Stralsund-Der Anschlag - Raoul W. Heimrich - E-Book

Stralsund-Der Anschlag E-Book

Raoul W. Heimrich

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Beschreibung

Der Terrorist Surkho kennt nur einen Gedanken: Rache! Er sucht Vergeltung für den Tod seines Bruders. Aber er will nicht nur die Verantwortlichen töten, nein, er hat vor, eine ganze Stadt bezahlen zu lassen. Wird die Kriminalpolizistin Johanna und ihre Verbündeten es schaffen, den Mann aufzuhalten? Es bleibt ihr nicht viel Zeit, denn der Attentäter hat sich die Wallensteintage - das größte Volksfest in der Hansestadt Stralsund ausgesucht, um seinen erbarmungslosen Plan umzusetzen - und das startet schon am kommenden Wochenende ...

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Seitenzahl: 459

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Über den Autor

Raoul W. Heimrich wurde 1964 in Berlin geboren. Bevor er Autor und Regisseur wurde, war er Fotograf, Stuntman und Regieassistent.

Seine Filmografie umfasst Filme und Serienepisoden wie: Der Alte, Küstenwache, der Clown, Cobra 11, ein Fall für Zwei und Aktenzeichen XY ungelöst.

Stralsund – Der Anschlag ist sein zweiter Roman, der nach dem ersten, Yersinia, erneut in seiner Wunschheimat spielt.

Raoul W. Heimrich ist lizenzierter Krav-Maga-Instruktor, trägt den 1. Dan in Karate und den 5. Dan im Bujinkan Budo Taijutsu (Ninjutsu).

Seine Lieblingsautoren sind Tom Clancy, Robert Ludlum und Andreas Eschbach.

Alle in diesem Roman vorkommenden Figuren sind vom Autor frei erfunden. Jegliche auch nur entfernte Ähnlichkeit mit realen Personen - lebenden oder toten - und Ereignissen wäre reiner Zufall. Auch wenn die fiktive Handlung an tatsächlichen Schauplätzen spielt, so hat sich der Autor doch die Freiheit genommen, in wenigen Fällen von der Realität abzuweichen, wenn es die Geschichte erfordert. Ein Anspruch auf historische Authentizität wird nicht erhoben. Tiere kamen beim Schreiben des Romans nicht zu schaden.

An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bedanken bei meiner lieben Silke für ihre endlose Geduld und ihre Tipps als Erstleser. Bei Lara für ihre klugen Hinweise. Sowie bei meinen Freund Stephan für seine hervorragende Arbeit, die deutsche Sprache in diesem Buch zu retten.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Tschetschenien, zwei Jahre zuvor.

Das Museum – Gegenwart, Tag eins

Tag zwei

Tag drei

Tag vier

Tag fünf

Tag sechs

Tag sieben

Epilog

Prolog

Johanna schlürfte aus ihrer Kaffeetasse, die sie eben frisch aus der Maschine des Reviers gezogen hatte, und blickte sich um. Sie mochte dieses Büro nicht, bis endlich der Neubau in der Barther Straße fertiggestellt war, musste sie sich aber damit abfinden.

Sie kam am Schreibtisch ihres Kollegen vorbei und warf einen interessierten Blick auf die Schlagzeile der Tageszeitung.

«So, so, die Folgen der Coronakrise nehmen langsam ab ...» – sie schaute sich um und beobachtete die Beamten, die gelangweilt an ihren Arbeitsplätzen saßen und auf ihre Computermonitore glotzten – «... nur nicht hier, wie es scheint.» Sie drehte die Zeitung um. «Darsteller für den Pestumzug gesucht, nur noch acht Tage bis zu den Wallensteintagen.»

Johanna schluckte die Bemerkung herunter, dass ihre Kollegen da ohne Maskierung hervorragend hinpassten, und warf die Zeitung zurück auf den Tisch. Sie nippte am Kaffee und schlenderte zu ihrem Arbeitsplatz; dort griff sie durch die Nase schniefend nach der Akte, die sie seit dem Morgen bearbeitete.

«Als ob wir die jemals fassen würden –.» Sie schmiss den Ordner zurück auf den Tisch; was sollte sie auch damit anfangen, die fünf Bootsmotoren, die im Stralsunder Hafen geklaut worden waren, schipperten mit Sicherheit schon in russischen oder polnischen Gewässern herum. Johanna schloss die Augen. Wann passierte endlich mal wieder was, wofür es sich lohnte, Kriminaler zu sein?, fragte sie sich. Das Telefon in ihrer Tasche vibrierte. «Ja?»

«Hi», hörte sie die rauchige Stimme ihres Freundes Joachim; er war noch nicht wirklich ihr Freund, aber seit sie sich nach dem Einsatz gegen den Terroristen Usam nähergekommen waren, versuchten es die beiden miteinander.

«Hey, wie gehts?» Johannas Stimme klang auf einmal weich. Zu weich, wie sie selbst bemerkte; sie räusperte sich. «Alles gut bei dir?»

«Ja klar. Wie siehts heute Abend bei dir aus? Ich dachte, wir könnten mal wieder zum Hafen runter und ein Schluck trinken?»

«Deinen Schluck kenne ich.» Sie grinste vor sich hin. «Im Augenblick hab ich noch nichts vor. Wollen wir uns um sieben treffen?»

Sie hörte, wie Joachim erfreut ausatmete. «Ok, heute Abend an der gleichen Stelle!»

«Ja, klar wie immer an der Gorch Fock. Bis dann!» Sie legte auf und sah, dass Kevin versucht hatte, sie zu erreichen – mit dem Jungen verband sie, ebenfalls seit der Sache mit den Tschetschenen, eine seltsame, aber enge Freundschaft; sie tippte seinen Kontakt an, wenig später meldete sich er sich mit verheulter Stimme.

«Hallo?»

«Kevin, was ist los?», fragte sie gespannt.

Der Junge stand mit Tränen kämpfend am Küchenfenster und schaute hinaus auf die Straße, wo soeben zwei Krankenwagen davonfuhren.

«Kevin? Bist du noch dran?»

Er schniefte. «Johanna, die haben Oma und Opa mitgenommen –.» Seine Stimme ging im Schluchzen unter.

«Wer hat deine Großeltern mitgenommen?», klang es überrascht aus dem Hörer.

«Krankenwagen – Krankenwagen haben sie weggebracht.»

Sie richtete sich in ihrem Sessel auf. «So, jetzt mal von vorne, was ist passiert?»

Kevin erzählte ihr, dass er am Morgen wie immer aufgestanden war, um pünktlich in der Schule zu sein; nur stand nicht wie üblich das Frühstück auf dem Tisch. Als er dann nach seiner Oma schaute, fand er beide Großeltern in ihren Betten liegend. Er hatte erst vermutet, dass sie verschlafen hätten, aber selbst nachdem er die Vorhänge zurückgezogen hatte, wurden sie nicht wach; nicht einmal Rütteln brachte etwas. Er war in Panik geraten, weil er fürchtete, sie wären gestorben – bis er sie röcheln hörte. Er hatte den Notruf gewählt und nun waren beide ins Krankenhaus unterwegs.

«Oh Scheiße», entfuhr es ihr, als er geendet hatte.

Kevin nickte und wischte sich die Rotze an seinem Ärmel ab. «Ja, volle Scheiße, was mach ich denn nun bloß?»

«He, mein junger Ninja, du wirst jetzt keine Angst haben, oder?!», versuchte sie ihn aufzumuntern.

«Hab ich aber», kam es aus dem Hörer zurück, «ich hab ja niemanden, zu dem ich gehen kann –.»

Johanna erhob sich, zog die Schublade vor sich auf und griff nach ihrem Autoschlüssel. «Doch, hast du. Pass auf, mein junger Padawan, ich bin in spätestens fünfzehn Minuten bei dir. Du packst am besten schon mal ein paar Sachen zusammen: Unterhosen und so ein Zeugs. Du wirst die nächste Zeit bei mir wohnen. Ich meine, vorausgesetzt, dass du damit einverstanden bist.»

Kevin wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. «Klar bin ich das! Bis gleich!» Er beendete den Anruf und rannte in sein Zimmer.

Sie legte das Handy vor sich auf den Tisch und überlegte, ob sie nicht ein wenig voreilig reagiert hatte, als sie den Jungen zu sich einlud. Die Stimme ihres Kollegen Ludwig riss sie aus ihren Gedanken.

«Johanna?»

Sie hob den Kopf und schaute quer durch den Raum zu ihm hinüber; er deutete auf den Telefonhörer in seiner Hand. «Markus Kling vom Staatsschutz, er würde dich gerne sprechen.»

Sie nickte und verdrehte dabei die Augen; Ludwig sagte kurz etwas in den Apparat, dann wählte er ihre Nummer und legte auf.

Sie griff den Hörer und meldete sich: «Von Windheim.»

«Kling hier», hörte sie seine knarzige Stimme.

«Was kann ich denn heute für das BKA tun?», fragte sie spitz.

«Die Frage ist nicht, was Sie für uns tun können, sondern was wir für Sie tun können!»

Johanna stieß Luft zwischen den Zähnen aus – ihr schwante, was jetzt kam.

«Haben Sie über mein Angebot nachgedacht?»

«Ja, hab ich. Und die Antwort ist weiterhin: Nein.»

Markus Kling ließ sich nicht abwimmeln. «Mir ist klar, dass ihnen ihre Arbeit bei der Kripo Spaß macht. Das verstehe ich sogar sehr gut! Ich habe ja auch dort angefangen. Aber eine Frau mit ihren Talenten wäre bei uns hundertprozentig besser aufgehoben!»

Sie schnipste einen Brotkrümel, der von ihrem Frühstück stammte, vom Tisch. «Hören Sie, ich weiß es gewiss zu schätzen, dass Sie sich um mich bemühen. Aber wie ich schon die letzten Male gesagt habe: Ich habe im Augenblick keinen Bedarf zu wechseln. Ich schlage vor, Sie sparen sich die Zeit und fangen lieber ein paar Terroristen.»

Für eine Weile war es still am andern Ende der Leitung und Johanna hoffte schon, er hätte aufgelegt; dann hörte sie, wie er durch die Nase laut ausatmete.

«Nun gut. Ich werde Sie trotzdem im Auge behalten. Vielleicht ändern Sie ja Ihre Meinung. Bis dahin wünsche ich Ihnen viel Erfolg!»

«Danke, ebenso!» Sie ließ den Hörern auf den Apparat fallen und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr; mit einem «Oh Scheiße, Kevin!» stürmte sie aus dem Büro.

Tschetschenien, zwei Jahre zuvor.

Die letzten Trauergäste waren vor einer halben Stunde gegangen; nur ein Mann stand immer noch da und starrte auf den kleinen Sandhügel zu seinen Füßen; leise trat der Imam neben ihn.

«Surkho, dein Bruder war ein Märtyrer. Er wird für seine Tat belohnt werden!»

Der Angesprochene antwortete leise, ohne den Prediger anzuschauen. «Ja, Usam war einer, doch seine Seele ist geschändet worden! Sie haben ihn aufgeschnitten, sie haben ihn uns zu spät zurückgegeben, sie haben ihn ...»

Abidat fiel ihm ins Wort: «Ich verstehe deine Sorgen. Aber Allah ist groß und er wird sich Usams Seele annehmen, da bin ich mir sicher!»

Wie in Zeitlupe drehte Surkho sein Gesicht zu ihm. «Danke!» Dann ließ er ihn ohne ein Wort des Abschieds stehen und verließ das Grab seines Bruders.

Wenig später öffnete er die Tür zum Haus seines Onkels. Es war still, verklungen waren die endlosen Gebete, die den Toten auf das Jenseits vorbereiten sollten. Stumm starrte ihn seine Familie an; keiner hatte ihm etwas vorgeworfen, obwohl er annahm, dass sie es seinem Vater übel genommen hatten, dass er vor Jahren nach Deutschland ausgewandert war. Seine Tante sah ihn an. «Hast du Hunger?» Surkho schüttelte den Kopf, dann trat er wieder hinaus; er lief einige Schritte, seine Beine gaben nach und er ließ sich auf den steinigen Boden sinken; Tränen rannen über sein Gesicht und zeichneten Kanäle in die vom Sand bedeckte Haut. Hemmungslos ließ er seinen Gefühlen freien Lauf.

Er hörte erst auf, als sich knirschend Schritte von hinten näherten.

Der älteste Sohn seines Onkels, der außergewöhnlich gut aussah, setze sich neben ihn. «Was wirst du tun?»

Surkho schluckte und wischte sich sein Gesicht ab.

«Ich werde ihn rächen!»

Dzhabrail nickte verstehend. «Du wärst nicht mein Cousin, würdest du anders handeln!»

Surkho verzog das Gesicht zu einem sauren Grinsen.

«Hast du schon eine Idee, wie?», fragte Dzhabrail.

Surkho schüttelte den Kopf. «Ich weiß nur, dass sie alle sterben werden: diese Frau, die ihn in die Falle gelockt hat, der Scharfschütze, der ihn getötet hat, und der Rechtsmediziner, der ihn verstümmelt hat. Verdammt – ich will die ganze Stadt dafür bezahlen lassen!»

Die beiden Männer stierten finster vor sich hin; dann legte Dzhabrail seinen Arm um Surkhos Schulter: «Ich glaube, ich kann dir helfen.»

Matt fragte Surkho: «Wie?»

«Ich hab während meines Studiums eine Geschichte gehört –.»

«Was soll ich mit Märchen?» Surkho zog die Brauen hoch.

Sein Cousin kniff die Augen zusammen. «Sagen wir so, wenn nur ein Quäntchen von dem nicht erdichtet ist, was da erzählt wurde, dann kannst du die ganze Stadt ficken, und vielleicht sogar noch mehr! Die werden es bedauern, nicht alle am Coronavirus gestorben zu sein!»

«Mit der Stadt meinst du Stralsund?» Dzhabrail nickte.

«Ja, mit der Stadt meine ich Stralsund!» Er fuhr sich mit der Hand durch seinen Vollbart, bevor er hinzufügte:

«Aber eins muss dir klar sein, das wird Opfer von uns verlangen und du wirst Zeit brauchen, eine Menge Zeit und Geld.»

Surkho kräuselte verächtlich die Oberlippe. «Davon hab ich genug!»

Ein stolzes Lächeln huschte über Dzhabrails Gesicht.

«Nichts anderes habe ich von dir erwartet. Hast du schon einmal was von Wallenstein gehört?» Er bekam ein Kopfschütteln als Antwort.

«Okay, dann hör mir jetzt zu!»

Das Museum – Gegenwart, Tag eins

Christian Hard bückte sich unter dem Absperrband durch, das neugierige Spaziergänger vom Stralsund Museum fernhielt. Mit der rechten Hand presste er sich das Handy ans Ohr.

«Ja klar, mein Engel, ich kümmere mich darum, ist doch selbstverständlich.»

Die Stimme seiner Frau Janine drang durch den Hörer: «Ich möchte nur nicht, dass wir wieder so eine Pleite erleben, wie auf Lanzarote. Diesmal muss es mit der Tauchbasis einfach klappen! Wo wir schon die letzten Jahre nur den Urlaub auf unserer Terrasse verbringen konnten ...»

Christian hatte inzwischen den Haupteingang des Museums erreicht. Er fummelte den Schlüssel aus der Tasche und versuchte, ihn ins Schlüsselloch zu stecken; es gab nur ein Problem: Ohne seine Lesebrille hatte er keine Chance, dies zu bewerkstelligen.

«Du Schatz, ich verspreche dir, dass ich heute eine Mail dorthin schicke. Spätestens morgen Abend haben wir dann genaue Informationen. Alles wird gut! Glaub mir. Du, ich muss jetzt –.»

Ein junger Mann trat neben ihn. «Soll ich helfen, Chef?»

Christian nickte seinem Lehrling zu und drückte ihm den Schlüssel in die Hand.

Janine war immer noch nicht überzeugt. «Ich weiß, wie das wieder ablaufen wird, du wirst vor lauter Arbeit nicht dazu kommen und am Ende fällt der Urlaub ins Wasser ...»

«Nein, wenn ich es dir doch sage! Du, ich muss jetzt wirklich Schluss machen – die Arbeit ruft. Hab dich lieb!» Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er auf; im Stillen versuchte er, sich fest ins Gedächtnis zu brennen, dass er heute unbedingt die Mail schreiben musste.

Nico hatte die Tür aufgeschlossen und hielt sie auf. «Bitte sehr, Chef!» Der nickte ihm zu, nahm den Schlüssel zurück und betrat das Museum.

Majestätische Stille empfing die beiden – Christian runzelte die Stirn. «Nicht schon wieder!»

Sein Lehrling glotze ihn fragend an. «Was?»

«Hörst du das?»

«Nö, ich hör nichts.»

«Genau das meine ich, Nico.» Der Azubi zog nur die Augenbrauen zusammen und Christian schniefte. «Das Problem ist: dass wir NICHTS hören.»

Nun schien es endlich klick gemacht zu haben. «Stimmt, wir hören nichts und eigentlich sollten wir ...»

Christian ließ ihn nicht ausreden. «Ja, wir sollten das Wummern von Hämmern hören. Das metallische Kratzen der Meißel und ...»

Diesmal war es Nico, der Christian ins Wort fiel:

«... und das viel zu laut gestellte Radio von Peter –.»

«So siehts aus!»

Christians Mobiltelefon fing in seiner Hand an, die Titelmusik von Das Boot zu spielen; ein kurzer Blick auf das Display und er kniff unwillig die Augen zusammen; mürrisch nahm er das Gespräch an. Nico verzog ebenfalls das Gesicht; diesen Ausdruck kannte er von seinem Chef, und er wusste, dass er nichts Gutes bedeutete.

Christian lauschte in den Hörer, dann antwortete er knapp: «Ja, schon klar. Er soll sich bessern!» Sein Finger kappte die Verbindung; er wollte das Telefon einstecken, da klingelte es erneut. «Hard.» Keine Minute später war auch dieses Gespräch beendet.

Christian lehnte sich an den Kassenschalter, wobei die Plastikfolie, mit der dieser abgedeckt war, laut raschelte. Einen Moment lang stierte er vor sich hin, dann wandte er sich langsam an Nico.

«Heute ist dein großer Tag. Du wirst das erste Mal unbeaufsichtigt arbeiten.»

Der Lehrling stutzte. «Soll das heißen ...?»

«Ja, das heißt: Peter und Thomas haben sich mal wieder krankgemeldet.»

Nico nickte, als hätte er es geahnt. «Na, die Wette hab ich gewonnen.» Nuschelte er vor sich hin.

«Wie meinst du das?»

«Ich hab die beiden gestern bei der Nacht der Musik getroffen. Da sie schon einiges intus hatten, habe ich mit ihnen gewettet, dass sie morgen bestimmt nicht zur Arbeit kommen.»

Christians Blick verfinsterte sich. «So krank also – na, die können sich was anhören!»

Nico wurde schlagartig kreidebleich. «Bitte nicht, sonst wissen die, dass ich sie verpfiffen hab –.»

«Mach dir deswegen keinen Kopf, ich war schließlich auch gestern Abend unterwegs, da hab ICH sie gesehen, verstehst du?» Nico nickte erleichtert. «Los, komm, du musst heute für drei arbeiten!» Christian klopfte dem jungen Mann auf die Schulter und schubste ihn vor sich her – in den langen Gang des Museums.

Die Baubeleuchtung sprang mit einem lauten Klick an. «Da wären wir. Schnapp dir einen Hammer und den Meißel. Dort hinten –», er deutete auf die lange Wand in der Ecke des Raumes, «dort wirst du einen schönen Schlitz ziehen. Mach ihn aber nicht zu tief, es reicht, dass die Heizungsrohre hineinpassen. Du sollst nämlich nicht im Meeresmuseum rauskommen.» Dabei grinste er.

«Wenn du fertig bist, meldest du dich bei mir; dann finden wir eine neue Beschäftigung!»

Nico nickte. Innerlich fluchte er allerdings und fragte sich, warum er sich nicht auch hatte krankschreiben lassen. Dann könnte er jetzt entspannt zu Hause sitzen und sich Youtube-Videos reinziehen. Er blickte Christian für einen Moment hinterher, dann schlurfte er nicht sonderlich motiviert nach hinten; erleichtert bemerkte er, dass die Kollegen den Verlauf des Schlitzes schon an die Wand gezeichnet hatten. Denn davor hatte er den meisten Respekt, er hatte immer höllische Angst, sich zu vermessen. Er holte Kopfhörer aus seiner Tasche, steckte sie in sein Handy, suchte eine passende Playlist und drehte die Lautstärke voll auf; dann nahm er den Meißel, setzte ihn an die Wand an und schlug zu.

Christian lauschte den Hammerschlägen des Lehrlings – weit kämen sie heute nicht, aber wenigstens würde das Projekt nicht vollends ins Stocken geraten. Er griff nach seiner Tasche, holte sein Laptop heraus und öffnete den Webbrowser. Mit wenigen Klicks hatte er die Webseite der Tauchstation geöffnet; er suchte die Kontaktseite und fluchte leise, als sich der Link nicht öffnen ließ.

Christian kratzte sich am Kopf. «Können die nicht einfach eine vernünftige Internetseite erstellen? Okay, wo find ich eure Adresse?» Bevor er dazu kam weiter zu suchen, erklang wieder die Musik vom Boot; schniefend kramte er sein Telefon hervor, das Schniefen wurde zu einem Seufzer, als er feststellte, wer ihn anrief. «Die fehlt mir noch!», brummte er. Dann nahm er ab. «Hallo, Frau Direktorin», säuselte er in den Apparat.

Dr. Martina Neuwirt, die Direktorin des Stralsund Museums eilte den langen Gang auf dem Weg zum Büro des Bürgermeisters entlang.

«Hören Sie endlich auf mit dem ›Frau Direktorin‹, wie oft muss ich Ihnen sagen, dass Sie mich einfach Martina nennen sollen?»

Christian verdrehte die Augen, dann bemühte er sich um ein Lächeln; er hatte einmal gelesen, dass man das am anderen Ende der Leitung mitbekam.

«Sorry, hab ich vergessen, was kann ich für Martina tun?»

Die Direktorin lugte nervös auf ihre Armbanduhr. «Ich bin gleich beim Bürgermeister, er will von mir genau wissen, ob wir im Zeitplan sind oder ob es uns wie dem Berliner Flughafen ergeht.»

«Das hat er gesagt?», erkundigte sich Christian, den Kopf ungläubig schüttelnd.

«Ja, genauso hat er es formuliert. Also, wie sieht es aus, irgendwelche Änderungen, über die ich Bescheid wissen sollte?»

«Nein, alles beim Alten. Ich denke, Sie können den OB beruhigen, wir werden es ganz sicher schaffen.»

Dass seine Mitarbeiter ihn schon wieder sitzen gelassen hatten, verschwieg er lieber.

«Gut, danke! Ich muss jetzt rein. Ich denke, ich werde es diese Woche nicht schaffen, vorbeizukommen. Wenn Sie was brauchen, können Sie mich jederzeit anrufen, aber das wissen Sie ja!»

Damit beendete sie das Gespräch, zupfte ihre Bluse zurecht und warf noch einen Blick auf den ehrwürdigen Säulengang, den sie durch die Fenster sah; dann klopft sie an der Tür zum Sekretariat des Oberbürgermeisters von Stralsund.

Christian verstaute sein Handy in der Tasche und wandte sich wieder dem Laptop zu. Auf einmal erschütterte ein lautes Krachen das Museum. Erschrocken stieß er an den Computer, sodass dieser ins Rutschen geriet und hinabzufallen drohte. Christian hechtete ihm mit einer Geschwindigkeit nach, die man ihm bei seiner Körperfülle nicht zugetraut hätte – im letzten Moment gelang es ihm, das Laptop zu fangen; er legte es behutsam auf den Tisch, dann erhob er sich. «Nico?!»

Dieser stand mit einem Vorschlaghammer in der Hand vor einer dichten Staubwolke, in seinem Gesicht zeichnete sich das pure Grauen ab; er bewegte sich keine Millimeter, auch nicht, als er die Schritte seine Chefs hinter sich hörte.

«Was hast du verdammt noch mal angestellt?», erklang die genervte Stimme von Christian, der sich ein Taschentuch vor den Mund hielt und neben Nico in die Staubwolke trat.

«Ich – ich –», stotterte dieser.

«Hör auf herumzueiern! Was hast du dir dabei gedacht und was soll der Vorschlaghammer in deiner Hand?»

Nico hustete, dann versuchte er, sich zu rechtfertigen: «Also – die Wand war so hart und ich dachte, dass ...»

«Du dachtest? Du dachtest: Die Wand ist so hart, da schlage ich sie lieber gleich mal ein?», unterbrach ihn sein Chef.

«Nein, ich wollte nur ...»

«Womit habe ich das verdient. Wieso?» Seine freie Hand fuhr dabei über seine beginnende Glatze.

Nico schwieg betreten. Christian drehte sich um und verschwand aus der Staubwolke, die keine Anstalten machte, sich aufzulösen. Nico wollte ihm hinterher, da entdeckte er etwas und seine Augen weiteten sich –.

Christian hatte sich an die Wand gelehnt und überlegte fieberhaft, wie er dieses Unglück der Direktorin verkaufen sollte und was seine Versicherung dazu sagen würde.

«Chef, ich glaube, das sollten Sie sich angucken», hörte er Nico leise rufen.

«Was soll ich mir da noch ansehen? Du hast meine Firma ruiniert, mehr muss ich nicht sehen.»

Doch Nico gab keine Ruhe. «Doch Chef, ich glaube, das gehört hier nicht hin, Sie sollten echt mal herkommen.»

Christian stöhnte, raffte sich aber auf und marschierte zu seinem Lehrling.

Der Staub hatte sich inzwischen so weit gelegt, dass man wenigstens das Loch sah, welches Nico mit dem Vorschlaghammer in die Wand geschlagen hatte. Christian trat neben ihn.

«Also, was soll ich mir an ...» Er verstummte – die eingestürzte Mauer hatte eine Vertiefung freigelegt, und in dieser erkannte man den Ansatz einer Treppe. «Los, hol Lampen!»

Nico flitzte los und kehrte wenige Augenblicke später mit zwei Taschenlampen zurück; er schaltete beide an und drückte eine seinem Chef in die Hand. Christian nickte, dann setzte er sich in Bewegung; Nico folgte ihm mit wachsender Neugierde.

Langsam betraten sie die nach unten führende Wendeltreppe. «Eigentlich sollte hier die Wand zum Meeresmuseum sein, von einer Treppe hat keiner was gesagt», murmelte Christian vor sich hin.

Das Licht der Lampen zeigte, dass die Stufen hervorragend erhalten waren, so, als wären sie erst gestern gesetzt worden.

Christian drehte sich zu Nico um und zischte ihm zu: «Fass bloß nichts an. Nicht, dass du noch mehr kaputt machst!»

Nico nickte, dann erstarrte er. «Chef, da –.»

Christian drehte sich wieder um, sie standen vor einer nur angelehnten Gittertür; Christian schob sie vorsichtig auf und ging hindurch. «Du wartest hier! » Nico blickte seinem Chef unsicher hinterher, als dieser in dem staubigen Bogengang verschwand. Keine dreißig Sekunden waren vergangen, und der Bauleiter kam blass zurückgeeilt. Schwer atmend blieb er vor Nico stehen. «Das wird uns keiner glauben ...»

Oberbürgermeister David Voge lächelte. «Das hör ich gern! Sie haben ja keine Ahnung, wie mich die Bürgerschaft in dieser Angelegenheit löchert. Aber jetzt kann ich die bei der nächsten Sitzung beruhigen!»

Die Museumsdirektorin lächelte zurück. «Ich freue mich, dass ...» Ihr Telefon klingelte; sie blickte entschuldigend zum Bürgermeister und wollte das Handy ausschalten; als sie aber sah, wer sie anrief, hielt sie inne, «Sorry, ich denke, das sollte ich annehmen, mein Bauleiter –.» Der OB hob zustimmend eine Hand.

Kurz darauf hatten beide die Farbe aus ihren Gesichtern verloren.

«Ich muss mir das sofort ansehen!», brachte Martina krächzend heraus.

David Voges Stimme klang ebenfalls belegt. «Ich komme mit!»

Christian öffnete den beiden die Eingangstür zum Museum. Während die Direktorin und der Bürgermeister hochrot im Gesicht waren, hatte sich der Bauleiter inzwischen entspannt.

«Wie konnte das nur passieren?», fuhr Martina Christian mit sich überschlagender Stimme an.

Voge fühlte sich genötigt, ihr beruhigend die Schulter zu tätscheln. «Lassen Sie uns den Schaden erst einmal begutachten.»

Christian schüttelte den Kopf. «Schaden? Ich denke, das werden Sie gleich anders sehen. Hier entlang!» Er nickte ihnen zu und eilte voraus.

Nico kaute auf der Unterlippe, er war sich nicht sicher, was gleich mit ihm geschehen würde. Er hörte die Schritte der Gruppe näher kommen und stieß sich von der Wand ab, an der er lehnte. Christian zwinkerte ihm aufmunternd zu.

«Das ist Nico, ihm haben sie die Entdeckung zu verdanken.»

Die Direktorin warf dem Lehrling einen finsteren Blick zu, sagte aber nichts. Der Bürgermeister gab ihm gewohnheitsmäßig die Hand.

«Das wird schon wieder, mach dir keine Sorgen mein Junge.» An Christian gewandt fragte er: «Also, was wollen Sie uns zeigen? Das Loch in der Wand haben wir ja nun bereits gesehen –.»

«Nehmen Sie bitte die hier!» Christian reichte den beiden jeweils eine Taschenlampe. «Die Beleuchtung ist, sagen wir mal, etwas aus der Mode dort unten.»

In Martinas Gesicht hatte inzwischen die Neugierde über ihre Verärgerung gesiegt. «Sie machen es aber echt spannend!»

Christian zwinkerte gewinnend. «Na dann.»

Er knipste seine Lampe an, die anderen folgten seinem Beispiel, anschließend stiegen sie über die Trümmer der Mauer in die Bresche. Nico schaute ihnen nach, immer noch zweifelnd, ob für ihn wirklich alles gut ausgehen würde.

Lautes Husten ließ Christian herumfahren; hinter ihm fummelte der Bürgermeister ein Papiertaschentuch hervor. Seine Entschuldigung klang dumpf. «Tut mir leid, aber ich hab eine schreckliche Stauballergie.»

Der Bauleiter nickte verständnisvoll. «Und hier liegt der Staub von Ewigkeiten. Aber keine Sorge, nur noch um die Ecke, dann sind wir da.»

Wenige Stufen später standen sie vor der offenen Gittertür; Christian drehte sich kurz um. «Ich denke, Sie werden gleich verstehen, warum ich sagte, dass es eine Sensation ist, was wir gefunden haben.»

«Dann hoffe ich mal, dass Sie nicht übertreiben!», gab Martina sarkastisch zurück; Christian nickte ihr zu, erwiderte jedoch nichts; er trat durch die Tür, die beiden folgten ihm – der Bürgermeister mit dem Taschentuch vor dem Gesicht, die Direktorin mit wachsender Anspannung.

Christian war hinter einem mit Spinnweben verhangenen Bogengang verschwunden. «Hier ist es.» Er stand mit seinem breiten Kreuz allerdings so ungünstig, dass sie nichts sehen konnten.

«Entschuldigung, könnten Sie vielleicht ...», murmelte der Bürgermeister undeutlich durch sein Taschentuch.

Christian erkannte, dass er ihnen die Sicht versperrte, und trat zur Seite; dann beobachtete er, wie sich der Ausdruck der beiden veränderte: Martina klappte der Unterkiefer herunter und ihre Augen weiteten sich – wie bei einem kleinen Kind, das vor dem Weihnachtsmann stand. Der Bürgermeister wiederum ließ sein Taschentuch sinken und starrte fassungslos vor sich hin.

Martina war die Erste, die wieder etwas sagte. «Das kann nicht wahr sein – wenn – dann – ich –.»

Sie hörte auf zu stottern und trat näher heran. Vor ihr stand ein Tisch, gedeckt mit einer goldbestickten Decke; der Zahn der Zeit hatte zwar schon seine Spuren hinterlassen, aber die einstige Pracht war immer noch sichtbar.

Der Tisch war nicht das Einzige, was die Direktorin sprachlos werden ließ; hinter diesem stand ein Stuhl, einem Thron gleichend, mit prunkvollen Verzierungen, und auf ihm saß, den Kopf zum Eingang gerichtet – ein Mensch. Besser gesagt: Es war die Mumie eines Menschen. Auf dem Haupt trug sie eine geblümte Mütze, deren Stoff im Licht der Taschenlampen glänzte; der Körper der vertrockneten Leiche war von einem reich mit Gold bestickten Gewand verhüllt; die knöcherne Hand ruhte auf dem Tisch und unter ihr lag ein verstaubtes Buch.

«Wow, das ist ja mal was!» Der Bürgermeister trat vor und wollte den Stoff der Bekleidung anfassen, aber Martina hielt ihm am Arm fest.

«Das ist keine gute Idee, wenn es das ist, was ich denke, könnte Sie das umbringen!»

Erschrocken trat David Voge einen Schritt zurück; Christian horchte ebenfalls auf. Die Direktorin sah in die verängstigten Gesichter der Männer. «Nein keine Sorge, ich meine nicht die Pest, Pocken oder andere schlimme Krankheiten, ich denke eher an einen Fluch.»

«Fluch?», wiederholten die Männer unisono.

Martina nickte. «Ehe ich mich hier aber um Kopf und Kragen rede, sollten wir erst mal dafür Sorge tragen, dass unsere geheimnisvolle Entdeckung hier professionell versorgt wird. Wenn sich mein Gedanke bewahrheitet, werde ich Sie schnellstens informieren. Und jetzt, denke ich, sollte ich alles dafür in die Wege leiten. Sie entschuldigen mich?!»

Damit ließ sie die Männer stehen und eilte nach oben. Christian und der Bürgermeister lugten ihr verlegen hinterher. Da der oberste Verwaltungschef der Hansestadt aussah, als schlüge er Wurzeln, ergriff der Bauleiter die Initiative.

«Nun dann, ich habe noch was zu erledigen».

«Ja – ich – die Arbeit wartet», antwortete leicht benommen Voge.

Kaum hatten die Männer den Raum verlassen, bewegte sich das vertrocknete Gesicht der Mumie. In die rechte Augenhöhle schien Leben zu kommen; dann tauchte die schnüffelnde Nasenspitze einer Maus auf; sie ließ sich geschickt auf den Tisch fallen, um das Weite zu suchen – das Tier ahnte wohl, dass es seine Behausung hier aufgeben musste.

Kevin warf seine Sporttasche auf den Rücksitz von Johannas Wagen. «Brauchst du wirklich nicht mehr?», fragte sie ihn skeptisch.

Er schüttelte den Kopf, dann fiel ihm etwas ein. «Mist, mein Taschenmesser.» Er sprintete zurück ins Haus und kam Sekunden später mit seinem Messer in der Hand heraus. «Ohne das gehe ich nirgendwo hin.» Stolz präsentierte er ein altes Klappmesser mit einem Hirschhorngriff. Johanna lächelte.

«Ist das von deinem Papa?»

Kevin nickte. «Ja, und der hat es von Opa und Opa von seinem Vater.»

«Dann pass schön drauf auf. Ein Messer kann einem manchmal das Leben retten.»

Kevin schob sein Erbstück in die Hosentasche. «Keine Sorge, das verliere ich nie, ist ja quasi ein Teil von mir.»

«Dann ist ja gut. Los, spring rein!»

Kevin ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen, griff nach dem Sicherheitsgurt, hielt aber kurz inne und legte eine sehr erwachsene Mine auf. «Johanna.»

«Ja?» Sie zog die Augenbrauen hoch.

«Ich wollte dir nur sagen, dass es ganz toll ist, so eine Freundin wie dich zu haben.»

Sie grinste ihn an. «Na, hoffentlich denkst du das auch noch, wenn du mit mir ein paar Tage zusammengelebt hast. Los, schnall dich an. Ich hab nicht viel Zeit, wir fahren erst noch ins Büro. Oder hast du ein Problem damit, dort auf mich zu warten?»

Kevin strahlte sie kopfschüttelnd an und ließ den Verschluss des Sicherheitsgurtes klicken. Sie startete den Motor, sofort schrillte laute Musik von Suffocation aus dem Radio und der Junge presste sich erschrocken in seinen Sitz. «Was ist das denn?»

Sie schmunzelte. «Na, jetzt weißt du, was auf dich zukommt!»

Kevin schluckte. «Das soll Musik sein?»

«Entspann dich. Du wirst sehen, nach ein paar Tagen bist du der absolute Death-Metal-Spezialist und wirst nie wieder was anderes hören wollen.»

Kevin starrte durch die Windschutzscheibe, ihm schwante Schreckliches. Johanna setzte den Blinker und gab Gas.

«So, das reicht für heute!»

Kapitän Hans Drähn schnippte seine Zigarettenkippe über die Reling und betrachtete die eingesammelten Metallzylinder, die vor ihm auf Deck standen, gesichert in einem massiven Container. Hinter ihm kam der Käfig mit den Tauchern des Munitionsbergungsdienstes an die Oberfläche; zischend entlud sich die überschüssige Luft, als diese die Schläuche der Luftversorgung entkoppelten.

«Käpt’n?», hörte er seinen Steuermann rufen.

Drähn drehte sich zu ihm um. «Ja?»

«Ist grad reingekommen; der Wetterdienst sagt: In spätestens einer Stunde ist hier die Hölle los. Wir sollten machen, dass wir wegkommen!»

Drähn nickte. «Seht zu, dass ihr unter Deck kommt!», rief er den Tauchern und der restlichen Mannschaft zu. Er wandte sich an seine Nummer eins. «Mach alles klar, in fünf Minuten sind wir auf dem Weg nach Hause.» Der Steuermann nickte und gab die Befehle an die Crew durch. Vier Minuten später war der Anker gelichtet und das Schiff fuhr mit voller Kraft voraus in Richtung des sicheren Hafens.

Was der Kapitän und auch der Rest der Mannschaft nicht bemerkt hatten, war ein kleines Schnellboot, welches in nicht einmal einem Kilometer Entfernung auf den Wellen hin und her schaukelte. Ein Mann hinter dem Steuer ließ langsam ein Fernglas sinken; seine Hand griff zum Satellitentelefon und nach wenigen Sekunden war die Verbindung hergestellt; er sagte nur vier Worte: «Surkho, sie fahren los!» Dann legte er auf, kniff die Augen zusammen und schaute in Richtung Osten, wo sich mittlerweile riesige, finstere Wolken auftürmten.

Er drückte den Anlasserknopf, laut brüllten die drei mal fünfhundert Pferdestärken auf; der Gashebel glitt mit einem leichten Klacken nach vorn und die Schrauben verwandelten das Wasser in Sekundenschnelle in schäumende Gischt; dann schoss das Schnellboot davon.

Auf dem Monitor des CIA-Mitarbeiters Ron Howard poppte eine Nachricht auf. Gelangweilt stellte er seine Coladose neben die Tastatur und betrachtete die Info; dann zog sich sein rechter Mundwinkel leicht nach oben, der andere hing weiterhin runter; Ron griff zum Hörer.

«Ich denke, wir haben einen!» Er legte wieder auf, keine Minute später stand sein Vorgesetzter, Ian Hawkings, neben ihm.

«Dann zeigen Sie mal her!»

Ron klickte die Nachricht an. «Hier, sehen Sie, das hat Echelon vor fünf Minuten aus einem Satellitentelefonat gefischt.»

Ian zog seine schmalen Schultern hoch. «Ja und? – Sie fahren los – was soll daran verdächtig sein?»

Rons einseitiges Grinsen wurde stärker. «Da haben Sie recht, aber zwei Sachen machen diesen Satz interessant.» Er deutete mit dem Stift auf das erste Wort, das auf der Meldung stand. «Hier, der Name Surkho. Und zweitens –.» Ron öffnete ein weiteres Fenster auf seinem Bildschirm; ein Satellitenfoto mit einem kleinen Abschnitt eines Meeres erschien. «Das ist die Ostsee an der Küste Deutschlands, genauer vor der Halbinsel Darß.» Er vergrößerte den Ausschnitt; ein Schiff wurde sichtbar. «Das ist das Bombenräumschiff der Firma GEKA aus Munster. Die bergen Giftgasgranaten, die man nach dem Zweiten Weltkrieg dort verklappte.»

«Ja und?» Ian verstand immer noch nicht.

Ron zoomte weiter in das Bild hinein. «Hier –.» Er deutete auf einen winzigen Fleck auf dem Foto. «Das ist eine kleine Jacht. Unser Satellit überwacht die Bergung seit gut einem Monat – dieses Schnellboot wurde gestern das erste Mal dort gesichtet.»

Ian nickte. «Ok. Da ist zufällig ein Skipper vorbeigefahren. Das kommt ja wohl häufig vor, oder?»

«Klar könnte es ein Zufall sein. Aber ...» Rons anderer Mundwinkel ging jetzt ebenfalls nach oben. «Der Name Surkho ist tschetschenisch und passt zu einem von uns als Terrorist eingestuften Mann: Surkho Bartschachoy, er ist der Bruder von Usam Bartschachoy, der vor zwei Jahren bei einem Anschlagsversuch in der deutschen Kleinstadt Stralsund neutralisiert wurde. Wir haben vertrauenswürdige Informationen, dass dieser Surkho entschlossen ist, seinen Bruder zu rächen.»

Ian kniff die Augen zusammen. «Das klingt schon interessanter, aber reicht mir immer noch nicht, um etwas zu unternehmen.»

«Das wird sich gleich ändern!» Ron legte eine Kunstpause ein, er genoss es, seinen Chef auf die Folter zu spannen.

«Jetzt schießen Sie schon los!», presste dieser durch die Zähne.

«Die Nachricht, dass Sie losfahren, was sich wahrscheinlich auf das Bombenräumungsschiff bezog, kam direkt von dieser kleinen Jacht!» Dabei klopfte Ron mit seinem Kugelschreiber auf den Monitor, als würde er den winzigen weißen Fleck herausschlagen wollen.

Ian kratzte sich seinen Dreitagebart. «Gut gemacht! Legen Sie mir die Daten auf meinen Rechner.»

Ron grinste. «Schon erledigt!»

Ian nickte ihm zu und lief zurück zu seinem Platz; Ron griff sich seine Cola und nuckelte zufrieden daran.

Dr. Martina Neuwirt tippte das letzte Wort ihrer Rede in den Rechner, dann streckte sie sich genüsslich in ihrem Schreibtischstuhl. Morgen würde ihr großer Tag werden, da war sie sich sicher; endlich bekam sie auch mal etwas ab von dem Kuchen, den man Ruhm nannte. Und erst der Bürgermeister –. Der würde aus dem Staunen nicht mehr herauskommen; der hatte ja überhaupt keine Ahnung, wie gigantisch das war, was sie da unten im Museum entdeckt hatten. Und das war auch gut so, es war letztlich nicht auszuschließen, dass der OB sonst selbst etwas an die Öffentlichkeit durchsickern ließe – so pressegeil, wie der war.

Das Läuten ihres Telefons holte sie aus ihrem Tagtraum zurück; sie schaute auf das Display, es war die Nummer des Stadtarchivs.

«Hallo, Markus, was gibts?», meldete sie sich.

Am anderen Ende lief Markus Eberhardt, der Kurator des Archivs von Stralsund, aufgeregt durch sein mit Antiquariaten vollgestelltes Büro. «Ich habe eine unglaubliche Entdeckung gemacht!»

Martina wurde übel und sie verzog gequält ihr Gesicht – er würde ihr doch nicht etwa die Show stehlen? «Was denn?», fragte sie mit belegter Stimme.

Markus wedelte mit einem Notizzettel in der Gegend herum, als vertreibe er einen Schwarm wilder Hornissen. «Es gibt etwas Sensationelles unter uns, du wirst es nicht glauben!»

«Was meinst du mit ›unter uns‹?» Martina sah auf einmal alle ihre Felle wegschwimmen – der Bauleiter hatte wohl nicht so dichtgehalten, wie sie es von ihm erhofft hatte. «Meinst du damit unter dem Museum?», fragte sie mit brüchiger Stimme.

Markus schüttelte den Kopf. «Nein, nein. Ich meine nicht das Museum. Ich rede von etwas wesentlich Gewaltigerem!»

Martinas Schultern entspannten sich wieder – was sollte schon größer sein als ihre Entdeckung? Aber sie wollte auf Nummer sicher gehen.

«Markus, ich bin gespannt, was du mir zu erzählen hast. Dummerweise bin ich voll im Stress. Kannst du morgen zu mir kommen, so gegen vierzehn Uhr?» Dannwäre die Pressekonferenz zu Ende und er könnte ihr nicht mehr im Weg stehen.

Markus ließ enttäuscht seinen Notizzettel sinken; damit hatte er nicht gerechnet. «Ja, kann ich machen.»

«Gut. Was ist übrigens in dem Paket, das du mir geschickt hast?», lenkte Martina das Gespräch auf ein anderes Thema.

«Ach, du hast es noch gar nicht ausgepackt?» Die Entmutigung in seiner Stimme wuchs. «Lass dich überraschen, ich kann nur sagen: Meinem Freund hat es großen Spaß gemacht! Aber das, was ich gefunden habe, ist viel spannender! Und das Beste ist: Mein Freund hat mich erst darauf gebracht, ich ...»

«Du, ich hab jetzt wirklich keine Zeit, lass uns morgen darüber reden, ja?», fuhr sie ihm unhöflich dazwischen.

Markus zog beleidigt eine Schnute und sagte: «Ja, so machen wir das!» Dann legte er frustriert auf.

Es klopfte leise an seiner Tür. «Ja?»

Sofort war sein langes Gesicht verschwunden: In der Tür stand sein zwanzig Jahre jüngerer Freund, den er erst vor wenigen Wochen kennengelernt hatte; freudig lief Markus auf ihn zu.

«Schön, dass du da bist!» Er nahm ihn in die Arme und gab ihm einen zärtlichen Kuss.

Giovanni löste sich aus der Umarmung und guckte Markus besorgt an. «Was ist los?», fragte er mit südeuropäischem Akzent.

Markus winkte ab. «Ach ist nichts –.»

Aber Giovanni ließ nicht locker. «Ich kenn dich, irgendetwas stimmt nicht!»

Markus nickte bedrückt. «Ach, die Direktorin wollte nichts von unserer Entdeckung hören. Die ist völlig durch den Wind wegen ihres Fundes unter dem Museum – als ob keiner was davon wüsste ...» Er schniefte verächtlich. «Wenn ich wollte, könnte ich noch heute die Ostseezeitung anrufen und ihnen die Information stecken. Ich habe schon lange geahnt, dass da unten was liegen muss.»

«Aber das wirst du nicht tun, oder?»

«Natürlich nicht. Ich bin kein Spielverderber!»

Giovanni legte ihm seinen Arm um die Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: «Das weiß ich.» Dann biss er ihm verführerisch ins Ohrläppchen; Markus errötete.

«Mach doch nicht so was mit mir, es könnte jeden Augenblick jemand reinkommen ...»

Giovanni arbeitete sich langsam an Markus’ Hals hinab. «Du kleiner Angsthase. Aber sie weiß, dass du was gefunden hast, und wollte nichts davon hören?»

Markus zog schmollend die Oberlippe hoch. «Ja – was WIR gefunden haben. Ich darf es ihr erst morgen Nachmittag sagen, so hat es die Gräfin bestimmt.»

Giovanni löste die Umarmung und setzte sich vor Markus auf dessen Schreibtisch. «Sie ist selber schuld, so hätte sie ein bisschen vom wahren Ruhm abbekommen können.» Er warf einen Blick auf seine Uhr. «So mein Süßer, ich hab noch einen Termin.»

«Sehen wir uns heute Abend?», schmachtete Markus ihn an.

Giovanni schüttelte den Kopf, «Keine Chance, hab zu viel zu tun. Aber morgen, da denke ich, wird es klappen. Versprochen!» Er küsste Markus zu Abschied und eilte aus dem Raum.

Der Kurator des Stadtarchivs sah ihm noch eine Weile weltvergessen nach, dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und schaltete den Rechner an – was die Direktorin konnte, das konnte er schon lange! Damit fing er an, seine eigene Presseerklärung zu tippen.

Auf der Straße angekommen schaute sich Giovanni in alle Richtungen um, dann zog er sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer aus der Wahlwiederholung.

«Surkho, wir müssen den Plan ändern, es fängt an, öffentlich zu werden.»

Surkho stand am Hafen von Stralsund und betrachtete aufmerksam ein Schiff, das langsam in Richtung Anleger fuhr.

«Verstanden. Danke, Dzhabrail.»

Dzhabrail, glatt rasiert und braun gebrannt, denn Markus als Giovanni kannte, legte ebenfalls auf. In seinem Gesicht spiegelte sich Erleichterung, endlich konnte er diese lächerliche Scharade mit dem Leiter des Stadtarchivs beenden!

Martina war erleichtert, dass sie den Kurator auf morgen vertröstet hatte. Ohne anzuklopfen, trat Aisha, ihre Sekretärin, ins Büro; genervt fauchte Martina sie an: «Wie oft muss ich noch sagen, dass Sie anklopfen sollen, wenn Sie in mein Büro kommen?»

Aisha hob bedauernd die Schultern und blickte auf das Tablett mit Tee, das sie in beiden Händen hielt. «Tut mir leid», sagte sie mit eindeutig Berliner Akzent. «Hab ich wohl vergessen, möchten Sie Tee oder nicht?»

Martina schloss gnädig die Augen und deutete auf ihren Tisch. «Stellen Sie es dort ab!»

Die Sekretärin ließ sich Zeit, um zum Tisch zu kommen; sie schob die Unterlagen für die Pressekonferenz beiseite, worauf diese herunterfielen.

«Passen Sie doch auf!», fluchte Martina.

«Tut mir leid!» Aisha bückte sich und sammelte die Blätter ein, dabei kam sie nicht umhin, einen Blick darauf zu werfen. «Das klingt spannend!», bemerkte sie.

Die Direktorin schnellte um den Schreibtisch herum und riss ihr die Papiere aus der Hand.

«Ja ist es. Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass sie unter Schweigepflicht stehen? Bis morgen darf davon niemand etwas erfahren!»

Aisha nickte und spitzte dabei die Lippen. «Klar, ich mach den Job auch nicht erst seit gestern.» Sie ging zur Tür; ohne sich umzudrehen, fragte sie: «Brauchen Sie sonst noch was?»

«Nein, nein. Von mir aus dürfen Sie gerne ein paar Überstunden abfeiern.»

«Danke!» Damit war Aisha nach draußen verschwunden. Martina warf ihr einen argwöhnischen Blick hinterher. Das fehlte noch, dass die ihr die Überraschung verdarb. Sie schielte auf ihre Uhr und überlegte – am besten wäre es, wenn sie noch einmal ins Museum führe und alles für die Bekanntmachung vorbereitete. Sie sortierte ihre Unterlagen, die Aisha nur halbherzig auf den Schreibtisch gepackt hatte; dabei war das Paket im Wege, das der Kurator ihr geschickt hatte. Martina nahm es, um es unter ihren Tisch zu stellen, und merkte, dass etwas in der Box hin und her rutschte. Sie zögerte, aber ihre Neugier siegte und sie riss die Schachtel auf.

Zehn Minuten später war Aisha noch immer damit beschäftigt, ihre Utensilien in der Handtasche zu verstauen. Die Tür sprang auf und ihre Chefin eilte, ohne sie anzusehen, nach draußen; Aisha kniff die Augen zusammen, als die Tür ins Schloss fiel, dann schnappte sie ihr Handy und wählte eine Nummer.

«Hier kannst du schlafen.» Johanna deutete auf die Couch in ihrem spärlich eingerichteten Wohnzimmer und Kevin warf seine Sporttasche darauf. «Hast du was zu essen?», wollte er wissen.

«Essen –», wiederholte Johanna nachdenklich, dann sagte sie: «Es müsste was im Kühlschrank sein, komm mit in die Küche!»

Diese war noch karger eingerichtet als das Wohnzimmer, was Kevin verwundert den Kopf schütteln ließ. Johanna zuckte mit den Schultern. «Ich bin nicht viel zu Hause ...» Sie öffnete den Kühlschrank, er lunzte über sie.

«Wow», entfuhr es ihm, als er die zwei Bierflaschen sah, die den gesamten Inhalt darstellten.

Sie schloss den Schrank wieder. «Komm, wir gehen Pizza essen. Und morgen kaufst du was ein für uns.»

«Ich?»

«Ja klar, du bist hier nicht im Ferienlager – los, komm!» Sie deutete auf die Tür; Kevin grinste breit, gegen eine Pizza hatte er nichts einzuwenden.

Martina betrachtete ergriffen die Mumie und deren prachtvollen Umhang. «Du wirst mir zu Ruhm verhelfen, hättest du das gedacht?» Sie holte die Rede aus ihrer Tasche und überflog sie zum zwanzigsten Male – morgen sollte alles klappen! Wenn die Welt von dem sensationellen Fund erführe, würde ihr Telefon mit Sicherheit nicht mehr stillstehen. «Bis morgen dann!» Sie winkte dem toten Körper und wandte sich um.

Im Erdgeschoss trat sie aus dem Mauerloch und knipste ihre Taschenlampe aus; vor Martina aufgereiht standen fünf Stuhlreihen. «Ob das wohl reichen wird?», dachte sie laut nach. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich schon im Blitzlichtgewitter der Journalisten; dann überkam sie eine schreckliche Vorstellung: Was, wenn nur die Ostseezeitung jemand vorbeischickte? Oder noch schlimmer, nur irgendwer vom Anzeigenblatt? Und was, wenn gar niemand kam? Die Direktorin schüttelte die Bedenken ab; die Enthüllung war so bedeutend, das würde sich die Presse nicht entgehen lassen.

Martina hob ruckartig den Kopf, waren das nicht Schritte? «Hallo – hallo?» Es kam keine Antwort. «Ich hatte ausdrücklich darum gebeten, dass heute niemand mehr ins Museum kommt!», rief sie genervt. «Herr Hard sind sie das?»

Erneut keine Reaktion; sie verharrte, vielleicht hatte sie sich ja getäuscht? Da wieder – es klang, als würde etwas über den Boden geschleift. Zornesfalten zeichneten sich auf ihrer Stirn ab. Wie konnte es jemand wagen, gegen ihre Anweisung zu verstoßen?!

«Jetzt kommen Sie verdammt noch mal her und zeigen Sie sich!»

Energisch schritt sie in die Richtung, aus der sie die Geräusche gehört hatte.

Sie kam im Eingangsbereich an, da die Lichter ausgeschaltet waren, erkannte sie jedoch nicht, ob sich jemand dort aufhielt. Sie öffnete den Lichtkasten und betätigte den Schalter; außer, dass es klackte, passierte nichts. Martina griff ihn ihre Jackentasche, erinnerte sich dann aber daran, dass sie die Taschenlampe auf einen der Stühle gelegt hatte. «Verdammt», flüsterte sie. Da war es wieder – diesmal drangen die Schritte aus dem Ausstellungsraum.

«Jetzt kommen Sie raus oder ich rufe die Polizei!» Enttäuscht stelle sie aber fest, dass sie auch das Handy nicht bei sich trug; sie suchte den Raum ab, und wie sie gehofft hatte, lagen Werkzeuge der Handwerker am Boden. Sie hob einen Meißel auf und wiegte ihn prüfend in der Hand. «Ich komme jetzt zu Ihnen und ich warne Sie – ich bin bewaffnet!» Martina zeigte keine Spur von Ängstlichkeit, das Einzige, was sie fürchtete, war, dass ihr jemand die Show stehlen könnte. Mit entsprechender Wut ihm Bauch ging sie energisch in Richtung Ausstellung.

Genussvoll riss Kevin ein Stück von seiner Pizza ab und schlang es hinunter.

«Langsam, langsam! Nicht, dass du mir hier an so einem Brocken erstickst!» Ermahnte ihn Johanna mit einem sarkastischen Lächeln; vor ihr stand eine dampfende Calzone, während er, und das hatte sie wirklich überrascht, eine Pizza mit Oliven und Anchovis bevorzugt hatte.

«Ich pass schon auf», nuschelte Kevin mit vollem Mund, «Schmeckt echt super, hier können wir öfters hergehen!»

«Das werden wir wohl auch müssen», murmelte Johanna, der langsam schwante, was es hieß, einen Heranwachsenden bei sich aufzunehmen – daran, dass der Junge versorgt werden musste, hatte sie überhaupt nicht gedacht, als sie ihn zu sich einlud.

«Magst du noch eine?» Sie deutete auf das leere Glas vor Kevin, er hatte es gleich am Anfang in einem Zug ausgetrunken; ein dumpfes, «Ja», kam aus seinem vollen Mund. Johanna winkte den Kellner heran. «Noch eine Apfelschorle und für mich ein Radler.»

Der Mann nickte und eilte zum Tresen – an sich hätte sie lieber ein Bier getrunken, aber sie wollte keinen schlechten Eindruck bei Kevin hinterlassen.

Sie schnitt sich ein Stück von ihrer Calzone ab, doch bevor sie es in den Mund stecken konnte, vibrierte das Handy neben ihr auf der Bank; Johanna ließ die Gabel sinken und griff nach dem Telefon. Bei dem Namen, der auf dem Display stand, verdrehte sie die Augen.

«Sie lassen aber auch gar nicht locker!»

Markus Kling lachte. «Na, das nenn ich mal eine Begrüßung! Aber keine Sorge, diesmal ruf ich nicht wegen des Jobs an. Sie können sich entspannen, na ja, wenigstens in dieser Hinsicht.»

Sie wackelte genervt mit dem Kopf. «Dann kommen Sie zur Sache, vor mir steht eine köstliche Calzone und die möchte ich ungern kalt essen!»

«Das klingt ja lecker. Also: Ich habe gerade einen Anruf aus Berlin bekommen und die vorher einen aus Griesheim.»

«Muss mir das jetzt irgendwas sagen?»

«Nein, hören Sie zu. Die Amis haben uns eine Terrorwarnung geschickt.»

Der Kellner stellte die zwei Getränke auf den Tisch; Kevin schnappte sich das Glas und trank gierig – die Anchovis schienen Durst zu machen. Sie verzog den Mund.

«Was hat das mit mir zu tun? Ich bin Kriminalpolizistin in Stralsund und keine Jämie Bond in Nassau.»

Kling schmunzelte über den Vergleich. «Da bin ich mir nicht sicher – ich meine das mit Bond. Gut. Die Amis sind der Meinung, dass es Anschlagspläne für genau dieses Stralsund gibt und nicht für Nassau. Und dreimal dürfen Sie raten, in welchem Zusammenhang –.»

Johanna bekam schlagartig einen trockenen Mund, jetzt war sie es, die gierig einen Schluck trank, bevor sie antwortete: «Usam?»

«Genau. Wir reden von seinem Bruder Surkho Bartschachoy. Wie es scheint, geht es hier um Blutrache. Wir befürchten, dass er es auf Sie abgesehen haben könnte. Immerhin waren Sie es, die ihn zur Strecke gebracht hat. Bitte nehmen Sie die Warnung ernst!»

Johanna nickte, sie wusste, dass mit den Tschetschenen nicht zu spaßen war. «Ja, mach ich!»

«Okay, ich halte Sie auf dem Laufenden, falls sich was Neues ergibt. Und noch was, die Amis wollen uns jemand zur Unterstützung schicken, ich leite die dann direkt an Sie weiter.»

«Verstanden. Danke erst mal!» Sie legt auf.

Kevin schob sich das letzte Stück seiner Pizza in den Mund. «Stimmt was nicht?», brachte er kaum vernehmlich hervor.

Johanna überlegte, ob sie den Jungen einweihen sollte – war er es ja damals, der sie auf die richtige Spur zu den Terroristen gebracht hatte. «Nein, alles in Ordnung. Mir ist nur grade der Appetit vergangen. Möchtest du noch was von mir abhaben?» Grinsend nickte er.

Kevin stürzte sich auf ihre Calzone und sie überlegte, was sie jetzt unternehmen konnte oder besser: unternehmen sollte; sie fragte sich, ob es gut wäre, alle zu warnen, die damals in die Sache verwickelt waren; möglich, dass dieser Surkho sich an allen rächen würde, die beteiligt waren. Sie ging in Gedanken die einzelnen Personen durch – sie schaute Kevin an; der war jetzt bei ihr und sie könnte ihn beschützen; dann war da die kleine Lydia, sie hatte ihr geholfen, Usam eine Falle zu stellen; aber davon würde der Bruder des toten Terroristen nichts wissen. Blieben nur sie selbst und Joachim, der hatte damals den finalen Rettungsschuss abgegeben.

«Oh scheiße!» Johanna richtet sich schlagartig auf und warf hektisch einen Blick auf ihr Handy, es war inzwischen halb acht; hastig suchte sie Joachims Nummer raus und wählte.

Die Gorch Fock glänzte majestätisch im Abendlicht; hinter ihr, in der Ferne, türmten sich Achtung gebietende Gewitterwolken auf. Joachim stellte sein Bierglas ab, das er inzwischen zur Hälfte geleert hatte. Wo sie nur blieb? Johanna hatte nie zu den Pünktlichsten gehört, aber über eine halbe Stunde hatte sie ihn bisher nicht warten lassen. Er holte sein Handy heraus, suchte ihre Nummer in den Kontakten; da klingelte es.

«Du, es tut mir wahnsinnig leid, aber mir ist was dazwischen gekommen», hörte er sie am anderen Ende sagen.

«Na, du wirst schon deinen Grund haben, du kommst aber noch, oder?» Sie antwortete nicht gleich, es klang, als spräche sie mit jemandem. «Johanna?»

«Wenn du kein Problem damit hast, stoß zu uns, wir sitzen bei unserem Italiener.»

Er stutzte. «Wir?»

Wieder trat eine längere Pause ein. «Komm einfach her, dann erklär ich dir alles. Wir müssen sowieso reden, es gibt was – etwas Dringendes, das ich dir zu sagen habe, und das lieber nicht am Telefon. Und noch was: Es ist besser, du schaltest auf Orange!»

Sofort stellten sich seine Nackenhaare auf. Orange? Das würde sie nicht ohne Grund sagen – das hieß, er sollte sich darauf einstellen, jeden Augenblick angegriffen zu werden. Wie kam sie auf so was? Joachim winkte die dunkelhaarige Kellnerin heran und zahlte. Beim Aufstehen checkte er aufmerksam seine Umgebung, entdeckte aber nichts Auffälliges; nur unendlich viele Touristen. Dann marschierte er in Richtung Innenstadt los.

Dzhabrail ließ seinen Feldstecher sinken. Das musste er sein; die Beschreibung, die er sich mit einer Menge Zeit und Geld organisiert hatte, passte genau auf diesen Mann. Wenn die Quelle im Polizeirevier nicht gelogen hatte, war das der Scharfschütze, der seinen Cousin Usam erledigt hatte – was für ein Zufall! Dabei hatte er sich nur vorgenommen, die Gegend zu erkunden – Das Glück war definitiv auf ihrer Seite! Dzhabrail spähte um sich herum, aber keiner der Touristen in seiner Nähe nahm irgendwelche Notiz von ihm; ein hämisches Grinsen verzog sein Gesicht – wenn die wüssten –.

Er beeilte sich, dem Mann zu folgen, den er durch so glückliche Umstände gefunden hatte. Dzhabrail überlegte kurz, ob er seinen Cousin anrufen sollte, entschied sich aber dagegen; es reichte, wenn er ihn morgen informierte. Außerdem war Surkho beschäftigt, und bei dem, was dieser im Augenblick tat, wollte er mit Sicherheit nicht gestört werden.

«Das ist also der Grund, warum du mich versetzt hast –.» Er setzte sich zu ihr und dem Jungen an den Tisch; der Kellner kam und er bestellte sich ein Bernsteinweizen.

«Das ist Kevin, ich hab dir schon von ihm erzählt, falls du dich erinnerst?»

Er nickte. «Klar. Hi, Kevin, ich bin Joachim.»

Die beiden gaben sich die Hand, wobei der Junge die Situation nicht recht einzuschätzen vermochte – er hatte Johanna nie von einem Mann an ihrer Seite reden hören; dabei kannte er sie schon seit zwei Jahren und trainierte regelmäßig mit ihr.

«Seid ihr Kollegen?», fragte er neugierig und beide nickten.

«Kann man so sagen», ergänzte sie. «Tut mir wirklich leid, dass ich dich versetzt hab», fuhr sie an Joachim gewandt fort. «Aber Kevins Oma und Opa mussten urplötzlich ins Krankenhaus, und da er sonst niemanden hat ...»

Joachim lächelte. «Kein Problem. Du lebst bei deinen Großeltern?», wandte er sich fragend an Kevin. Dieser stellte das zweite, nun ebenfalls leere Glas ab.

«Ja, meine Eltern und Carolin, meine Schwester, sind bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht getötet worden.»

«Tut mir leid. Wurde der Fahrer wenigstens zur Verantwortung gezogen?»

Kevin schüttelte den Kopf. «Nein, man hat mir damals nicht geglaubt. Sie haben meinem Vater die Schuld an dem Unfall gegeben: er sei bei Schnee einfach zu schnell gefahren. Den Fahrer des schwarzen BMW haben sie nie gesucht –.» Er seufzte. «Wenn ich mich wenigstens an das Kennzeichen erinnern könnte –.»

Johanna legte ihm die Hand auf die Schulter. «Irgendwann werden wir ihn finden, das verspreche ich dir!»

Joachim staunte, so eine weiche Seite hatte er bei ihr bisher nie gesehen; der Kellner kam und stelle das Bier vor ihn hin. «Kann ich Ihnen noch was bringen?»

Johanna schüttelte den Kopf. «Was ist mir dir Kevin?»

Der hob abwehrend die Hand. «Danke, wenn ich noch mehr Schorle trinke, platze ich!»

Der Kellner lächelte professionell gelangweilt und wanderte zum nächsten Tisch. Joachim prostete den beiden zu; nachdem er getrunken hatte, setzte er eine ernste Miene auf. «Orange?»

Sie warf einen Blick zu Kevin und überlegte, ob sie vor ihm offen sprechen konnte, und entschied dann, dass es besser wäre, wenn der Junge wusste, dass etwas in der Luft hing.

«Ja, Orange.» Kevins Gesicht war ein einziges Fragezeichen. «Hört zu!» Sie blickte beide ernst an. «Auch du, mein Junge. Ich habe die Information erhalten, dass der Bruder von Usam vorhat, hier für Ärger zu sorgen.»

Sofort wussten der Scharfschütze und der Junge Bescheid; sie erinnerten sich nur zu gut, was vor zwei Jahren in Stralsund passiert war. Für Kevin war es ein großes Abenteuer, aber Joachim hatte lange damit kämpfen müssen; es wahr sein erster und bisher, wie er fand zum Glück, letzter finaler Rettungsschuss gewesen, mit dem er einen Menschen getötet hatte. Selbst wenn er damit das Leben von vielen Kindergartenkindern gerettet hatte – er war nicht abgebrüht genug, dies einfach wegzustecken.

«Woher hast du die Info?», fragte er mit staubig klingender Stimme.

«Vom Staatsschutz, und die haben es von der CIA, wenn ich Kling richtig verstanden habe. Keine Ahnung, wie sie darauf gekommen sind, wir sollten die Warnung aber unbedingt ernst nehmen. Und du Kevin.» Sie blickte ihm fest in die Augen. «Erzählst niemanden davon, kapiert?» Er nickte. «Sei aufmerksam, wenn dir etwas Ungewöhnliches auffällt, sag es mir, egal wie unbedeutend es scheinen mag!»

«Mach ich – ich pass schon auf euch auf!», bemerkte Kevin schelmisch. Die beiden Polizisten mussten lächeln.