Stumme Qualen - Gerd Zipper - E-Book

Stumme Qualen E-Book

Gerd Zipper

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Beschreibung

Zwei rituelle Morde in kurzem Abstand bescheren der Gmünder Kripo einen Albtraum. Der Täter hat seine Opfer regelrecht hingerichtet. Die Menschen auf der Ostalb sind in Angst und Schrecken versetzt. Der Druck auf Hauptkommissar Hecht und seine Chefin, Kriminaloberrätin Hering, nimmt weiter zu, als ein dritter Mord geschieht. Haben sie es mit einem Serienmörder zu tun? Nur gut, dass ihrem Team eine Fallanalytikerin des Landeskriminalamtes zur Seite steht. Doch die ehrgeizige Psychologin scheint vorrangig an ihrer Karriere interessiert zu sein und gerät selbst in tödliche Gefahr.

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Inhalte

Titelangaben

Prolog

Dienstag, 5. Juli

Mittwoch, 6. Juli

Donnerstag, 7. Juli

Freitag, 8. Juli

Montag, 11. Juli

Dienstag, 12. Juli

Mittwoch. 13. Juli

Donnerstag, 14. Juli

Freitag, 15. Juli

Sonntag, 17. Juli

Montag, 18. Juli

Dienstag, 19. Juli

Montag, 25. Juli

Dienstag, 26. Juli

Mittwoch, 27. Juli

Donnerstag, 28. Juli

Glossar

Danksagung

Info

Gerd Zipper
Stumme Qualen
Kriminalroman aus Schwäbisch Gmünd
Prolibris Verlag
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2019
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelbild: © Raphael Adanero
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-208-9
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-190-7
www.prolibris-verlag.de
Dieser Roman spielt auf der Ostalb. Reale Schauplätze sind Schwäbisch Gmünd, Bartholomä, Heubach, Lorch und Waldstetten. Erfunden sind die Gmünder Szenekneipe Unicorn House und die Tageszeitung Remspost.
Figuren, Namen, Handlungen und Ereignisse - außer dem Einbruch in das Gmünder Rathaus - entspringen allein der Fantasie des Autors. Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und tatsächlichen Begebenheiten sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Der Autor
Gerd Zipper, Jahrgang 1958, ist in Schwäbisch Gmünd geboren, aufgewachsen und lebt dort auch heute. Er studierte Bauingenieurwesen und ist hauptberuflich als Diplom-Ingenieur (FH) tätig. Seit Anfang der Achtzigerjahre schrieb er mehrere Sachbücher, Artikel in Zeitschriften sowie eine Anthologie, Kurzgeschichten, Gedichte und Drehbücher. Der erste Kriminalroman mit dem gegensätzlichen Ermittlerpaar Anton Hecht und Mona Hering, »Der Tunnel«, erschien 2012, dem 2014 »Der Übervater« folgte. »Stumme Qualen« ist der dritte abgeschlossene Krimi dieser Serie.
Für Birgit
Prolog
»Hiiilfäää! ... Hiiilfäää!« Seine Stimme versagte und ähnelte der eines verzweifelt jaulenden Welpen. Er konnte so viel, so lange und so laut schreien wie er wollte. Hier draußen im abgeschiedenen Tal der Grünhalde hörte ihn niemand. Das nächste Haus in dieser Idylle stand mehrere Steinwürfe entfernt. Dass es nur am Wochenende bewohnt war, wusste er.
»Gggrrr!« Mit großer Kraftanstrengung versuchte sich Ralf Schwitzgebel aus seiner misslichen Lage zu befreien, indem er sich im Bett leicht zur Seite drehte. Wie lange er schon so stark geschminkt und in einem lila Tanga dalag, konnte er nicht mehr einschätzen. Seine stark behaarten Beine steckten in grobmaschigen schwarzen Netzstrümpfen mit Strapsen, die Oberschenkel quollen aus kniehohen Schnürstiefeln hervor. Beim Stehen würden ihn die schwindelerregend hohen Pfennigabsätze der schwarz glänzenden Lackstiefel um zehn Zentimeter größer machen. Seine Handgelenke waren mit Handschellen an Ringen befestigt, die in der Wand hinter dem Wasserbett verankert waren. Die starken Industriedübel die er aus seiner Firma hatte mitgehen lassen, rächten sich jetzt, sie gaben keinen Millimeter nach. Hätte er damals doch nur die billigen aus dem Baumarkt gekauft. Alles Jammern half nichts mehr. Seine Handgelenke schmerzten und waren bereits so wundgescheuert, dass stellenweise das blanke Fleisch zu sehen war.
Zwanzig oder auch dreißig Minuten so gefesselt zu liegen, war auszuhalten. Trotzdem war er jedes Mal auch erleichtert, wenn ihn seine jeweilige Gespielin davon erlöste. Aber jetzt befand er sich schon wesentlich länger in dieser misslichen Lage, wie lange genau, hätte er nicht sagen können. Wann würde ihn endlich jemand daraus befreien, fragte er sich. Und wer sollte ihn hier draußen auch besuchen? Seine Putzfrau würde am Montag kommen – und das war in fünf Tagen.
Seine Augen flackerten panisch. Vor Anstrengung presste er seinen Atem hinaus. Dann blieb er bewegungslos und völlig erschöpft liegen. Er musste versuchen, sich selbst zu beruhigen. Die Person, der er diese Situation zu verdanken hatte und die ihn erlösen könnte, war längst weg. Hastig hatte sie ihren Büstenhalter angelegt und das üppige, was hineingehörte, an der richtigen Stelle positioniert. Er hatte währenddessen nur das tätowierte Gesicht auf ihrem Schulterblatt wahrgenommen, das bei diesen Verrenkungen verschiedene Grimassen schnitt.
Sie hatte ihm noch einen verächtlichen Blick geschenkt, ihre rotblonde Lockenfrisur nach hinten geworfen und ihm die Faust mit dem gestreckten Mittelfinger gezeigt. Dann hatte sie sein Haus verlassen. Das Letzte, was er weit unten am Weg hörte, waren die quietschenden Reifen ihres wegfahrenden Mini-Coopers.
Bisher hatte es doch immer wunderbar funktioniert, das mit dem Dirty-Talk. Alle waren sie abgefahren auf sein schmutzig-derbes Geschwätz und dabei oft in höchste Verzückung geraten.
Zugegeben, in letzter Zeit war er nicht mehr so wählerisch bei seinen Kneipenbekanntschaften. Vielleicht war er bei ihr auch etwas zu weit gegangen. Zutiefst bereute er jetzt, dass er sie auf das Übelste beleidigt hatte. Was musste er sich über ihre fette Wampe lustig machen, ihr Geldgier vorwerfen und vor allem – selbst wenn es der Wahrheit entsprach – sie als hässliche, versiffte Schlampe beschimpfen?
Er spürte einen metallischen Geschmack im Mund. Der rührte von dem Blut her, das nach einem kräftigen Faustschlag von ihr aus seiner Nase in den Mundwinkel gelaufen war.
Er nahm einen neuen Anlauf, sich zu befreien. Vergeblich vollführten seine stark geröteten Beine ruckartige Bewegungen. Einer der spitzen Pfennigabsätze rammte sich in die Hülle des Wasserbettes und blieb darin stecken. Er hielt sofort inne. Augenblicke später beugte er das Knie und zog dabei den Absatz des Stiefels heraus.
»Verdammte Scheiiiße!«
Erst jetzt realisierte er was er getan hatte. Eine dünne Fontäne sprudelte aus der kleinen Öffnung der Betthülle. Das Wasser ergoss sich nicht nach außen, sondern füllte die Kuhle, die er mit seinem Gewicht formte.
Panisch trat er heftig gegen die stabile, als Sicherheitswanne dienende Umfassung. Ohne Erfolg. Der immer verzweifelter zuckende Körper sank ständig tiefer in den hohen Bettrahmen ein. Ganz langsam begann das austretende Wasser um ihn herum zu steigen.
Dienstag, 5. Juli
Zwei Jahre später. Kein Windhauch. Kein Rauschen der Blätter. Absolute Stille. Selbst die sonst lärmende Schar von Saatkrähen in den Bäumen verstummte.
Mit einem leisen »Kna-knack, Kna-knack, Kna-knack«, verschlossen die Stahlklammern des Tackers die blutigen Lippen. Verzweifelt und völlig erfolglos versuchte der geschundene Leib, sich in seiner Ganzkörperfesselung zu winden. Er wimmerte, das Herz raste, überschlug sich fast. Der Hals war trocken wie Packpapier. Er wollte aufstehen, weglaufen, flüchten. Die weit aufgerissenen Augen zuckten wild umher, Todesangst spiegelte sich darin.
Das kalte Metall der Klinge an seiner Kehle blitzte im Licht des aufgehenden Mondes für einen Augenblick auf und ließ ihn erstarren. Der ruckartige Schnitt erzeugte ein seltsam knackendes Geräusch, das dem Herausbrechen eines Hähnchenschlegels ähnelte. Pulsierendes Blut spritzte fontänenartig im Abstand der Herzschläge aus der geöffneten Kehle. Kraftlos zuckte sein Unterkiefer noch ein letztes Mal, bevor das gluckernde Atmen in ein absonderlich bizarres Röcheln überging.
Mit einem furchtbar lauten Gekrächze, erhoben sich die schwarzen Vögel von den Bäumen in den Nachthimmel und flatterten aufgeregt umher.
Mittwoch, 6. Juli
Der kirschrote Stadtbus bremste langsam ab. Er unterquerte die große Gebäudebrücke, welche die beiden mehrstöckigen Fabrikkomplexe beiderseits der Hauptstraße verband. Am südlichen Ortsausgang von Heubach bog der Wagen nach links in die Straße ein, die in Richtung Rosenstein zum Fest- und Wanderparkplatz »Stellung« hinaufführte.
»Frau Rathgeber, der Luca, der sagt, in den großen Häusern da, da … die machen da Büstenhalter für Frauen. Stimmt das?«, rief ein kleines Mädchen der jungen Frau auf dem vordersten Sitz zu. Die drehte sich um und überlegte einen Moment. »Das ist schon richtig, Fiona, und es gibt sogar ein Museum für solche Sachen, hauptsächlich von früher. Unten beim Rathaus«, sagte sie und schmunzelte. Fiona war zufrieden.
Die Horde Drittklässler drängte sich bereits an den Türen, konnte es nicht erwarten, aus dem Bus zu steigen. Kaum waren sie geöffnet, drängelten die Schüler hinaus und stürmten auf den Abenteuerspielplatz.
Als Letzte stiegen die beiden Lehrer aus, die junge Frau und ein Mittfünfziger, und sahen sich orientierend um. Nina Rathgeber blickte zum Himmel, wo kein Wölkchen zu sehen war. »Hoffentlich hält das Wetter wie angekündigt.«
»So, alle hierher zu uns bitte«, rief Rainer Wiedmann zu den Kindern hinüber. Dann beschäftigte er sich mit seinem vollgepackten Trekkingrucksack. Grobe Holzstäbe von einem Bündel Fackeln ragten oben heraus. Nur langsam machten die Kinder Anstalten, zu den beiden Erwachsenen zu kommen.
»Na los, Beeilung. Wir wollen gleich los. Am Spätnachmittag sind Gewitter angesagt«, legte die junge Lehrerin nach.
Ein beleibter Junge sah kurz zur Burgruine Rosenstein hinauf. Sie thronte zweihundert Meter über ihnen auf einem mächtigen gelblichgrauen Felsblock, der aus dem dicht bewaldeten Steilhang ragte. »Können wir nicht hier unten am Spielplatz bleiben?«, fragte er und blickte die beiden Lehrer mitleidheischend an.
»Das wirst du schon schaffen, wir gehen langsam«, versuchte Nina Rathgeber, den Jungen zu ermuntern.
Eine größere Gruppe Kinder stand mit aufgeschnallten Rucksäckchen abmarschbereit und schien es nicht erwarten zu können, dass es endlich losging.
Fiona wandte sich an die Lehrerin. »Spukt es da oben?«, fragte sie etwas ängstlich.
»Wenn, dann nur nachts«, versuchte Nina Rathgeber, das kleine Mädchen zu beruhigen.
Luca hob die Arme über seinen Kopf und breitete sie, ein Gespenst mimend, aus. »Huuuaaahhh«, machte er und baute sich drohend vor Fiona auf.
Die zwei Dutzend Kinder und die beiden Lehrer lachten.
Nina Rathgeber klatschte mehrmals in die Hände. »Also los jetzt, denkt an die schöne Aussicht und die vierzig Höhlen da oben, von denen ich euch erzählt habe.«
Rainer Wiedmann schulterte seinen schweren Trekkingrucksack. »Und Kinder, es gibt eine Überraschung«, sagte er und deutete auf sein Gepäck. Die Augen der Schüler begannen zu leuchten. »Glaubt mir, es wird heute ein Wandertag, den ihr so schnell nicht vergessen werdet.«
***
Langsam stapfte Anton Hecht in seinen Outdoor-Hosen die Treppe zu seinem Büro im zweiten Stock des Gmünder Polizeireviers hinauf. Aufzug fahren war für ihn seit Wochen verpönt. So oft und wo immer es ihm möglich war, wollte er wegen seiner meist sitzenden Tätigkeit Kalorien verbrennen. Bei jedem Schritt mit seinen schweren Trekkingschuhen knarzten die Holzstufen unter den über zwei Zentnern Gewicht. Der Hauptkommissar schien abwesend zu sein, dachte über etwas nach. Es hatte den Anschein, als machte es ihm gewaltig zu schaffen. Dass sein Sohn Stefan seinen Eltern eröffnet hatte, nach dem Abitur eine Polizeiausbildung machen zu wollen, war es nicht. Auch das ihm drohende Disziplinarverfahren und die deswegen laufende Untersuchung wegen Körperverletzung im Amt war es nicht allein. Obwohl ihm, wenn es schlecht ausging, die Entfernung aus dem Dienst drohte.
Er betrat das Vorzimmer, das zwischen seinem Büro und dem seiner Chefin, Kriminaloberrätin Mona Hering lag. »Morgen, Frau …« Der Name ging in einem unverständlichen Gemurmel unter.
Nelli Tomberg erkannte sofort, dass der Kriminalhauptkommissar heute nicht so gut gelaunt war wie sonst. Die Polizeisekretärin machte sich keine Sorgen und dachte, ihn mit seinem allmorgendlich frisch gebrühten Morgenmuffelkräutertee wieder aufmuntern zu können.
Im Vorbeigehen warf Hecht einen kurzen Blick durch die offene Tür zu Mona Hering. Sie telefonierte und schien bester Laune zu sein. Er hob die Hand zum Gruß und verschwand ohne ein Wort in seinem Büro. Hering nickte ihm grüßend zu. Nelli Tomberg wunderte sich. Heute war etwas anders als sonst, denn Hecht hatte die Tür hinter sich geschlossen.
»Ja, ist gut … ich freu mich jetzt auch … ja, du hast Recht … also bis zum Wochenende. Tschüssi.« Hering legte ihr Smartphone beiseite und atmete erleichtert durch. Nach halbstündiger Diskussion hatte sie ihrer besten Freundin Britta doch noch versprochen, am Wochenende in ihre alte Heimat nach Kiel zu kommen. Sie hatte sich von der frischgebackenen Lachyoga-Trainerin überreden lassen, bei ihr einen Kurs über Chakren-Balance zu belegen. Und als besonderes Schmankerl gab es als Dreingabe eine Einführung in die Vollmondmeditation. Wer konnte da schon Nein sagen?
Herings Dienstapparat klingelte. Sie führte ein kurzes Telefonat, bei dem sie ständig bei ihrem Gesprächspartner nachfragen und um Wiederholung des Gesagten bitten musste. »Wenn ich nur die Hälfte …«, sagte Hering leise vor sich hin und legte übertrieben heftig den Hörer auf. Sie hielt einen Moment inne. »So kann es nicht weitergehen, da muss was passieren, und das sofort«, murmelte sie vor sich hin.
Nelli Tomberg lugte durch die offene Tür in das Büro ihrer Chefin, die sich das Programm der Gmünder Volkshochschule gegriffen und darin vertieft hatte.
Wie immer hatte sie die Ohren gespitzt und fast jedes Wort der Chefin vernommen. Ein Workshop in Kiel, das hatte sie den Bruchstücken des Handy-Gesprächs entnommen. Und jetzt noch ein Kurs hier in Gmünd? Wonach sie wohl suchte? Sie wüsste es zu gern.
»Kann ich Ihnen helfen, bei der Auswahl, oder so … irgendwie?«, flötete sie mit zurückgezogenen Mundwinkeln und gestrecktem Hals zu ihrer Chefin hinüber.
»Nö, das ist lieb von Ihnen, danke, muss erst noch alles durchgehen«, sagte Hering grinsend und wedelte mit dem Programmheft.
Nelli Tomberg musste sich wohl oder übel mit dieser Antwort zufriedengeben – vorerst. Sie legte ihre flachen Hände an die Schläfen und massierte sie. Was könnte es sein, zermarterte sie sich das Gehirn. Mit einem schnellen Griff langte sie ihr Programmexemplar aus der Schreibtischschublade und blätterte darin, konnte sich jedoch nicht vorstellen, wofür Ihre Chefin sich wohl interessierte.
Das Telefon klingelte und sie ließ das Heft in der Schublade verschwinden. Genervt nahm sie den Hörer ab, griff nach einem Stift und notierte die Informationen. Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst.
***
Schränke und Schreibtischschubladen in den Büros waren durchwühlt. Manche waren herausgerissen und lagen zusammen mit offenen Aktenordnern, Plänen, Kaffeetassen und weiteren Büroutensilien wild durcheinander auf dem Boden verstreut.
Rotweißes Absperrband hinderte die Angestellten und Beamten des Gmünder Rathauses, zu ihren Arbeitsplätzen zu gelangen. Stattdessen waren sie in den großen Sitzungssaal gebeten worden. Dort wurden Fragebögen verteilt, auf denen sie eintragen konnten, was sie nach einem kurzen Blick, den man ihnen über die Absperrung hinweg in ihr Büro gestattet hatte, bereits als fehlend festgestellt hatten. Die meisten waren geschockt, als sie das Chaos in den verwüsteten Amtsstuben gesehen hatten.
Ein Dutzend Türen waren aufgebrochen worden und standen nun offen, davor lagen Holzsplitter der Türrahmen. Vom Gang aus konnte man eine Spur zertretener Kekse hinein in eines der Büros verfolgen, aus dem ein untersetzter Mann mit Glatze und Haarkranz herbeieilte. Die beiden Aluminiumkoffer in seinen klobigen Händen knallten gleichzeitig auf den Boden. »Mann oh Mann, wo führt das noch hin«, sagte Gottfried Heckenlaible und blickte schnaufend auf seine junge Kollegin.
»Heute Nacht waren es fünf, davon allein drei in der Innenstadt«, antwortete Jennifer Funk.
Die junge Polizistin war zusammen mit ihrem Kollegen Kriminalkommissar Sascha Obergfell im Zuge der Polizeireform zum Kriminaldauerdienst versetzt worden. Die Einrichtung dieser neuen Kripoeinheit hatte sich seit ihrer Gründung bewährt. Ganz gleich, was im Großraum Schwäbisch Gmünd passierte, in ihrer Schicht waren sie die ersten Kripobeamten, die von den Streifenkollegen wegen nicht natürlicher Todesfälle, Bränden und Einbrüchen gerufen wurden. Ihre Aufgabe war es, die Tatorte zu sichern, erste Ermittlungen anzustellen und die Fälle dann an das Kriminalkommissariat Aalen zu übergeben.
»Da hinten sind wir fertig«, sagte Sascha Obergfell und schaute bedauernd auf sein Klemmbrett. »Insgesamt sechsundzwanzig Zimmer.«
»Oh, nee Sascha«, rief Heckenlaible entgeistert.
»Es gibt auch eine gute Nachricht«, versuchte der gut gebaute junge Kommissar ihn aufzumuntern.
Heckenlaible konnte es nicht glauben. »Echt?«
»Aus Aalen müssen gleich noch drei Leute von der Spusi eintreffen«, sagte Obergfell.
Heckenlaible war die Erleichterung anzumerken. »Na, das ist ja mal eine angenehme Mitteilung.«
»Wann können wir die Zimmer freigeben?«, fragte Funk ihren jungen Kollegen.
»Mit den weiteren Kräften, hm, in etwa drei bis vier Stunden«, antwortete Obergfell.
»Ich sammle gleich die Fragebögen von allen ein. So sparen wir nachher Zeit«, sagte Funk.
»Supi.«
»Wie ist denn der oder die hier reingekommen?«, fragte Heckenlaible. »Die Eingangstür ist intakt, wie ich unten gesehen habe.«
»Wissen wir noch nicht«, sagte Funk.
»Vielleicht hat sich jemand über Nacht einschließen lassen«, mutmaßte Obergfell.
»Und die Schadenshöhe?«, erkundigte sich Heckenlaible. »Die Pressestelle fragt sicher bald danach.«
»Unmöglich, das schon einzuschätzen«, sagte Funk.
»Auf jeden Fall ist der Schaden durch die Zerstörung um ein Vielfaches höher als das Diebesgut, wie wir das bisher abschätzen können«, informierte Obergfell den Kriminaltechniker.
»Die ganzen Computer, Kopierer und andere Geräte, alle noch da«, sagte Funk mit Unverständnis im Blick. »Möchte wissen, worauf es die überhaupt abgesehen haben?«
»Wir werden es herausbekommen, wenn die Mitarbeiter erst einmal in ihre Büros zurückgegangen sind und detaillierter melden können, was fehlt. Warten wir es also ab«, mahnte Obergfell zur Geduld.
»Gibt es was Besonderes gegenüber den anderen Einbrüchen der letzten Monate?«, wollte Kriminaltechniker Heckenlaible von den ermittelnden Kollegen wissen, denn er wollte den aktuellen Fall darauf prüfen, ob er zu einer Serie gehörte, unter der Schwäbisch Gmünd immer stärker litt.
Funk verzog Mund und Nase. »Das kann man wohl sagen, Gottfried.«
Interessiert sah Heckenlaible zu ihr hinüber und wartete auf weitere Informationen.
»So was passt bisher in keines von deinen Serienrastern«, sagte Funk.
Obergfell grinste seinen Kollegen an. »Einen Stock höher, im Zimmer des Amtsleiters, der für die Erteilung der Baugenehmigungen zuständig ist.« Er schaute auf seine handgeschriebene Liste auf dem Klemmbrett. Mit dem Finger fuhr er die Namen entlang. »Stahl heißt der Mann.«
»Ja, und was ist nun besonders«, gab sich Heckenlaible ungeduldig.
»Der Einbrecher«, begann Funk und kicherte, »voll auf den Teppichboden, den neuen ...«
Heckenlaible konnte mit der Information noch nichts anfangen. In seinem Gesicht stand ein Fragenzeichen.
»Schau dir das selbst an«, legte Obergfell nach und forderte ihn auf mitzukommen.
»Ständig diese Einbrüche, immer dasselbe«, jammerte Jennifer Funk, als die drei Polizisten auf den Aufzug warteten. »Das hängt mir langsam zum Hals raus.«
»Kann ich verstehen«, pflichtete Obergfell ihr bei. »Aber du musst zugeben, die Entführung vorgestern, die hatte doch was, oder?«, versuchte er sie aufzumuntern.
»War echt krass«, sagte Funk. »Gottfried, das muss ich dir erzählen.«
Heckenlaible reckte seinen Hals und spitzte die Ohren. Die beiden jungen Kollegen interpretierten seinen Blick als Aufforderung weiterzuerzählen.
»Da hat einer versucht, eine junge Frau zu entführen, sie aus dem Haus zu zerren«, sagte Funk.
»Echt spektakulär«, frotzelte Heckenlaible nicht ganz ernst gemeint.
»Die Frau seines Kumpels«, sagte Obergfell mit erhobenem Zeigefinger.
»Natürlich hat die sich mit Händen und Füßen gewehrt«, erzählte Funk weiter.
»Und das Beste ist, der Kumpel ist nicht mal dazwischengegangen, hat seiner Frau nicht geholfen«, berichtete Obergfell.
Funk lachte laut. »Der fläzte sich nur mit der Bierflasche vor dem Fernseher auf dem Sofa rum.«
»Selbst als wir kamen, weil eine Nachbarin auf das Geschrei der Frau reagiert hat, ist der nicht aufgestanden«, sagte Obergfell.
Ungläubiges Staunen lag auf Heckenlaibles Gesicht.
»Hübsches Ding, Thailänderin, glaube ich«, vermutete Obergfell.
»Philippinischer Pass«, korrigierte Funk.
»Ja, und was steckte dahinter?«, wollte Heckenlaible endlich wissen.
»Der Entführer hatte die Frau seines Kumpels gewonnen«, sagte Obergfell.
Heckenlaible runzelte die Stirn.
»Am Abend vorher, als Pokereinsatz«, legte Funk nach.
»Echt?« Heckenlaible verdrehte die Augen. »Sachen gibt’s.«
Die drei Polizisten verließen den Aufzug und gingen den Gang entlang. In der geöffneten Tür eines der hinteren Amtszimmer blieben sie stehen.
»Furchtbar, wie die hier gewütet haben«, rief ein groß gewachsener schlanker Mann in dunklem Anzug und Krawatte von der Absperrung herüber und fuchtelte mit den Armen herum.
»Nicht aufregen, Herr Kubitschek, das bringt doch nichts«, versuchte ihn der Uniformierte, der bei ihm stand, zu beruhigen. »Das ist nun mal passiert.« Dann ergänzte er: »Gut, wenn man die Sauerei im Zimmer vom, von dem Herrn, ähm ...«
»Stahl«, ergänzte Kubitschek.
»... ja, also der die Baugenehmigungen … also wenn man sein Büro sieht, da muss man sich schon fragen …«
Heckenlaible horchte auf. »Ja, was denn nun?«
»Dort, auf den Teppich, direkt vor den Schreibtisch ...« Kubitschek stockte und rümpfte die Nase.
Heckenlaible wollte sich vergewissern, ging in das Büro.
»... hingepisst hat der, das Ferkel. Na, der Stahl, der wird seine Freude haben, wenn er das sieht.«
Heckenlaible fragte sich, ob er nicht für einen kurzen Moment ein hämisches Grinsen in Kubitscheks Gesicht gesehen hatte, bevor der mit dem Kopf auf den nassen Fleck im Teppichboden deutete. »Aber Sie haben ja seine …«
»Das können Sie vergessen«, reagierte Heckenlaible, noch bevor Kubitschek ausgesprochen hatte. »Bei der geringen Menge hier ist im Urin keine DNA nachweisbar.«
***
Nach mehreren Pausen hatte die Schulklasse den steilen Anstieg geschafft. Danach ging es flach weiter. Über eine Stahlbrücke erreichten sie die Ruine Rosenstein, die auf einem Felsvorsprung thront. Die Kinder genossen die Aussicht nach Westen über die Stadt Heubach und den Albtrauf. Nach einem Vesper ließen sie die Erklärungen über Natur und Landschaft der Ostalb von Nina Rathgeber über sich ergehen und lauschten den spannenden Erzählungen von Rainer Wiedmann. Vor allem die kurzen Geschichten über das Leben der Ritter hier oben waren es, die sie in den Bann zogen. Dann machten sie sich auf den Weg zur Kleinen Scheuer, einer der vielen Höhlen in der Gegend. Im Gänsemarsch stieg die Schulklasse den serpentinenartigen Trampelpfad unterhalb der Ruine hinab.
»Nicht so schnell da vorn, bleibt zusammen«, ermahnte Nina Rathgeber ihre lärmende Horde. Sie legte großen Wert darauf, dass sie zu zweit Hand in Hand über den Steig durch den Wald gingen. Plötzlich blieben die vorderen Kinder wie angewurzelt stehen. Nina Rathgeber hatte kaum Zeit, sich zu fragen, was sie wohl entdeckt haben mochten, da stieß ein Mädchen einen fürchterlich langen Schrei aus.
»Stopp, alle warten hier. Rainer, komm bitte schnell zu mir«, rief sie ihrem Kollegen zu, der das Schlusslicht der Gruppe bildete, und bahnte sich den Weg durch die drängelnden Schüler nach vorn. Alle schauten seitlich zum Höhleneingang der Kleinen Scheuer, doch nur wenige hatten Sicht auf das, was diejenigen die ganz vorn gingen, am Eingang entdeckt hatten. Nina Rathgeber fuhr es wie ein Stich in den Magen. Sie wandte ihren Blick ab, bemühte sich, Haltung zu bewahren, atmete mehrmals tief durch, bis sie die Situation wirklich erfasst hatte. Sie drehte sich zu der Gruppe um. »Weg, weg, alle weg hier«, rief sie schnell und mit den Armen fuchtelnd und versuchte, die anderen Kinder am Weitergehen zu hindern. »Luca, bleib da«, schrie sie den Jungen an, der allein weiter nach vorn drängte. Ihre Stimme hatte einen aufgeregt durchdringenden Ton angenommen. Rainer Wiedmann hatte inzwischen seine Kollegin erreicht und damit begonnen die Kinder wegzubringen, als er einen Blick zum Eingang der Höhle geworfen hatte.
***
»Lag vier Tage im Wasser, keine Anhaltspunkte für Fremdeinwirkung«, las Mona Hering aus dem Untersuchungsbericht von Dr. Krautschneider vor und betrachtete die Bilder dazu. »Unfalltod.« Nach einer Weile klappte die Kriminaloberrätin die Mappe zu und legte sie auf einen hohen Aktenstapel auf ihrem Schreibtisch. Es ging um die Wasserleiche, die zwei Tage zuvor am neuen Wasserkraftwerk des Flüsschens Rems bei Hussenhofen gefunden worden war.
»Hm, wenigstens können wir diesen Fall abschließen«, grummelte Anton Hecht vor sich hin.
Auch auf Herings Gesicht lag Zufriedenheit.
»Gut, den hier noch«, sagte er und griff sich den letzten Schnellhefter auf dem Schreibtisch seiner Chefin. »Und dann wieder zurück nach Aalen.«
Seit der Auflösung der Kripo-Außenstelle in Gmünd, waren die beiden zum neugegründeten Polizeipräsidium Aalen versetzt worden.
Mona Hering war Chefin des neuen Kriminalkommissariates und Kriminalhauptkommissar Hecht ihr Stellvertreter geworden. Dort waren sie vor allem für Kapital-, Sexual- und Amtsdelikte zuständig. Kam es in Gmünd zu ungeklärten Todesfällen, bezogen die beiden ihre alten Büros über dem Polizeirevier und lasen sich in die Ermittlungsergebnisse vom Kriminaldauerdienst ein, ihrer »Speerspitze« vor Ort, unterstützt von Nelli Tomberg. Auch Gottfried Heckenlaibles Gmünder Kriminaltechnik hatte nach Aalen umziehen müssen. Doch wegen der Einbruchserie hatte er schon seit Langem wieder die noch eingerichteten Räume der ehemaligen Kriminaltechnik im Dachgeschoss der Gmünder Dienststelle genutzt.
Sie alle ahnten nicht, dass sie bald Anlass haben würden, längere Zeit in Gmünd zu bleiben und von dort aus zu arbeiten.
***
Anton Hecht steuerte den silbernen Dienst-Mercedes durch die Stadt Heubach am Fuße der Schwäbischen Alb. Sein Magen knurrte so laut, dass selbst Hering es wahrnahm. Kein Wunder, es war auch beinahe Mittag. Er beschloss, auf der Rückfahrt einen Leberkäsebriegel mitzunehmen, in der Metzgerei die sie eben passierten. Mona Hering dagegen beschäftigte sich fast die ganze Fahrt über mit ihrem Smartphone.
»Ist doch mitten in der Wildnis, da oben«, sagte sie, als sie den dicht bewaldeten Hang zur Ruine Rosenstein hinaufblickte. Auf einem Felsvorsprung der aus dem Hochwald ragte, thronte die Westfassade, der einzig verbliebene Rest der Burg. »Ich könnte mir die Koordinaten geben lassen.«
»Des kriegen wir schon«, antwortete Hecht.
»Wissen Sie denn, wo das ist?«, fragte sie.
»Bei der Kleinen Scheuer, eine der altsteinzeitlichen Wohnhöhlen.«
»Und Sie finden die?«
»Klar doch. Die liegt am Fuße des Ruinenfelsens.« Hecht musste lachen. Er blickte kurz zu ihr hinüber. »Jedes Kind der Ostalb war da zumindest einmal beim Schulausflug.«
»Verstehe.«
»Direkt am Kletterfelsen unterhalb der Ruine.«
Hering sah ihn verwundert an. »Das heißt aber nicht, wir fahren zur Ruine hoch und müssen dann runterklettern?«
»Doch, natürlich.« Hecht drehte den Kopf zur Seite und grinste.
Besorgt blickte sie auf ihren blauen Hosenanzug. Sie hätte sich noch umgezogen, hätte Hecht nicht so gedrängt loszufahren. Nur ihre Straßenschuhe hatte sie gegen Turnschuhe wechseln können.
»Quatsch, war ein Witz«, klärte er seine Chefin einen Moment später auf. Am südlichen Ortsausgang nach dem großen Gebäudekomplex der Miederwarenfabrik, bog er links ab.
Kurz darauf entdeckte Hering die Aufschrift eines Factory-Outlets. »Stopp. Da sind die also.«
Hecht wusste nicht warum, aber er hielt den Wagen an.
»Bis zu 80 Prozent sparen, bei Dessous und Unterwäsche«, las sie begeistert vor. »Da muss ich mal hin.« Schnell fotografierte sie die Öffnungszeiten mit ihrem Smartphone und bedeutete Hecht weiterzufahren.
Sie bogen in ein schmales Sträßchen ein, das sich durch den dichten Buchenwald den Steilhang entlangschlängelte und sie auf die Hochebene zu einem Waldparkplatz oberhalb des Lappertals führte. Dort standen etwa ein halbes Dutzend Autos. Rechter Hand ragte die Spitze des Heubacher Fernsehturms aus dem Wald. Über einen geschotterten Forstweg erreichten sie nach einigen Hundert Metern das Gasthaus Waldschenke.
Eine Schar Kinder hatte den nebenan liegenden Spielplatz in Beschlag genommen, während etwas abseits einige von Notfallseelsorgern des Roten Kreuzes betreut wurden. Mehrere Rettungs- und Polizeifahrzeuge und ein Geländewagen der Bergwacht standen auf der Lichtung. Beamte der Schutzpolizei durchkämmten die Umgebung.
»So, Endstation, ab hier geht es zu Fuß weiter«, sagte Hecht. Die beiden stiegen aus. Ab hier war das Gelände abgesperrt. Junge Kletterer maulten bei den Streifenpolizisten herum. Sie schienen die Sperrung ihres Kletterfelsens nicht zu akzeptieren. Hering folgte Hecht über die gusseiserne Brücke, die zur Burgruine auf dem Felsvorsprung führte.
»Der Halsgraben«, sagte Hecht und deutete in die Schlucht, die früher als Burggraben diente.
Aus den Fensteröffnungen der Ruine konnte man die Albkante mit dem gegenüberliegenden Scheuelberg, das nördliche Albvorland und die unterhalb gelegene Stadt Heubach sehen. Um die Schönheit dieser Umgebung zu genießen, hatten die Ermittler allerdings keine Zeit.
Bestimmt über zwanzig Meter musste es in den klüftigen Abgrund hinuntergehen, kam es Hering in den Sinn, als sie auf der Brücke einen Moment anhielt und ihr Blick in die Schlucht hinunterfiel. Da müssen wir runter? Hecht ist mit seinen Trekkingschuhen gut ausgestattet. Gut, dass ich wenigstens Turnschuhe anhabe, beruhigte sie sich.
Über einen steinigen Pfad gelangten sie zum Fuß des Kletterfelsens. Der geschotterte Untergrund knirschte unter ihren Schuhsohlen. Am Rand des Steiges sicherten Männer der Bergwacht ihre Kameraden, die systematisch den Hang unterhalb des Leichenfundortes nach verwertbaren Spuren absuchten.
»Schon was gefunden?«, fragte Hecht den Leiter der Einsatzgruppe.
»Nichts.«
Hering nutzte die kleine Pause, um einen Blick nach oben auf die imposante Felsformation zu werfen.
»Sehr beliebt der Westfelsen hier«, sagte Hecht zu ihr, als sie weitergingen. »Wegen des hohen Schwierigkeitsgrades.«
Im Gebüsch hinter der Wegkehre knackte es. Ein kleinerer uniformierter Kollege trat hinter den zur Seite gebogenen Ästen aus dem Unterholz und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Grüß Gott, Frau Hering. Servus, Tone«, begrüßte er schnaufend die beiden Ermittler.
»Ja guten Tag, Herr Nuding«, gab Hering erstaunt zurück.
»Jessas. Lorenz?« Hecht stutzte. »Grüß dich, Mensch ich hätte dich ...«
»Gell, da gucksch du.« Der gepflegte graue Vollbart bedeckte fast sein ganzes Gesicht. »Tja, vier Wochen Urlaub.« Stolz fuhr sich der beleibte Polizeihauptmeister durch den Rauschebart.
»Ich dachte, da kommt der Waldschrat«, legte Hecht nach und lachte dabei.
»Und glei Stress am erschta Tag. Heut früh der Einbruch ins Gmünder Rathaus und jetzt au no das hier.«
»Und du gleich wieder an vorderster Front«, sagte Hecht.
»Der stooohht ihnaa, der hooot was, so was Druffgängerischs«, bemühte sich Mona Hering auf schwäbisch zu formulieren. Sie schien zufrieden zu sein mit ihrer Aussprache. »Und a paar Kilos weniger hennnd sie oouu«, legte sie nach. Hecht schnitt eine Grimasse und hielt sich die Ohren zu. Ihm war, als rolle es ihm die Fußnägel hoch.
Nudings Augen aber leuchteten. Er baute sich vor den beiden auf und schien einige Zentimeter größer geworden zu sein. Den ausgeprägten Bauch zu kaschieren gelang ihm nicht ganz. Er hob noch die Hand zum Gruß und ging zu den Männern der Bergwacht hinüber.
Hecht sah seine Chefin mit flehendem Blick an. »Bitte nicht, der stooohht ihnaa. Nie wieder, bitte.« Seine schwäbische Nachahmung war etwas übertrieben. Er faltete seine Hände ineinander, schüttelte den Kopf und verdrehte dabei die Augen.
Hering hatte begriffen, dass ihr verunglücktes Schwäbisch völlig danebenging. »Sie meinen von der Aussprache her?«
Hecht legte seinen Kopf leicht zur Seite. »Generell meine ich.«
»Gut, versprochen«, sagte Hering reumütig.
Die beiden Ermittler gingen in Richtung Leichenfundort, nachdem Hecht zu Nuding hinübergerufen hatte: »Lorenz, wie weit habt ihr abgesperrt?«
»Den ganza Bereich um die Ruine, und da hinta rom bis zum Lärmfelsen.« Nuding zeigte nach Norden, wohin der Pfad weiterführte. »Und vom Fundort hundert Meter den Hang da nonter.«
»Wie? Ihr seid da runter?«, fragte Hecht ungläubig und schaute den Kopf etwas über den Steig vorgebeugt hinunter.
»Jessas noi, die Bergwacht hot das übernomma und sucht das Gelände hier und weiter oba alloi ab«, stellte Nuding lächelnd klar. »Die müsset eh den Tota bergen. Die Bestatter mit ihre Krawättla ond schwarze Anzüg kommat da nicht runter.«
»Herr Nuding, wie sieht es mit Fußspuren aus?«, fragte Hering.
»Keine, bei dem felsigen Boden«, sagte Nuding und zeigte dabei auf den mit Gestein übersäten Steig. Man merkte ihm an, wie froh er war, wieder einmal von seinem Funktisch im Revier weggekommen zu sein und mit jungen Kollegen auf den Bock zu können, um Streife zu fahren. Besonders die jungen Kolleginnen schätzten ihn sehr, ja, bewunderten ihn sogar, wie es der Revierleiter bei seiner letzten Ehrung hervorgehoben hatte. Da vermisste er die Arbeit draußen gleich noch mehr. Eigentlich hatte er sich auf seine bevorstehende Pensionierung gefreut und sich bereits darauf eingestellt. Vor allem wollte er viel mit seinen beiden Enkeln unternehmen. Doch die Lage hatte sich inzwischen geändert. Nicht nur wegen der Flüchtlingssituation in Deutschland wurden verstärkt Polizeibeamte gebraucht. Auch die große Anzahl von Eintritten in den Ruhestand, erhöhte den Personalmangel bei der Polizei.
Nuding war schon immer ein pflichtbewusster Polizist mit Leib und Seele gewesen und wollte seine jungen Kollegen nicht im Stich lassen. Er fühlte sich gebauchpinselt und an seiner Ehre gepackt. Und das nicht nur, weil ihn der Polizeipräsident persönlich um Verlängerung seiner Dienstzeit gebeten hatte.
Dr. Krautschneider kam Hecht und Hering ein paar Schritte um einen Felsvorsprung entgegen. »Also das da drüben«, er deutete mit dem Kopf rückwärts in Richtung Felsen, hinter dem das Opfer lag, »kein schöner Anblick ...«
Hering sah ihn an und presste ihre Lippen aufeinander.
»... will Sie nur warnen.«
Sie überkam sofort ein flaues Gefühl in der Magengegend. Auch Hecht musste schlucken. Wenn der Krautschneider das schon sagt, dachte er sich, dann muss das wirklich heftig sein. Bereits seine ganze Dienstzeit über war ihm unwohl, wenn er mit Leichensachen zu tun hatte. Als Kriminalhauptkommissar war er schon mit vielem konfrontiert worden. Als er aber vor dem Opfer stand und sich zurückerinnerte, kam er zu dem Schluss, so etwas Grausiges noch nie gesehen zu haben. Mit silbernem Klebeband an einen dürren Baum neben dem Höhleneingang fixiert, saß eine blutüberströmte Leiche. Kleine weiße Maden wuselten auf dem Körper herum. Ein dicker Käfer kämpfte sich mühsam und etwas ruckartig aus der offenen, klaffenden Schnittwunde an der Luftröhre. Das Blut war auch durch das Geröll in den Boden gesickert. Also musste das Opfer noch gelebt haben, als es hier festgebunden worden war.
»Der Kleidung nach scheint es sich um einen Mann zu handeln«, stellte Hering fest.
»Die Schuhe, die fehlen«, bemerkte Hecht.
»Was das wohl bedeutet?«, fragte Hering mehr sich selbst.
»Die Kehle ist durchgeschnitten, fast bist zum Knochen hinten«, sagte der Rechtsmediziner und zeigte darauf.
Hering schluckte.
»Glatter Schnitt, von einem sehr scharfen Werkzeug.«
»Messer?«, fragte sie.
»Eher etwas Größeres.« Der Arzt richtete sich auf, blickte kurz auf das Opfer und dann auf die beiden Ermittler. »Wer hat einen Grund jemanden so zuzurichten? Welches kranke Hirn macht so was?«
»Wut, Hass, Rache, Ritual«, antwortete Hering in Gedanken versunken.
»Des Ganze erinnert an eine Art Schächtung«, stellte Hecht fest.
»Der Schnitt wurde von hinten geführt«, sagte Krautschneider gestikulierend ohne einen Hauch von Emotion in der Stimme. »Die Lippen wurden zusammengetackert.«
Hecht und Hering fanden keine Worte mehr. Beide wandten den Blick so oft wie möglich vom Toten ab, dessen Augen kalt und nichtssagend ins Leere starrten. Hecht schlugen solche Anblicke jedes Mal auf den Magen. Ein Gutes hat es ja, dachte er sich, er würde den Rest des Tages keinen Hunger haben, was seiner Figur zugutekam.
»Wie eine regelrechte Hinrichtung sieht das aus«, sprach Dr. Krautschneider in ruhigem Ton. »Totenflecken sind übrigens kaum zu sehen, so ausgeblutet ist der nach außen.«
»Können Sie schon was zur Todeszeit sagen?«, fragte Hecht. »Wenigstens so ungefähr.«
»Bin noch nicht fertig.« Der Arzt las ein Thermometer ab. »Die Umgebungstemperatur habe ich, jetzt brauche ich die Körpertemperatur im Rektum.«
»Gut, sagen Sie Bescheid, sobald Sie was Brauchbares haben«, bat ihn Hecht.
»Wenn ich mir das Viehzeug ansehe …«, er wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht. »Die Schmeißfliegen, kommen wenige Minuten nach dem Tod, manchmal sogar schon bevor das Herz stehen bleibt.«
»Was bedeutet des?«, fragte Hecht.
»Die Fliegen legen Eier ab.« Er zeigte mit einer Pinzette auf die kleinen weißen Maden am Schnitt an der Kehle. »Innerhalb von acht bis vierzehn Stunden entwickeln sich daraus die hungrigen Dinger hier.«
Hecht und Hering sahen ihn hoffnungsvoll an.
»Momentan kann ich nur sagen, dass die Tat gestern Abend zwischen 20 und 24 Uhr geschehen sein muss. Genaueres später.« Dem Rechtsmediziner entgingen die enttäuschten Blicke der beiden Ermittler nicht. »Ich will noch einen forensischen Entomologen hinzuziehen.«
»Bringt uns das denn weiter?«, fragte Hering.
»Mit Hilfe des Insektenkundlers haben wir die Möglichkeit, den Todeszeitraum genauer einzugrenzen.«
»Und bis dahin …?«
»… gilt der von mir genannte Zeitraum«, sagte Dr. Krautschneider mit bedauernder Miene.
Platsch, machte es direkt vor Hecht. Ein kleiner Fladen mit dem Inhalt eines Vogeldarms lag auf der Felsplatte. Ruckartig ging sein Blick nach oben. In den Bäumen konnte er eine Schar Saatkrähen ausmachen.
»Glück gehabt. Fast hätte Sie’s erwischt«, bemerkte Hering trocken.
Hecht hob seine Arme und klatschte in die Hände. »Drecksviecher.« Mit lautem Gekrächze erhoben sich die schwarzen Vögel von den Baumwipfeln und kreisten wild umher.
Hecht zog sich Einmalhandschuhe an. Das Jackett des Toten war offen. Systematisch suchte er die Taschen nach Papieren und persönlichen Gegenständen ab, nachdem er die Fesselung zerschnitten hatte.
»Haben Sie was gefunden?«, fragte Hering und trat mit dem Rechtsmediziner näher an das Opfer heran.
»Fehlanzeige. Vielleicht noch in der Gesäßtasche.« Dr. Krautschneider bewegte den Oberkörper des Toten nach vorn. Dann drehte er ihn abwechselnd in beide Richtungen zur Seite, so dass der Hauptkommissar die Rückseite untersuchen konnte. »Nichts«, wandte sich Hecht an seine Chefin. »Ist Ihnen übrigens aufgefallen, dass er keinen Ehering trägt?«
»Platzwunde am Hinterkopf«, unterbrach Krautschneider ihn, während er den Kopf weiter begutachtete. »Von einem runden Gegenstand herrührend. Material kann ich noch nicht sagen.«
»Der Schlag hat das Opfer wehrlos gemacht. Dann wurde es an den Baum gefesselt, die Lippen zugetackert und schließlich der Schnitt durch die Kehle«, überlegte Hering.
»Überhaupt nichts zu finden«, gab Hecht enttäuscht von sich und richtete sich auf. Er zwang sich, dem Toten noch einmal ins Gesicht zu sehen, genauer gesagt was davon noch übriggeblieben war. Darüber würden sie ihn nicht identifizieren können, das war klar.
Nuding kam und reichte Hecht einen Schuh in einem Beweissicherungsbeutel, den er von einem Bergwachtmann erhalten hatte. »Das henn die do unten gfunda.«
»Hm, könnte dem Opfer gehören«, vermutete Hecht.
»Anzunehma.«
»Dann konzentriert euch mal auf den Bereich da drüben.«
»Hab ich dene scho gsagt«, erwiderte Nuding.
»Gibt es außer den Lehrern und Schülern weitere Zeugen?«, wollte Hecht wissen.
»Bis jetzt henn mir niemanda.«
»Die Kollegen sollen bitte die Wagenbesitzer auf dem Wanderparkplatz befragen«, bat ihn der Hauptkommissar.
»Wird erledigt.«
Die Kriminaloberrätin hatte unterdessen ihr Smartphone aus der Tasche geholt und Fotos des Opfers gemacht. Sie ließ sich nicht anmerken, welche Überwindung sie das kostete, doch sie wollte sich vor ihren Kollegen keine Blöße geben und war froh, es geschafft zu haben.
»Die Klamotten die der anhat, die zieht man nicht zum Wandern an«, stellte Hecht fest.
»Tja, Lackschuhe und Jackett, schon ungewöhnlich«, sagte Hering.
»Vielleicht ist er sehr plötzlich und unerwartet mit irgendetwas hierhergelockt worden. Und kannte seinen Mörder.«
***
Langsam ging die Frau auf das monumentale Jugendstilgebäude zu. Davor hielt sie an, sah an der Fassade hoch und schien zu überlegen. Ihr Blick ruhte auf dem blauweißen Schild mit der Aufschrift Polizei. Sie stapfte die steinernen Stufen zum Polizeirevier hinauf. Ihre Schritte und auch das Öffnen der schweren Eingangstür fielen ihr nicht leicht. Vor der Panzerglasscheibe des Wachraums blieb sie stehen. Darin befanden sich Bildschirme, Ladestationen für Handfunkgeräte, Pinnwände und Schlüsselbretter für die Streifenwagen. Aus einem Lautsprecher drangen knarzende Funksprüche, ab und zu von einem »Tschak« unterbrochen.
Die junge Beamtin vor dem Monitor am Funktisch blickte auf. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, trat an die Glasscheibe heran und drückte den Knopf am Mikrofon der Sprechanlage, welche die Kommunikationsverbindung in den Besucherraum herstellte. »Ja bitte, wie kann ich Ihnen helfen?«