Struktur und Ästhetik -  - kostenlos E-Book

Struktur und Ästhetik E-Book

0,0

Beschreibung

Aktuelle Debatten zeigen deutlich, dass Theater nicht mehr als entrücktes Kunstereignis, sondern in seiner sozialen Verortung und Wirkung reflektiert wird. Im Zentrum dieser stehen u.a. Prekarität und Machtmissbrauch, Repräsentation, Diversität, Barriereabbau und Vermittlung. Nicht selten werden dabei künstlerischer Anspruch und soziale Verantwortung gegeneinander in Stellung gebracht. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion fehlt es bislang an Perspektiven, die diese beiden grundlegenden Dimensionen von Theater zusammendenken. Der Sammelband eröffnet eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Struktur und Ästhetik in den Darstellenden Künsten der Gegenwart. An aktuellen Beispielen und im gezielten Transfer von Untersuchungsmethoden zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen beleuchten die Beiträge, wie Soziales im Ästhetischen und Ästhetisches im Sozialen wirksam wird.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 430

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Fabian Eder / Angelika Endres / Silke zum Eschenhoff / Benjamin Hoesch (Hrsg.)

Struktur und Ästhetik

Interdisziplinäre Perspektiven auf die Darstellenden Künste der Gegenwart

Titelfoto: 100 % Karlsruhe, Rimini Protokoll © Jochen Klenk

 

Die Beiträge sind mehrheitlich im Kontext der Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“ entstanden - Projektnummer 387849349.

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381114221

 

© 2024 · Thomas Fabian Eder (ORCID: https://orcid.org/0000-0002-6135-8474), Angelika Endres (ORCID: https://orcid.org/0009-0003-9015-8038), Silke zum Eschenhoff (ORCID: https://orcid.org/0009-0001-6318-9459), Benjamin Hoesch (ORCID: https://orcid.org/0000-0003-1505-5445)

Das Werk ist eine Open Access-Publikation. Es wird unter der Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen | CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, solange Sie die/den ursprünglichen Autor/innen und die Quelle ordentlich nennen, einen Link zur Creative Commons-Lizenz anfügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Werk enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der am Material vermerkten Legende nichts anderes ergibt. In diesen Fällen ist für die oben genannten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0935-0012

ISBN 978-3-381-11421-4 (Print)

ISBN 978-3-381-11423-8 (ePub)

Inhalt

Perspektiven des ‚und‘1 Theaterforschung zwischen den Disziplinen2 Perspektive des ‚und‘3 Struktur, Ästhetik und ihre Alternativen4 Erfahrungen der interdisziplinären ZusammenarbeitLiteraturMETHODENTRANSFERZwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie1 Theater als Institution erforschen: Vorsprechen als Möglichkeit und methodische Herausforderung2 Schnittmengen und Differenzen: Versuch einer Annäherung auf methodologischer Ebene3 Ordnung(en): Die theatrale Norm als Bindeglied und Notwendigkeit einer Befremdung der eigenen Fachkultur4 Plädoyer für das ‚Zwischen‘: Grenzen und interdisziplinäre PotenzialeLiteraturVon der Kunst der (Theater-)Wissenschaft1 Formate als Phänomen zwischen Struktur und Ästhetik2 Formate als theaterwissenschaftliche Untersuchungskategorie3 Herausforderungen für das Forschungsdesign einer institutionell orientierten Formatforschung4 Das reflexive Potenzial von Formaten – Konsequenzen für die TheaterwissenschaftLiteraturKÜNSTLERISCHE ZUSAMMENARBEIT „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis!“1 Wagner überall2 Warum Probe?3 Die Musiktheater-Probe4 Wie Proben begleiten – Forschungsdesign5 Die Auswahl der Produktionen6 Thesen und BeobachtungenLiteraturModifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht1 Gesellschaftliche und künstlerische Rahmenbedingungen der Uraufführungen2 Individuelles Profil der Opernbetriebe3 Gestaltungsspielräume mit der Partitur4 Erweiterte Perspektiven und Stilebenen5 FazitLiteraturDie Kunstfreiheit im Blick1 Einleitung2 Juristischer und historischer Hintergrund3 Kunstfreiheit als Diskurs4 FazitLiteraturASYMMETRIEN UND KONFLIKTETheatrale Feldforschungen: WeltA: Welt (er)probenB: Rimini: Das ProtokollC: Statistische Kettenreaktion: 100 % BerlinD: Die Struktur der StatistikE: Data VisualizationF: Theater als Sichtbarkeitsmaschine: Format und SzenariumG: Rimini – Der ApparatH: Aspekte von Internationalisierung und Globalisierungskritik in der freien TheaterszeneI: Das tourende FormatJ: Kettenreaktionen unter zunehmend polarisierten gesellschaftlichen BedingungenK: SchlussLiteraturA Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression1 Becoming a Target2 Methodology3 Democracy and Pluralism4 Oppression, Hostility and Attacks5 ConclusionsLiteratureDimensionen der Übersetzung in den Freien Darstellenden Künsten. Am Beispiel des internationalen Festivals Theaterformen1 Das internationale Theater- und Tanzfestival Theaterformen2 (Kulturelle) Übersetzung und Translation3 Globale Perspektiven und lokale Strategien als Momente der Kritik4 Asymmetrische Strukturen als Voraussetzung des Festivalmachens5 Lückenlos? Übersetzungsbrüche und Nicht-ÜbersetzbarkeitLiteraturQuellenTHEATER UND ÖFFENTLICHKEIT Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen1 Gegenspieler oder unterschätzte Partner?2 Um wen geht es hier eigentlich?3 Du kannst nicht alle(s) haben?! Das Legitimationsdilemma4 Transformation is key, aber wie?5 Being a good neighbourLiteraturGeschlossene Gesellschaft? Theatermaschine/Bayreuth als ästhetisch-soziale Öffentlichkeiten1 Zurück zur (Theater-)Öffentlichkeit2 Schließung und Switch: Sozialstruktur der Öffentlichkeit3 Ästhetische Öffentlichkeit: Gemeinschaft und Gemeinsinn4 Institution der Öffentlichkeit der Institution5 Bayreuther Festspiele: Säkularisierte Pilgerstätte und heilige Eventbude6 Theatermaschine: Initiation in die Fiktion von Öffentlichkeit7 Exkurs: Fokusgruppen-Interviews8 Künstlerische Überschreitung und ästhetische Reflexivität9 Institution des Experiments – Experiment der Institution10 Darstellende Künste als Produktionsöffentlichkeit?LiteraturAutor:innenverzeichnis

Perspektiven des ‚und‘

Zum Verhältnis ästhetischer und sozialwissenschaftlicher Theaterforschung

Benjamin Hoesch/Thomas Fabian Eder/Angelika Endres/Silke zum Eschenhoff

So wie sich die Theaterwissenschaft mit Theater befasst, beschäftigt sich die Arbeitswissenschaft mit Arbeit, das Kulturmanagement mit Kulturorganisation, die Politikwissenschaft mit politischer Steuerung und der Institutionalismus mit Institutionen. Doch was, wenn sie gemeinsam auf die Darstellenden Künste der Gegenwart blicken? In Anerkennung der Tatsache, dass künstlerische Aufführungen nicht ohne Arbeit, nicht ohne Organisationen, immer innerhalb institutioneller Rahmenbedingungen und nur selten unabhängig von staatlicher Förderung stattfinden, bringt dieser Band Wissenschaftler:innen aus den genannten Disziplinen zusammen, um einen multiperspektivischen Blick auf die Darstellenden Künste zu gewinnen. Struktur und Ästhetik sind dabei zentrale Begriffe, die nicht nur institutionell, sondern auch wissenschaftsmethodisch auf ihre Widersprüchlichkeit, vor allem aber auf ihre Bedingtheit und gegenseitige Beeinflussung hin befragt werden. Zehn Autor:innen haben sich dafür auf einen gemeinsamen Entwicklungsprozess eingelassen, der sowohl die Hindernisse und Hürden der Übersetzung als auch neue, ungeahnte Schnittmengen ans Licht bringt. Quantitative Methoden treffen auf Probenethnografie oder Aufführungsanalysen auf sozialempirische Tiefenbohrungen. Auch theoretisch reicht das Spektrum von politikwissenschaftlichen Perspektiven über medien- und kulturwissenschaftliche Begriffe bis hin zur strukturkritischen Auseinandersetzung um Öffentlichkeit und Teilhabe. Und doch erscheint der Band in der Reihe Forum Modernes Theater. Er richtet sich damit vorrangig an die deutschsprachige Theaterwissenschaft und knüpft an die neuesten Entwicklungen im Fach an.

1Theaterforschung zwischen den Disziplinen

Die theaterwissenschaftliche Betrachtung der Darstellenden Künste hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend gewandelt. Unter Einbezug der Theorien und Methoden sozialwissenschaftlicher Disziplinen hat die Theaterwissenschaft ein Verständnis von Theater und Darstellenden Künsten als Organisation und Institution entwickelt und die damit verbundenen Aspekte und Dynamiken in den Blick genommen. Von diesem „social turn“1 der Theaterwissenschaft ist die gesamte Ausrichtung des Fachs betroffen: Theaterproduktionen der Gegenwart werden kaum mehr als singuläre künstlerische Einfälle analysiert, sondern auf die sozialen und organisationsstrukturellen Bedingungen ihres Zustandekommens sowie u. a. auf ihre machtstrategischen, repräsentationspolitischen und institutionskritischen Implikationen befragt.2 In Diskussionen der Theorie und Ästhetik des Theaters werden nicht mehr nur materielle und mediale Spezifika, sondern verstärkt auch soziale Voraussetzungen und ethische Dimensionen der Theatersituation ins Spiel gebracht.3 Die Erforschung der Theatergeschichte war schon lange weniger als andere Disziplinen einem Kanon herausgehobener Einzelleistungen verschrieben; nun arbeitet sie zunehmend auch gesellschaftsstrukturelle Verschiebungen und organisationsgeschichtliche Entwicklungen von Theater auf.4 Erst diese veränderten Schwerpunktsetzungen ermöglichten der Theaterwissenschaft auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit in breitaufgestellten Forschungsverbünden.

So sehr insbesondere die sozialwissenschaftlichen Einflüsse und empirischen Methoden den Blick auf Theater erweitert und die Theaterwissenschaft bereichert haben, tritt das Fach damit auch in Distanz zu seinen bisherigen Kompetenzen, die in geisteswissenschaftlicher Tradition stehen und in Begriffsdifferenzierungen, Interpretationen und (Re-)Lektüren von einer potenziell unabschließbaren Reflexion des Theaters ausgehen. Gegenüber den sozialwissenschaftlichen Einflüssen zeigen sich daher zwei gleichermaßen problematische Haltungen im Fach, in denen ein datenpositivistisches Image der Sozialwissenschaften ebenso wie eine idealistisch-​normative Prägung der Geisteswissenschaften nachwirken: Während manche zu hoffen scheinen, den Untersuchungsgegenstand Theater durch reproduzierbare Verfahren der Datenerhebung und Hypothesenüberprüfung verifizieren und stabilisieren zu können, beharren andere auf dem singulären ästhetischen Ereignis und blenden darüber dessen soziale Voraussetzungen und Konsequenzen aus. Aus der zunehmenden Interdisziplinarität der Theaterwissenschaft resultieren daher auch Konflikte – in Forschungsverbünden wie für die einzelnen Forschenden –, nicht nur hinsichtlich unterschiedlicher Wissenschaftsverständnisse. Noch schwerer wiegt, dass in dieser Dichotomie jedem Forschungsansatz eine irreduzible Dimension des ‚Gegenstands‘ Theater entgeht, der eben grundlegend sozial und zugleich ästhetisch verfasst ist.

Derzeit zieht sich die interdisziplinäre Kluft durch Forschungsverbünde und Institute, durch Konferenzthemen und Forschendenbiografien bis in den Aufbau einzelner Studien: Es scheint bis jetzt nur möglich zu sein, entweder die sozialen Bedingungen von Theater als Organisation und Institution zu beforschen oder seiner ästhetischen Erfahrungsqualität und Reflexivität als künstlerische Aufführung gerecht zu werden. Mit jeder Entscheidung entlang dieser Alternative naturalisiert sich jedoch eine Spaltung des Gegenstands, die diesem selbst gerade nicht eigen ist: Theater unterscheidet nicht zwischen seiner sozialen und seiner ästhetischen Dimension, sondern verstrickt immer beide ineinander – Publika, Diskurse und Organisationsformen in eine ästhetische Eigendynamik sowie das ästhetische Urteil in ein sozial geteiltes Ereignis.

Dieser Doppelcharakter der Darstellenden Künste ist sicher auch historisch nachzuverfolgen, in unterschiedlichen Tendenzen der jüngsten Gegenwart aber besonders präsent. So wurde in den vergangenen Jahren intensiv über Arbeitsbedingungen, Machtstrukturen und Machtmissbrauch im deutschsprachigen Theaterbetrieb diskutiert.5 Zugleich wurden verstärkt Strukturen identifiziert, die zum Ausschluss oder zur Unterrepräsentation bestimmter Gruppen auf der Bühne oder im Publikum führen, und ein Wandel dieser Strukturen angestrebt, um der Heterogenität von (Stadt-)Gesellschaften gerecht werden zu können. In zahlreichen Kooperationen und Annäherungen zwischen öffentlich getragenen Theatern und Freier Szene zeigt sich, wie ihre jeweiligen Ästhetiken sich erst dem Zusammenspiel mit spezifischen Strukturbedingungen verdanken.6 Die beiden Betriebssysteme Darstellender Künste im deutschsprachigen Raum konfrontieren sich im Zuge intensivierter internationaler Kontakte mit ihren strukturellen und ästhetischen Alternativen in anderen Ländern.7 Oft werden Strukturbedingungen unter dem Einfluss internationaler Krisen und Konflikte als hemmend empfunden, wenn sie etwa durch politische Einflussnahme, durch Preissteigerungen oder monatelange Schließungen zur Pandemiebekämpfung Kunst unmöglich zu machen scheinen. Die Darstellenden Künste reflektieren all diese Strukturveränderungen – mal notgedrungen, mal proaktiv – in ihren Themen, ihren Projektzuschnitten und Stilentwicklungen und entziehen sich ihrer Verunmöglichung, etwa durch Verschiebungen ins Digitale.8

Gegenüber diesen zugleich strukturellen wie kunstpraktischen Formationen bleibt die wissenschaftliche Analyse in tradierten Disziplingrenzen und Fachexpertisen zurück. Deshalb wird die Differenz zwischen sozialwissenschaftlichen und ästhetischen Perspektiven auf Theater heute zunehmend als Problem erkannt – was nicht bedeutet, diese Differenz einfach leugnen zu können: Aktuelle Entwicklungen der Darstellenden Künste drängen eine interdisziplinäre Erforschung geradezu auf; doch wissenschaftliche Potenziale zur Zusammenarbeit über Fächergrenzen hinweg werden nicht voll genutzt, solange die Konsequenzen und Grenzen der Interdisziplinarität zu wenig reflektiert sind. Das Verhältnis zwischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Prägungen als Spannung sowie die eigene Position darin bewusst zu machen ist die Voraussetzung dafür, Überbrückungen, Abstecher und Rundreisen auf die je andere Seite überhaupt konzipieren zu können. Produktive neuere Ansätze sind sich der inneren Vielfalt und Interpretationsabhängigkeit sozialwissenschaftlicher Perspektiven bewusst, orientieren sich an einer empirisch manifesten Realität von Theater und misstrauen abstrakten Theoriebildungen, wenn sie den Gegenstand eher verstellen oder gar ersetzen als ihn zu erklären. Statt Erkenntnisgewinn als singuläres Ereignis des Denkens zu mystifizieren oder aber, im Sinne des kritischen Rationalismus, auf das datenbasierte Prüfen von aus der Theorie abgeleiteten Hypothesen zu reduzieren, stellt sich die Frage nach einem integrativen Ansatz, der den Paradigmenstreit hinter sich lässt und die vielfältigen Methoden der Sozial- und Theaterwissenschaft zulässt. Ein Wechselspiel zwischen datenbasierten und interpretativen Herangehensweisen kann zur differenzierten Reflexion des Theaters sowie seiner gesellschaftlichen Rolle und Wirkung beitragen.

2Perspektive des ‚und‘

Der Sammelband Struktur und Ästhetik soll eine entsprechend reflexive interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Theater eröffnen. Das ‚und‘ in seinem Titel steht für beide Vorannahmen: Die Differenz zwischen den Betrachtungen von Theater als sozialem oder ästhetischem Gegenstand, die bislang nur aneinandergeheftet werden und nicht in eins zu setzen sind; sowie den dringenden Bedarf einer methodischen wie theoretischen Überbrückung, um beides zusammendenken zu können und nicht länger künstlich zu trennen. Diese Brückenschläge sollen im Herausarbeiten von Zusammenhängen bestehen, in denen das Soziale im Ästhetischen und das Ästhetische im Sozialen wirksam wird: Wie beeinflussen strukturelle Bedingungen (institutionelle Regeln, Finanzierung, Arbeitsbedingungen etc.) oder auch größere Transformationsprozesse (Globalisierung, Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Diversität etc.) die Ästhetik? Und umgekehrt: Wie wirken sich ästhetische Dynamiken und Eigenlogiken (legitimierend, reflexiv, kritisch, transformierend etc.) auf die Wahrnehmungen, Praktiken und Organisationsstrukturen des Theaters und seiner sozialen Umwelt aus?

Möglich werden solche Überbrückungsversuche, die durchaus als Pionierarbeit zu verstehen sind, durch einen zielgerichteten Methoden- und Perspektiventransfer zwischen Sozial- und Geisteswissenschaften sowie eine Erprobung von between-​methods etwa aus der Ethnografie oder Dispositiv- und Diskursanalyse, interdisziplinären Methodologien sowie der Verknüpfung unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen im Mixed-​Methods-​Paradigma. Dabei bewegen sich die Erkundungen so weit aus der jeweiligen disziplinären Komfortzone, dass eine kritische Reflexion der Fachgrenzen wie auch der Interdisziplinarität selbst möglich wird: Was wird sichtbar, was entgeht dem Blick, wenn Theater aus der einen oder der anderen Perspektive betrachtet wird? Wie stärkt die Gegenperspektive bestätigend oder erweiternd den eigenen Forschungsstandpunkt, wie irritiert sie produktiv oder bringt ihn gar ins Wanken? Ziel kann freilich nicht die Abschaffung aller Disziplinengrenzen oder das Überspielen der Differenzen im Wissenschaftsverständnis sein, sondern eine pluralistisch informierte und reflektierte Standortbestimmung: Stellt sich eine Studie in ästhetische Tradition, sollte sie auch sozialwissenschaftliche Perspektiven kennen, mit denen sich die komplexe Sozialdynamik ästhetischer Prozesse beschreiben lässt; ist sie der Erforschung sozialer Ordnung verpflichtet, weiß sie durch theater- und kunstwissenschaftliche oder philosophische Theorieanleihen um die Eigenart des Ästhetischen in ihr.

Die Beiträge dieses Bandes stellen sich aus aktueller Forschungstätigkeit heraus der interdisziplinären Herausforderung in diesem Sinne. Sie liegt bereits in einem Textaufbau, der die Problemformulierungen und die Gewichtung der Perspektiven aus Sozial- und Geisteswissenschaft tragen kann: Wo liegt der Ausgangspunkt, wo der Zielpunkt? Aus welcher Warte stellt sich überhaupt ein Problem, wie wird seine Bedeutung vermittelt? Wie gelingt interdisziplinär eine erhellende Kombination von Begriffen und Methoden, ohne den Forschungsgegenstand zu überfrachten? Wird zwischen den Perspektiven dialektisch oder gar dialogisch vermittelt oder dient die andere Perspektive primär als Kontrastfolie und Lackmustest für die eigene? In ihrer jeweiligen Anlage stehen die Beiträge so auch modellhaft für verschiedene Herangehensweisen interdisziplinärer Multiperspektivität und lösen Perspektiven des ‚und‘ allesamt auf je eigene Weise ein.

Die ersten beiden Beiträge des Bandes befassen sich mit dem Methodentransfer und zeigen Wege auf, wie die Analyse künstlerischer Arbeiten durch Perspektiven aus anderen Disziplinen erweitert werden kann. Hannah Voss untersucht die Verbindungslinien zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie am Beispiel des institutionalisierten Repräsentationsformats des Intendant:innenvorspiels an Schauspielschulen. Dabei geht Voss von einer Konvergenz zwischen den im Zuge der Aufführungsanalyse feststellbaren ästhetischen Ordnungen sowie der über den ethnografischen Forschungsprozess verstehbaren sozialen Ordnung aus und formuliert ein „Plädoyer für das Zwischen“, um Grenzen und Potenziale der Methoden auszuloten und interdisziplinär zu arbeiten. In „Von der Kunst der (Theater-)Wissenschaft“ verortet Angelika Endres Formate als Phänomen zwischen Struktur und Ästhetik und schlägt sie als theaterwissenschaftliche Untersuchungskategorie vor, um aus triangulierter Perspektive einen neuen Zugang zur ästhetischen Analyse zu eröffnen. Dabei nimmt sie Projekte und Angebote der Theater in den Blick, die insbesondere während und seit der Pandemie in Erscheinung traten, und betont schließlich das reflexive Potenzial von Formaten, nicht zuletzt auch für die Fachdisziplin selbst.

Der Abschnitt zur künstlerischen Zusammenarbeit versammelt Beiträge, deren Autor:innen auf den Zusammenhang von Arbeitsstrukturen, Probenbedingungen sowie Inhalt und Ästhetik unterschiedliche Perspektiven einnehmen. In „Das ist Wagner, nicht Costa Cordalis!“ analysiert Ulrike Hartung als methodischen Impuls für die Musiktheaterwissenschaft drei unterschiedliche Produktionsprozesse von Wagners Ring des Nibelungen probenethnografisch. In sieben abschließenden Thesen fasst Hartung die strukturell-ästhetische Relation zwischen dem Ring-Zyklus immanenten Erwartungsstrukturen und der künstlerischen Produktion. Rike-​Kristin Baca Duque hat diskursanalytisch „Die Kunstfreiheit im Blick“ und fragt, wie historisch und zeitgenössisch divergierende Auslegungen der juristisch schwer zu fassenden Kunstfreiheit auf ästhetische Praktiken und Organisationsstrukturen der öffentlich getragenen Theater wirken. Das Spannungsfeld zwischen künstlerischer Autonomie und sozialer Verantwortung, so eine zentrale These der Untersuchung, offenbart einen Wandel der Werte und Machtverhältnisse im Theater, wodurch wiederum die organisationalen Strukturen unter (Reform-)Druck geraten. Sebastian Stauss entwickelt in „Modifizierte Arbeitsstrukturen im Musiktheater nach Spielvorlagen von Brecht“ eine Perspektive des ‚und‘ durch die Untersuchung von Wechselwirkungen gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ästhetischer Strukturen. Vergleichend setzt Stauss zwei historische Spielvorlagen ins Verhältnis mit zeitgenössischer Inszenierungspraxis unter differenten Produktionsbedingungen, wobei eine Reflexion der künstlerischen Arbeits- und Umgangsweisen im Verhältnis von Produzent:innen und Rezipient:innen fokussiert wird.

Die drei Artikel des nächsten Abschnitts beleuchten Perspektiven des ‚und‘, indem sie Asymmetrien und Konflikte im internationalen Theaterbetrieb aufdecken und Wege zur Überwindung der sich daraus ergebenden Herausforderungen aufzeigen. In „Theatrale Feldforschungen: Welt“ untersucht Anja Quickert 100 % Stadt, ein strukturell partizipativ angelegtes Produktionsformat von Rimini Protokoll, das nach gleichem Muster und mit statistischen Mitteln an verschiedenen Orten weltweit Stadtgesellschaft in all ihrer Diversität abbildet. Im Fokus der Analyse steht, wie sich die spezifische Arbeitsweise des Kollektivs in internationalen Kontexten „glokal“ repliziert – was allein mit Blick auf die einzelnen daraus entstandenen Aufführungen nicht ersichtlich werden kann. Thomas Fabian Eder dokumentiert illiberale Angriffe auf das freie Theater in Europa. In „A Bastion of Enlightenment between Freedom and Repression“ untersucht er anhand eines internationalen Vergleichs dieser Übergriffe, ob eine Gesellschaft, die die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen schützt und die Freiheit der Künste fördert, eine notwendige Voraussetzung für ein unabhängiges Theater ist – oder ob das freie Theater seine volle Sprengkraft erst dann entfaltet, wenn es unter äußeren Druck gerät. Mit „Dimensionen der Übersetzung“ zeigt Silke zum Eschenhoff am Beispiel des Festivals Theaterformen, dass internationale Gastspiele mit einer Vielzahl struktureller, kultureller und inhaltlicher Übersetzungsnotwendigkeiten konfrontiert sind. Dabei kann an den Schnittstellen struktureller und ästhetischer Voraussetzungen auch eine Nicht-Übersetzbarkeit sichtbar werden, die bestenfalls Lernprozesse evoziert sowie Ästhetik und Arbeitsmethoden am Theater weiterentwickelt.

Der letzte Abschnitt des Bands diskutiert Theater und Öffentlichkeit. Maria Nesemanns Beitrag „Von Grabenkämpfen und Brückenschlägen“ analysiert die unterschiedlichen Ansätze zur kulturellen Teilhabe aus Perspektive der kritischen Kunstvermittlung und des Audience Developments sowie ihre Verbindung zu wissenschaftlichen Diskursen. Angesichts eines Legitimations-​Dilemmas zwischen Zugänglichkeit und künstlerischer Autonomie plädiert sie für ein Selbstverständnis von Kultureinrichtungen als „gute Nachbarin“ mit einladenden, aber eigenlogisch produzierten Angeboten gegenüber ihrer sozialen Umwelt. Abschließend verortet Benjamin Hoesch in seinem Beitrag „Geschlossene Gesellschaft?“ die öffentlichkeitswirksame Funktion des Theaters nicht in maximaler medialer Reichweite, sondern in der ästhetischen Reflexion der eigenen Grenzziehungen und Ausschlüsse. Im Kontrast zwischen den Bayreuther Festspielen und dem studentischen Festival Theatermaschine in Gießen wird ein Verständnis von Theateröffentlichkeiten in der wechselseitigen Bezugnahme ästhetischer und sozialer Perspektiven entworfen.

Begleitet wurde der Entstehungsprozess der Beiträge von einer Verständigung der Autor:innen über zentrale Begriffe und Perspektiven ihrer jeweiligen Fächer, in denen Struktur und Ästhetik des Theaters bislang getrennt gefasst werden oder zusammenführbar scheinen. Alle Beiträge wurden sowohl aus einer theaterwissenschaftlichen wie aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive lektoriert und konfrontierten sich so bewusst mit fundamentalen Alternativen zu ihrer Herangehensweise an das Feld der Darstellenden Künste sowie zu ihrer Argumentation in dessen Beforschung. Entsprechend sollen nun aber auch die Leitbegriffe des Bandes mit ihren diskutierten Alternativen offengelegt werden, um die darin getroffenen, womöglich streitbaren Entscheidungen nicht zu kaschieren.

3Struktur, Ästhetik und ihre Alternativen

‚Struktur‘ und ‚Ästhetik‘ wurden im Titel als stellvertretende Begriffe zur Bezeichnung jeweils eines ganzen Bündels an Themen, Methoden und Theorien gewählt. Um die sozialwissenschaftlich erfassbare und die geisteswissenschaftlich reflektierte Dimension von Theater zu bezeichnen, hätte die Begriffswahl auch anders ausfallen können: Anstelle von ‚Struktur‘ hätte etwa ‚Gesellschaft‘ stehen können, um die vielschichtige Einbettung und komplexe Einschreibung des Theaters im Sozialen und ins Soziale zu markieren; es wurde ‚Arbeit‘ vorgeschlagen, um die Versachlichung von Praktiken und Routinen, denen sich auch das Ästhetische verdankt, zu betonen; schließlich hätte es auch ‚Daten‘ heißen können, um ein sozialwissenschaftliches Verständnis von Forschungsmaterial aufzurufen, das in einer ästhetisch orientierten Theaterwissenschaft bislang nur zögerlich aufgegriffen wird. Diese Aspekte sind in unserer Entscheidung für den Überbegriff der Struktur weiterhin mitgemeint, die wir in Anlehnung an Anthony Giddens zugleich als Bedingung wie auch als Ergebnis sozialen Handelns verstehen.1

Auch für ‚Ästhetik‘ hätte es spezifischere Alternativen gegeben: Wir hätten ‚Erfahrung‘ schreiben können, um den sinnlich-​emergenten und subjektiven Aspekten des Ästhetischen Rechnung zu tragen; mit ‚Reflexivität‘ wäre die spezifische Eigenlogik des Ästhetischen zusammen mit einer möglichen Relation zu Außerästhetischem benannt worden; die Begriffe ‚Spiel‘ oder ‚Kraft‘ hätten schließlich das Lustvolle und Energetische, aber auch Verunsichernde und Transformative der ästhetischen Dimension herausgestellt. Der gewählte Begriff von Ästhetik umfasst diese Aspekte und bezeichnet im Anschluss an Christoph Menke die Gegenseite zu einer reinen Verwirklichung sozialer Praxis, mit der diese in der Kunst zusammentrifft.2

Das ausgewählte Begriffspaar ‚Struktur‘ und ‚Ästhetik‘ hat zudem den Vorteil, dass beide sowohl geistes- als auch sozialwissenschaftlich bereits eingesetzt werden. Sie sind also fächerübergreifend bekannt – müssen nun jedoch durch das komplexere Verständnis der jeweils anderen Seite geschärft werden. In geisteswissenschaftlicher Tradition kommt der Strukturbegriff zum Einsatz, um den Aufbau sowie Größen- und Dominanzverhältnisse von Gegenständen oder Systemen zu erfassen. ‚Struktur‘ steht hier für einen fixierbaren Zusammenhang und bleibt dem Wesentlichen des ästhetischen Gegenstands äußerlich – selbst wenn dieser seinen ästhetischen Status der spezifischen Struktur verdankt. In diesem Verständnis rückt die Struktur in Opposition zur Emergenz und Flüchtigkeit von ästhetischer Erfahrung und Wirkung, die bevorzugt in Ereignissen gedacht werden und sich der strukturellen Determination entziehen.

Dabei wird übersehen, dass es schon seit den 1980er Jahren sozialwissenschaftliche Theorien gibt, die auch eine Prozessualität und Situationalität – es ließe sich auch sagen: eine Ereignishaftigkeit – von Struktur in Rechnung stellen. Sie wird etwa als Strukturation in einem wechselseitigen Determinationsverhältnis mit den Praktiken sozialer Akteur:innen gedacht und kann auf diese nur insoweit ermöglichend, stabilisierend oder prohibitiv einwirken, wie sie selbst von ihnen hervorgebracht wird.3 Soziale Struktur ist so gleichermaßen als Voraussetzung wie als – stets wandelbares – Produkt performativer Akte zu verstehen.

Der Begriff der Ästhetik ist wiederum in den Sozialwissenschaften bereits in regem Gebrauch, insbesondere in seiner prozessualisierten Variante: Mit den Gesellschaftsdiagnosen einer fortschreitenden „Ästhetisierung des Alltagslebens“ markieren sie eine Verschiebung der gesellschaftlichen Leitorientierung von den Maßstäben des Nützlichen zu den zweckfrei sinnlichen Reizen des Überraschenden und Neuen.4 Ästhetik ist in dieser Betrachtung offenbar allgegenwärtig und zugleich ihrer kulturellen Besonderheit und gesellschaftlichen Brisanz beraubt, lässt sich in Design, Lifestyles und Subjektidealen zur sozialen Distinktion und zur Durchsetzung marktkonformer Imperative in den Dienst nehmen. Von der Verunsicherung durch eine vorsubjektive ästhetische Kraft, der Eigenlogik ästhetischer Reflexivität oder der Aporie des ästhetischen Urteilens, wie sie in der ästhetischen Theorie diskutiert werden,5 bleibt in diesem Konzept der Ästhetisierung nicht viel übrig.

Es scheint daher in der interdisziplinären Verständigung zwischen Sozial- und Geisteswissenschaften dringend, wenn auch nur heuristisch geboten, einen starken und kunstspezifischen von einem verallgemeinerten und sozial diffusen Ästhetikbegriff abzusetzen – freilich, ohne damit eine Unterscheidung von Hoch- und Trivialkultur zu erneuern. In der kulturellen Praxis gehen die damit verbundenen Verständnisse von Ästhetik ineinander über und beziehen sich aufeinander – wissenschaftlich fehlt es bislang an der Präzisierung, um solche Wechselwirkungen überhaupt erfassen zu können. Beide Begriffe haben je nach Forschungsinteresse und Gegenstand ihre Berechtigung: Der oben skizzierte sozialwissenschaftliche Ästhetisierungsdiskurs macht auf die – wachsende – Bedeutung sinnlicher und affektiver Anteile an sonst rein funktional und zweckrational verstandenen sozialen Dynamiken aufmerksam; damit rechtfertigt er auch die Übertragung theater- und kunstwissenschaftlicher Perspektiven auf außerkünstlerische Phänomene, die sich immer wieder als produktiv erweist. Doch nur das starke Ästhetikverständnis holt eine Eigenqualität der Kunst und des Theaters ein, die sich auch in den ihnen zugedachten Institutionen eher ausnahmsweise als garantiert einlöst, aber dort ihr gesellschaftliches Refugium hat, das sie als ästhetisches Potenzial und Existenzberechtigung der Institution fundamental prägt: Diese Eigenqualität liegt in der Erfahrung des Subjekts in Konfrontation mit den eigenen Grenzen des Verstehens, Einordnens und Beherrschens sowie der künstlerischen Praxis, die eigenen Regeln und den eigenen Wert als Kunst immer wieder aufs Spiel zu setzen. Es ist diese Eigenlogik des – stark begriffenen – Ästhetischen, aufgrund derer Theaterorganisationen und ihre Umwelten besondere reflexive Herausforderungen an ihre theater- wie sozialwissenschaftliche Untersuchung stellen. Die hier versammelten Beiträge gehen in ihrem Fokus auf die Darstellenden Künste von diesem starken Ästhetikbegriff aus, nehmen aber auch die Ausfransung und Anschlüsse der Künste an ästhetisierte Praktiken in Gesellschaft, Kultur und Politik in den Blick.

4Erfahrungen der interdisziplinären Zusammenarbeit

Diesem Sammelband geht die mehrjährige Zusammenarbeit der Autor:innen in der DFG-​Forschungsgruppe „Krisengefüge der Künste“ voraus. Auch die Auseinandersetzung über die Konzeption eines gemeinsamen Bandes und die Erstellung der Beiträge konnte dabei deutlich intensiver geführt werden, als dies bei Sammelpublikationen sonst üblich ist – u. a. in mehreren digitalen Diskussionsrunden sowie in zwei mehrtägigen Arbeitstreffen zu Beginn und zum Abschluss der jeweiligen Forschungsarbeit. Dabei traten sowohl Gemeinsamkeiten als auch fortbestehende Differenzen in der Erfahrung mit Interdisziplinarität im Rahmen dieses Bandes und der Forschungsgruppe hervor. Diese seien hier abschließend in ihren Konsequenzen für künftiges interdisziplinäres Arbeiten kurz umrissen.

Einig sind sich die Autor:innen über Fächergrenzen hinweg, dass die Darstellenden Künste ein Phänomen mit ganz eigenen Zusammenhängen und Wirkungspotenzialen sind, die es aus jeder disziplinären Perspektive zu berücksichtigen gilt. Das ist vor allem deshalb geboten, weil sich die Darstellenden Künste und ihre Akteur:innen i. d. R. der theoretischen und analytischen Festschreibung ihres Handelns entziehen und gleichzeitig zu Reflexion und Diskussion herausfordern: „Bereits die Formulierung der [wissenschaftlichen] Erwartung wird das Theater dazu motivieren, der Erfüllung dieser Erwartung nach Möglichkeit auszuweichen“.1 Der fundamental eigene Charakter der Darstellenden Künste wird in den Beiträgen daher sehr unterschiedlich benannt und verortet – ob in einer reflexiv gebrochenen Repräsentation der Gesellschaft, in der Kraft des ästhetischen Experiments, im Aufkommen und Ausgestalten neuer Formate, in der kommunikativen Herausforderung von Übersetzung und Vermittlung oder in der zivilgesellschaftlichen Resistenz. Das Rätsel des Ästhetischen wird so auch hier nicht gelöst, sondern scheint in verschiedenster Form vermittelt über das Soziale auf.

Auf ihre je eigene Weise, jedoch unabhängig vom fachlichen Hintergrund, verschreiben sich die Beiträge zugleich einem weiten Verständnis von Empirie, das als epistemische Verpflichtung gegenüber realen Wirkungszusammenhängen und sozialen Akteur:innen – anstelle idealistischer, abstrakt-​distanzierter Theoretisierungen – zu charakterisieren ist. Sehr unterschiedliche Auffassungen zeigen sich dann darüber, wie Forscher:innen dieser Verpflichtung am ehesten gerecht werden können: Hier stehen insbesondere methodische Alternativen einander gegenüber – etwa das subjektive Zurücktreten zugunsten der Stimmen von Akteur:innen gegen die normativ-​kritische Stellungnahme und Selbstreflexion des forschenden Subjekts; die systematische Auswertung möglichst umfangreicher Datensätze gegen die interpretative Vertiefung des Einzelfalls; die Beschränkung auf datenbasiert ermittelte soziale Realitäten gegen den Einbezug qualitativ wahrgenommener, auch strittiger und bestreitbarer Tendenzen und Diskurse. Diese alternativen Herangehensweisen sind freilich nicht unabhängig von sozial- oder geisteswissenschaftlicher Prägung der Forschenden und ihrer Disziplinen, kombinieren sich in den Beiträgen aber auch quer zu dominanten Logiken und ihren wechselseitigen Ausschlüssen. Solche Überschreitungen riskieren bewusst den Vorwurf der Inkonsistenz, um die disziplinäre Lagerbildung zu durchbrechen – die Anerkennung berechtigter Differenzen in der Verpflichtungswahrnehmung gegenüber dem Gegenstand bestimmt die Beiträge auch da, wo sie noch keine integrativen Lösungen anbieten können.

Einige Autor:innen fanden in der interdisziplinären Anlage des Bandes den Rahmen für die Klärung und Erhellung sie schon länger beschäftigender Diskurse und Phänomene, in denen das Ästhetische und das Soziale gar nicht voneinander getrennt diskutierbar sind; andere betraten in der Theorie- und Methodenanleihe aus anderen Disziplinen für sich bewusst Neuland. In beiden Fällen erwies sich als besonders produktiv eine interdisziplinäre Haltung, die sich als zugleich diplomatisch und spielerisch beschreiben lässt: Im Interdisziplinären eröffnet sich Forschenden die Möglichkeit, Phänomenen und Fragen mit offenem Visier zu begegnen, ohne gleich das analytische Werkzeug zu ihrer Durchdringung und Einordnung parat zu haben. Daraus lässt sich dann aber auch das Recht ableiten, auf Fachdiskurse, Begriffe und Methoden aus mitzuständigen Disziplinen probeweise und unbedarft zuzugreifen, ohne sich damit alle Voraussetzungen und das gesamte Wissenschaftsverständnis dieses Fachs einzuhandeln. In dieser (gedanken-)spielerischen Freiheit konnten sich die Autor:innen dieses Bandes am fruchtbarsten interdisziplinär herausfordern: Experimentiert eine theaterwissenschaftliche Untersuchung mit sozialwissenschaftlichen Verfahren, gelten für sie nicht von vornherein die gleiche methodische Strenge und der Überprüfbarkeitsanspruch wie für erfahrene Fachexpert:innen; reflektiert eine sozialwissenschaftliche Argumentation einen Eigenwert der Kunst, muss sie sich dabei nicht präzise im ästhetischen Diskurs der letzten Jahrhunderte positionieren können. Denn gerade in den Anpassungen, Unschärfen und Unvollständigkeiten im Zuge interdisziplinärer Theorie- und Methodenanleihen öffnen sich neue Denkräume, die nicht einfach disziplinäre Zwänge addieren, sondern produktiv durchkreuzen.

Wie sich in diesen Überlegungen bereits andeutet, ist die interdisziplinäre Herausforderung – gerade in der Erforschung der Darstellenden Künste – für uns mit diesem Band keineswegs abschließend bewältigt; ihre Dringlichkeit und auch ihr Reiz bleiben ungebrochen. Anstelle eines Endes der interdisziplinären Zusammenarbeit (wie es der Projektabschluss der gemeinsamen Forschungsgruppe im Frühjahr 2024 markiert) kommen uns noch viel weiterreichende und tiefergreifende interdisziplinäre Auseinandersetzungen und Verschränkungen in den Sinn – die hier entwickelten Ansätze entschlossen weiterdenkend: Garantiert die verfassungsrechtliche Institution der Kunstfreiheit gerade in ihrer juristischen Uneindeutigkeit eine ästhetische „Freiheit vom Sozialen im Sozialen“2? Oder sind demokratische Werte und Subventionen als Grundlage sozialer Strukturen nicht auch die Grundlage für die Freiheit der Kunst? Was ergäbe eine konsequente Relektüre von Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit als ästhetische Theorie? Wie weit verwandeln sich organisationale und künstlerische Strategien in den Begriffen des Formats, der Übersetzung oder der Vermittlung einander an? Auf dem Weg zu einer ästhetisch informierten Sozialempirie der Darstellenden Künste einerseits, einer sozialtheoretisch fundierten institutionellen Ästhetik andererseits kann dieser Band nur einen ersten Aufschlag anbieten. Eine rege und reflektiert interdisziplinäre Debatte um die Darstellenden Künste hätte damit weiterhin ausreichend Fragen zu verhandeln – im Vertrauen darauf, dass die Künste selbst jede abschließende Klärung unterlaufen und die Frage nach dem Zusammenhang ihrer Struktur und ihrer Ästhetik immer wieder neu stellen werden.

Literatur

Baecker, Dirk (2013). Wozu Theater? Berlin: Theater der Zeit.

Balme, Christopher/Szymanski-​Düll, Berenika (2020). Einleitung. In: Dies. (Hrsg.). Methoden der Theaterwissenschaft. Tübingen: Narr Francke Attempto, 9–25.

Bier, Silvia et al. (Hrsg.). Hitler.Macht.Oper. Propaganda und Musiktheater in Nürnberg 1920–1950 (= Thurnauer Schriften zum Musiktheater 40). Würzburg: Königshausen & Neumann. 

Eder, Thomas Fabian (2023). Independent performing arts in Europe: Establishment and survival of an emerging field. London: Routledge. 

Eder, Thomas Fabian/Rowson, James (2023). Documenting Crisis: Artistic Innovation and Institutional Transformations in the German-​Speaking Countries and the UK. New Theatre Quarterly 39 (4), 333–354.

Eschenhoff, Silke zum (2021). Versprechen auf die Zukunft – Der Zusammenhang zwischen Förderung, Produktionsbedingungen und Theaterästhetik am Beispiel der Freien Szene in Niedersachsen. In: Mandel, Birgit/Zimmer, Annette (Hrsg.). Cultural Governance. Legitimation und Steuerung in den darstellenden Künsten. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 101–118.

Felton-​Dansky, Miriam/Ilter, Seda/Mosse, Ramona/Tecklenburg, Nina/Vrolijk, Carmen Gil. (2023). Framing hybrid futures in the Anthropocene. International Journal of Performance Arts and Digital Media 19 (1), 1–11.

Fischer-​Lichte, Erika/Jost, Torsten/Jain, Saskya Iris (Hrsg.) (2014). The Politics of Interweaving Performance Cultures. Beyond Postcolonialism. New York (u. a.): Routledge.

Gadola, Cilgia/Haunschild, Axel/Speicher, Hannah/Steinkamp, Anna (2023). SystemFAIRänderung: Abschlussdokumentation des Forschungsprojekts „Systemcheck“. Hrsg. vom Bundesverband Freie Darstellende Künste e. V. Abrufbar unter: https://darstellende-kuenste.de/sites/default/files/2023-10/BFDK_Systemcheck_Abschlusspublikation.pdf (Stand: 01.06.2024).

Garde, Ulrike/Severn, John R. (Hrsg.) (2021). Theatre and internationalization. Perspectives from Australia, Germany, and beyond. London: Routledge. 

Giddens, Anthony (1984). The Constitution of Society: Outline of a Theory of Structuration. Cambridge: Polity Press.

Giddens, Anthony (1997). Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung (= Theorie und Gesellschaft 1). 3. Aufl. Frankfurt a.M.: Campus.

Habermas, Jürgen (1962). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand.

Hoesch, Benjamin (2024). Nachwuchsfestivals. Institution, Organisation und Wandel des Gegenwartstheaters (= Critical Theater Studies). Berlin: Herder. (In Vorbereitung.)

Husel, Stefanie (2020). Zur Praxeologie des Theaters. In: Wihstutz, Benjamin/Hoesch, Benjamin (Hrsg.). Neue Methoden der Theaterwissenschaft (= Theater 133). Bielefeld: transcript, 225–246.

Loacker, Bernadette (2010). Künstlerische Arbeit und Subjektivität im Postfordismus. Bielefeld: transcript.

Manske, Alexandra (2016). Kapitalistische Geister in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Kreative zwischen wirtschaftlichem Zwang und künstlerischem Drang. Bielefeld: transcript.

Matzke, Annemarie (2012). Arbeit am Theater. Eine Diskursgeschichte der Probe. Bielefeld: transcript.

Menke, Christoph (2013). Die Kraft der Kunst (= Suhrkamp-​Taschenbuch Wissenschaft 2044). Berlin: Suhrkamp.

Oberkrome, Friederike (2022). Über die Wiederkehr des Botenberichts im Theater der Migration. Berlin: Neofelis.

Otto, Ulf (2023). Post-​performance: Pandemic Breach Experiments, Big Theatre Data, and the Ends of Theory. Theatre Research International 48 (1), 24–37.

Pfost, Haiko/Renfordt, Wilma/Schreiber, Falk (Hrsg.) (2020). Lernen aus dem Lockdown? Nachdenken über Freies Theater. Berlin: Alexander.

Reckwitz, Andreas (2012). Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp.

Schmidt, Thomas (2019). Macht und Struktur im Theater. Asymmetrien der Macht. Wiesbaden: Springer.  

Schulze, Gerhard (1992). Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Campus.

Siegmund, Gerald (2020). Theater- und Tanzperformance zur Einführung. Hamburg: Junius.

Voss, Hanna (2023). From Drama School to Stage: Young Actors of Color in German-​Speaking Sprechtheater. In: Layne, Priscilla/Tonger-​Erk, Lily (Hrsg.). Staging Blackness: Representations of Race in German-​Speaking Drama and Theater. Ann Arbor: University of Michigan Press.

Wagner, Meike/Ernst, Wolf-​Dieter (Hrsg.) (2024). Utopie in Theater, Performance und Aktion. Bielefeld: Aisthesis.

Warstat, Matthias/Evers, Florian/Flade, Kristin/Lempa, Fabian/Seuberling, Lilian (Hrsg.) (2017). Applied Theatre. Rahmen und Positionen (= Recherchen 129). Berlin: Theater der Zeit.

Wesemüller, Mara Ruth (2022). Kooperationen im Theater. Institutioneller Wandel der freien darstellenden Künste. Berlin: Peter Lang.

Wihstutz, Benjamin/Vecchiato, Daniele/Kreuser, Mirjam (Hrsg.) (2022). #CoronaTheater. Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie. Berlin: Theater der Zeit.

Wolfsteiner, Andreas (2020). Theater der Tabellen. Zur Organisationsgeschichte des Theaters am Beispiel des Scenariums. In: Wihstutz, Benjamin/Hoesch, Benjamin (Hrsg.). Neue Methoden der Theaterwissenschaft (= Theater 133). Bielefeld: transcript, 183–202.

METHODENTRANSFER

Zwischen Aufführungsanalyse und Ethnografie

Zur Konvergenz sozialer und ästhetischer Ordnung(en) am Beispiel der Erforschung von Absolvent:innenvorsprechen

Hanna Voss

„Bonjour. I’m Oscar Wilde, always modisch and always eitel, … Ich bin Nietzsche, zornig, traurig, Gott ist tot, … (mit französischem Akzent) Ich bin Victor Hugo, romantisch, naiv, … (schneller) Ich bin Salvador Dalí, Salvador Dalí, … Ich bin Michelangelo, …“ – gerade hatte Sergej Czepurnyi als Cal aus Koltès’ auf einer westafrikanischen Baustelle spielendem Stück die letzten Worte seiner Szene gesprochen („Die Latrine, das ist die Lösung, … damit ich den endlich in Ruhe lassen kann, … (flüsternd) Endlich habe ich Ruhe“), da ging das zuvor gedämpfte Licht auf der Bühne an und Caner Sunar stellte ‚sich‘ den circa 120 anwesenden Zuschauenden nacheinander als berühmter Schriftsteller, Philosoph, Maler und/oder Bildhauer vor.1 Sein Kommilitone Sergej war gleich zu Beginn abgegangen und hatte die ansonsten leere Bühne des Theaters im Salzburger KunstQuartier für Sunars „MONOLOG“ freigemacht; laut dem bei Einlass auf fast allen Stühlen liegenden „Programmablauf“ hatte er diesen selbst verfasst. Nicht nur in diesem, sondern auch in zwei weiteren Punkten unterschied sich die rund fünfminütige Szene maßgeblich von den anderen der an diesem Abend dargebotenen, so fuhr Sunar nach der Vorstellung als Michelangelo („Ich bin Holz, du bist Holz, das brennt“) folgendermaßen fort, das hörbar amüsierte Publikum direkt adressierend:

Es ist äußerst schwierig, die eigene Identität zu finden, wenn man so viele Idole hat. Das wollte ich nur einmal gesagt haben, sind Intendanten da heute? Weil wenn das hier jetzt klappt und ich ein Vorsprechen kriege, und du mit mir arbeitest – ich weiß nicht, wer, aber – dann wirst auch du, davon bin ich überzeugt, diesen berühmten Theatersatz sagen: ‚Trau dich mehr, duzu sein. Zeig mehrdich. Ich will mehr dich sehen.‘ – Ich weiß nicht, wer ich bin. (Pause) Ja. (Pause) Wie denn auch, wenn ich die ganze Zeit rennen muss. Wie soll ich wissen, wer ich bin? Rennen, rennen, (von ruhig in den Tonfall eines Ansagers wechselnd) rennen werden, meine Damen und Herren, drei arme Kinder aus Dritte-​Welt-​Ländern und zwar nach Europa zur civilisation! Ein Marokkaner, ein Iraner und ein Türke – Riiiing! (das Geräusch einer Klingel nachahmend)

Denn einerseits thematisierte Sunar auf diese Weise die Situation der Aufführung bzw. die dieser auf Seiten der Produktion und Rezeption zugrunde liegenden Annahmen und Erwartungen: An diesem Abend im November 2016 fand laut der Vorankündigung auf der Website der Universität Mozarteum Salzburg und dem im Eingangsbereich ausliegenden Veranstaltungskalender der Hochschule das „Intendantenvorspiel“ des Thomas Bernhard Instituts statt; der Eintritt war frei, eine Anmeldung erbeten. Bereits vor Beginn der Aufführung lagen im Eingangsbereich des Theaters mehrere Stapel eines handlichen Heftchens zum Mitnehmen aus: darin auf je einer Doppelseite die Fotos und ‚Steckbriefe‘ der zehn Absolvent:innen des Schauspieljahrgangs 2013–2016 mit Angaben zu Geburtsjahr und ‑ort, Größe, Haar- und Augenfarbe, Sprachen, Dialekt, Stimmlage, Führerschein, besonderen Fähigkeiten, gearbeiteten Rollen, Engagements in Theater, Film und Fernsehen sowie die privaten Kontaktdaten (Mailadresse und Telefonnummer). Andererseits schien Sunar, der laut dem ‚Steckbrief‘ 1993 in Antiochia (Türkei) geboren wurde und neben Deutsch und Englisch auch Türkisch und Arabisch spricht, in dem Monolog seine eigene Migrationsgeschichte zu verarbeiten, womit er der Erwartungshaltung, mehr von ‚sich selbst‘ zu zeigen, scheinbar nachkam: Weiter im Tonfall eines Ansagers bzw. Sportkommentators („herzlich willkommen zum 130. Zivilisationswettbewerb“) schilderte er in einer Art Mauerschau das Kopf-​an-​Kopf-​Rennen zwischen dem Iraner und dem Marokkaner, am Ende gewinnt jedoch überraschend – „der Türke!“, der von ihm des Weiteren als „Türke mit arabischen Wurzeln“ beschrieben wird. Zwischenzeitlich in die Figur eines Lehrers, Betreuers o.Ä. wechselnd („So, was haben wir denn da, ein dreizehnjähriger Türke, … hat sich beschäftigt mit europäischer Literatur, … Komm, jetzt wirst du gewaschen und sauber gemacht, dann schön angekleidet, mit Sachen, von denen du immer geträumt hast“, „… studieren? Nein, du wirst Handwerker“), kehrte Sunar am Ende der Szene jedoch wieder zurück in seine Ausgangsrolle. An die Stelle der einstigen Idole waren nun bekannte Marken bzw. Modedesigner getreten, was zwar als Ausdruck eines Ankommens dargestellt wird, aber nicht bei sich selbst: „Mein Hemd heißt jetzt Wolfgang Joop, meine Hose Roberto Cavalli, meine Schuhe heißen …, Christian Dior, Louis Vuitton, Calvin Klein, ich glaube, ich bin angekommen.Es ist äußerst schwierig den eigenen Namen zu finden, wenn man so viele Namen trägt“; nur wenige Momente später erklangen auf einer E-​Gitarre die ersten Akkorde des von Nina Steils vorgetragenen Liedes „Mit beiden Armen winken“ des Duos Weber-​Beckmann.

Der somit in zweierlei Hinsicht als selbstreferentiell deutbare „MONOLOG“ war nicht der erste Auftritt Sunars an diesem Abend: Ungefähr eine dreiviertel Stunde vorher hatten Czepurnyi und er als Prinz und Marinelli zusammen eine längere Szene aus Lessings Emilia Galotti gespielt, seine dunklen, ihm in die Stirn fallenden Locken zunächst unter einem Haarnetz verbergend und mit einem Löffel gelangweilt in einer Kaffeetasse rührend. Und eine knappe halbe Stunde zuvor hatte er bei gedämpftem Licht auf einem Barhocker sitzend und gutgelaunt ins Publikum blickend ein „arabisches Volkslied“ gesungen – so die Bezeichnung in dem „Programmablauf“ –, ebenfalls begleitet von der E-​Gitarre. Auch war er zu Beginn der insgesamt etwas über 100 Minuten dauernden Aufführung gemeinsam mit den acht anderen an diesem Abend auftretenden Absolvent:innen bei dem Anfangschor aus Glänzende Aussichten von Martin Heckmanns auf der Bühne zu erleben gewesen: eine auf Gesprächen mit Studierenden beruhende Auftragsarbeit für das Mozarteum „über mutige Anfänger einer skeptischen Generation, die angesichts einer vernetzten Wirklichkeit aus Abhängigkeiten und Fluchtbewegungen nach Spielräumen suchen und nach ihrer Rolle im Leben“.2 Am Ende trat er zudem bei dem gemeinsamen „AbschlussSONG“ in Erscheinung: eine sehr freie, mitunter komisch gebrochene Interpretation von Bon Jovis Song It’s my life. Außerdem wirkten die Absolvent:innen teilweise unterstützend bei Szenen anderer mit, sei es szenisch oder musikalisch, wodurch die Zuschauenden die sich Präsentierenden öfter als in ihren zwei bzw. überwiegend drei Szenen zu Gesicht bekamen (zumeist ein Soloauftritt, eine Partnerszene und ein Lied), was eine Besonderheit dieses Abschlussvorsprechens darstellte.

1Theater als Institution erforschen: Vorsprechen als Möglichkeit und methodische Herausforderung

Gefolgt war ich der Ankündigung der Universität Mozarteum Salzburg, weil ich auf diesem Wege Aufschluss über die „Produktion“ von professionellen Schauspielenden im organisationalen Feld des deutschen bzw. deutschsprachigen Sprechtheaters zu erhalten hoffte.1 Ausgehend von dem theaterwissenschaftlichen Antrag für ein Teilprojekt im Rahmen der Mainzer DFG-​Forschungsgruppe „Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung“ (2013–2019) und der Frage, welche Faktoren in diesem Feld die Relevanz oder Irrelevanz von Ethnizität bzw. ‚Rasse‘ bedingen, hatte ich hierfür mit der Ethnografie bzw. teilnehmenden Beobachtung methodisch einen Weg eingeschlagen, wie er auch von Paul DiMaggio für die Erforschung organisationaler Felder beschrieben wird, für mich als studierte Theater-, Literatur- und Wirtschaftswissenschaftlerin jedoch überwiegend Neuland darstellte.2 So geht DiMaggio grundsätzlich davon aus, dass man zur Erforschung der Gründe und Konsequenzen institutionellen Wandels im Wesentlichen einen qualitativen und oftmals auch historischen Forschungsansatz verfolgen müsse; unter bestimmten Umständen bewertet er quantitative Ansätze jedoch als sinnvolle Ergänzung, z. B. mit Blick auf das Problem der natürlichen Grenzen des Wahrnehmens und Erkennens in ethnografischen Studien insbesondere großer organisationaler Felder mit nationaler Reichweite („the ‚ethnographer‘ of an organizational field cannot devote as close and focused attention to the natives of that field as can the ethnographer of a single organization“).3 Konkret führt er in diesem Zusammenhang u. a. Interviews mit Teilnehmenden, die Sichtung von Archivmaterialien und die Beobachtung von spezifischen organisationalen wie interorganisationalen Settings an.4 Da es sich bei dem von mir erforschten Feld mit Georg Breidenstein et al. nicht um eine Lokalität, sondern um einen „Praxis-​Zusammenhang“ handelt, „der in seiner geographischen Streuung an spezifischen Orten stattfindet“,5 kommt Letzterem – der teilnehmenden Beobachtung interorganisationaler Settings, bei denen sich die „Branche“ trifft – ein zentraler Stellenwert innerhalb meines empirischen Studiendesigns zu. In diesem Fall muss die Zeit der teilnehmenden Beobachtung nämlich anders intensiviert werden als bei Ethnografien, die einen Ort fokussieren, weshalb Breidenstein et al. unter Verweis auf Georg Marcus vorschlagen, von multilokaler, translokaler oder multi-​sited Ethnografie zu sprechen.6

Das Salzburger „Intendantenvorspiel“ war das letzte von insgesamt fünf, die ich ab Mitte/Ende September 2016 im Rahmen meiner Feldforschung besucht habe, wobei mein Weg mich zunächst quer durch die Republik geführt hat: Den Anfang bildete das „Absolventenvorsprechen“ der Berliner Universität der Künste, darauf folgten das „Szenenvorspiel der Schauspielabteilung“ der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, das „Intendanten-​Vorspiel des 4. Jahrgangs Schauspiel“ der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart sowie das „Absolventenvorsprechen der Otto Falckenberg Schule“. Die Vorsprechprogramme dieser fünf Ausbildungseinrichtungen bzw. eine gekürzte Version davon habe ich kurz darauf im Rahmen des „12. Zentralen NRW-​Vorsprechen der Schauspielhochschulabsolventen“ (14.–18. November) auf der Studiobühne des Rheinischen Landestheaters Neuss ein zweites Mal gesehen, gemeinsam mit jenen der sechzehn bzw. fünfzehn anderen staatlichen und städtischen Schauspiel(hoch)schulen des deutschsprachigen Raumes – auch deshalb konnte ich mir zu Sunars Monolog wie dem gesamten Vorsprechprogramm im Dunkeln (Salzburg) oder Halbdunkeln (Neuss) im Publikum sitzend vergleichsweise viele Notizen machen, worauf die voranstehende Beschreibung neben den mitgenommenen Materialien primär beruht. Neunzehn von diesen Schulen, nämlich all jene, die zu diesem Zeitpunkt Mitglied der Ständigen Konferenz Schauspielausbildung (SKS) waren oder sich im Aufnahmeprozess befunden haben, haben sich während dieser fünf Tage zudem im Rahmen der von diesem Verein seit 2012 parallel organisierten „Zentralen Absolventenvorspiele“ in Berlin und München einem Fachpublikum aus Theater, Film und Fernsehen präsentiert, darunter auch das Thomas Bernhard Institut.7 Zwar hat Sunar die Frage „sind Intendanten da heute?“ in Neuss ebenfalls, wenn auch nicht so prononciert, an das Publikum gerichtet, dessen Besonderheit ihm dabei offensichtlich sehr bewusst war („diesen berühmten Theatersatz – den kennt ihr ja alle, glaube ich“). Doch verweist sie im Kontext des Vorsprechens im Theater im KunstQuartier zugleich auf einen der Gründe, warum dieses zentrale Repräsentationsformat im November 2005 am Rheinischen Landestheater auf Initiative der damaligen Intendantin Ulrike Schanko erstmals mit zehn Schulen erprobt worden war: die fehlenden zeitlichen und in Teilen auch finanziellen Ressourcen der an den Theaterhäusern für die Einstellung und Besetzung von Schauspielenden Verantwortlichen, um innerhalb weniger Wochen oder gar Tage z. B. nach Bern, Hannover, Rostock, Leipzig und Graz zu reisen.8 Auch ich habe in den beiden Jahren darauf nurmehr die zentral organisierte Veranstaltung besucht bzw. teilnehmend beobachtet: 2017 in der Berliner Volksbühne (13.–17. November) und 2018 in den Münchner Kammerspielen (12.–18. November). Meine Entscheidung, mich auf den Schauspielnachwuchs bzw. die von diesem individuell zu überwindenden organisationalen Schwellen – hier: die Aufnahme in eine Vermittlungsagentur und/oder das Engagement an einem Theaterhaus – zu konzentrieren, war dabei einerseits durch das Bestreben motiviert, dem spätestens seit Beginn der Blackfacing-​Debatte im Jahr 2012 im feldinternen wie fachlichen Diskurs vermehrt als strukturellen Rassismus adressierten Problem des Zugangs zur Bühne ‚auf den Grund‘ zu gehen und zwar im wortwörtlichen wie übertragenen Sinne (beginnend bei der Aufnahme in die Schauspielschule, Identifikation von Einflussfaktoren/Ursachen).9 Andererseits war ich geleitet von der Annahme, hier wohl am ehesten institutionellen Wandel beobachten zu können: Handelt es sich doch um ein personell relativ geschlossenes Feld, u. a. bedingt durch die Erwartung bestimmter Qualifizierungspfade bzw. die vornehmliche Rekrutierung von Berufseinsteiger:innen aus einer begrenzten Anzahl bzw. Reihe von Ausbildungseinrichtungen.

Ausgehend von Boris Nikitins thematisch der Institutional Critique nahestehender Inszenierung Das Vorsprechen – eine Koproduktion der Münchner Kammerspiele und der Otto Falckenberg Schule, Premiere: 03.11.2015 –, stieß ich im Zuge der zyklischen Fokussierung meiner ethnografischen Forschung schnell auf ein Paradox, was zu einer weitreichenden methodischen Reflexion und letztlich zu einer Rückbesinnung auf meine fachliche Identität führte.10 Denn obgleich ich mir die ethnografische Arbeitsweise erst im Laufe des Forschungsprozesses im Sinne eines learning by doing weitgehend selbstständig angeeignet habe – begleitet von dem kollegialen Austausch über qualitativ-​empirische Methoden im Rahmen der stark sozialwissenschaftlich geprägten Mainzer Verbundforschung –, stellte ausgerechnet die adäquate Untersuchung der zuvor exemplarisch beschriebenen Situation des Vorsprechens für mich eine besondere Herausforderung dar. Sich darüber genauer Gedanken zu machen, erschien jedoch allein schon deshalb angezeigt, weil diese spezifische Art von Aufführungen, nimmt man jene im Rahmen der von mir im Winter 2016/2017 teilnehmend beobachteten Aufnahmeprüfung in einer der genannten Schauspiel(hoch)schulen noch hinzu, einen Großteil meiner theaterwissenschaftlichen Feldforschung ausmachte.11 Ausgehend von diesem Beispiel und unter Rückgriff auf weitere Materialien bzw. Befunde möchte ich im Folgenden daher zeigen, wie Ethnografie und Aufführungsanalyse aus meiner Sicht produktiv ineinandergreifen können und warum dies in dem von mir untersuchten Fall auch zwingend notwendig ist. Der Fokus liegt dabei auf dem „Zwischen“ – im Sinne der sich aus dieser Methodenkombination ergebenden interdisziplinären Potenziale.

Eine solche Herangehensweise wird auch von Jonas Tinius in seinem Beitrag zu dem 2020 erschienenen Band Methoden der Theaterwissenschaft, der das Fach in seiner Gesamtheit methodisch-​theoretisch zu reflektieren sucht, aus Sicht der Anthropologie gefordert.12 Dabei hebt er die Frage, „inwiefern ein durch aufführungsanalytische Ansätze entgrenzter Begriff vom Theater komplementär ethnografisch erforscht werden kann; wo hier also die Ethnografie ansetzt und wo sie aufhört“, als besonders interessant hervor; eine Antwort darauf, wie ein solches gemeinsames Forschen und Lehren „zwischen den Disziplinen“ aussehen könnte, bleibt er jedoch schuldig.13 Um diesem auch allgemein zu konstatierenden Desiderat zu begegnen, schlage ich eine Annäherung auf Ebene der Methodologie vor.

2Schnittmengen und Differenzen: Versuch einer Annäherung auf methodologischer Ebene

Grundlage hierfür ist eine vergleichende Betrachtung jener theoretischen Annahmen, die dem von Erika Fischer-​Lichte und Jens Roselt entwickelten semiotischen und phänomenologischen Ansatz zur Aufführungsanalyse sowie dem im Kontext der Mainzer Forschungsgruppe verwandten Verständnis von Ethnografie zugrunde liegen.1 Neben zentralen Schnittmengen – der Bereitschaft zur Ko-​Präsenz und der Versprachlichung bzw. Verschriftlichung von nicht bereits sprachlich Vorliegendem – werden so nämlich auch zwei grundlegende Differenzen sichtbar, wobei ich mich hinsichtlich der Aufführungsanalyse an dieser Stelle auf den Anfang der 1980er Jahre an dramatischen Theaterformen und -modellen geschulten Ansatz konzentriere.2

Die erste Differenz, die hier schlaglichtartig beleuchtet sei, stellt die für die Semiotik zentrale Annahme einer Vielzahl möglicher Ordnungen dar, die bzw. deren konkrete Erforschung und somit Konstitution noch dazu primär vom jeweiligen Erkenntnisinteresse des bzw. der Analysierenden bestimmt wird. So geht Fischer-​Lichte im Kontext der Entwicklung einer Hermeneutik des theatralen Textes ausführlich darauf ein, dass dieser „in seiner Eigenschaft als ästhetischer Text unterschiedliche Möglichkeiten für Prozesse der Bedeutungsattribution und Sinnzuschreibung“ eröffne.3 Den letztlich zugeschriebenen Sinn bestimmt sie dabei als das „Resultat einer Interaktion zwischen einem je besonderen Subjekt mit der je spezifischen Struktur dieses je besonderen Textes“; und damit könne dieser Sinn „nicht anders als subjektiv, als individuell“ sein.4 Das Verstehen eines theatralen Textes wird von ihr daher auch als ein „produktive[r] Prozeß“ beschrieben:

[…] einen theatralischen Text zu verstehen, soll heißen, ausgehend vom eigenen geschichtlich und lebensgeschichtlich bedingten Bedeutungssystem seinen Zeichen und ihrer Ordnung in einem theoretisch unabschließbaren Prozeß Bedeutungen beizulegen, aus denen sich ein vom Text motivierter und für das rezipierende Subjekt gültiger und schlüssiger Sinn konstituieren läßt. Im Prozeß des Verstehens werden also nicht unbedingt diejenigen Bedeutungen rekonstruiert, welche die verschiedenen Produzenten des theatralischen Textes in ihm zu konstituieren gedachten, noch auch den Zeichen diejenige Bedeutung beigelegt, welche sie für den Rezipienten außerhalb ihrer Einbindung in die symbolische Ordnung des theatralischen Textes gehabt haben mögen; sondern indem der Rezipient diese Ordnung gemäß einer selbst gefundenen – bzw. erfundenen – Regel konstruiert, schafft er Bedeutungen, die mit den Bedeutungen, die diesen Zeichen in den beiden genannten Bedeutungssystemen zukommen, nicht identisch sind.5

Von besonderem Interesse hieran ist das bezüglich der Ordnung implizierte Spannungsfeld: Einerseits scheint diese durch den theatralen Text vorgegeben zu sein, andererseits wird sie von dem bzw. der Rezipient:in konstituiert. Dass es sich dabei um eine in dieser Ambivalenz bewusste Setzung Fischer-​Lichtes handelt, wird anhand ihrer Ausführungen zur konkreten „Anwendung der Methode“ deutlich, als deren übergeordnetes Ziel sie das folgende benennt: „Eine Aufführung zu analysieren heißt, die ihr zugrunde liegende Ordnung zu (re-)konstruieren, um ihren Elementen eine Bedeutung und ihr insgesamt einen Sinn zuzusprechen. Allein diesem Ziel dient die Durchführung der genannten Prozeduren“.6 Dem steht die für die Ethnografie zentrale Annahme einer genuinen, dem Untersuchungsgegenstand innewohnenden Ordnung, die es im Laufe des Forschungsprozesses zu erkennen und zu verstehen gilt und von der man sich hinsichtlich der konkreten Vorgehensweise lenken lassen soll, diametral entgegen. So erläutern Breidenstein et al. mit Blick auf ihr Verständnis von Ethnografie als „mimetische“ Forschungsstrategie: „Kulturelle Felder verfügen über eine Eigenlogik, die auch einen Beobachter, der sich treiben lässt, an die Hand nimmt und führt. […] Nicht die Logik der Forschung, sondern die gelebte Ordnung des Feldes erfordert bestimmte Verhaltens- und Beobachtungsweisen“.7

Eine zweite grundlegende Differenz zwischen dem ethnografischen und dem semiotischen Ansatz besteht hinsichtlich der Verwendung des Kulturbegriffs und der Kulturspezifik bzw. den diesbezüglichen forschungspraktischen wie erkenntnistheoretischen Implikationen. Besonders deutlich wird dies unter Rekurs auf die von Klaus Amann und Stefan Hirschauer in ihrem programmatischen Text eingeführte und später von Breidenstein et al. partiell aufgegriffene Formulierung eines „theoretischen und methodischen Kulturalismus“8: Wo die Semiotik von Kulturen als tatsächlichen Entitäten ausgeht, betrachtet die Ethnografie die von ihr untersuchten Gegenstände (im Sinne von Bereichen gelebter und öffentlich praktizierter Sozialität, die über eine eigene Ordnung und Logik verfügen) lediglich theoretisch als ‚Kulturen‘. Wo die Semiotik die Wahl von kulturell vertrauten Analysegegenständen nahelegt, betrachtet die Ethnografie ihre Gegenstände methodisch, das heißt unabhängig von ihrer tatsächlichen Vertrautheit, als fremd, und während die fehlende Vertrautheit mit der betreffenden Kultur/‚Kultur‘ in einem Fall als Hindernis für Verstehens- und Sinnstiftungsprozesse wahrgenommen wird („die Zeichen des Theaters kann nur verstehen, wer die von den kulturellen Systemen der es umgebenden Kultur kennt und zu deuten vermag“9), erscheint sie im anderen Fall gerade als Bedingung dessen.10

Was bedeuten diese beiden Differenzen nun aber konkret für die Anwendung von ethnografischen Verfahren in theaterwissenschaftlichen Kontexten? Und wie lassen sich ethnografische Verfahren dabei mit im Fach etablierten Verfahren der Aufführungsanalyse kombinieren? Einmal abgesehen von jenen Anknüpfungspunkten, die Theaterwissenschaftler:innen hierfür aufgrund ihrer disziplinären Qualifikation und Sozialisation grundsätzlich mitbringen, wie z. B. eine fachliche Spezialisierung auf Beobachtungskompetenzen als Bedingung methodisierter Erfahrung bzw. Distanzierung,11 liegt die Antwort auf Letzteres aus meiner Sicht zunächst in einem unterschiedlichen zeitlichen Bezugsrahmen. So erläutern Breidenstein et al. mit Blick auf die für die Ethnografie charakteristische „Dauerhaftigkeit dieses Realitätskontaktes“:

Verglichen mit anderen qualitativen Forschungsstrategien betreibt die Ethnografie für die Gewinnung empirischen Wissens einen enormen zeitlichen Aufwand. Ethnologische Feldforschungen können sich über Jahre hinstrecken, Feldphasen in Soziologie oder Erziehungswissenschaft bemessen sich zumeist in Monaten (bis zu einem Jahr). Verglichen mit dieser intensiven Begleitung durch Ethnografen wirken andere Erhebungsmethoden eher wie jene Stippvisiten: Dokumente – meist Tonaufzeichnungen von Konservationen oder Interviews – werden im Stundentakt abgeschöpft, Meinungsquerschnitte mit einem Fragensatz erhoben. Solchen forschungsökonomisch konzentrierten Erhebungspunkten steht in der Ethnografie eine ausgedehnte Erhebungsstrecke gegenüber.12

Auch wenn Fischer-​Lichte betont, dass es sich bei einer Aufführung um einen „so umfänglichen Text“ handelt, dass dessen Analyse stets nur selektiv möglich sei,13 stellt die Aufführungsanalyse aus dieser Perspektive nämlich ebenfalls bloß einen solchen Erhebungspunkt dar, der sich jedoch prinzipiell problemlos in die jeweilige ethnografische Erhebungsstrecke