Strandläufer - Gisa Pauly - E-Book
SONDERANGEBOT

Strandläufer E-Book

Gisa Pauly

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als sie auf Sylt Paul kennenlernt, ist Mamma Carlotta sofort hingerissen von dem weltmännischen Charmeur, der ihr so ungeniert den Hof macht. Sogar als Maler versucht er sich, aber was Pauls künstlerisches Talent angeht, ist Carlotta eher skeptisch. Als sie ihrem Schwiegersohn Erik – seines Zeichens Kriminalhauptkommissar von Sylt – von ihrem neuen Schwarm berichtet, wittert der einen Zusammenhang zu einem Kunstraub. Ist Paul ein anderer, als er vorgibt, oder hat er gar mit dem Mord an einem bekannten Talkmaster zu tun?  Perfekte Cozy Crime für Ihre Strandlektüre – machen Sie Urlaub mit Mama Carlotta!  Bücher für den Urlaub gibt es viele. Hervorragende Regionalkrimis ebenso. Doch kaum ein anderer Nordsee-Krimi bringt das Lebensgefühl auf Sylt mit so viel Charme und Situationskomik auf den Punkt wie die Mamma Carlotta-Reihe. Lassen Sie die Seele baumeln und schmökern Sie nach Herzenslust –  die Romane von Gisa Pauly sind ein pures Vergnügen und ein perfekter Tipp für Ihre Urlaubslektüre.  »Man muss sie einfach mögen, die italienische Miss Marple von Sylt.« Brigitte

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96669-6

© 2014 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Umschlagmotiv/Artwork: Martina Eisele, unter Verwendung der Bilder von pavlen/E+/GettyImages (Fallschirm), Julian Weber/Shutterstock (Strand), Eric Isselee/Shutterstock (Möwen und Kuh)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Heiliger Wattwurm!Was ist denn da unten los? Da geht’s ja noch lärmender zu als beim neuen Gosch. Ich hätte gleich hierhin fliegen sollen, bei Gosch ist die Konkurrenz einfach zu groß. Außerdem wird da dermaßen aufgepasst, dass man sich nicht mal in die Nähe der Tische trauen, geschweige denn darunter oder darauf zur Landung ansetzen kann. Im Nu wird man weggescheucht. Aber hier, auf dem Parkplatz, der heute keiner ist, wird vielleicht was zu holen sein. Also die Flügel ausbreiten und ein paar Runden treiben lassen, bei jeder Runde ein bisschen tiefer. Aha, auf ein paar Tischen wird Gebäck angeboten! Und da! Dicke, fest verschlossene Miesmuscheln! Da läuft einem ja das Wasser hinterm Schnabel zusammen. Man sollte den Kerl, der sie bewacht, durch plötzliche Darmentleerung aus der Reserve locken und dann ... Aber stopp! Was für eine Enttäuschung! Ungenießbar sind sie, diese wunderbaren, schwarz glänzenden Miesmuscheln. Da steht einem ja das Gefieder zu Berge! Gemalte Miesmuscheln! Gut, dass ich darauf nicht reingefallen bin. Und sonst? Viel Krimskrams, leider alles ungenießbar. Ich bin zwar sicher, dass die Leute da unten was Essbares in ihren Taschen haben, aber da ist nicht ranzukommen. Jedenfalls zurzeit nicht. Besser abwarten und noch ein paar Runden kreisen. Irgendwann nimmt jemand ein belegtes Brötchen in die Hand, und dann kommt meine Chance. Heutzutage muss man sich seine Nahrung hart erkämpfen. Der einzige Punkt, in dem ich der Sylter Obrigkeit zustimme: Es gibt einfach zu viele Möwen auf Sylt. Das waren noch Zeiten, als die Leute Spaß daran hatten, uns zu füttern! Aha, da geht der Bewacher des Bildes mit einem Fischbrötchen zum Abfalleimer. Er beißt noch einmal ab, der Rest scheint ihm nicht zu schmecken. Jetzt achtgeben! Sturzflug, wieder die Flügel ausbreiten, schweben, zwei Meter über dem Opfer kurz wegtreiben lassen, es in Sicherheit wiegen, dann der Angriff von hinten ...

Au!« Tove Griess war zurückgewichen, sein misslauniges Gesicht nahm im Schreck für einen Moment einen geradezu kindlichen Ausdruck an. Verdutzt sah er der Silbermöwe hinterher, die den Rest seines Fischbrötchens zu dem unbebauten Grundstück trug, auf dem vor ein paar Jahren noch das Kurhaus von Wenningstedt gestanden hatte. Ein Schwarm von Artgenossen folgte ihr und balgte sich dort um die Beute.

»Das Füttern der Möwen ist verboten!«, rief Carlotta Capella empört, die hinter einem Tapeziertisch stand, auf dem die Ladenhüter ihres Flohmarktangebotes lagen, die bis jetzt keine Käufer gefunden hatten.

»Habe ich das Mistvieh etwa gefüttert?«, schrie Tove Griess wütend zurück. »Beklaut hat sie mich!« Aufgebracht machte er kehrt und ging zu seinem Flohmarktstand zurück, den er in Mamma Carlottas Nähe aufgebaut hatte.

»Die Möwen haben mittlerweile ihre Scheu vor den Menschen verloren«, bestätigte Carolin. »Das ist nicht gut. Sie müssen zu ihrem artgerechten Verhalten zurückfinden.« Mamma Carlottas Enkelin war ein ernsthaftes Mädchen, ruhig und bedächtig wie ihr Vater, das sich Probleme zu Herzen und das Leben niemals auf die leichte Schulter nahm.

Eine leise Stimme mischte sich ein, schleppend und unlustig aus reiner Gewohnheit, aber durch Hohn und Schadenfreude diesmal ein wenig verschärft. »Das ist wohl das erste Mal, dass Tove seine Fischbrötchen aus der Hand gerissen werden«, brummte Fietje Tiensch. Der Strandwärter von Wenningstedt hockte auf einem Klappstuhl hinter Toves Stand, wo er sich so klein gemacht hatte, als fürchtete er Kundschaft. Er fror, hatte die Ärmel seiner marineblauen Wolljacke so weit wie möglich über die Hände gezogen und den Reißverschluss seines Troyers, den er daruntertrug, bis zum Kinn geschlossen. Auch er hatte die Farbe, die alle Menschen, die an der Wasserkante leben, besonders mögen.

Tove Griess, der Wirt von Käptens Kajüte, einer Imbissstube am Hochkamp, die genau wie ihr Besitzer nicht den besten Ruf genoss, fuhr wütend herum. Sein grobes Gesicht, die vorgewölbte Stirn mit den buschigen Augenbrauen und seine kleinen Augen, die die Farbe von schwerer See und den Ausdruck eines Käptens hatten, der einer meuternden Mannschaft gegenübersteht, versetzte einen arglosen Mitmenschen schon in Angst und Schrecken, wenn er gut gelaunt war. Sobald die Wut ihn packte, nahm jeder Reißaus, der mit ihm zu tun bekam.

»Schnack kein dummes Zeug, Fietje Tiensch!«, fuhr er seinen einzigen Stammgast an. »Sieh lieber zu, dass du meine Sachen loswirst. Seit du an meinem Stand hockst, ist noch kein Euro in die Kasse gewandert.«

»Weil du nur Plunder anzubieten hast«, entgegnete Fietje ungerührt und zog sich die Bommelmütze über die Augenbrauen. Der Rest seines Gesichtes wurde von einem ungepflegten Bart überwuchert, als wollte er sich hinter ihm und unter seiner Mütze unsichtbar machen. »Und überhaupt ... besorg deinen Flohmarktstand allein, wenn du mit mir nicht zufrieden bist.«

»Schon vergessen, dass ich fürs Mittagsgeschäft in meinen Laden zurückmusste? Für eine Woche Freibier kannst du dich ruhig ein bisschen anstrengen.«

Aber der Standwärter blieb so gemütsarm, wie man ihn kannte. Toves chronisch schlechte Laune focht ihn genauso wenig an wie die Möwenplage oder eine heraufziehende Sturmflut. Unruhig wäre Fietje Tiensch nur geworden, wenn die Biervorräte in Käptens Kajüte zur Neige gingen oder die Jever-Brauerei in Lieferverzug gekommen wäre. Beides war jedoch gottlob noch nie vorgekommen.

»Ich muss übrigens gleich in mein Strandwärterhäuschen«, knurrte er. »Nach dem Rechten sehen. Nur, dass du’s weißt. Auch im März sind schon Leute am Strand!«

Mamma Carlotta witterte Unfrieden und wollte gerade mit ein paar versöhnlichen Worten für Eintracht sorgen, wurde aber durch einen Kaufinteressenten davon abgehalten. Ein Tourist in mittleren Jahren nahm einen Kerzenleuchter zur Hand. Carlottas Tochter hatte ihn von ihrer Cousine Marinella zur Hochzeit bekommen, aber nie gemocht. Zwar hatte Lucia ihn nach den Flitterwochen pflichtschuldigst in ihre neue Heimat Sylt überführt, ihn dort aber in einer Truhe versenkt, in der ihre Mutter ihn nun gefunden hatte.

Schon kurz nach Carlottas Ankunft auf Sylt hatten die Kinder von dem Flohmarkt gesprochen, der auf dem Parkplatz an der Dünenstraße, direkt neben dem Minigolfplatz, abgehalten werden sollte. Carolin und Felix hatten ihre Zimmer entrümpelt, was von ihrer Nonna mit viel Lob bedacht worden war, hatten Spielzeug, CDs, Bücher und Kleidung zusammengetragen, mit deren Verkauf sie ihr Taschengeld aufbessern wollten. Leider war der Erfolg nicht so groß, wie sie erhofft hatten. Felix stand immer noch hinter seiner alten Carrerabahn, und auch Carolin hatte vergeblich versucht, ihre Polly-Pocket-Sammlung loszuwerden. Im Laufe der nächsten Stunde musste der Flohmarkt abgebaut werden, und die beiden boten ihre Ladenhüter noch immer vergeblich an.

Die verborgenen Schätze ihres Vaters jedoch hatten sich als Verkaufsschlager erwiesen. Zum Glück war er bereit gewesen, seinen Werkstattkeller zu durchforsten und alles, was nicht mehr gebraucht wurde, in die Flohmarktkisten zu packen. Am Ende hatte er sogar die große Truhe geöffnet, die auf dem Speicher stand und noch immer alles enthielt, was Lucia zu Lebzeiten zum Wegwerfen zu schade gewesen war. Die ganze Familie, Erik Wolf, seine Schwiegermutter und die beiden Kinder, hatten eine Weile vor dem Trödel gestanden, der von Lucia aussortiert worden war, und jeder von ihnen war von Erinnerungen überwältigt worden, die er hinunterschlucken oder sich aus den Augen wischen musste. Jedes Teil, was dort in der Truhe lag, war zuletzt von Lucia betrachtet, berührt und dann dort verwahrt worden. Der Autounfall in der Nähe von Niebüll war mit einem Mal wieder herangerückt, das Entsetzen, der Schmerz, das Grauen waren noch einmal ganz nah gewesen.

Aber dann hatte Erik gesagt: »Sie wäre damit einverstanden, dass wir die Sachen verkaufen.«

Das hatte schließlich den Ausschlag gegeben. Niemand hätte auf etwas verzichten mögen, was Lucia lieb und wert gewesen war, aber nun war ihr Tod so weit verkraftet, dass sie sich von dem trennen konnten, was Lucia selbst schon aus ihrem Leben verbannt hatte. Noch vor wenigen Monaten hätte Erik die Hand auf den Deckel der Truhe gelegt und verboten, sie zu öffnen. Aber nun war er neu verliebt, Wiebke hatte ihn von seiner Trauer um Lucia erlöst, er konnte endlich loslassen. Mamma Carlotta hatte Verständnis für ihren Schwiegersohn. Sie wusste, wie schwer Erik unter Lucias Verlust gelitten hatte und immer noch litt, aber es war gut, dass die Zeit die schwersten Wunden geheilt hatte und er sich wieder dem Leben zuwenden konnte. Sie wusste, dass er Lucias Tod nie überwinden würde, so wie sie selbst ihn auch nicht würde überwinden können, aber dass das Leben weitergehen musste, wusste sie genauso gut. Und nun hatte es auch Erik eingesehen. Es würde nicht leicht sein, eine andere Frau an Lucias Platz zu sehen, aber Mamma Carlotta war entschlossen, damit zurechtzukommen. Auch die Kinder mussten einsehen, dass Eriks Liebe zu Lucia nicht geringer wurde, wenn er eine neue Frau in sein Leben ließ.

»Er ist aus Muranoglas«, erklärte sie nun und hielt den Leuchter gegen das spärlich durch die Wolken sickernde Sonnenlicht, damit der Kaufinteressant sah, wie wundervoll das blaue Glas leuchten konnte.

›Kitsch‹ hatte Lucia gesagt, aber das verschwieg ihre Mutter. Mit vielen zu Herzen gehenden Worten schilderte sie das schwere Schicksal von Cousine Marinella, der der Leuchter zu verdanken war. Deren Mann war mit einer kleinen Trattoria pleitegegangen, woraufhin sie ihr Auskommen als Küchenhilfe in einer Pizzeria suchen musste, die früher zu ihrer Konkurrenz gezählt hatte. Aber trotz ihrer Bedürftigkeit hatte sie dieses großzügige Hochzeitsgeschenk gemacht! »In Italia geht eben die Familie über alles!«

Der Mann war so betroffen, wie sie erhofft hatte. Er gehörte zu den Norddeutschen, die sich von gefühlvollen Erzählungen beeindrucken ließen und jede Übertreibung für bare Münze nahmen. Einem Italiener wäre sofort klar geworden, dass hier für ein gutes Geschäft gelogen wurde, dass sich die Balken bogen, aber der norddeutsche Tourist bestaunte Mamma Carlottas große Gesten und die Worte, die in einem Tempo von ihrer Zunge rollten, dass der gute Mann kaum folgen konnte. Vorsichtig erkundigte er sich, ob sie aus Italien stamme, was er womöglich schon kurz darauf bereute. Denn aus dem eifrigen Verkaufsgespräch wurde nun ein längerer Vortrag über das wunderschöne Italia und die Glaskunst aus Murano, ehe Mamma Carlotta das Gesprächsthema nach Umbrien verlegte, wo sie in einem kleinen Bergdorf geboren worden war, in dem sie heute noch lebte. Der Tourist, der zunächst über den Preis des Leuchters verhandeln wollte, zückte widerstandslos das Portemonnaie, als er zudem erfuhr, dass sie sieben Kinder zur Welt gebracht hatte, dass ihr Mann, Gott hab ihn selig, viele Jahre pflegebedürftig gewesen war und dass ihre Tochter Lucia erstaunlicherweise auf dieser kalten Nordseeinsel ihr Glück gefunden hatte, obwohl sie doch an Sonne und Wärme gewöhnt gewesen war. Während der Flohmarktkunde mehrmals vergeblich um Einwickelpapier bat, erzählte Mamma Carlotta noch schnell, dass sie nun, da ihr Dino sie nicht mehr brauchte, häufig nach Sylt käme, um der Familie ihrer verstorbenen Tochter beizustehen. Gerne hätte sie auch noch erklärt, wie sie zu ihren flotten Deutschkenntnissen gekommen war, aber da hatte der Kunde sich bereits einem hölzernen Bilderrahmen am nächsten Flohmarktstand zugewandt.

Sie fuhr sich mit den Fingerspitzen durch die dunklen Locken, die nur wenige graue Strähnen aufwiesen, zupfte die winddichte Jacke zurecht, die ihr Schwiegersohn ihr zur Verfügung stellte, wenn sie auf Sylt war, und sah an der langen Hose herunter, die sie trug. Ein Kleidungsstück, das sie in Wenningstedt erworben hatte und niemals nach Umbrien exportieren würde. In ihrem Dorf trug eine Witwe in ihrem Alter keine Hose! Völlig undenkbar! Dort hatten die Frauen für den Alltag ein paar Kittelschürzen im Schrank und für Sonn- und Feiertage etwas Feines aus Wolle oder Seide. Solange sie jung waren, durfte die Kleidung farbig, geblümt oder kariert sein, später wurde sie dann der Tochter vermacht und gegen dunkelblaue und graue Kleider eingetauscht, sobald der Witwenstand und damit das Ende der modischen Skala erreicht war. Auch in Mamma Carlottas Schrank daheim hingen zwei schwarze Kittelschürzen, aber seit sie regelmäßig die Insel Sylt besuchte, widersetzte sie sich den Regeln, die die Witwen ihres Dorfes aufgestellt hatten, immer öfter.

Zum Glück war schon die nächste Kundin in Sicht, eine Frau in ihrem Alter, die genauso redefreudig war wie Mamma Carlotta selbst. Sie hörte sich gerne an, dass der Schnellkochtopf aus der neapolitanischen Fabrik eines Onkels stammte, der mit solchen Geräten ein Vermögen gemacht, sich, kaum dass er reich geworden war, von seiner Frau getrennt hatte und seitdem drei Ehen mit immer jüngeren Frauen eingegangen war, die allesamt gescheitert waren.

»Das geschieht ihm ganz recht!«

Die beiden Frauen waren sich einig, was für Mamma Carlotta nicht nur zum Verkauf des Schnellkochtopfs, sondern auch eines Käsebretts aus Eriks Junggesellenzeit und einer Hutschachtel unbekannter Herkunft führte. Der Abschied fiel herzlich aus, und Mamma Carlotta war davon überzeugt, dass diese Kundin gern noch etwas länger an ihren Lebenserinnerungen Anteil genommen hätte, wenn sie nicht auf das Warenangebot von Tove Griess aufmerksam geworden wäre. Sie nahm einen der bunt bemalten Holzschuhe zur Hand, die Tove ausgelegt hatte. »Lieber Himmel, ist der scheußlich!«

Tove Griess, der noch nie versucht hatte, sein Geschäft durch Freundlichkeit anzukurbeln, weder in seiner Imbissstube noch hinter dem Flohmarktstand, hatte dennoch die Mundwinkel gehoben, als die Frau sein Angebot in Augenschein nahm. Prompt fielen sie wieder herab. »Sie brauchen ihn ja nicht zu kaufen, wenn er Ihnen nicht gefällt. Meine Mutter hat ihn im Frühling immer mit Primeln bepflanzt. Mir hat das gefallen! Aber wenn Sie was Besseres gewöhnt sind ...« Murmelnd fügte er etwas Unverständliches an, in dem die Wörter ›Schickimicki‹ und ›hochnäsig‹ vorkamen.

Die Frau erschrak über seine Schlussfolgerung, versicherte hastig, dass sie nicht unhöflich sein wollte und dass die Geschmäcker nun mal verschieden seien. Dann zeigte sie auf das Gemälde, das Tove an einen alten Mayonnaisespender gelehnt hatte. Eine abstrakte Malerei in Grautönen, die von hellen Linien überdeckt wurden. Sie sahen aus wie rückwärtslaufende Wellen, die sich kurz vor dem Horizont überschlugen. Die schwarzen Miesmuscheln am unteren Rand des Bildes standen so klar und deutlich vor dem abstrakten grau verschleierten Motiv, dass sie aussahen, als sollten sie nicht dazugehören. Die Frau wollte augenscheinlich wiedergutmachen, was Tove gekränkt hatte, indem sie an diesem Teil seines Flohmarktangebotes etwas Positives fand. »Hat das Bild auch Ihrer Mutter gehört?« Da sie seiner Zustimmung sicher war, fügte sie schon an, ehe Tove antworten konnte: »Sie hatte Kunstverstand.«

Aber Tove glaubte ihr kein Wort und sah keinen Grund, ihr die Verlegenheit zu nehmen. »Keine Ahnung, woher das Gekleckse stammt. Über unserem Sofa hat es jedenfalls nicht gehangen.« Er wandte sich an Fietje, der eine Banane schälte, während er die Möwe im Auge behielt, die über ihnen kreiste. »Hat sich irgendjemand für dieses Bild interessiert?«

»Kein Schwein«, antwortete Fietje.

Tove drehte sich wieder zu der Frau um, die jedoch die Gunst des Augenblicks genutzt und sich davongemacht hatte.

»Ist ja auch potthässlich«, meinte Tove und betrachtete das Gemälde kopfschüttelnd, als sähe er es zum ersten Mal. »Ich möchte wissen, wo mein Alter das aufgetrieben hat. Es stand hinter den Weckgläsern im Keller.«

»Ich glaube, das ist Tachismus«, mischte Carolin sich ein und fuhr sich dabei mit den Fingerspitzen über die Lippen, so wie ihr Vater seinen Schnauzer glatt strich, wenn er nachdachte oder etwas formulieren wollte, was seine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Immer dann, wenn Carolin schulische Bildung an den Mann bringen wollte, war sie ihrem Vater noch ähnlicher als in der übrigen Zeit, in der sie schweigen konnte wie Erik und genauso wie er erstaunt zusah, wenn Felix sich vor Lachen die Seiten hielt oder so laut schimpfte wie seine Mutter.

»Hä?« Felix bedachte seine Schwester mit einem verächtlichen Blick, den er immer aufsetzte, wenn Carolin ihm zeigte, dass sie nicht nur zwei Jahre älter war, sondern auch zwei Jahre Bildungsvorsprung hatte und überdies am Schulunterricht weitaus interessierter war als Felix, der es wie viele seiner italienischen Vorfahren hielt. Er ließ die Zukunft auf sich zukommen wie eine angenehme oder auch böse Überraschung und würde erst, wenn sie Gegenwart war, darüber entscheiden, ob er ihr mit Fleiß, Gleichgültigkeit oder krimineller Energie begegnen wollte.

Toves Blick war nicht minder abschätzig. Er reagierte, wenn er auf Bildung stieß, genauso wie Felix. Nur in Fietjes Gesicht, zwischen dem Rand seiner Bommelmütze und den oberen Flusen seines weichen Bartes, stieg etwas auf, was für Augenblicke den Schleier von der Betäubung wegzog, für die er seit Jahren mit regelmäßigem und ausschweifendem Biergenuss in Käptens Kajüte sorgte. »Tachismus ist eine Strömung der abstrakten Malerei«, erklärte er und sorgte auf diese Weise dafür, dass sich Toves Laune noch weiter verschlechterte. »Der Künstler stellt spontane Empfindungen auf der Leinwand dar. Er bannt das Unbewusste in Farbe und Form. Die Miesmuscheln sind für ihn die Verbindung des Unbewussten mit realen Erinnerungen.«

»Klookschieter!« Tove sah aus, als wollte er Fietje für seine Besserwisserei eine Ohrfeige verpassen. Aber Mamma Carlotta, die sich für eine Meisterin im Schlichten und sogar Verhindern von Streitigkeiten hielt, konnte eine verbale Auseinandersetzung abwenden. Ohne sich nach der Bedeutung des Wortes ›Klookschieter‹ zu erkundigen und ohne das Gemälde eines Blickes zu würdigen, lenkte sie die Aufmerksamkeit auf das Werkzeug, das Tove auf seinem Tapeziertisch ausgebreitet hatte und von dem nur wenige Stücke verkauft worden waren. Vor allem deswegen, weil Tove Preise verlangte, die beinah jeden Interessenten in die Flucht schlugen.

»Warum wollen Sie sich von dem Werkzeug trennen, Signor Griess?«, fragte sie und rieb sich heimlich die Hände, weil Tove sich prompt von Fietje abwandte und seinen Ärger über den Besserwisser vergaß. »Sie sind wohl kein Heim ... wie sagt man?«

»Heimwerker?«, fragte Fietje. »Nö, das ist er wohl nicht. Aber auch kein Einbrecher mehr. Tove hat irgendwann gemerkt, dass er seinem Alten nicht das Wasser reichen kann, und hat es aufgegeben.«

Erschrocken über die vielen Sätze, die er ganz gegen seine Gewohnheit an einem Stück von sich gegeben hatte, zog er seine Bommelmütze noch weiter ins Gesicht und vertiefte sich in die Betrachtung der Kartons, in denen Tove sein Flohmarktangebot transportiert hatte und die unverkäuflichen Reste nach Hause zurückbringen würde.

»Dösbattel!«, knurrte Tove. »Hör auf, dummes Zeug zu schnacken.«

Mamma Carlotta hatte noch mit der ihr unbekannten Vokabel ›Dösbattel‹ zu tun, als sich eine andere Stimme einmischte: »Das ist ja ein interessantes Angebot, Herr Griess! Stammt das alles von Ihrem Vater? Gehört davon nicht einiges in unsere Asservatenkammer?«

»Nix da, Herr Hauptkommissar!« Tove packte energisch seine Sachen zusammen und warf sie so hastig in einen Karton, dass Eriks Blick, der bis dahin noch freundlich gewesen war, nun misstrauisch wurde. Mit den Augen folgte er jedem Teil, das in Toves Kartons wanderte, ohne jedoch einzugreifen.

Mamma Carlotta verzog sich zu ihrem Stand, der gerade verwaist war, und tat so, als wolle sie dort eine marmorne Blumensäule vor unbefugtem Zugriff bewahren. Sie musste sich zwingen, in den schwelenden Konflikt zwischen ihrem Schwiegersohn und Tove Griess nicht schlichtend einzugreifen, indem sie Erik zum Beispiel darauf hinwies, wie lobenswert es doch sei, wenn Tove Griess sich das Einbruchswerkzeug seines kriminellen Vaters vom Halse schaffte. Aber Erik sollte nicht wissen, wie gut ihr Tove und Fietje bekannt waren, deswegen hielt sie es für klüger, sich zurückzuhalten. Bis jetzt ahnte ihr Schwiegersohn nicht, wie häufig sie in Käptens Kajüte einkehrte und dass sie den Wirt und auch den Strandwärter heimlich zu ihren Sylter Freunden zählte. Sie hatte sogar Verständnis dafür, dass Erik die beiden, denen die Zelle im Polizeirevier Westerland bestens vertraut war, nicht zum Bekanntenkreis seiner Schwiegermutter zählen wollte. Nein, Erik sollte glauben, dass sie Tove Griess und Fietje Tiensch nicht besser kannte als alle anderen Sylter, die verächtlich auf die beiden herabsahen.

Sie beobachtete Erik, wie er breit und behäbig dastand, Tove schweigend beobachtete und sich nachdenklich über den Schnauzer strich. Alles an ihm war breit, der Körperbau, seine Hände, sein kantiges Gesicht, der Cord seiner Hose und der Pullunder mit den Querstreifen, den er am liebsten trug. Lucia hatte kurz vor ihrer Hochzeit sogar behauptet, Erik habe auch ein breites Herz, und dabei ein Lächeln gezeigt, das ihre Mutter noch nie gesehen hatte. Das war der Moment gewesen, in dem Mamma Carlotta einsah, dass ihre Tochter die Wärme ihrer Heimat verlassen musste, um auf einer Insel in der eiskalten Nordsee glücklich zu werden. Von da an hatte sie auch daran glauben können, dass Lucia es mit einem Mann aushalten würde, der schweigen konnte, wie in Italien nur der alte Teobaldo schwieg, seit er sich während einer Schlägerei die Zunge abgebissen hatte.

Sie zuckte zusammen, und ihr wurde klar, dass sie sich in Erinnerungen verloren hatte, als Erik mit einem Mal sehr energisch sagte: »Moment mal! Was ist denn das?«

Hauptkommissar Erik Wolf hatte seinen Assistenten verständigt, der vor einer halben Stunde Feierabend gemacht hatte und gerade zu Hause angekommen war. Seine Begeisterung, als er hörte, dass sein Chef Überstunden von ihm erwartete, hielt sich dementsprechend in Grenzen. »Hat das nicht Zeit bis morgen?«

Erik zögerte. »Wollten Sie nicht ohnehin zum Abendessen kommen? Meine Schwiegermutter rechnet fest mit Ihnen.«

»Wirklich?« Sören Kretschmer tat erstaunt, obwohl er eigentlich wissen musste, dass die Schwiegermutter seines Chefs ihn gern zu Gast hatte. Sie war der Meinung, dass das Kochen erst richtig Spaß machte, wenn viele Esser am Tisch saßen, und die Qualität der Köchin daran zu messen war, dass Antipasti, Primo, Secondo und Dolce trotzdem für alle reichten, auch wenn die Zahl der Gäste unübersichtlich wurde. Dennoch hielt Sören es gelegentlich für angebracht, so zu tun, als überraschte ihn die Einladung zum Essen, damit ihm die Sorge, eventuell ein ungebetener Gast zu sein, schleunigst genommen wurde. »Also gut. Wir treffen uns bei Ihnen.«

Erik hatte zugestimmt. »Ich fahre die Tapeziertische und den Trödel nach Hause, der nicht verkauft worden ist. Meine Schwiegermutter muss mit den Kindern zu Fuß zurück. Ist ja nicht weit! Und wir gucken uns die alten Akten an. Zehn Jahre ist das her. Mindestens!«

Nun war Sörens Rennrad, mit dem er sich in Form hielt, am Gartenzaun angekettet, die Flohmarktkisten waren im Schuppen verstaut, und Erik fuhr mit seinem Assistenten gen Westerland ins Kommissariat. Wieder einmal war er froh, einen Assistenten zu haben, mit dem er sich blind verstand. Sören war wie ein Sohn für ihn, obwohl Erik vom Alter her gar nicht sein Vater sein konnte. Ihm gefiel Sörens Ruhe und seine Zuverlässigkeit, und am besten fand er, dass sie beide gern schwiegen und sich auch ohne viele Worte verstanden.

»Die Staatsanwältin hat mir vor ein paar Wochen noch vorgehalten, dass es mir damals nicht gelungen ist, den Kunstraub aufzuklären.«

»Um welchen Maler ging es eigentlich?«, erkundigte sich Sören. »Etwa um Boy Lindegard?«

Erik nickte. Sylts berühmtesten Maler kannte jedes Kind, das auf der Insel zur Schule gegangen war. Viele sogar nur diesen einen. Felix jedenfalls verließ gern das Zimmer, wenn die Rede auf Rembrandt oder Picasso kam, während er die Lebensdaten Boy Lindegards herunterbeten und zumindest seine drei Hauptwerke beim Namen nennen konnte.

»Der Sylt-Zyklus gehört nicht zu seinen besten Arbeiten, aber für unsere Heimat ist er natürlich besonders wichtig.«

»Und da von Lindegard nichts unter hunderttausend weggeht«, ergänzte Sören, »wird auch der Sylt-Zyklus sehr wertvoll sein.«

»Er besteht aus drei Gemälden. ›Strandläufer‹, ›Krebsgang‹ und ›Salzwiesen‹. Abstrakte Malerei natürlich, wie immer. Aber beim Sylt-Zyklus hat er etwas Gegenständliches eingefügt. Bei allen drei Bildern!«

»Die Miesmuscheln«, sagte Sören wie ein gehorsamer Schüler.

»Als Lindegard erfuhr, dass er unheilbar krank war, wollte er sein Werk in die richtigen Hände geben. Bevor er starb, hat er den Sylt-Zyklus der Stadt Westerland vermacht. Im Rathaus sollten die drei Bilder aufgehängt werden.«

Sören erinnerte sich plötzlich an alte Zeitungsberichte. »Kaum wurde etwas über Lindegards nahes Ende bekannt, begannen seine Bilder schon im Wert zu steigen.«

»So sehr«, bestätigte Erik, »dass der Bürgermeister sich fragte, wie er die drei Gemälde eigentlich sichern sollte. Unmittelbar nach Lindegards Tod wurde jedes Bild auf dreihunderttausend Euro geschätzt.«

Sören dachte nach. »Sind sie aus dem Rathaus gestohlen worden?«

»Da sind sie gar nicht erst angekommen. Als die Bilder von einer Galerie auf dem Festland nach Sylt gebracht werden sollten, ist der Transporter überfallen worden. Alle drei Bilder weg! Und die beiden Fahrer schwer verletzt.«

»Und Sie haben nicht herausbekommen, wer hinter dem Kunstraub steckte?« Sören gab sich Mühe, die Frage nicht geringschätzig klingen zu lassen.

Erik antwortete erst, als er in die Kjeirstraße eingebogen war. »Es gab mehrere Verdächtige, aber es fehlten die Beweise. Es musste auch einen Hehler gegeben haben, aber auf dessen Spur sind wir ebenfalls nicht gekommen. Obwohl alles dafürsprach, dass er auf Sylt sein Unwesen trieb.«

»Sie sind nicht auf den Vater von Tove Griess gekommen?«, fragte Sören und sah Erik verständnislos an. »Das war doch ein notorischer Krimineller, soviel ich weiß!«

»Ein Halunke, wie er im Buche stand«, bestätigte Erik. »Aber so ein Riesending hat ihm niemand zugetraut. Bis dahin hatte er sich nur mit kleinen Diebereien abgegeben. Es gab auch keine Anhaltspunkte. Haie Griess war nie mit einem unserer Verdächtigen gesehen worden. Wir haben ihn eine Weile beschattet, aber das hat nichts ergeben. Und dann wurde er wegen einer anderen Sache verhaftet und wanderte in den Knast.«

»Und wurde dort vergessen?«

»Gewissermaßen.« Erik fing an, sich über diese Fragen zu ärgern.

»Weswegen ist er verhaftet worden?«, fragte Sören.

»Ich glaube, er hatte eine Sparkasse in Büsum überfallen.«

Sören pfiff durch die Zähne. »Ein so kleines Licht war er also doch nicht.«

»Natürlich war er das«, antwortete Erik heftig. »Der ist schon am nächsten Tag festgenommen worden, weil er sich selten dämlich angestellt hat. Kurz nach seiner Entlassung aus der Haft ist er dann gestorben.«

»Und hat seinem Sohn sein Einbruchswerkzeug und den Teil seiner Beute hinterlassen, den er noch nicht an den Mann gebracht hatte.« Sören wurde plötzlich nachdenklich. »Komisch, dass das Lindegard-Gemälde beim Hehler geblieben ist. Warum haben die Kunsträuber es sich nicht geholt? Vielleicht war Haie Griess gar kein Hehler, sondern gehörte zu den Kunsträubern?«

»Fragen Sie mich was Leichteres. Aber eigentlich war Kunstraub ein paar Nummern zu groß für Haie Griess. Wir haben immer darauf gehofft, dass die Bilder irgendwo auftauchen und uns zu den Tätern führen.«

»Hätten wir Tove Griess nicht zum Verhör mitnehmen sollen?«

»Wozu? Der kann uns nichts erzählen.«

»Vielleicht doch?«

»Solange er so wütend ist, verrät der nichts. Und dass er nichts weiß, ist so gut wie sicher. Glauben Sie, Tove Griess hätte das Gemälde auf dem Flohmarkt angeboten, wenn er wüsste, wie wertvoll es ist? Und dass es aus einem Kunstraub stammt?«

Sören schüttelt den Kopf. Er wusste genau wie Erik, dass der Wirt in einem solchen Fall seine Kontakte zur Unterwelt genutzt und das Bild still und heimlich verkauft hätte. Für sehr viel Geld! »Auf dem Flohmarkt hätte er es für fünf Euro hergegeben. Aber nicht mal die sind ihm geboten worden. Boy Lindegard ist anscheinend mehr was für Kunstkenner, aber nicht für Leute, die ein hübsches, fröhliches Bild fürs Wohnzimmer kaufen wollen. Und wenn jemand Boy Lindegard erkannt haben sollte, hat er das Bild vermutlich für eine Fälschung gehalten.« Sören griff sich an den Kopf. »Boy Lindegard auf dem Flohmarkt! Das glaubt doch kein Mensch!«

Erik blieb vor der Ampel stehen, starrte das Bahnhofsgebäude auf der anderen Straßenseite und die ›Reisenden Riesen im Wind‹ an, die davorstanden. Sie wurden von Touristen betrachtet, Kinder erklommen die überdimensionalen Füße und machten sich gegenseitig auf die Gesichter der Grünen Riesen aufmerksam, die falsch herum auf dem Hals saßen.

In die Stille hinein fragte Sören: »Die drei Bilder sind also seit zehn Jahre verschollen?«

»Nur zwei. Ein Bild ist kurz nach dem Raub wieder aufgetaucht. ›Salzwiesen‹.« Erik grinste schief und fuhr ironisch fort: »Aber leider war das reiner Zufall, nicht das Ergebnis erfolgreicher Ermittlungsarbeit. Die Staatsanwältin vergisst nie, das zu erwähnen.«

»Wie kann so ein Gemälde zufällig auftauchen?«

»Es war wohl gerade einem Käufer übergeben worden. Ein reicher Typ mit einem Mustang. Aber der hatte auf dem Rückweg einen Unfall. Im Wrack des Wagens fand sich das Lindegard-Gemälde. Zum Glück unversehrt. Der Fahrer war tot, den konnten wir nicht mehr befragen. Und seine Lebensgefährtin wusste von nichts.«

»Wirklich nicht?«

»Nun, sie wusste immerhin«, gab Erik zurück, »dass ihr Freund einen dicken Batzen Geld im Tresor hatte. Schwarzgeld! Ungefähr eine halbe Million! Da war sie ganz sicher.«

»Und die waren weg?«

»Gut zweihunderttausend lagen noch da.«

»Also haben die Ganoven fast dreihunderttausend kassiert! Und der Typ hätte das Bild gut versteckt und irgendwann hervorgeholt, wenn keiner mehr davon redet.«

»Das war ein Kunstverrückter. Sein Haus war voller Bilder. Der besaß viel mehr Gemälde, als er sich jemals an die Wand hängen konnte.«

Die Ampel wechselte auf Grün, sie bogen in den Kirchenweg ein und gleich darauf nach links auf das Gelände des Polizeireviers. Erik stieg aus, öffnete die Kofferraumhaube und hob vorsichtig das Bild heraus.

Sören betrachtete es kopfschüttelnd. »Und so was soll dreihunderttausend wert sein? Hundertmal mit dem Pinsel hin und her und dann behaupten, die Pinselstriche wären rückwärts geführt worden und deswegen hieße das Bild ›Krebsgang‹?«

Erik betrachtete seinen Assistenten kopfschüttelnd. »Schämen Sie sich, Sören. Sie sind ja ein richtiger Kunstbanause!«

»Und Sie sind ganz schön leichtsinnig«, kam es prompt zurück. »Sie haben ein kleines Vermögen in der Hand! Ist Ihnen das eigentlich klar?«

Prompt begannen Eriks Hände zu zittern. »Sie haben recht! Wir müssen uns überlegen, wo wir das Bild unterbringen.«

Mit vorsichtigen Schritten bewegte er sich auf den Hintereingang des Polizeireviers zu. Sören folgte ihm mit der Hand am Hosenbund, als wollte er jeden Moment seine Dienstwaffe ziehen und das teure Bild vor einem Kunstdieb beschützen. »Vielleicht im Heimatmuseum?«

Erik antwortete erst, als er das Gemälde unbeschadet in sein Büro getragen und dort an die Wand gelehnt hatte. »Da ist es nicht sicher genug. Am besten, wir lassen es ins Flensburger Museum bringen. Wenn ich mich recht erinnere, ist ›Salzwiesen‹ dort auch gelandet. Im Museum gibt es vermutlich auch jemanden, der bescheinigen kann, dass es sich wirklich um das Lindegard-Gemälde handelt. Wir brauchen Sicherheit. Am Ende ist es doch nur eine Fälschung.« Erik strich sich lange den Schnauzer glatt, dann griff er in die Schublade seines Schreibtisches, spielte kurz mit dem Stiel seiner Pfeife, ließ sie dann aber, wo sie war, und holte eine Tafel Trauben-Nuss-Schokolade hervor.

Sören grinste. Sein rundes Gesicht mit den immer roten Wangen leuchtete wie ein reifer Sommerapfel. »Sie brauchen Nervennahrung?«

Erik nickte. »Ich muss die Staatsanwältin anrufen. Sie muss uns einen Sachverständigen schicken und dafür sorgen, dass das Bild nach Flensburg gebracht wird. Am besten heute noch.«

Sören blickte auf die Uhr. »Ob das noch klappt?«

Erik sah plötzlich ängstlich aus. »Wo sollen wir denn hin damit?« Er starrte das Gemälde an, als erwartete er von ihm eine Antwort. »Stellen Sie sich vor, es wird uns heute Nacht gestohlen?«

»Es gab sicherlich genug Augenzeugen, als Sie es vorhin auf dem Flohmarkt beschlagnahmt haben«, gab Sören zu bedenken und nickte.

Erik hatte keine Vorstellung, wie viele darauf aufmerksam geworden waren, aber sicherlich waren es einige gewesen. Und dass schon bald in den Restaurants und Kneipen der Insel davon gesprochen wurde, war so gut wie sicher.

Der Bestätigung, die er zugleich bekam, hätte es eigentlich nicht bedurft. Polizeimeister Enno Mierendorf, groß, kräftig, dunkelhaarig, der gerade seinen Kollegen abgelöst hatte und zur Spätschicht angetreten war, kam in Eriks Büro. »Was habe ich gehört? Sie haben auf dem Flohmarkt einen van Gogh beschlagnahmt?«

Erik überließ es seinem Assistenten, den Irrtum aufzuklären. Aber an Enno Mierendorfs Bestürzung änderte das nichts. Boy Lindegard erschien dem Polizeimeister, der in Westerland zur Schule gegangen war, sogar noch wesentlich eindrucksvoller als van Gogh.

»Donnerschlag! Ist er echt?«

Sören wies wortlos zu dem Bild, das an der Wand lehnte. Mierendorf stellte sich davor, kratzte sich am Kinn und gab sich kunstbeflissen. »Ja, der ist echt«, behauptete er dann und begründete die Sicherheit, die er zur Schau trug, damit, dass er schon mindestens zweimal in einem Museum die Bilder Lindegards betrachtet und außerdem noch ein Schulbuch im Schrank stehen hätte, in dem die Bilder des Sylter Malers abgedruckt seien. Mit diesen Worten ging er eilig ins Revierzimmer zurück, ehe Sören auf die Idee kommen konnte, ihn weiter zu Lindegards Lebenswerk zu befragen. Sören war jünger, noch in den Zwanzigern. Wenn es um Schulwissen ging, war er seinen Kollegen meist ein Stück voraus.

Er sah seinen Chef ungeduldig an. »Nun mal los!«

Erik nickte. Aber bevor er die Nummer der Staatsanwältin wählte, brach er einen Riegel von der Schokolade ab und schob ihn sich in den Mund. Wie immer ließ er zunächst die Schokolade in seinem Mund schmelzen, bis nur noch die Haselnüsse und die Rosinen auf seiner Zunge lagen. Genussvoll zerbiss er sie, dann fühlte er sich stark genug für ein Gespräch mit Frau Dr. Speck. Auch deshalb, weil ihm gerade eine Idee gekommen war ...

Mit einer aufmunternden Geste schob er Sören die Schokolade hin, obwohl er wusste, dass sein Assistent nicht zugreifen würde. Sörens Nervennahrung sah anders aus. Ohne den Blick von dem Lindegard-Gemälde zu nehmen, zog er eine Tüte Salmiakpastillen aus der Hosentasche und schob sich so viele der schwarzen Rauten in den Mund, dass sein Chef angewidert das Gesicht verzog, während er wählte.

Mamma Carlotta hatte die Kinder mit einer fadenscheinigen Begründung nach Hause geschickt und war froh, dass beide ohne Weiteres darauf eingegangen waren. Entweder glaubten sie ihr wirklich, dass sie der Standnachbarin beim Einpacken der unverkauften Waren helfen wollte, oder sie waren ihr schlichtweg dankbar, dass sie sich aus der Nähe des tobenden Imbissstubenwirtes entfernen durften, der ihrem Vater in einem Augenblick die Pest an den Hals und ihn im nächsten zur Hölle wünschte. Dass sie sich das nicht anhören wollten, war verständlich, aber dass sie es nicht wagten, ihren Vater zu verteidigen, ebenso. Tove Griess sah noch immer aus, als wollte er jedem den Hals umdrehen, der Erik Wolfs Partei ergriff, sodass Fietje Tiensch sich nach dem vorsichtigen Hinweis auf die Pflichten eines Kriminalhauptkommissars eilig verdrückte. Mamma Carlottas Angst vor dem cholerischen Wirt war zwar wesentlich geringer, weil sie inzwischen auch die andere Seite seiner dunklen Seele kannte, aber in Gegenwart ihrer Enkelkinder wollte auch sie sich nicht auf ihn einlassen. Die beiden wussten genauso wenig von ihren häufigen Besuchen in Käptens Kajüte wie ihr Vater und sollten nicht in Loyalitätskonflikte gebracht werden. Mit gesenkten Köpfen waren die beiden an dem tobenden Wirt vorbeigehuscht und befanden sich nun auf dem Heimweg. Felix hatte sich zwar noch getraut, ganz leise etwas von Kriminellen zu murmeln, die sich nicht beschweren sollen, wenn sie so dämlich sind, ein geklautes Bild auf dem Flohmarkt anzubieten. Aber das hatte er fast unhörbar von sich gegeben und schien dankbar zu sein, dass Tove Griess nichts davon mitbekommen hatte.

Nun trat Mamma Carlotta auf ihn zu. »Sie hören sofort auf, schlecht von meinem Schwiegersohn zu reden! Capito? Er hat nur seine Pflicht getan.«

»Scheißbullen!«, fluchte Tove weiter, als hätte er Mamma Carlottas Worte nicht gehört.

»Finito, Signor Griess! Was kann mein Schwiegersohn dafür, dass Sie einen kriminellen Vater hatten?«

Prompt richtete sich Toves Zorn auf seinen Erzeuger. »Hätte der mir nicht wenigstens verraten können, was er hinter den Weckgläsern versteckt? Wenn ich das Gemälde den Richtigen angeboten hätte, wäre ich jetzt reich! Käptens Kajüte wäre saniert! Ich hätte umbauen können! Anbauen! Ausbauen! Ein richtiges Restaurant wäre aus meinem Imbiss geworden!«

Mamma Carlotta verzichtete auf den Hinweis, dass hierzu nicht nur Geld, sondern auch eine geschmackvolle Einrichtung, eine gute Küche und ein angenehmer Service gehörten. Nichts von dem würde Tove Griess zu bieten haben, selbst wenn Käptens Kajüte doppelt so groß wäre, wenn es keine düsteren Holzvertäfelungen mehr gäbe, der schlammgrüne Fußboden herausgerissen worden wäre und eine gewissenhafte Reinigungskraft dort regelmäßig ihre Arbeit verrichtete. »Vielleicht ist Ihr Vater nicht mehr dazu gekommen, Sie einzuweihen?«, fragte sie beschwichtigend. »Haben Sie mir nicht erzählt, dass er ganz plötzlich gestorben ist?«

»Der Schlag hat ihn getroffen«, brummte Tove und schloss seine Kartons, damit er sie in den Lieferwagen tragen konnte, der in der Nähe parkte. »Nach dem letzten Ding, das er gedreht hat, ist er zwar in den Bau gewandert, aber die Beute hat er noch verstecken können. Und er hat dichtgehalten! Bei keinem Verhör hat er verraten, wo die Kohle war, die ihm der Kassierer der Sparkasse in den Sack gesteckt hatte. Er ist dabeigeblieben, dass er sie auf der Flucht vor der Polizei verloren hat.«

Mamma Carlotta fiel plötzlich wieder ein, was Fietje ihr verraten hatte: Toves Vater war direkt nach seiner Haftentlassung zu dem Versteck neben dem Leuchtturm von Hörnum gegangen, um die Beute zu holen.

»Kein Wunder«, sagte Tove, »dass meinen Alten der Schlag getroffen hat, als das viele Geld nicht mehr da war. Hätte er es bei seiner Verhaftung zurückgegeben, wäre seine Strafe geringer ausgefallen. Mindestens ein Jahr hat er umsonst abgesessen! So was hält der stärkste Kreislauf nicht aus.«

Mamma Carlotta half ihm beim Zusammenklappen des Tapeziertisches. »Ihr Vater wollte sich anschließend ein gutes Leben machen? Das Geld aus dem Banküberfall und dann noch ...« Sie mochte den Satz nicht zu Ende sprechen, weil in Toves Augen schon wieder der Jähzorn aufflackerte.

»Wahrscheinlich ist dieses Gemälde eine Menge wert! Wenn er das verkauft hätte, wäre es uns richtig gutgegangen!«

Der Tapeziertisch überstand Toves Wutausbruch nicht. Die Scharniere kreischten auf, die hölzernen Beine knirschten, den Rest bekam er, als Tove mit beiden Beinen auf den am Boden liegenden Tisch sprang und darauf herumtrampelte. »So ’n verdammter Schiet! Ich könnte ein reicher Mann sein!«

Mamma Carlotta kannte seine schlechte Laune zur Genüge, aber derart blindwütig hatte sie ihn noch nie erlebt. Dass sein eigener Vater ihn um die Chance gebracht hatte, ein reicher Mann zu werden, war zu viel für Tove Griess. Die Kunden seiner Imbissstube würden am Wochenende nicht viel zu lachen haben und nichts Genießbares vorgesetzt bekommen.

Sogar Wiebke Reimers zögerte, als sie auf Mamma Carlotta zuging. Eigentlich war sie eine unerschrockene junge Frau, geradlinig, offen und entschlossen, das Leben schön zu finden. Dass auch sie vor Toves finsterer Miene zurückschreckte, ließ befürchten, dass der Wirt in den nächsten Stunden einige seiner Kunden, von denen es sowieso nur wenige gab, verlieren würde.

Wiebke war Mitte dreißig, hatte rote Locken, eine sommersprossenübersäte Haut und bernsteinfarbene Augen, die Erik in Entzücken versetzt hatten, als er ihnen zum ersten Mal nähergekommen war. Immer, wenn er von Wiebkes schönen Augen sprach, schüttelte Mamma Carlotta die Erinnerung an Lucias dunkle Augen ab, von denen Erik vor Jahren ebenso hingerissen gewesen war. Es war schwer, aber es gelang ihr jedes Mal. Vielleicht war es gut, dass Lucia und Wiebke sich so wenig ähnlich waren.

Mamma Carlotta winkte Wiebke heran, um ihr Mut zu machen. Zum Glück brauchte sie ihr nicht weiszumachen, dass sie rein zufällig mit dem Wirt von Käptens Kajüte sprach, weil er genauso zufällig in ihrer Nähe seinen Stand aufgebaut hatte. Wiebke wusste von Mamma Carlottas Geheimnis und hatte versprochen, es zu wahren. Kurz nachdem sie Erik kennengelernt hatte, war Wiebke in die Imbissstube geschneit, während Mamma Carlotta dort an der Theke saß. Es war ihr nichts anderes übrig geblieben, als Wiebke einzuweihen und um Stillschweigen zu bitten. Mamma Carlotta war sicher, dass Erik noch genauso ahnungslos war wie vorher. Er glaubte nicht im Traum daran, dass seine Schwiegermutter Stammgast in einer verlodderten Imbissstube war und den cholerischen Wirt und seinen treusten Gast, einen unverbesserlichen Spanner, besser kannte als andere. Dieses Geheimnis, das sie mit Wiebke teilte, hatte von vornherein ein unsichtbares Band um sie geschlungen. Nicht eines, wie es Lucia und ihre Mutter verbunden hatte, nein, das nicht. Aber doch eines, das nicht schnell zu lösen sein würde.

Wiebke entschloss sich, Tove Griess einfach zu übersehen. »Ist Erik schon zu Hause?«

Mamma Carlotta antwortete umständlich und so langatmig, bis Tove seinen Lieferwagen bepackt hatte und losgefahren war. Dann erst erzählte sie Wiebke brühwarm von den Ereignissen auf dem Flohmarkt. »Stellen Sie sich vor, das Bild wollte niemand haben, obwohl es ein ganz wertvolles Gemälde war.«

»War es denn nicht schön?«

Mamma Carlotta zuckte die Achseln. »Ich habe nicht genau hingeguckt. Was ich aus der Ferne gesehen habe, war schon schrecklich genug. Keine schöne Landschaft, keine Schale mit Obst, keine Vase mit Blumen ... nein, nur irgendwelche Striche, die auch jedes Kind hinbekommen hätte.«

Wiebke verzichtete darauf, Eriks Schwiegermutter zu korrigieren. Sie schien zu wissen, dass die Kunst von Boy Lindegard über jeden Zweifel erhaben war. Lachend griff sie nach Mamma Carlottas Arm. »Kommen Sie! Wir fahren mit meinem Auto heim.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, lief Wiebke los. Anscheinend hatte sie ihren Kastenwagen auf dem Parkplatz des Hotels Windrose abgestellt, wo natürlich nur Hotelgäste parken durften. Aber Wiebke gehörte zu den Menschen, die sich durch Vorschriften nicht einengen ließen. Während sie ihr nachhastete, fragte Mamma Carlotta sich, wie Erik mit dieser Gewohnheit umgehen mochte. Er selbst bemühte sich, immer korrekt zu handeln, und hatte sogar schon ein schlechtes Gewissen, wenn er eine Parkuhr für eine Stunde bezahlt hatte, aber zwei Stunden weggeblieben war. Wiebke hätte die Parkuhr erst gar nicht gefüttert, und Mamma Carlotta wäre froh gewesen, einen Euro gespart zu haben. Erik jedoch hielt in solchen Fällen einen Vortrag darüber, wie wichtig diese Einnahmen für die Stadt Wenningstedt waren.

Wiebkes rote Locken flogen, der bunte Schal, den sie mehrfach um den Hals gewickelt hatte, zappelte hinter ihr her. Sie trug wieder ihre Cowboystiefel, die sie besonders liebte, eine enge Jeans und eine Felljacke, die so kurz war, dass darunter gelegentlich ein Streifen nackter Haut zum Vorschein kam. Mamma Carlotta hatte sie schon mehrmals ermahnt, besser auf ihre Gesundheit achtzugeben, und ihr ausgemalt, welche Folgen ihr Leichtsinn für ihre Nieren, ihre Blase und ihren gesamten Unterleib haben könnte. Bisher jedoch erfolglos.

Leider war es schwierig, mit Wiebke zusammen irgendwohin zu gehen. Sie lief immer voraus, weil ihr jede andere Geschwindigkeit als die eigene zu langsam war und sie nicht die Geduld aufbrachte, sich einem gemächlichen Schritt anzupassen. Sogar Mamma Carlotta, die eigentlich ebenso flott auf den Beinen war und es selbst nur schwer ertragen konnte, wenn Erik im Bummelschritt neben ihr herging, war Wiebkes Tempo nicht gewachsen. Leider! Sonst hätte sie vielleicht das Unglück verhindern können. Die Eile, die zu Wiebkes Leben gehörte, führte leider gelegentlich zu diesen Unfällen, die bei bedächtiger Fortbewegung zu vermeiden gewesen wären. Prompt übersah sie einen kleinen Findling am Fuß des Friesenwalls, der den Parkplatz des Hotels Windrose abschloss, stolperte darüber, griff Hilfe suchend, aber vergeblich mit beiden Armen nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte, und stürzte mit vorgerecktem Oberkörper dem Portier entgegen, der gerade mit strenger Miene auf sie zutrat, um ihr Vorhaltungen wegen der unbefugten Benutzung des Hotelparkplatzes zu machen. Mit seiner strengen Miene war es jedoch vorbei, als Wiebke an seiner Brust lag und sich an ihn klammerte. Auch als sie wieder sicher auf ihren Beinen stand und sich stammelnd entschuldigte, blieb auf dem Gesicht des Portiers das freundliche Staunen eines älteren Mannes, der schon lange keine junge, hübsche, wohlproportionierte Frau mehr in den Armen gehalten hatte. Und als Wiebke dann noch versprach, ihr Auto auf der Stelle zu entfernen und niemals wieder unerlaubt hier zu parken, geleitete er sie sogar zur Fahrertür und sorgte höchstpersönlich dafür, dass sie einstieg, ohne sich dabei den Hals zu brechen. Das Lächeln lag immer noch auf seinem Gesicht, als Wiebke in einem Tempo vom Parkplatz preschte, das jedem Verkehrswächter den Schweiß auf die Stirn getrieben hätte.

Die Staatsanwältin war tatsächlich noch in ihrem Flensburger Büro. Sie gehörte zu denen, die sich für unabkömmlich hielten und nur verächtlich grinsten, wenn einer der Untergebenen auf seinem pünktlichen Feierabend oder einem freien Wochenende beharrte. Lediglich in der kurzen Zeit, in der sie liiert gewesen war, hatte sie die Ansprüche, die sie an alle stellte, die mit ihr zusammenarbeiten, auf ein Normalmaß reduziert. Aber kaum war ihre Liebe zerbrochen, versuchte sie wieder, jedem ihr Arbeitstempo aufzudrücken, und ließ keine Ausrede gelten, wenn ein Ermittlungsergebnis nicht ruck, zuck auf ihrem Schreibtisch landete.

»Der Lindegard-Raub? Der Fall, an dem Sie so kläglich gescheitert sind?«

Erik verzichtete auf den Einwand, dass damals nicht er der leitende Ermittler gewesen sei, sondern sein damaliger Vorgesetzter, der längst pensionierte Hauptkommissar Tangel. Er wäre sowieso nicht zu Wort gekommen, selbst wenn er es versucht hätte. Also hielt er Frau Dr. Specks Erregung schweigend das Ohr hin und wartete geduldig, bis sie sich ihr Erstaunen von der zornigen Seele geredet hatte. Dann erst senkte sie die Stimme, ihr Tonfall wurde sachlich, und sie war bereit, über den Kunstraub zu sprechen, ohne nach jedem Satz einen Vorwurf einzufügen. »Haie Griess war also der Hehler?«

»Sieht so aus«, antwortete Erik.

»Wie ist es möglich, dass das Bild im Keller seines Sohnes vergessen wurde?«

»Das haben wir uns auch gefragt.« Erik war froh, dass er bereits mit Überlegungen aufwarten konnte. »Das muss einen Grund haben. Und dieser Grund führt uns vielleicht zu dem Täter, dem wir damals nichts nachweisen konnten.«

»Was wollen Sie damit sagen, Wolf?«

»Wir hatten drei Verdächtige. Wer davon noch lebt und in Freiheit ist, scheidet praktisch aus. Derjenige hätte sich das Bild geholt, nachdem Haie Griess wegen Bankraubs verhaftet worden war.«

Die Staatsanwältin hatte Zweifel. »Ob das so einfach ist?«

Aber Erik blieb standhaft. »So muss es sein! Der Täter muss tot sein oder im Knast sitzen.«

»Kommen Sie mir nicht mit einem Toten als Täter. Ich will den Kerl auf der Anklagebank sehen.«

Erik ging nicht darauf ein. »Ich möchte die Akten noch einmal durchsehen. Die Unterlagen sind damals zur Staatsanwaltschaft nach Flensburg gegangen. Haben Sie einen schnellen Zugriff? Können Sie mir alles schicken lassen?«

Erik befürchtete schon, Frau Dr. Speck würde sich entschließen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und die Akteneinsicht auf die Schnelle zwischen Abendessen und einem Saunagang einzuschieben, weil bei ihr ja alles ruckzuck ging, während im Kommissariat Westerland viel zu langsam gearbeitet wurde ... Doch zu seiner Erleichterung drang ein »Okay!« durch die Leitung. »Aber ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf.«

Diesen Hinweis überhörte Erik. »Jetzt erst mal das Wichtigste: Was geschieht mit dem Bild?« Bevor die Staatsanwältin antworten konnte, sprach er schon weiter: »Ich schlage vor, es nach Flensburg ins Museum zu bringen. Dort ist es sicher, und dort gibt es auch Experten, die die Echtheit des Gemäldes überprüfen können.«

»Das ist vor morgen früh nicht möglich«, antwortete sie ohne langes Zögern.

»Dann gilt es, das Gemälde bis morgen so gut zu sichern, dass nichts passieren kann. Es gab viele Schaulustige, als ich es beschlagnahmt habe. Wir dürfen nichts riskieren.«

Die Staatsanwältin stimmte zu. »Haben Sie einen Vorschlag?«

Nun konnte Erik sich mit der Idee brüsten, die ihm gekommen war, nachdem er mit dem Stück Trauben-Nuss-Schokolade seinen Denkapparat auf Touren gebracht hatte. »Wir haben seit ein paar Jahren dieses private Sicherheitsunternehmen auf der Insel. Die Leute arbeiten gut mit der Polizei zusammen. Sie laufen Streife bei Großveranstaltungen, kontrollieren Gewerbetreibende, im Sommer haben sie mehrere Strandpartys aufgelöst, die aus dem Ruder gelaufen waren. Dort gibt es sicherlich Kapazitäten, die wir nutzen können. Wenn man uns kurzfristig Wachmänner zur Verfügung stellt, ist das Gemälde sicher.«

Frau Dr. Speck überlegte nicht lange. »Also gut! Tun Sie alles, was nötig ist. Morgen früh schicke ich einen Sicherheitstransporter nach Sylt, der das Bild abholt. Die Ermittlungsakten bringt er gleich mit, dann sehen wir weiter.«

Sören sah seinen Chef bewundernd an, als dieser das Gespräch beendet hatte. »Wie sind Sie auf die Idee mit dem Sicherheitsunternehmen gekommen?«

Erik winkte bescheiden ab. »Suchen Sie die Nummer der Firma raus! Und am besten rufen Sie da auch gleich an.« Er schenkte Sören ein kleines Lächeln, das beinahe unter seinem Schnauzer verschwand. »Damit wir pünktlich zum Abendessen zurück sind.«

Das beflügelte Sören, den Junggesellen, der sich sonst mit dem zufriedengeben musste, was sein Kühlschrank hergab. Schon nach wenigen Augenblicken war er mit der erfreulichen Mitteilung zurück, dass die Sicherheitsfirma bereits in den nächsten Minuten mehrere Leute schicken wolle. »Spezialisten für Objektschutz! Wenn sie halten, was sie mir versprochen haben, sind die wirklich schwer auf Zack.«

Bis dieser Beweis erbracht worden war, versuchte Erik sich an alle Einzelheiten des Kunstraubs zu erinnern, die ihm noch im Gedächtnis hafteten. Viele waren es nicht. Nicht einmal die Namen der Verdächtigen wollten ihm einfallen. »Einer hieß Dagobert«, murmelte er. »Aber der Nachname? Irgendwas Ausländisches. Spanisch oder Italienisch. Oder Französisch?« Er schüttelte den Kopf und gab es auf. »Mein Chef war damals der Meinung, dass wir es mit einer regelrechten Kunstmafia zu tun hatten. Einer schützte den anderen, wir liefen überall gegen eine Mauer des Schweigens.«

Er holte noch einmal die Tafel Schokolade hervor, und Sören griff nach seinen Salmiakpastillen.

»Der Typ, der in dem Mustang ums Leben kam, in dem ›Salzwiesen‹ transportiert worden war, hatte nichts notiert, keinen Namen, keine Telefonnummer.«

»Durch das Auftauchen des Bildes bei Tove Griess hat sich einiges verändert. Dass wir nun wissen, wer der Hehler war, macht es womöglich leichter«, meinte Sören. »Und die Tatsache, dass sich zehn Jahre lang kein Mensch um dieses Bild gekümmert hat, auch.«

Schweigen senkte sich über die beiden, von denen nun jeder seinen eigenen Gedanken nachhing.

»Sagen Sie mal, Chef ...«, durchbrach Sören nach einigen Minuten die Stille. »Diese Larissa, die seit Kurzem bei Ihnen wohnt ... kommen Sie mit der eigentlich klar?«

Erik antwortete, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen, wo Wolkenfetzen vorbeiflogen und Papier von stürmischen Böen in die Höhe gewirbelt wurde. »Einfach ist es nicht mit ihr. Aber sie ist nun mal eine alte Freundin von Wiebke ...«

»... die nun auch bei Ihnen wohnt. Ganz schön was los bei den Wolfs zurzeit.«

Erik winkte ab. »Wiebke hat immer noch ihre Wohnung in Hamburg. Und die wird sie auch behalten. Aber Sie wissen ja, sie arbeitet als freie Journalistin. Da spielt es meist keine Rolle, wo sie schreibt, ob auf Sylt oder in Hamburg.«

»Und Larissa Freier?«

Erik seufzte. »Die wird wohl noch eine Weile bei uns wohnen. Sie kann sich ja keine eigene Bleibe leisten. Ich konnte Wiebke den Wunsch nicht abschlagen.«

Seine Miene sprach Bände. Aber Sören hätte auch so gewusst, wie wenig es Erik behagte, wenn Gäste im Hause waren, mit denen ihn nichts verband.

»Warum jobbt sie ausgerechnet auf Sylt? Warum nicht in Hamburg, München oder in der Lüneburger Heide? In der Vorsaison verdient sie hier nicht mehr als anderswo. Aber in jeder anderen Stadt ist es leichter, eine Wohnung zu finden.«

»Sie wissen doch, dass sie auf Sylt viel Zeit verbracht hat. Als Kind alle Ferien und die meisten Wochenenden.«

»Ja, ja, die Eltern konnten es sich leisten, mal eben nach Sylt zu jetten. Die Villa in Kampen musste ja auch gelegentlich bewohnt werden.«

Erik gab seine bequeme Haltung auf und setzte sich gerade hin. »Mir gefallen diese Schickimicki-Typen genauso wenig wie Ihnen, Sören. Ein Haus in der Provence, ein Weingut in der Toskana und eine Villa auf Sylt. Aber Larissa kann man nicht vorwerfen, dass ihre Eltern früher zum Jetset gehört haben.«

Sören stand auf und ging zum Fenster. Erik hatte mal wieder Gelegenheit, seine durchtrainierte Figur zu bewundern, das breite Kreuz, die muskulösen Oberarme, obwohl Sören nicht darauf aus war, seinen Sportler-Body durch enge Kleidung zu betonen. »Ja, ihr ist übel mitgespielt worden«, bestätigte er. »Mit einem Mal aus dem Wolkenkuckucksheim fallen und eine Bruchlandung in der Realität machen!«

Erik nickte. »Und deswegen hält sie sich gern auf Sylt auf. Dort, wo sie mal glücklich gewesen ist. Wiebke sagt, sie fährt regelmäßig mit dem Fahrrad nach Kampen und betrachtet die Villa, die früher ihren Eltern gehört hat.«

»Obwohl da jetzt andere wohnen?« Sören drehte sich um und verzog das Gesicht. »Das ist ja Masochismus.«

Erik zuckte die Achseln. »Jeder geht auf seine Weise mit schweren Verlusten um.«

Er horchte auf, als sich draußen die Tür des Revierzimmers öffnete, Schritte ertönten und Ennos Stimme zu hören war. »Mir scheint, die Leute von der Sicherheitsfirma sind da.« Erik bedachte Sören mit einem anerkennenden Blick. »Auf die scheint wirklich Verlass zu sein.«

Ob es richtig ist, auf diese Weise mit dem schrecklichen Verlust umzugehen?«, fragte Mamma Carlotta und wies Wiebke an, das marinierte Gemüse, das sie immer am ersten Tag ihres Aufenthaltes auf Sylt einlegte, auf einem Tablett anzurichten. Mehr traute sie ihr nicht zu. Dass Wiebke nicht kochen konnte, wusste sie mittlerweile. Und nachdem sie zunächst schockiert gewesen war, weil es in ihrem Dorf zu den Pflichten jeder jungen Frau gehörte, so früh wie möglich eine gute Köchin zu werden, war sie nun dankbar, dass niemand ihr in die Arbeit pfuschte. »Ich habe auch noch Garnelen und Peperoni in Knoblauchöl.« Sie riss die Tür des Backofens auf, holte das Ciabatta heraus und drückte mit dem Daumen die Mitte des Brotlaibs ein. Das feine Knirschen zeigte ihr, dass es Zeit war, ihn aus dem Ofen zu nehmen.

Wiebke holte einen Brotkorb aus dem Schrank. Danach schien sie Mamma Carlottas Anweisung vergessen zu haben. »Ich finde auch, dass sie die Wunde immer wieder aufreißt, wenn sie sich die Villa in Kampen anguckt. Aber Larissa lässt sich nicht reinreden.«

»Und wie kommt sie mit der Arbeit im Bahnhofsbistro zurecht?«, erkundigte sich Mamma Carlotta, nachdem sie ausführlich beklagt hatte, dass sie bei Feinkost Meyer keine frischen Steinpilze für die Crema di Porcini bekommen hatte, sondern sich mit getrockneten begnügen musste.

»Nicht gut.« Wiebke setzte sich auf den Tisch, stellte die Füße auf einen Stuhl und sah Mamma Carlotta bei der Arbeit zu. Hätten Carolin oder Felix sich so verhalten, wäre ihnen ein Rüffel sicher gewesen. Auf den Tisch setzen und die Schuhe auf einen Stuhl stellen – wo gab es denn so was? Aber Mamma Carlotta schluckte die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, herunter. Wiebke würde womöglich Eriks zweite Frau werden, sie musste auf ein unbeschwertes Verhältnis mit ihr achten, wenn sie weiterhin nach Sylt eingeladen werden wollte.

»Sie hat ihr Geld noch nie selbst verdienen müssen«, fuhr Wiebke fort. »Und jetzt schuftet sie sich ab und bekommt dafür einen Monatslohn, den sie früher locker an einem einzigen Nachmittag ausgegeben hat.« Sie sprang zu Mamma Carlottas Erleichterung wieder auf, weil sie nicht still sitzen konnte, während sie sich erregte. Da verhielt sie sich wie eine waschechte Italienerin. »Leute bedienen, wo sie sich früher selbst hat bedienen lassen! Sich freche Bemerkungen anhören, wo man sich früher bei ihr eingeschmeichelt hat, weil sie ja die Tochter von reichen Prominenten war!«

»Das ist nicht leicht«, gab Mamma Carlotta zu und beauftragte Wiebke mit dem Tischdecken, damit sie nicht noch einmal auf die Idee kam, sich auf den Tisch zu setzen.

»In der Uni wollten alle mit Larissa befreundet sein. Vor allem die, die von einer Karriere im Fernsehen träumten.«

»Die hatten gehofft, dass sich die Bekanntschaft mit Larissa mal auszahlen würde?«, vermutete Mamma Carlotta.

»Klar!« Wiebke suchte nach einer Tischdecke, die sie erst fand, nachdem sie fast alle Schränke geöffnet und sich an beinahe jeder Schranktür den Kopf gestoßen hatte. »Ihre Eltern waren Fernsehstars. Jeder kannte die Kochsendung mit den beiden. Die Freiers waren die ersten Fernsehköche im deutschen Fernsehen.«

»Wie konnte es passieren, dass derart erfolgreiche Menschen pleitegehen?«

Wiebke zählte die Bestecke ab, erst dann antwortete sie: »Sie haben sich übernommen. Die Fernsehsendung reichte ihnen bald nicht mehr. Sie brachten Kochbücher heraus, gründeten einen Kochbuchverlag und haben schließlich sogar Kochbuchhandlungen eröffnet.«

»Una buona idea«, fand Mamma Carlotta.

Aber Wiebke schüttelte den Kopf. »Das war der Anfang vom Ende. Die Läden liefen nicht. Was der Kochbuchverlag einbrachte, musste in die Läden investiert werden. Und dann kam das Aus für die Fernsehsendung! Anscheinend hatten die Freiers gar nicht mitbekommen, dass die Quoten gesunken waren. Larissa sagt, für sie wäre es völlig überraschend gekommen, von einem Tag auf den anderen. Sie standen quasi ohne Einkommen da, aber mit einem Riesenberg von finanziellen Verpflichtungen.«

»Madonna!« Mamma Carlotta rutschte die Hähnchenbrust aus der Hand, aus der sie Supreme di Pollo al Limone machen wollte. »Una tragedia! Kein Wunder, dass Larissa immer so schlecht gelaunt ist. Aber sie muss sich endlich mit den Tatsachen abfinden. Viele Frauen müssen sich ihr Geld als Kellnerinnen verdienen. Aber sie? Sie meint immer noch, dass sie was Besseres wäre.« Mamma Carlotta hatte Butter in der Pfanne erhitzt und legte die Hähnchenbrüste hinein. Während sie die Zitronen für die Limettensoße auspresste, redete sie sich in Rage: »Ständig dieses beleidigte Gesicht, als könnte einer von uns was dafür, dass sie nicht mehr die Tochter reicher Eltern ist! Und immer die Klagen, dass sie sich keine Designerklamotten mehr leisten kann. Habe ich mir jemals was von Versace gekauft? Non mai! Aber bin ich deswegen eingeschnappt? No! Bin ich nicht! Es ist wirklich nicht leicht mit ihr.«

Jetzt erst fiel Mamma Carlotta auf, dass Wiebke still geworden war, nur ein Räuspern von sich gab. Und nun kam ihr sogar der Verdacht, dass sie dieses Räuspern schon mehrmals gehört hatte. Entsetzt fuhr Mamma Carlotta herum. Und da stand sie – Larissa Freier! Und sie sah genauso aus, wie Mamma Carlotta sie beschrieben hatte: tödlich beleidigt!

»Scusi, Signorina!«, stieß Mamma Carlotta hervor. »Das habe ich nicht so gemeint. In Wirklichkeit tun Sie mir sehr, sehr leid. Mi dispiace! Das ist ja auch alles ... molto terribile. Der Tod Ihrer Eltern und ...«

Aber Larissa ließ sie nicht zu Ende reden. »Schon gut. Nun weiß ich wenigstens, woran ich bin. Leider bin ich gegen die Wohnungsnot auf Sylt machtlos, sonst würde ich Sie umgehend von meiner Anwesenheit befreien. Damit Sie sich mein beleidigtes Gesicht nicht länger ansehen müssen ...«

Larissa Freier achtete weder auf Wiebkes beschwichtigenden Gesten noch auf Mamma Carlottas Flehen. Sie stand kerzengerade da, mit einer so tragischen Unnahbarkeit, dass Mamma Carlotta sich ihr verzweifelt entgegenwarf, um sie an den Oberarmen zu packen und erst wieder loszulassen, wenn ihr verziehen worden war.

»Signorina! Ich habe mich falsch ausgedrückt. Sie wissen ja, meine fehlerhaften Deutschkenntnisse ...«

Larissa, die wusste, dass Mamma Carlotta die deutsche Sprache sehr gut beherrschte, war nicht zu beeindrucken. Ihr schmales Gesicht blieb unbewegt, in ihre grauen Augen stieg nicht der Hauch einer Gemütsbewegung. Sie strich sich über das glatte, straff nach hinten gekämmte und im Nacken zusammengebundene Haar, öffnete die glossglänzenden Lippen leicht, wie sie es gelernt hatte, als die Kameras der Zeitungsreporter sich noch gelegentlich auf sie richteten, und warf einen Blick in die gläserne Tür des Küchenschranks, als wollte sie ihr Spiegelbild kontrollieren. Mit großer Würde entzog sie Mamma Carlotta den Ärmel ihres Kaschmirpullovers, den sie aus ihrer Zeit als Tochter reicher Eltern herübergerettet hatte, und drehte sich um, als wollte sie den tadellosen Sitz ihrer Designerjeans demonstrieren, denen bis jetzt noch nicht anzusehen war, dass sie schon nicht mehr dem allerletzten Schrei der Mode entsprachen. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, hinterließ sie einen Duft von Chanel, der wohl ebenfalls noch zu ihrem alten Leben gehörte. Nur die Kellnerschürze, die sie beim Eintreten über eine Stuhllehne gehängt hatte, erinnerte daran, dass es mit diesem Leben vorbei war.

Mamma Carlotta ließ sich schnaufend auf einen Stuhl fallen und vergaß die Hähnchenbrüste, obwohl sie bereits brutzelnd und duftend um Aufmerksamkeit flehten. Sie dachte auch nicht an die Kapern, die dringend gehackt werden mussten. »Madonna! Wie konnte ich nur! Das werde ich mir nie verzeihen!«

Sie war Italienerin! Italienern war Höflichkeit heilig, in jeder Lebenslage, ob es jemand verdient hatte oder nicht, und ganz egal, ob damit die Ehrlichkeit auf der Strecke blieb. Aber was tat sie? Sie war nicht nur unhöflich, sondern sogar ungastlich gewesen, hatte der bedauernswerten Larissa Freier zu verstehen gegeben, dass sie in diesem Hause nicht willkommen war, dass sie nicht gemocht wurde, dass ihre Anwesenheit lästig war. »Ich bin nicht besser als der Avvocato in Città di Castello«, jammerte sie. »Der behauptet, Gäste wären wie Fisch. Am dritten Tag beginnen sie zu stinken.«

Wiebke musste wider Willen lachen. Anscheinend hatte sie mehr Verständnis für Mamma Carlotta als diese für sich selbst. »Es war ein Fehler, sie hier einzuquartieren«, sagte sie.

»Können Sie nicht zu ihr gehen«, flehte Mamma Carlotta, »und ihr sagen, wie leid es mir tut?«

Aber Wiebke schüttelte den Kopf. »Wenn Larissa sauer ist, hält man sich besser von ihr fern. Aber sie wird sich schon wieder einkriegen.« Sie nickte zum Herd. »Das Abendessen, Signora ...«

Entsetzt sprang Mamma Carlotta auf, griff nach einem Pfannenwender und drehte die Hähnchenbrüste um. Keinen Augenblick zu früh! Die zarte Haut war schon dunkelbraun, aber zum Glück gerade noch knusprig und nicht verbrannt zu nennen. Eigentlich fiel es ihr ja leicht, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, aber Schuldgefühle und Küchenarbeit passten einfach nicht zusammen. Wenn sie sich Vorwürfe machte, konnte sie sich nicht gleichzeitig erfolgreich um Supreme di Pollo al Limone kümmern. »Dio mio!«

Sie passt nicht zu uns«,