Doch da waren wenig Autos gestanden, schon gar keine falsch parkierten. Es gab genug Parkplätze und die Leute, die keinen hatten, kamen eben mit dem Tram oder dem Bus in die Innenstadt. Er war weitergegangen bis zum Anfang des Vitaparcours und dort hatte er ein Auto gefunden, das falsch geparkt gewesen war, und dann hatte er eine Weile gewartet, weil er eigentlich keine Lust gehabt hatte, einen Strafzettel auszufüllen, schon gar nicht diesen kleinen Computer anzuwerfen, um herauszufinden, wem dieses Auto gehörte. Diese kleinen PCs funktionierten erst beim dritten Anlauf und auch dann musste man fünf bis zehn Minuten auf die Verbindung mit der Zentrale warten, damit man das Kennzeichen eingeben konnte und dann den Namen bekam, auf den das Auto zugelassen war. Also wartete er im kühlen Schatten der Bäume vorerst auf den Besitzer und wollte mit ihm reden. Er konnte ihn einfach ermahnen und dann weitergehen. Als er zehn Minuten auf und ab gegangen war, schaltete er schliesslich trotzdem den PC ein und wartete. Es war noch niemand gekommen. Er hatte sich das Auto angesehen, einen roten Renault Megane, ohne jeglichen Ramsch, der auf den Besitzer oder eben die Besitzerin schliessen liess. Er gab endlich die Autonummer ein und wartete, während er den Strafzettel ausfüllte. Endlich blinkte der Namen auf: Geraldine Blair, mit all ihren Angaben und ihrer Adresse. Er gab ihr noch fünf Minuten, dann wollte er wieder zurück in die Stadt. Hier zu warten, war eigentlich nicht vorgesehen und wenn einer seiner Kollegen vorbeigekommen wäre, wäre es ihm peinlich gewesen. Endlich kamen keuchend zwei Joggerinnen um die Ecke und näherten sich dem Renault.
„Frau Blair?“
„Ja, sorry, vorhin war der ganze Parkplatz voll gewesen, darum habe ich hier am Strassenrand parken müssen. Es tut mir wirklich leid, dass mir dieser Fehler unterlaufen ist.“
„Das ist sehr gefährlich für die Fussgänger und wirklich gegen alle Regeln.“
Die Frau war bildhübsch und hatte braune, gelockte Haare. Sie war schlank, aber nicht mager und die zweite Joggerin war auch nicht übel. Er schaute Frau Blair eigentlich eher ungewollt in die Augen und spürte, wie sein Herz einmal aussetzte. Ihre Augen waren blaugrün und faszinierten ihn, denn sie hatten die gleiche Farbe wie der See, an dem er aufgewachsen war. Er wendete seinen Blick zu dem kleinen umhängbaren PC und dem Strafzettel.
„Ich muss ihnen eigentlich diesen Strafzettel geben, denn ich habe ihn ausgefüllt“, sagte er, obwohl das natürlich eine ziemlich blöde Begründung war. Sie sah ihn auch dementsprechend fragend an.
„Könnten Sie vielleicht noch einmal davon absehen und ihn unauffällig vernichten?“, fragte Geraldine etwas unverfroren.
„Ja“, sagte er, denn obwohl er seit einer Viertelstunde darüber nachgedacht hatte, wie er so ein Gespräch führen sollte, war ihm nichts eingefallen, was er hätte anfügen können. Er war schliesslich kein Moralapostel, er war auch kein Verkehrspolizist, sondern er war bei der Kriminalpolizei.
„Vielen Dank und es soll wirklich nicht wieder vorkommen“, sagte Frau Blair und auch die zweite Joggerin bedankte sich bei ihm für seine Nachsicht. Eigentlich hätten sie sich für seine Faulheit bedanken sollen.
Beide stiegen in den roten Renault und schienen beim Losfahren aufzuatmen. Sie waren schnell verschwunden und Jean-Luc Quendlin machte sich auf den Rückweg. Er ging gemütlich runter zur Bushaltestelle und wartete auf den roten Bus. Zum Glück war er schnell wieder im Zentrum. Er ging zu seinem Büro, um sich umzuziehen. Noch zwei solche Tage und dann konnte er wieder zu seinen Kollegen zurück zur Kriminalpolizei.