Stralsund ermittelt - Falsche Koffer lügen nicht - Annabel Raven - E-Book

Stralsund ermittelt - Falsche Koffer lügen nicht E-Book

Annabel Raven

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Stralsund ermittelt - der erste Fall einer besonderen Detektei

Das hat sich Psychologin Nele anders vorgestellt: Seit Kurzem besitzt sie eine Villa am See, doch der Mann ihrer Träume ist mit einem anderen glücklich. Noch während sie überlegt, wie es weitergehen soll, klingelt eine völlig verunsicherte Schauspielerin an ihrer Tür, die wegen eines vertauschten Koffers den berühmten Detektiv Weingold sprechen möchte. Nele hat keinen Schimmer, wovon sie spricht. Ihre neue Freundin Fanny aber weiß, dass die Villa Schauplatz der beliebten TV-Serie STRALSUND ERMITTELT war. Nele, die noch nie etwas mit Detektivarbeit zu tun hatte, signalisiert ihrer Besucherin, dass sie sich an einen Profi wenden muss. Tage später ist die Schauspielerin tot - und gemeinsam mit Fanny macht Nele sich auf die Suche nach dem Mörder. Stralsund ermittelt wieder!

Charmant, humorvoll, turbulent - ein wunderbarer Krimi von Deutschlands Ostseeküste

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 430

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

INHALT

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungPeters GeständnisDer WalfischDer Mann in der ZypresseDer allergrößte FanDer KofferEnnoZahltagCasting und BillardDie beste Limonade der WeltGartenmöbelLieferungenTheater, TheaterAftershowpartyRitalinHektors GewächshausDie EntdeckungFrau Zanellis GeständnisDer SchuppenFannyStand der DingeDas mechanische ZahlenkombinationsschlossDumbledoreRügenBjörnJakob TillmannDavidDer GummermannDer SafeDer UnbekannteSternschnuppeDer tote HannibalFriedhelms HeimlichkeitenDer EspressoAusgrabungenUnterhosenHolzhausenCupcake-ZentrallagerDer PlanEine richtig hohe SummeOperation falscher KofferDer HexenschussDie Unendlichkeit des UniversumsDie TatwaffeNotrufDer nächste MorgenEpilog

 

ÜBER DAS BUCH

Das hat sich Psychologin Nele anders vorgestellt: Seit Kurzem besitzt sie eine Villa am See, doch der Mann ihrer Träume ist mit einem anderen glücklich. Noch während sie überlegt, wie es weitergehen soll, klingelt eine völlig verunsicherte Schauspielerin an ihrer Tür, die wegen eines vertauschten Koffers den berühmten Detektiv Weingold sprechen möchte. Nele hat keinen Schimmer, wovon sie spricht. Ihre neue Freundin Fanny aber weiß, dass die Villa Schauplatz der beliebten TV-Serie STRALSUND ERMITTELT war. Nele, die noch nie etwas mit Detektivarbeit zu tun hatte, signalisiert ihrer Besucherin, dass sie sich an einen Profi wenden muss. Tage später ist die Schauspielerin tot - und gemeinsam mit Fanny macht Nele sich auf die Suche nach dem Mörder. Stralsund ermittelt wieder!

Charmant, humorvoll, turbulent - ein wunderbarer Krimi von Deutschlands Ostseeküste

 

ÜBER DIE AUTORIN

Annabel Raven, geboren 1973, hat keine Angst im Dunklen, guckt aber ab und zu in Schränke und unter Betten, wenn sie allein zu Hause ist. Sie hat schon in Stuttgart, München, Köln und New York gelebt und fühlt sich heute in ihrer Wahlheimat Mecklenburg-Vorpommern am Wasser zu Hause. Welches Suchtpotenzial die Arbeit an STRALSUND ERMITTELT beinhalten würde, ahnte die Mutter dreier fast erwachsener Kinder nicht. Inzwischen weiß sie: »Krimis schreiben ist wie Krimis lesen – wenn man einmal damit angefangen hat, kann man nicht mehr aufhören.«

Annabel Raven

STRALSUNDERMITTELT

Falsche Kofferlügen nicht

Kriminalroman

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Originalausgabe

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

 

Copyright © 2025 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

 

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

 

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Umschlagmotiv: © stock.adobe.com: klaus bock | Eduardo | Yulia | Engel73 | Ostseeflair

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-6108-6

luebbe.de

lesejury.de

 

 

Alte Wege öffnen niemals neue Türen.

PETERS GESTÄNDNIS

Die Vögel zwitscherten in den Bäumen. Es war so laut, dass man meinen konnte, jemand hätte einen Lautsprecher in die Zweige gehängt.

Der Himmel färbte sich in den schönsten Farben, aber nur ein einsamer Jogger, der sich seinen Wecker aus Versehen eine Stunde zu früh gestellt hatte, sah das Naturschauspiel in Rot und Rosa.

Die Haubentaucher auf dem Moorteich machten ihrem Namen alle Ehre, tauchten an einer Stelle im Wasser ab und kamen an einer anderen wieder hoch. Die Weiden ließen ihre Zweige leicht in den See hängen, als würden sie die Wassertemperatur prüfen.

Dennoch wachte Nele mit dem Gefühl auf, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Sie lag einen Moment reglos in ihrem großen Himmelbett und lauschte. Vogelstimmen. Sie war das Woop-woop der New Yorker Sirenen gewohnt. Bei diesem Lärm hätte sie problemlos wieder einschlafen können, doch das Zirpen und Trillern da draußen war ungewohnt.

Sie warf sich auf die andere Seite und versuchte, die Gedanken, die gleich kommen und zuschlagen würden, noch etwas fernzuhalten, aber es war zu spät.

Gleichzeitig mit dem Hämmern eines Spechtes vor ihrem Fenster erinnerte sie sich an den schrägsten Tag ihres Lebens. Gestern.

Der Abschied von New York war ihr seltsam leichtgefallen. Vielleicht gab es für jeden in dieser Stadt, in der man immer nur ein kleines Stück vom Himmel sehen konnte, eine bestimmte Zeit. Und ihre war nun zu Ende.

Sie hatte sich vor Tagen schon von Freunden und Kollegen verabschiedet. Die üblichen Versprechungen, einander bald zu besuchen, waren ausgetauscht worden. Nele wusste genau, dass kaum einer kommen würde, nicht nur weil nicht einmal ihre deutschen Freunde genau wussten, wo sich Neles neue Heimatstadt Stralsund eigentlich befindet.

Aber das war okay. Sie würde ja selbst hin und wieder zu Besuch kommen.

Sie hatte ein letztes Mal den zu Recht berühmten New Yorker Cheesecake im Café Lalo gegessen und einen Spaziergang durch die Upper West Side und den Riverside Park gemacht. Anfang Juni war es zauberhaft im Park. Dicke pinkfarbene Pfingstrosen standen in voller Blüte, und ganze Teppiche von Polsterstauden leuchteten in allen Farben. Die letzten fünfzehn Jahre war das hier ihr Zuhause gewesen. Noch vor einem Jahr hätte sie sich nicht im Traum vorstellen können, nach Deutschland zurückzukehren, aber die Liebe änderte alles.

Bei dem Gedanken an Peter hatte sich ein Lächeln in ihr Gesicht geschlichen, das sofort von einem Hotdog-Verkäufer am Straßenrand erwidert wurde.

»Have a nice day, lovely!«, rief er ihr nach.

Sie hatte sich gefreut. Nur noch ein Tag, und sie würde Peter endlich wiedersehen und ein neues Leben mit ihm beginnen. Zweiundvierzig Jahre lang hatte sie vernünftige Entscheidungen getroffen. Entscheidungen, die ihrer Karriere nützlich waren und ihrem Bankkonto, das sich in den letzten Jahren gut gefüllt hatte. Das Leben in Manhattan war unglaublich teuer. Aber durch ihre Mitbewohnerin Rosie hatte sie die Miete für ihr Apartment halbieren können. Gleichzeitig hatte sie ihr Honorar immer weiter in die Höhe geschraubt. Ihre Traumapatienten waren dankbare, gut betuchte New Yorker, denen es gar nicht teuer genug sein konnte, endlich von ihren Ängsten erlöst zu werden. Und Nele hatte kaum Zeit gehabt, etwas von dem üppig verdienten Geld auszugeben. Traumatherapeuten waren in New York genauso gefragt wie ein Flat White.

Es war also definitiv keine vernünftige Entscheidung, diese Goldgrube zu verlassen, um in ein ihr nahezu unbekanntes Küstenstädtchen an die Ostsee zu ziehen. Eine Stadt mit gerade mal sechzigtausend Einwohnern, in der es mehr Fischbuden als Restaurants gab.

Nele hatte bei ihrem bislang einzigen Besuch in Stralsund nicht glauben können, wie wasserverwöhnt dieses Städtchen war. Es lag nicht nur direkt an der Meerenge Strelasund, um die Innenstadt herum lagen auch noch großzügig verteilt drei Seen, liebevoll Teiche genannt.

In New York, wo sie sich kennengelernt hatten, war Peter ein ziemlich hilfloser Tourist gewesen, der sich von ihr gern durch die Häuserschluchten führen ließ, aber in seiner Heimatstadt war er der König. Er besaß einen kleinen Blumenladen auf der Frankenstraße, und alle zehn Meter hob jemand die Hand, um ihn zu grüßen. Peter kannte jeden Winkel, jeden Mann, jede Frau und sogar jeden Hund, der ihnen entgegenkam, und er schaffte es, aus Stralsund den perfekten Ort zu machen. Sie tranken Kakao am Strand mit Blick auf die Insel Rügen, aßen Fischbrötchen in einer Gasse mit Blick auf die Marienkirche. Stöberten nach alten Buchschätzen in einem hübschen Antiquariat und liefen Hand in Hand am Hafen, am Strand und an den Teichen entlang.

Da konnte New York einfach nicht mithalten.

Als sie zurück in der lauten, schnellen Stadt war, merkte sie, wie sich ihr Puls wieder ungut beschleunigte.

Sehnsucht hatte sie überkommen, nicht nur nach Peter, sondern auch nach dem wundersamen Ort, an dem die Uhren langsamer tickten und Postboten Zeit für einen Schnack mit ihren Kunden hatten und nicht sofort weitereilten.

Nur deshalb tat Nele etwas absolut Verrücktes: Sie kaufte online eine alte Jugendstilvilla mit Blick auf den Knieperteich.

Während Nele alles per Videoanruf verfolgte, besichtigte Peter das Haus für sie. Auch wenn ein paarmal die Verbindung aussetzte, war sie verzaubert von den hohen Decken, dem Stuck und der stilvollen Möblierung. Zum Knieperteich waren es nur wenige Meter, und zu dem Haus gehörte ein riesiger Garten mit vielen großen alten Bäumen.

Ein größerer Kontrast zu ihrem winzigen Apartment, in dem sogar der Kaktus in der Küche eingegangen war, konnte es fast nicht geben.

Als das Flugzeug vom J. F. Kennedy Flughafen abgehoben hatte, hatte Nele einen letzten Blick auf New York geworfen. Es sah aus wie im Film. Die Insel Manhattan, umgeben vom Hudson und vom East River, und sogar den Central Park konnte sie von hier oben erkennen. Kurz flackerte so etwas wie Reue auf. War es wirklich richtig, die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten gegen Meer und Bäume einzutauschen?

Peter ist der Grund, warum ich umziehe, erinnerte sie sich. Es hatte lange keinen Mann in ihrem Leben gegeben. Peter hatte sie eiskalt erwischt. Er war mit seinen braunen Augen und dem breitesten Lächeln, das sie je gesehen hatte, dahergekommen, und ohne jede Vorwarnung hatte sie sich sofort in ihn verliebt. Er war so erfrischend anders. Er trug sein Herz auf der Zunge und hatte kein Problem damit, Schwächen zuzugeben. Bei ihm musste sie nicht die erfolgreiche Businessfrau sein, die schick angezogen alle anderen von ihren Ängsten befreite. Bei ihm durfte sie endlich selbst ängstlich sein und sich auch mal ungeschickt oder albern benehmen.

Peter und sie waren vom ersten Tag an so etwas wie beste Freunde gewesen. Und hieß es nicht immer, dass das die besten Voraussetzungen für die große Liebe seien?

Der Flug dauerte neun Stunden und dreißig Minuten. Nele nutzte die Zeit, um ihr Leben in New York loszulassen und bereit zu sein für den Neuanfang.

Als sie in Hamburg landete, war die Vorfreude so überwältigend groß, dass sie die Gangway entlangrannte und an der Gepäckausgabe ungeduldig auf das schwarze Band einredete, damit es doch bitte schnell ihre vier Koffer ausspuckte.

Der vollgepackte Wagen ließ sich mit vor Aufregung nassen Händen nur schwer schieben. Sie hielt nach Peter und einem Rosenstrauß Ausschau, nach einem großen Herzluftballon, sogar einen lebensgroßen Teddy hätte sie ihm zugetraut. Aber er stand ohne irgendetwas in der Hand an einer Säule, und sein Blick sagte ihr sofort, dass etwas passiert war.

Statt der ersehnten stürmischen Umarmung nahm er sie kurz in den Arm. Er fragte steif, wie ihr Flug war, und Nele ahnte das Schlimmste.

Jetzt, am Morgen in ihrem Bett liegend, war ihr klar, dass es absoluter Schwachsinn war zu glauben, man könne das Schlimmste ahnen. In ihrem Fall wäre sie auf diese Variante von schlimm nie gekommen.

Wortlos hatte Peter die vielen Koffer in seinen Sprinter geladen, auf dessen Seitentür Werbung für seinen Blumenladen aufgedruckt war.

Nele hatte vorn auf dem Beifahrersitz Platz genommen und ungeduldig gewartet, bis er sich neben sie setzte. Er startete den Wagen, und sofort platzte die Frage aus ihr heraus: »Was ist los?«

Peter sah auf die Straße, beide Hände am Lenkrad. »Willst du nicht erst mal ankommen, und wir reden in Ruhe?«

»Ich will nicht in Ruhe reden, ich will wissen, was los ist! Du bist wie ausgewechselt.« Sie sah ihn an und konnte den Ansatz eines Lächelns auf seinem Gesicht erkennen. Er unterdrückte es, aber Nele entging so etwas nicht.

»›Ausgewechselt‹ trifft es ganz gut«, murmelte er. Er fuhr sicher durch den Hamburger Verkehr, der im Vergleich zu New York sehr zahm daherfloss.

Nele sah aus dem Fenster. Alles sah so anders aus. Ihr fehlten die knalligen Farben. Das Gelb der Taxis, das Schwarz und Rot der Häuserfronten. Die verspiegelten Glasflächen der Wolkenkratzer. Hier in Hamburg hatte sie das Gefühl, man hätte überall zu viel Platz gelassen. Die Stadt sah aus, als würde die Hälfte der Häuser fehlen.

»Ich erzähle es dir, wenn wir auf der Autobahn sind. Willst du einen Tee? Ich hab dir einen mitgebracht.«

Nele nahm den Thermobecher, den er ihr reichte, dankend an. Schon bei ihrem letzten und einzigen Stralsundbesuch hatte sie es genossen, dass Peter zu jeder Gelegenheit eine Tasse Tee machte. Es brachte so eine Ruhe und Gelassenheit in den Tag. Mit einer Tasse heißen Tees in der Hand konnte einem kaum etwas passieren.

Diesmal allerdings war sich Nele da nicht sicher. Peter wirkte so anders. Seine Bewegungen hatten etwas Filigranes. Er war schnell nervös, aber hinter seiner Nervosität spürte sie etwas, das ihr Angst machte. Peter war glücklich. Es war bis über beide Ohren glücklich. Ein Glücklich, wie es kein Job, kein Auto, Haus oder Hund hervorrufen kann. Auf diese Art glücklich machte einen nur ein anderer Mensch, und der war garantiert nicht sie.

Blaue Schilder wiesen auf die Autobahn hin. Was hatte sie diese blöden blauen Autobahnschilder in New York vermisst! Wenn man länger im Ausland lebte, begann man, die profansten Dinge zu vermissen. In den USA gab es grüne Autobahnschilder. Grün war auch hübsch, aber für Nele immer die falsche Farbe. So, wie Steckdosen das falsche Gesicht hatten und der handgeschriebenen Zahl Eins ein Häkchen fehlte. Ein Strich war ein großes I und keine Zahl. Auch nach fünfzehn Jahren.

Kaum hatten sie die Auffahrt genommen, fragte sie: »Wer ist sie?«

Peter schüttelte den Kopf. »Es ist nicht, wie du denkst.«

Was für ein blöder Satz. Man sollte ihn in Paargesprächen eigentlich verbieten, dachte sie. Obwohl er ihn tatsächlich glaubte, das spürte sie.

»Peter, ich sehe, dass du dich verliebt hast, also –«

»Das siehst du?«, unterbrach er sie erstaunt.

Nele wurde oft mit diesem Erstaunen konfrontiert, wenn sie andere Menschen las. Dabei war es gar nicht schwer, Mikrosignale zu erkennen. Sie wunderte sich umgekehrt immer, dass andere nicht sehen konnten, was eine Person doch so glasklar verriet.

»Es stimmt. Ich habe mich verliebt. In einen Mann. Friedhelm.«

Nele musste plötzlich den absurden Impuls unterdrücken zu lachen. Wie hatte sie das nur übersehen können? Liebe machte blind, absolut. All die kleinen Hinweise, die ihr hätten verraten können, dass Peter eigentlich auf Männer stand, reihten sich jetzt vor ihr auf. Der gut aussehende Verkäufer im Coffeeshop, mit dem sich Peter viel zu lange unterhalten hatte. Die sorgfältig ausgewählten Produkte für seine Haut. Die Tatsache, dass seine Schuhfarbe immer zu seinen Oberteilen passte. Sie wollte sich mit der Hand vor die Stirn schlagen. Stattdessen blieb sie bewegungslos sitzen.

»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.«

»Bitte ohne das Wort ›Seelenverwandter‹, wenn es geht.« Langsam, ganz langsam setzten bei Nele die Gefühle ein. Wut, Enttäuschung, Traurigkeit tropften in ihre Blutbahn und breiteten sich von dort in ihrem ganzen Körper aus.

»Ich kenne Friedhelm seit zwei Jahren. Aber gestern Abend hat bei uns der Blitz eingeschlagen …« Ohne sie anzusehen, erzählte Peter, wie ihm plötzlich klar geworden war, dass er auf Männer stand, wie er all die Puzzleteile zusammengesetzt hatte und dass er wie von einer höheren Macht von Friedhelm angezogen wurde.

Nele hörte irgendwann nicht mehr zu. Sie sah die deutsche Landschaft an sich vorbeiziehen und fragte sich, ob sie alles rückgängig machen konnte. Am liebsten hätte sie zu Peter gesagt: »Fahr mich zurück zum Flughafen.« Aber sie hatte keine Wohnung mehr in New York, und all ihre Patienten hatte Dr. Vince übernommen, eine Kollegin, die neu in der Stadt war und die besten Empfehlungsschreiben aus aller Welt in der Tasche hatte.

Peter redete immer noch, während sie über baumumstandene Landstraßen nach Stralsund hineinfuhren. Rechts war ein See zu sehen, links ebenfalls. Blau auf beiden Seiten. Weiter hinten konnte Nele das Meer erahnen. Es war ein wunderschöner Anblick und absolut konträr zu der Situation, in der sie sich befand.

Peter hatte aufgehört zu reden und sah sie sorgenvoll an. »Es tut mir so wahnsinnig leid. Ich weiß, das Timing hätte nicht schlechter sein können«, sagte er nach einer Weile des Schweigens.

Nele hob die Hand, damit er aufhörte. »Was war das dann mit uns?«, fragte sie. Ihre Stimme klang viel jünger, als sie es von sich kannte.

»Das mit uns war Liebe«, sagte er zärtlich. »Allerdings eine andere Art von Liebe, als wir beide brauchen«, fügte er mit Bedauern hinzu.

Das Stralsunder Rathaus kam in Sichtweite. Durch die Fenster und Rosetten im oberen Teil öffnete sich der Blick in den Himmel. Es sah aus wie im Märchen. Vielleicht ist das hier alles nicht echt. Vielleicht sitze ich noch im Flugzeug und träume das nur.

Erste Phase der Trauer – das Nicht-Wahrhaben-Wollen, analysierte die Therapeutin in ihr.

Peter bog in eine Straße ein, die ihr vage bekannt vorkam. Kurz darauf fuhren sie über Kopfsteinpflaster an hübschen alten Häusern vorbei. Alles vibrierte, und Peter sagte etwas, was sie nicht verstand.

Viel zu schnell erreichten sie ihr Haus.

Es sah unwirklich aus mit den hübschen Giebeln und Türmchen. Nele hatte sich auf den ersten Blick gefreut. Jetzt betrachtete sie es wie ein Fernsehbild.

Viel zu schnell hatte er die Koffer ins Wohnzimmer gestellt und sie fragend angeschaut. Nele wusste: Es war jetzt Zeit, ihn zu entlassen. Er würde zu Friedhelm nach Hause gehen, der ihn schon aufgeregt erwartete und sicher eine ganze Kanne Kaffee getrunken hatte, und sie würden da weitermachen, wo sie heute, frühmorgens, aufgehört hatten.

»Du stellst nicht nach drei Wochen fest, dass dieser Friedhelm doch nicht der Mann fürs Leben ist?«, fragte Nele in sein erwartungsvolles Gesicht.

»Nein.« Es klang so überzeugend, dass es wehtat. »Mein Leben hat sich vor vierzehn Stunden radikal verändert. Es gibt kein Zurück.« Er seufzte. »Ich wünschte, ich müsste dir damit nicht so wehtun.«

Seine Augen drückten echtes Bedauern aus. Es fiel ihm nicht leicht, ihr das alles zu sagen. Aber unter dieser Schicht lag so viel überschäumendes Glück, dass Nele sich abwenden musste, um ihm keine Ohrfeige zu verpassen. »Du gehst jetzt besser.«

Er nickte und wandte sich ab. Ihre Körperhaltung war abwehrend genug, sodass er keine Abschiedsumarmung versuchte.

»Der Kühlschrank ist voll. Wenn du Hunger hast, dann … Also, es ist etwas da.« Er blieb hilflos an der Tür stehen. »Ich kann dich jetzt doch nicht so einfach hier allein lassen«, sagte er, als ob er nicht genau das doch könnte.

»Ich werde nichts sagen, was es dir leichter machen würde«, sagte sie. »Das ist nicht meine Aufgabe, aber in einigen Minuten wird die zweite Phase – Wut – bei mir einsetzen, und dann wäre ich an deiner Stelle lieber nicht mehr im Haus.«

Peter lächelte. »Und wenn ich etwas im Garten stehe?«

Neles Mundwinkel zuckten leicht nach oben. Einer der Gründe, warum sie sich in ihn verliebt hatte, war sein Humor.

Als er ging und sie ihm nachsah, wie er leichtfüßig in seinen Lieferwagen stieg, ohne sich noch mal umzudrehen, kamen endlich die Tränen.

DER WALFISCH

Der Flur von der Garderobe zur Bühne war eng, lang und dunkel. Laura hasste diesen Flur. Die schummrige Beleuchtung, die vereinzelt auf Knöchelhöhe an der Wand glomm, reichte nicht, um ihr Unbehagen zu vertreiben.

Doch es half nichts. Die Probe begann in zehn Minuten, und vielleicht konnte sie Tillmann vorher noch allein erwischen. Ja, das wäre gut. Sie wurde nicht schlau aus dem Mann. Er schien jeden Tag eine neue Persönlichkeit zu haben. Mal war er zugänglich und nahezu anhänglich, und dann gab es diese Tage, an denen er ihr kaum einen Blick schenkte.

Sie war so in Gedanken, dass sie das große Tier erst sah, als sie unmittelbar vor ihm stand.

Ein Walfisch steckte im engen Gang und schaute sie aus riesigen Augen an. Es war unmöglich, an ihm vorbeizukommen. Reglos lag er da, das Maul auf sie gerichtet. Die blaue Beleuchtung ließ ihn so echt aussehen, dass Laura ein Schrei entfuhr.

Der Wal hingegen blieb stumm und reglos.

Oder doch nicht?

Bildete sie sich das ein, oder kam er langsam auf sie zu?

Seine leblosen Augen starrten sie an. Ihr Herz begann zu rasen. Sie ging rückwärts.

Folgte er ihr?

Sie drehte sich um, versuchte, die Garderobentür aufzureißen. Hektisch suchte sie im blauen Lichtschein nach der Klinke. Die Beleuchtung war doch normalerweise weiß, woher kam das blaue Licht? Träumte sie das nur?

Sie glaubte, nasse, schmatzende Geräusche hinter sich zu hören, schrie erneut auf, fand endlich die Klinke, riss die Tür auf und rettete sich mit einem Sprung in die Garderobe. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

Schwer atmend ließ sie sich auf eine Bank fallen. Hier sah alles beruhigend normal aus. Normale Neonröhre an der Decke. Der Spiegel war normal. Die Wand, an der ein Spind neben dem anderen stand. Der Mülleimer in der Ecke.

Hatten die anderen recht, und sie bildete sich wirklich Sachen ein?

Niemand hatte ihr die Geschichte mit dem Koffer geglaubt.

Laura hatte einmal gehört, dass man sich kneifen sollte, um zu testen, ob man wach war oder träumte. Galt das auch für Wahnvorstellungen?

Sie kniff sich probehalber in den Arm. Ja, das tat weh. Als Nächstes sollte sie nachschauen, ob der Wal noch im Flur lag. Aber aus irgendeinem albernen Grund traute sie sich nicht, die Tür zu öffnen. Hier, in der Garderobe, war sie sicher. Hier, in der Garderobe, war alles, wie es sein sollte.

Sie kämpfte mit sich. Redete sich gut zu. Machte Atemübungen. Wenn der Wal noch immer im Flur liegen sollte, würde es eine Erklärung dafür geben. Und diesmal würde sie nicht schreiend flüchten, sondern der Sache auf den Grund gehen. Zur Not konnte sie ihre Kollegen anrufen und sagen, sie stecke im Flur fest, hinter einen Walfisch.

Noch mal tief durchatmen und dann los.

Das Handy in ihrer Hand gab ihr Sicherheit. Langsam öffnete sie die Tür.

Kein blaues Licht.

Kein Wal.

Der Flur war lang, düster und leer.

DER MANN IN DER ZYPRESSE

Angesichts ihres Jetlags hätte sie eigentlich länger schlafen müssen. Aber Peters unerwartetes Outing hatte sie so überwältigt, dass sie sich gestern nach einem kurzen Rundgang durchs Haus einfach schon nachmittags ins Bett gelegt hatte.

Unwillig schob Nele die Gedanken an Peter und seinen Friedhelm beiseite und stand auf. Die alten Holzdielen fühlten sich fremd und gleichzeitig gut an unter ihren nackten Füßen. Durch die großen Fenster fiel die Morgensonne. Staub tanzte in den Lichtstrahlen. Es roch nach Frühsommer. Nele ging ins Bad. Beim Zähneputzen beschloss sie, zuerst einmal den Garten zu erkunden.

Sie fischte eine Strickjacke aus ihrem geöffneten Koffer und schlüpfte in die Gartenschuhe, die ihr irgendjemand an die Terrassentür gestellt hatte. Das ganze Haus war mit solchen kleinen, praktischen Dingen bestückt. Es gab Toilettenpapier und Handtücher. Die Küche war eingerichtet mit Geschirr, Töpfen und Pfannen. In der Dusche stand Duschschaum bereit und ein ungeöffnetes Haarshampoo für trockenes Haar.

Nele hatte die Villa möbliert gekauft, aber für die ganzen Details hatte wohl Peter gesorgt, zu einer Zeit, in der er noch in sie verliebt gewesen war. Oder das zumindest dachte. Jetzt wirkte alles wie eine riesengroße Entschuldigung.

Sogar die Schlappen hatten ihre Größe, und Nele beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Sie ging auf die Terrasse, trat an die hübsche Brüstung aus Steinen, die wie ein Zaun gemauert war, und sah hinunter in den Garten. Vögel zwitscherten in den hohen Bäumen. Der Rasen, der zwischen Beeten mit großen Hortensien lag, war offenbar vor nicht allzu langer Zeit noch gemäht worden. Auch der Rest des Gartens sah erstaunlich gepflegt aus.

Langsam ging sie die steinernen Stufen hinunter. Plötzlich hatte sie Sehnsucht, das Gras unter ihren Füßen zu spüren. Der Central Park, so groß er auch sein mochte, war kein Ersatz für die fehlende Natur in New York.

Nele schlüpfte aus den Gartenschlappen und betrat barfuß das Gras. Es war noch nass vom Tau und kälter an den Füßen, als sie erwartet hatte, aber es fühlte sich unglaublich gut an.

Sie lief über den Rasen, roch an einzelnen Blumen und fühlte sich ein bisschen wie Alice im Wunderland. Die Pfingstrosen waren hier noch nicht aufgeblüht, hatten aber schon dicke Knospen. Die Sonne schien durch die Zweige der Bäume.

Sie überlegte, wie der lange, dünne Nadelbaum hieß, den man oft in südlichen Ländern sah. Zypresse? Ja. Oder nicht?

Der Baum zitterte leicht. Vielleicht war er zu lang für sein Gewicht und hatte nicht genug Halt in den Gummistiefeln.

Gummistiefel?

Adrenalin schoss durch ihre Adern, als ihr klar wurde, dass sich in der Zypresse ein Mensch versteckte. Ziemlich ungeschickt übrigens, denn der ganze lange Baum vibrierte und schwankte.

Nele ging zwei Schritte zurück. Sie schätzte den Abstand zum Haus. Wie schnell sie wohl die Treppe hochrennen konnte? Ihr Handy lag im Haus. Aber vermutlich war das gar keine gefährliche Situation. Vermutlich hatte sich einfach nur ein Obdachloser in ihrem Garten versteckt.

Urplötzlich gab die Person ihr Versteckspiel auf und trat aus der Pflanze: ein großer schlanker Mann, um die vierzig, angezogen wie ein Gärtner mit einer Pflanzenschere in der Hand.

Er zuckte zusammen, als er Nele sah. »Mein Gott, haben Sie mich erschreckt!«

»Dito.«

Er sah sie verständnislos an.

»Ebenso«, übersetzte sie das kleine Wort.

»Ich bin Hektor. Hektor, der Gärtner.« Er schwenkte die Pflanzenschere zum Gruß.

»Ich bin Nele Silber, die neue Besitzerin.« Nele zeigte auf das Haus hinter sich. »Ich hatte keine Ahnung, dass es hier einen Gärtner gibt. Wer hat Sie beauftragt?«

Auf einmal wirkte er verlegen. »Das ist eine längere Geschichte.«

Nele lächelte. »Wollen Sie vielleicht mit mir frühstücken und sie mir erzählen?«

Es war seltsam, einen Fremden so spontan einzuladen, aber sie hatte den dringenden Wunsch, nicht allein zu sein. Irgendwie musste sie die Gedanken an Peter und Friedhelm von sich weghalten, um einen kühlen Kopf zu bewahren und die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Ihr Plan, in Stralsund ein neues Leben anzufangen, war durch Peters Geständnis praktisch schon auf dem Weg vom Flughafen zum Haus gescheitert. Jetzt musste sie klug überlegen, wie sie das Haus wieder loswerden konnte. Und dieser Gärtner könnte sich dabei als hilfreich erweisen.

Hektor sah sie an. Er hatte lange dunkelblonde Haare, die er zu einem Dutt zusammengebunden hatte. Seine grünen Augen strahlten Wärme aus, und anders als Nele selbst schien er ihre Einladung nicht seltsam zu finden. »Ach, einen Kaffee könnte ich jetzt vertragen. Ich mach das hier eben noch fertig.« Er zeigte auf den langen schmalen Nadelbaum, in dessen Innerem er offenbar einige Zweige geschnitten hatte.

Nele war das nur recht. Sie huschte ins Haus und tauschte Schlafanzug und Strickjacke schnell gegen Jeans und Longsleeve. Im Bad putzte sie sich in Rekordzeit die Zähne und band sich ihre schulterlangen Haare zu einem Zopf zusammen. Ihre hellblauen Augen sahen ihr traurig aus dem Spiegel entgegen, und kurz fragte Nele sich, wie viel sie diesem Hektor erzählen sollte.

Als sie aus dem Bad kam, saß er schon in Socken am Küchentisch. Sogar im Sitzen wirkte er riesig. Er zeigte auf die Kaffeemaschine, die bereits blubberte und zischte. »Ich habe mir erlaubt, schon mal Kaffee zu kochen. Ich kenne das Haus ja noch aus der Zeit von Frau Pelzer«, sagte er, als sei Frau Pelzer jedem ein Begriff.

Er hatte auch den Tisch gedeckt und ein altertümliches Geschirr aufgelegt, das sicher schon etwas länger im Haus wohnte.

Nele nahm relativ wahllos ein paar Dinge aus dem Kühlschrank und stellte sie auf den Tisch. Marmelade, Butter, Käse in allen Variationen und Krabben in einem durchsichtigen Glas. Es war so schräg, dass Peter all das eingekauft hatte.

»Wer ist Frau Pelzer?«, traute sie sich zu fragen und nahm die Kaffeekanne mit zum Tisch. Sie setzte sich und schenkte Hektor ein. »Mit Milch oder Zucker?«

»Schwarz. Danke. Sie sind nicht von hier, oder?«

»Nein.« Nele lächelte, ohne weitere Informationen dazu preiszugeben.

»Frau Pelzer war hier in der Straße eine kleine Berühmtheit. Sie hat seit den Siebzigerjahren in diesem Haus gelebt. Immer allein, mit einem kleinen Cavalier King Charles Spaniel, der Daisy hieß. Es muss viele Daisys gegeben haben in den vierzig Jahren, in denen sie hier gewohnt hat. Und genauso viele Geschichten gibt es über sie. Ihr Mann ist ja sehr früh verstorben, und einige glaubten, sie hätte ihn damals umgebracht. Aber das ist sicher nur Gerede.«

Hektors Tonfall verriet Nele, dass er sich selbst da nicht so sicher war. »War sie denn …«, Nele suchte nach dem deutschen Wort, »… angsteinflößend?«

»Oh ja. Frau Pelzer wusste, was sie wollte und wie sie es bekam. Sie hatte die Aura einer Diva. Wissen Sie, mein Vater hat schon für sie gearbeitet, und ich habe hier als kleiner Junge manchmal gespielt. Ich hatte damals eine imaginäre Freundin, die Cleo hieß, ein Mädchen in einem weißen Kleid mit einer Schleife im Haar. Sie hat mich manchmal ins Haus gelassen, und dann haben wir heimlich auf dem Dachboden oder im Keller gespielt.« Hektor bekam einen träumerischen Gesichtsausdruck, und Nele fragte sich, was von alldem sie ihm glauben konnte.

»Das imaginäre Mädchen hat Sie ins Haus gelassen? Wie?«, fragte sie.

Hektor zuckte leichthin mit den Schultern und nahm noch einen Schluck Kaffee. Die zierliche Tasse sah in seinen großen Händen winzig aus. »Jedenfalls kenne ich das Haus seit dieser Zeit gut. Ich kann mich an jeden Winkel erinnern.«

»Hat Frau Pelzer es denn geduldet, Kinder im Haus zu haben?«

»Es war ja eigentlich nur ein Kind. Sie mochte meinen Vater sehr, und nach seinem Tod kam kein anderer Gärtner für sie infrage als ich. Dabei hatte ich eigentlich gar nicht vor, Gärtner zu werden!« Er lachte und griff nach der Scheibe Brot, die Nele ihm anreichte.

Deutsches Brot. Sie nahm sich selbst auch eine Scheibe und hielt sie sich vor die Nase. Sehnsüchtig sog sie den Duft ein. Das hier war ein richtig gutes Landbrot mit ordentlicher Kruste und einigen Löchern, die durch Luftblasen im Teig entstanden waren. Plötzlich bemerkte sie, wie hungrig sie war. Seit der Ankunft in Hamburg gestern Morgen hatte sie nichts gegessen.

Sie beschmierte das Brot dick mit Butter und Marmelade und biss genussvoll hinein.

Hektor häufte sich das halbe Glas Krabben auf sein Brot, und eine Weile lang kauten beide genüsslich und lächelten sich zu.

»Sie wollten mir noch die Geschichte Ihrer Beauftragung erzählen«, erinnerte sie Hektor, der sein zweites Brot mit Käse und Gurkenscheiben belegte. Er schnitt sie so dick, dass Nele gespannt war, wie er das Gesamtwerk in seinen Mund bekommen würde.

Er schaffte es mit Leichtigkeit.

Er nickte und kaute in Ruhe zu Ende, bevor er erzählte: »Ich war damals siebzehn und half meinem Vater im Garten, als Frau Pelzer mich plötzlich zu sich auf die Terrasse rief: ›Hektor, hast du einen Moment für mich?‹«

Hektor sah fragend seinen Vater an, der nickte und sich sodann weiter am Unkraut unter der Hecke zu schaffen machte.

Frau Pelzer schlug man nichts ab. Ihre Fragen waren keine Fragen, sondern Anweisungen. An diesem Morgen trug sie ein langes dunkelgrünes Kleid. Ihr kastanienbraunes Haar war wie immer kunstvoll zusammengesteckt. Die Dame mochte über achtzig sein, aber ihre Haare sahen aus wie die einer Zwanzigjährigen. Es ging das Gerücht um, dass sie sie nicht färbte. Hektor nahm an, dass das stimmte. Nicht einmal ihr Haar hätte es gewagt, in ihrer Gegenwart unerlaubt zu ergrauen.

Er schritt die Stufen zur Terrasse hoch, wo Frau Pelzer ihn erwartete. Mit einer Geste gab sie ihm zu verstehen, dass er sich setzen sollte, und er ließ sich vorsichtig auf einem zierlichen Gartenstuhl nieder. Dessen Lehne war aus verspielt gebogenem Metall und biss ihm in den Rücken, als er versuchte, sich anzulehnen. Offenbar mochte der Stuhl sein Gewicht nicht.

Frau Pelzer goss ihm eine Tasse Tee ein. Die Tasse war winzig, und der Henkel bot nur ein ganz kleines Loch, in das vielleicht ein Kinderfinger gepasst hätte.

Wo sollte er die Tasse da nur anfassen? Hektor versuchte krampfhaft, seine Finger an dem nutzlosen Henkel zu verankern. Der heiße Tee verbrannte ihm die Lippen. Er zuckte zurück und fing sich einen missbilligenden Blick von Frau Pelzer ein. Was hatte sie vor?

Hektor erspähte einige Papiere, die auf dem Tisch lagen, und für einen kurzen Moment ging seine Fantasie mit ihm durch. Frau Pelzer hatte keine Nachkommen. Sie würde ihm die Villa und den Garten vererben, damit alles in gute Hände kam.

»Ich möchte, dass der Garten immer in guten Händen ist«, setzte sie an.

Hektor nickte wie hypnotisiert.

»Ich werde bedauerlicherweise nicht ewig leben, dennoch möchte ich, dass hier Ordnung herrscht. Auch nach meinem Tod.«

Hektor nickte noch einmal. Etwas anderes wurde auch nicht von ihm erwartet.

»Ich habe alles vorbereitet. Du musst nur noch hier unterschreiben.«

Hektors Blick schweifte zu seinem Vater, der hinter der Hecke zugange war. Konnte er nicht die Rosen hier vorn schneiden? Er fühlte sich überfordert. Warum sollte er etwas unterschreiben? Wurde ein Testament nicht einfach von der Person, die etwas vererben wollte, unterzeichnet?

»Das hier ist ein Ausbildungsvertrag, Hektor. Die Gärtnerei Schwanke wird dir eine solide Ausbildung zuteilwerden lassen. Ich weiß, dass du schon viel von deinem Vater gelernt hast, aber es ist immer gut, durch mehrere Hände zu gehen.«

»Ich werde Gärtner?« Nur langsam drangen ihre Worte zu Hektor durch.

»Na, jemand muss sich ja die nächsten fünfzig Jahre um meinen Garten kümmern, und so lange kann dein Vater das wohl nicht machen.«

»Fünfzig Jahre?« Hektor war entsetzt. Dieser Zeitraum erschien ihm unvorstellbar lang.

»Nun ja, grob. Bis du in Rente gehst. Deshalb habe ich diesen Arbeitsvertrag aufsetzen lassen. Du wirst dich um meinen Garten kümmern. Dein Gehalt wird mit den Jahren steigen, sodass es immer dem aktuellen Lohnniveau entspricht. Ich will dich ja nicht über den Tisch ziehen.« Sie lächelte und nahm einen Schluck Tee. Ihr Lippenstift blieb dabei auf ihren Lippen, wie es sich gehörte. Die Teetasse hatte nicht den kleinsten Fleck.

»Ich werde mich um den Garten kümmern«, wiederholte Hektor, um es zu verstehen. »Fünfzig Jahre lang?«

Frau Pelzer nickte huldvoll.

»Und was wird aus dem Haus?«

»Um ein Haus kümmert sich immer irgendjemand. Es wird verkauft werden, mal an diesen, mal an jenen Besitzer.« Sie kippte ihre Hand mit den vielen Ringen erst nach links, dann nach rechts. »Aber der Garten, Hektor …« Sie sah ihm in die Augen. »Der Garten muss instand gehalten werden. Egal, wer hier wohnt. Egal, wem das Haus gehört. Hast du das verstanden?« In ihren kühlen Augen lag plötzlich etwas Bittendes.

Hektor blieb nichts anderes übrig, als zu nicken. Als sein Vater endlich aus der Hecke kam, hatte er bereits alle Papiere unterschrieben.

Nele fand die Geschichte unglaublich. »Wollten Sie denn überhaupt Gärtner werden?«

Hektor schüttelte den Kopf.

»Aber du hast es gemacht? Du bist Gärtner geworden, weil Frau Pelzer das so angeordnet hat?« Ohne darüber nachzudenken, war Nele zum Du übergegangen.

Hektor nickte. »Ich bin Gärtner geworden, weil das offenbar meine Bestimmung ist.«

»Ja, bestimmt von Frau Pelzer.«

»Irgendeiner bringt dich ja immer auf deine Bestimmung. Was bist du geworden?« Auch Hektor duzte sie nun.

»Psychologin.«

»Und das hast du selbst bestimmt?«

»Natürlich!« Nele biss ein großes Stück von ihrem Brot ab.

»Glaubst du. Wollten deine Eltern, dass du Psychologie studierst? War dein Vater vielleicht Psychologe?«

Nele zuckte unmerklich zusammen. Mit dieser Vermutung hatte er ins Schwarze getroffen, aber das musste er nicht wissen. »Seit wann ist Frau Pelzer denn schon tot?«, fragte sie schnell.

»Seit über zwanzig Jahren.«

Sie konnte es nicht glauben. »Und seitdem machst du den Garten, obwohl das Haus anderen Leuten gehört?«

»Jo.«

»Und wer kontrolliert, ob du dich wirklich kümmerst?«

Er zuckte mit den Schultern und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. »Niemand«, sagte er nüchtern, die Kaffeetasse wie Puppengeschirr in beiden Händen haltend.

»Wieso machst du es dann?«

»Das war ja der Deal«, sagte er leichthin und schälte sich eine Banane, die Nele offenbar auch auf den Tisch gelegt hatte.

Sie sah ihn an. Der Mann war wirklich loyal. Für ihn schien es die Option, einfach nur das Geld einzustreichen, überhaupt nicht zu geben. »Das heißt, ich habe jetzt einen Gärtner, den ich nicht bezahlen muss?«

»So sieht es aus.« Er hielt seine Kaffeetasse hoch und prostete ihr zu.

Nele hob ebenfalls ihre Kaffeetasse. Das Haus war doch viel attraktiver, als sie gedacht hatte.

DER ALLERGRÖSSTE FAN

Als Hektor gegangen war, brach das laute Schweigen des Hauses über Nele hinein.

Sie hätte gern eine Freundin angerufen, um ihr ihr Herz auszuschütten, aber dafür war es in New York noch viel zu früh. Später wiederum würden sich alle in ihren eng getakteten Tag stürzen und schlicht keine Zeit für sie haben. Vor Nele hingegen lag ein langes Nichts.

Peter schickte ihre eine Nachricht auf das Handy: Hast du gut geschlafen?

Es mochte nett gemeint sein, doch etwas an der Nachricht empfand sie als unverschämt. Deshalb antwortete sie Peter nicht, obwohl sie ihm gern von Hektor erzählt hätte.

Wenn es nichts zu tun gibt und man nur einige Meter von einem großen Teich und dem Meer entfernt wohnt, kann ein Spaziergang genau das Richtige sein. Kurz entschlossen zog Nele sich Schuhe und Jacke an und öffnete die Tür. Sofort bemerkte sie, dass zwei junge Frauen vor ihrem Haus Selfies machten.

Als sie Nele auf den Stufen erblickten, nahmen sie ihre Handys kurz herunter und riefen kichernd: »Grüße an Detektiv Weingold!«

Nele hatte keine Ahnung, was das sollte, und wandte sich kopfschüttelnd ab. Sie spazierte den Teich entlang und ging über eine kleine Brücke, die über ihn führte. Enten zogen ihre Kreise auf dem Wasser und schienen genau zu wissen, wo sie hinschwammen.

Sie setzte sich ans Ufer ins Gras und starrte auf die Wasseroberfläche. Es war windstill, und der Teich wirkte wie ein glatt gezogenes Seidentuch. Der blaue Himmel und ein paar Wolken spiegelten sich auf dem Wasser, und nur wenn ein Wasservogel abtauchte, bildeten sich hier und da ein paar Ringe.

Nele fragte sich, warum sie hier gelandet war. Die Entscheidung, New York zu verlassen und hier zusammen mit Peter ein neues Leben anzufangen, war so klar gewesen. Wie hatte sie nur so blind sein können?

Sehr schnell zu wissen, ob ihr Gegenüber die Wahrheit sagte, hatte ihr als Therapeutin immer sehr geholfen. Auch privat war es eine Zauberkraft, aber auch die versagte natürlich, wenn der andere glaubte, was er sagte. Peter hatte seine Homosexualität tatsächlich erst vorgestern entdeckt, in der Nacht, in der sie nach Deutschland geflogen war.

Wie leicht es für ihn gewesen war! Er hatte ihr einfach mal eben abgesagt. Sorry, das mit dem neuen Leben zusammen, daraus wird nun nichts. Tut uns leid, dass du dein ganzes Leben in New York aufgegeben hast, mir und Friedhelm.

Wer hieß eigentlich heutzutage noch Friedhelm?

Wütend schleuderte Nele einen Stein ins Wasser. Das Geräusch, das er machte, als er auf die Wasseroberfläche traf, hatte etwas Befriedigendes. Nele warf noch einen Stein und noch einen.

Peter Pitrowski war für sie gestorben. Und sie wollte auf keinen Fall in derselben Stadt leben wie er und ihm womöglich noch über den Weg laufen, wenn er Arm in Arm mit diesem Friedhelm unterwegs war. Sie musste einen Plan machen. Sie wusste noch nicht, wie der aussehen sollte, aber Pläne waren immer gut.

Als sie zurück zum Haus kam, stellte sich völlig unerwartet ein kleines Gefühl der Freude ein. Die blauen Fensterläden schienen ihr zuzuwinken, und die hübsche Fassade mit den vielen Fenstern sah so freundlich aus, dass Nele nicht anders konnte, als zu lächeln.

Sie versuchte, das aufkeimende Gefühl zu bekämpfen. »Ich werde hier nicht bleiben«, sagte sie zu der kleinen Freude in ihr, die sich schnell wegduckte, als sie angesprochen wurde.

Ein dünner Mann stand am Fuß der Eingangstreppe und fotografierte eifrig das Haus, als Nele die Stufen hochstieg. Begeistert zeigte er auf den großen Kübel vor der Haustür, in dem eine blaue Hortensie wuchs. »Der Hortensiendieb!«

Nele verstand nicht, was er meinte, die Hortensie war ja noch da. Stirnrunzelnd ging sie die Stufen hoch.

Der seltsame Dünne folgte ihr. »Verwalten Sie die Detektei jetzt?«, fragte er und trat näher.

Nele schloss die Haustür auf. Der Mann machte den Anschein, als wollte er mit ihr zusammen durch die Tür gehen, und Nele schirmte die Türöffnung mit ihrem Körper ab. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, und ich möchte, dass Sie jetzt gehen.«

»Schon klar, aber Sie wissen, wo Detektiv Weingold jetzt arbeitet, oder? Ist er in die Berge gezogen, in die Schweiz nach Flühli? Sicher ist er dort, hab ich recht?« Seine Augen wirkten riesig hinter der dicken Brille. Die Fragen hatten etwas Manisches, waren aber sicherlich todernst gemeint. Da hatte jemand wohl nicht alle Latten am Zaun. Sie hatte sich seit ihrem Studium angewöhnt, solche Menschen privat konsequent zu meiden. Es reichte, wenn sie sich beruflich mit ihnen auseinandersetzen musste. Daher flüchtete sie ins Haus und verschloss die Tür hinter sich.

Kurze Zeit später klingelte es. Vorsichtig spähte Nele durch den Spion. Der Irre war weg. Dafür stand jetzt eine junge Frau mit glattem dunklen Haar vor der Tür. Ein Pony rahmte ihr kindliches Gesicht.

Nele öffnete die Tür.

»Ich bin Fanny«, sagte die junge Frau und hielt ihr eine Hand hin.

Nele schüttelte sie perplex.

»Ich dachte, wir könnten so eine Art Informationsaustausch machen. Also, du verrätst mir, wer du bist und was jetzt mit dem Haus passiert, und ich erkläre dir, was der schräge Typ gerade wollte.«

Nele sah sie erstaunt an.

»Du hast keine Ahnung, wer Detektiv Weingold ist, richtig?«

Nele schüttelte den Kopf.

»Na, dann lass mich rein, biete mir einen Tee an und, wenn du hast, gern auch einen Muffin. Das wird lustig!«

Diese junge Frau hatte nichts Gefährliches an sich, weckte aber Neles Neugier. Deshalb trat Nele einen Schritt zur Seite und ließ sie eintreten.

Fanny zog sich gut erzogen die Schuhe im Flur aus, und Nele machte es ihr nach. Dazu war sie seit ihrer Rückkehr noch nicht gekommen.

»Ach, krass! Es sieht hier immer noch so aus wie in der Serie!« Fanny betrachtete andächtig den Flur, das Schachbrettmuster der schwarz-weißen Fliesen und die große dunkle Holztreppe, die nach oben führte.

Nele hob sich ihre Fragen auf und ging vor in die Küche, um Tee zu kochen. Fanny folgte ihr staunend. »Verrückt! Der Eingang sieht in echt viel größer aus! Oh, und hier lag immer das Hundekörbchen. Die Küche! Sie sieht fast genauso aus! Wo ist der große rote Kühlschrank? Detektiv Weingold hatte da immer Wackelpudding drin. Den grünen, natürlich.«

Nele verstand inzwischen, dass ihr Haus offenbar ein Drehort gewesen war.

Plötzlich hielt Fanny inne. »Warte mal, du tust nur so ahnungslos! Eigentlich bist du die neue Produzentin! Es wird eine neue Staffel geben, ich wusste es!« Sie ballte beide Hände zu Fäusten und ließ sie durch die Luft sausen.

Nele stellte zwei Tassen auf den Tisch und machte mit den Händen ein Stoppsignal. Sie musste die Euphorie der jungen Frau direkt dämpfen, damit die am Ende nicht zu enttäuscht war, um ihr die versprochenen Informationen zu geben. »Moment! Ich bin keine Produzentin, und ich weiß überhaupt nichts von einer Serie. Ich bin Nele Silber und habe die letzten fünfzehn Jahre in New York gelebt. Das Haus gehört momentan mir.«

»Wahnsinn! Dann hast du gar nichts mitbekommen?«

»Was habe ich nicht mitbekommen?« Nele schenkte Tee in die Tassen. Diesmal hatte sie zwei neue, größere ausgesucht, auch sie waren sicher von Peter gekauft. Es war bestimmt hilfreich für den Verkauf des Hauses, dessen Geschichte zu kennen. Hektors Bericht über Frau Pelzer war Teil eins gewesen, und Fanny würde ihr jetzt Teil zwei liefern.

»Hier wurden sechs Staffeln von Stralsund ermittelt gedreht. Zweiundsiebzig Folgen über Detektiv Weingold und seinen Assistenten Ben. Die beste Serie ever! Ich bin der allergrößte Fan!« Ihre Augen leuchteten. »Frag mich irgendetwas, ich weiß es. Ich kenne alle Folgen. Wirklich! Der Hortensiendieb, Staffel drei, Folge vierunddreißig. Da ging es um eine Gang, die in allen Gärten die Blüten der blauen Hortensien abschnitt.«

»Warum?«, wollte Nele wissen und stand auf, um im Küchenschrank nach Keksen zu suchen. Sie fand gleich drei Packungen und warf eine davon genervt auf den Tisch. Peter hatte an alles gedacht, Peter hatte für alles gesorgt.

»Man kann aus den Blüten angeblich Drogen herstellen. Soll ungefähr so wirken wie Marihuana. Aber Weingold hat sie am Ende alle geschnappt. Nur die Blüten waren halt ab.« Fanny machte eine entschuldigende Geste und öffnete die Kekspackung. »Muffins wären besser, aber das geht auch«, sagte sie gönnerhaft und tunkte einen Schokokeks in den heißen Tee.

»Hier wurde also jahrelang die Serie gedreht, in diesem Haus.«

Fanny sah sie an, als sei sie etwas langsam im Kopf.

»Und warum glaubt der Mann von eben, dieser Weingold sei real und wohne jetzt irgendwo in der Schweiz?«

»Staffel fünf, Folge fünfundfünfzig. Der Schweizer Killer. Da ging es um einen Schweizer, der hier im Norden alle möglichen Leute abmurkste und am Tatort immer eine Uhr hinterließ. Weingold hat ihn in einem kleinen Dorf, Flühli in der Schweiz, geschnappt, und dort hat er sich richtig wohlgefühlt. Er ist einfach ein Bergmensch, der Weingold. Das war hier nie wirklich seine Gegend.«

Nele runzelte die Stirn. Jetzt sprach auch Fanny von diesem Detektiv, als sei er keine fiktive Person. Vielleicht musste sie sich die Serie mal in der Mediathek anschauen.

»Manche Menschen können Realität und Fiktion nicht gut auseinanderhalten. Oder sie wollen es nicht. Auch mir gefällt der Gedanke, dass Weingold jetzt in der Schweiz lebt«, erklärte Fanny.

Dieses Phänomen kannte Nele nur zu gut aus ihrem beruflichen Umfeld. Ihre Klienten bogen sich die Realität ständig zurecht. »Wie lange ist es her, dass die Serie ausgestrahlt wurde?«, fragte sie und nahm sich ebenfalls einen Keks, obwohl sie eher Hunger auf etwas Herzhaftes hatte.

»Zwei Jahre.«

»Zwei Jahre? Und die Leute sind immer noch verrückt nach dem Haus und diesem Detektiv?«

»Ist doch normal«, sagte Fanny schulterzuckend.

Vermutlich hatte sie recht. Nele war kein Serienfan, aber auch sie kannte das Phänomen, dass sich fiktive Personen aus Büchern und Filmen wie Freunde anfühlen können.

Jemand hämmerte gegen die Tür. Fanny und Nele zuckten zusammen. Fanny sprang auf und nahm den Schürhaken vom Kamin. Sie hielt ihn wie einen Baseballschläger über der Schulter, bereit, den Klopfer an der Tür niederzustrecken.

Auch Nele war aufgestanden. Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass das laute Klopfen sie in eine ähnliche Verteidigungsstimmung versetzt hatte wie Fanny. Das Poltern hatte sie auf einen Schlag zu Verbündeten gemacht.

Beherrscht schritt Nele zur Tür und spähte durch den Spion. Das hatte Fanny auch schon versucht, aber sie war zu klein.

»Was siehst du?«, flüsterte sie neugierig und umklammerte den Schürhaken.

»Eine Frau, Mitte zwanzig. Gepflegtes Äußeres. Scheint aufgeregt zu sein.« Nele legte die Hand an die Türklinke. Sie sah zu Fanny, die nickte, den Schürhaken aber für alle Fälle weiter bereithielt. Es war beruhigend, sie an ihrer Seite zu wissen.

»Ich muss mit jemandem aus der Detektei sprechen!«

Nele hatte die Tür kaum geöffnet, da trat die Frau auch schon uneingeladen in den Flur, und Nele konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass auch sie den Eingang aus der Serie kannte.

»Es gibt hier keine Detektei«, erklärte sie leicht genervt.

»Das weiß ich. Ich weiß das«, wiederholte die Frau mit trauriger Stimme. Ihre dünnen dunkelblonden Haare waren zu einem kleinen Dutt zusammengeknüllt. Einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht und verliehen ihrem Aussehen etwas angenehm Unperfektes. Sie trug Jeans und einen Trenchcoat, darunter ein weißes T-Shirt. Sie faltete die Hände und legte sie an ihr Kinn. »Haben Sie vielleicht Kontakt zu den Drehbuchautoren? Ich muss mit jemandem sprechen, der um die Ecke denken kann.« Ihre blauen Augen sahen Nele hilfesuchend an.

»Nur wer um die Ecke denkt …«, begann Fanny einen Satz, der wie ein Zitat klang.

»… kommt zum richtigen Ergebnis«, vervollständigte die Frau mit den blauen Augen.

Die beiden grinsten sich an, und die fremde Frau wirkte für einen kurzen Moment entspannt, bevor sich wieder die Aura aus Sorgen über sie senkte.

Nele kannte diese Aura sehr gut von ihren Klienten. »Weingold?«, fragte sie, aber niemand antwortete ihr.

»Erzählen Sie doch mal, worum es geht«, forderte Fanny die Besucherin auf und deutete mit einer Geste an, dass sie in die Küche kommen sollte.

Nele war müde vom Jetlag und hätte sich eigentlich gern für einen kleinen Mittagsschlaf auf die Couch gelegt, aber offenbar hatte Fanny gerade die Regie übernommen.

Fanny legte den Schürhaken weg und fand mit großer Selbstverständlichkeit eine weitere Tasse. Sie schenkte der aufgeregten Besucherin Tee ein und reichte ihr einen Schokokeks. Auch das Gespräch führte sie, als würde sie nie etwas anderes tun, und so hatte Nele die Gelegenheit, alles zu beobachten.

Sofort erkannte sie: Die Frau schien sich vor irgendetwas zu fürchten.

»Ich bin Laura Köpnick, Schauspielerin am Staatstheater. Wir führen gerade das Stück Er sagte, er sei Hemingway auf, und ich spiele Adriana Ivancich.« Sie machte eine Pause, wohl um zu sehen, ob der Name ihren Gastgeberinnen etwas sagte. Nachdem keine Reaktion kam, erklärte sie: »Das war Ernest Hemingways italienische Muse. Die beiden hatten … Egal.« Sie winkte ab und trank hektisch einen Schluck Tee. »Jedenfalls reist Adriana mit einem Koffer an. Tillmann sagte in der Probe, ich solle mir den Koffer denken, aber …«

»Wer ist Tillmann?«, stellte Fanny genau die Frage, die Nele auch gerade durch den Kopf gegangen war.

»Jakob Tillmann, der Regisseur des Stücks.«

Etwas schwang mit in der Art und Weise, wie sie den Namen aussprach. Nele konnte nicht ganz orten, ob es etwas Gutes oder etwas Schlechtes war, aber dieser Tillmann musste eine Bedeutung für sie haben.

Fanny schien das nicht bemerkt zu haben. Sie forderte Laura Köpnick auf weiterzuerzählen.

»Ich tat mich schwer mit dem Koffer aus Luft, also bin ich in der Pause in den Fundus geschlichen. Der wird normalerweise streng bewacht von Frau Zanelli. Die ist eigentlich immer da, aber an dem Tag war sie krank, und ich wollte nicht warten. Zum Glück war die Putzfrau gerade in Frau Zanellis Büro. Sie hat mir die Tür zu den Requisiten aufgeschlossen, und da habe ich mir den Koffer selbst rausgenommen. Er lag versteckt unter ein paar Hüten. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass ihn da jemand findet, aber ich glaube, ich sollte ihn finden und mitnehmen.«

Fanny nickte fasziniert. Nele verkniff sich ein Lächeln. Künstler neigen oft dazu, an eine höhere Macht oder einen höheren Sinn zu glauben. Langsam langweilte sie die Geschichte. Sie wollte sich etwas zu essen machen und schlafen. Oder ein bisschen heulen. Warum saß sie hier mit zwei fremden Frauen in ihrer Küche und hörte sich das alles an? »Kommen Sie zum Punkt«, forderte sie ihre Besucherin auf.

Die Schauspielerin schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln. »Okay. Ich probe mit dem Koffer, der verschlossen ist. Am nächsten Tag fühlt sich der Koffer plötzlich anders an, und sein Inhalt ist auch ein anderer.«

Nele beugte sich nach vorn. Jetzt wurde es doch interessant. »Woher wollen Sie das wissen? Sagten Sie nicht, er war verschlossen?«

Laura nickte. »Ja, aber ich habe den Inhalt klappern gehört. Am ersten Tag klapperte er katschuk, katschuk. Und am nächsten Tag plötzlich mehr so: tschuk, tschuk.« Sie schüttelte pantomimisch einen Koffer.

Fanny sah fasziniert zu.

»Entweder der Koffer hat sich verwandelt und seinen Inhalt gleich mit oder …«, die Schauspielerin machte eine bedeutungsvolle Pause, »oder er wurde ausgetauscht!«

Die Worte verfehlten bei Nele die beabsichtigte Wirkung. »Und wenn schon. Was ist daran ungewöhnlich – oder gar beängstigend?« Ihr Tonfall war schärfer als beabsichtigt.

»Niemand glaubt mir, dass es ein anderer Koffer ist. Alle sagen, ich spinne, einschließlich Frau Zanelli, die jedes Requisit genau kennt. Aber ich weiß, dass es nicht derselbe Koffer ist. Er sieht gleich aus, aber er fühlt sich nicht gleich an. Ich bin mir sicher, dahinter steckt etwas, eine große Sache. Er wurde aus einem bestimmten Grund ausgetauscht, und keiner glaubt mir!« Die Schauspielerin verschränkte unglücklich ihre Arme vor der Brust.

Fanny sah sie fragend an, doch Nele spürte, dass da noch mehr war, und schwieg. Laura Köpnick hatte ihnen nur die Hälfte erzählt, und manchmal musste man nur lange genug nichts sagen, dann kam der zweite Teil der Geschichte ganz von allein.

»Glauben Sie etwa auch, ich hätte einfach eine Schraube locker?« Die Schauspielerin stand auf. Dann fügte sie, leiser, hinzu: »Detektiv Weingold hätte mir geglaubt.«

Fanny räusperte sich. »Da hat sie recht. Er hat die ungewöhnlichsten Fälle angenommen. Einmal behauptete ein alter Mann, sein Jackett würde täglich die Farbe wechseln. Oder in Folge achtundzwanzig, da trifft er dieses Mädchen, bei dem immer um 17 Uhr alle Lichter im Haus flackern.«