Stunde der Verlierer - Wolf G. Winning - E-Book

Stunde der Verlierer E-Book

Wolf G. Winning

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Beschreibung

Fünf Millionen Dollar – das Lösegeld aus einer Flugzeugentführung – versteckt in einer unzugänglichen Gegend in Honduras. Nur einer kennt den Weg dorthin: Mase Kurvin. Aber als der alte Fuchs endlich Kasse machen will, verfolgt ihn das Pech. Nachdem er mit dem Hubschrauber abstürzt und sich ein Bein bricht, fällt er in die Hände dreier skrupelloser Gangster, die den Braten riechen und ihn zwingen, sie zu dem Versteck zu führen. Aber da sind noch Denison, ein heruntergekommener Journalist, und Kurvins junge Freundin Elina mit von der Partie. Beide sind aus völlig gegensätzlichen Motiven hinter dem Geld her. Als auch noch Liebe ins Spiel kommt, wird die Situation ausweglos, denn der Erfolg des einen muss zwangsläufig die Niederlage des anderen bedeuten. Das ist jedoch nur hypothetisch, denn die drei Gangster haben von Anfang an nicht die Absicht, mit irgendjemandem zu teilen. Wolf G. Winning ist seinen Lesern auch bekannt durch seine Romane „Wer weiß schon, wann die Stunde schlägt“, Stille Nacht – eisige Nacht“ und im Besonderen durch die hist. Indianer-Romane „Roter Bruder Abel“, Mountain Sunrise“ und in Vorbereitung: „Igmuntanka Wicasha – Der Pumamann“.

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Seitenzahl: 510

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Wolf G. Winning

Die Stunde der Verlierer

Roman

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2017 bei hey! publishing, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-027-3

www.heypublishing.com

Bereits der erste Atemzug unseres Lebens ist auch schon der erste Erfolg. Und damit beginnt der verhängnisvolle Rhythmus unserer Entwicklung, dem sich niemand entziehen kann. Wir bauen Ruhmesdenkmäler des Erfolges auf und umgeben sie mit Mauern aus Ehrfurcht, beten sie an wie Götzen und legen uns die Ketten gesellschaftlicher Pflichten und Rituale an und vergessen manchmal dabei zu lieben und einfach glücklich zu sein, denn der Erfolg ist zur Messlatte unseres Lebens geworden.

Prolog

Mit dieser wahnwitzigen Idee hatte alles begonnen. In diesem verdammten Flugzeug – damals.

Damals – vor langer Zeit, an jenem heißen Tag im Juni 1967.

In dieser Boing 727.

Da stand sie am Ende der Rollbahn in der Mittagssonne wie ein großer silberner Vogel, der seine Schwingen ausgebreitet hielt, um ein Fleckchen Schatten auf den Beton unter sich zu werfen. Kochende Luft stieg in gläsernen Schleiern von der Piste empor. Mit ihrem die Konturen verzerrenden Flimmern unterstrich sie die starre Regungslosigkeit dieser Maschine, die an ein entsetztes, zitterndes Tier erinnerte. Nichts regte sich sonst in weitem Umkreis. Die Männer in Kampfanzügen mit Stahlhelmen und automatischen Waffen blieben unauffällig im Schatten der Gebäude. Ihre Haltung drückte Gespanntheit und Einsatzbereitschaft aus. Aber nichts deutete auf unmittelbar bevorstehende Aktionen hin.

Zahlreiche Augenpaare beobachteten die Maschine aus dem Tower des Flughafens heraus und auf den Monitoren im Raum des Einsatzkommandos. Stimmen schwirrten durcheinander, verflochten sich zu nicht zusammenhängenden Wortfetzen, die keinen Sinn ergaben. Auch der ständige Sprechfunkkontakt zu den Bewaffneten außerhalb der Gebäude konnte über die allgemein herrschende Hilflosigkeit und Unsicherheit nicht hinwegtäuschen.

Nichts war bis jetzt präzisiert worden. Nichts konnte entschieden werden. Der Tatendrang einiger Herren lag vorläufig auf Eis. Wie ein Bannkreis hatte sich abwartende Tatenlosigkeit rund um das Flugzeug gelegt, so als wütete das Gelbe Fieber oder die Pest an Bord. Dabei handelte es sich um etwas, das in seiner Gefahr viel akuter war, als eine dieser Krankheiten, etwas, das Menschenleben weitaus schneller und unkalkulierbarer vernichten konnte.

Der Flugkapitän fühlte, wie ihm der Schweiß austrat, das Hemd unter den Achseln nässte und den Kragen am Hals kleben ließ, obgleich die Frischluftzufuhr im Cockpit einwandfrei funktionierte.

Walter C. Brunstetter, 44 Jahre alt, dreiundfünfzigster Einsatz auf diesem Flugzeugtyp. Auf dem Pan Am Flug Nr. 347 von Philadelphia nach Bogotá, unfreiwillig zwischengelandet auf dem International Airport in Richmond, Virginia, mit einer Pistolenmündung im Nacken.

Er hatte bis jetzt getan, was der Kerl mit der Waffe hinter ihm verlangte, und er würde es auch weiterhin tun. Aber er sorgte sich um die anderen. Seinen Copiloten. Den Bordtechniker. Den Navigator. Was geschähe, wenn einer von ihnen die Nerven verlöre und durchdrehte? Würde der Bursche hinter ihm einfach abdrücken?

Fieberhaft wälzte sich dieser Gedanke in seinem Hirn hin und her, während der Blick hilflos über die flimmernden Instrumente huschte.

In der Luft war ihm die Gefahr nicht so groß erschienen. Aber jetzt befanden sie sich am Boden, nun mussten die Burschen mit ihren Forderungen herauskommen. Jetzt nahte der kritische Moment. Und falls sie nicht bekamen, was sie wollten …

„Fünf Millionen.“

Das war es also. Die Stimme des Mannes hinter seinem Sitz, kalt und ohne besonderen Nachdruck, so, als nannte er den Preis für eine Schachtel Zigaretten oder eine unbedeutende Gefälligkeit.

„Fünf Millionen?“, wiederholte Brunstetter halblaut. Seine Stimme klang unsicher, ungläubig. Er wollte sich zu dem Unbekannten umdrehen, aber der Druck der Waffe in seinem Genick verstärkte sich unmissverständlich. Brunstetter beschränkte sich darauf, atemlos zu erwidern: „Damit kommen Sie nicht durch … Das … das kriegen Sie nie.“ Er begann noch mehr zu schwitzen.

„Wie viel ist dieses verdammte Scheißflugzeug wert?“, fragte der Kerl mit der Pistole hart.

Brunstetter schwieg.

„Wie viel ist es wert!“ Der Ton in dieser Stimme signalisierte Gefahr – tödliche Gefahr. Der harte Druck auf Brunstetters Nackenwirbel begann zu schmerzen, nicht so, dass er es nicht aushalten konnte, doch Schmerzen beinhalten auch Informationen. Er beugte sich etwas nach vorn. Der Druck der Pistolenmündung folgte ihm.

„Ich kaufe diese Maschinen nicht ein, ich fliege sie nur.“

„Aber sie ist denen doch fünf Millionen wert, nicht wahr?“

Brunstetter nickte, vorsichtig.

„Also dann geben Sie’s durch. Diese Aasgeier da draußen können doch rechnen. Außerdem müssen sie es wegen der Leute da hinten tun. Sie können es sich nicht leisten, abzulehnen.“

Das war die längste Rede, die Brunstetter bisher von ihm gehört hatte. Er schaltete ohne ein weiteres Wort das Mikrophon ein und gab die Forderung der Flugzeugentführer weiter. Dann, nachdem er einen Moment abgewartet hatte, hob er den Kopf etwas an. „Sie fragen, ob Sie keine politischen Forderungen stellen.“

„Nein!“, schnauzte der Mann hinter ihm. „Aber wenn ihnen das zu wenig ist, können wir ja sechs oder sieben Millionen fordern.“

Während der Kapitän wieder in das Mikrophon sprach, stellte der Mann sich neben ihn. Die Pistole zeigte auf Brunstetters Kopf, und er sah aus den Augenwinkeln einen grauen, etwas ausgebeulten Anzug von nicht sehr hoher Qualität und ein anthrazitfarbenes Hemd ohne Krawatte.

„Eine solche Summe ist so schnell nicht zu beschaffen“, erklärte Brunstetter mit belegter Stimme. Das übliche Spiel. Man wollte die Sache hinauszögern, Zeit gewinnen, und es konnte ein Nerven aufreibendes Katz und Maus Spiel werden. Aber er, verdammt noch mal, saß hier vor dieser unberechenbaren Pistole.

Gegenwehr? Der Gedanke blitzte durch sein Gehirn und verschwand ebenso schnell wieder. Keine Chance. Da stand immer noch dieser andere Mann, den er vorhin kurz gesehen hatte, neben der Tür. Auch er besaß eine Pistole, und die Tasche seiner braunen Cordjacke bauschte sich über etwas, das eine Handgranate sein konnte. Der dritte stand draußen und überwachte die Passagiere.

Der Mann neben Brunstetter kam mit einer unwirschen Bewegung ganz nahe zu ihm heran. Er schien nervös zu werden und neigte offenbar zu Zornausbrüchen. Würde er dieses gefährliche Tauziehen um ein bisschen Zeit durchhalten, ohne diese verdammte, Pistole zu benutzen?

„Jetzt hört mir mal genau zu, ihr Scheißkerle!“, schrie er ungehalten in das Mikro. „Ich gebe euch genau zwei Stunden Zeit, um die Kohle zu beschaffen. Wenn die Zeit um ist und ihr habt es nicht, stirbt hier der erste. Ich hoffe, ihr habt das begriffen. Wenn das Geld da ist, kommt einer von uns raus und zählt es. Und dann wollen wir es in Plastikbeuteln eingeschweißt haben. Verstanden?“

Dieses Verlangen löste beim Krisenstab, der spontan für diesen Notfall gebildet worden war, zunächst ratlose Gesichter aus, dann brach hier und da zögernde Erkenntnis durch. Sie wollen das Geld über dem Meer abwerfen, wo es von Komplicen mit einem Boot aufgefischt wird.

Wenn man nur wüsste wo, dann könnten sie Vorkehrungen treffen. Aber was wird mit den Luftpiraten selbst? Was beabsichtigen sie, ihre eigenen Personen betreffend?

„Habt ihr das verstanden?“, schnarrte die Stimme durch das Empfangsgerät.

„Ja, natürlich …“, gab der Sprecher des Krisenstabes zögernd zurück und wurde dann bestimmter. „Wir werden alles tun, was in unseren Kräften steht. Aber unternehmen Sie bis dahin nichts Unüberlegtes.“

„Da ist noch was“, klang die Stimme aus dem Flugzeug und machte eine kurze Pause, „wir brauchen noch drei Fallschirme Army Standard.“

Die Leitung war unterbrochen.

Der Mann im grauen Anzug richtete sich wieder auf.

„Sie haben jetzt zwei Stunden Zeit“, sagte er zu Brunstetter. „Zeit zum beten, dass die da draußen tun, was wir verlangen.“

Der Pilot holte tief Luft und wischte sich flüchtig mit der Hand über die feuchte Stirn. Zwei Stunden konnten eine verdammt lange Zeit sein, und er fürchtete, dass es die längsten zwei Stunden seines Lebens werden könnten.

Benjamin Fowler, der Mann im grauen Anzug, war der älteste der drei. Mit seinen siebenundfünfzig Jahren hatte er das Alter hinter sich, in dem man sich gewöhnlich auf solcherlei Abenteuer einlässt. Er war nie verheiratet gewesen und hatte seinen Lebensunterhalt auf eine Weise bestritten, die sein Konterfei schon wiederholt in Polizeiakten hatte erscheinen lassen. Er war keinesfalls ein Neuling in diesem Gewerbe wie Joe Kendall, und die zehn Jahre, die er insgesamt in mehreren Etappen hinter vergitterten Fenstern zugebracht hatte, ließen allmählich die Erkenntnis in ihm reifen, dass sich Verbrechen im kleinen Stil nicht lohnte – zu kleiner Gewinn bei zu häufigem Risiko. So war vor langer Zeit schon der Plan in ihm entstanden, endlich einen letzten großen Fisch an Land zu ziehen, wie er sich auszudrücken pflegte, ehe die Zeit ablief und die Knochen zu morsch wurden. Er hatte zu viele Leute kennengelernt, die in Obdachlosenasylen hausten und mit kleinen Gaunereien ihr Leben fristeten.

Und jetzt, hier im Cockpit einer Boing 727 Tri-Jet mit der Pistole in der Hand hinter dem Piloten stehend, wusste er, dass ein solches Schicksal ihm erspart blieb – so oder so.

Er hatte mehr als zwanzig Jahre weniger zu verlieren als die anderen, als Duncan zum Beispiel, Richie Duncan, der mit der Handgranate in der Tasche seiner Cordjacke neben der Tür, der von dem Ehrgeiz getrieben wurde, immer und bei allem der Beste zu sein, was ihn manchmal bis zum Fanatismus trieb.

Er war der Sohn einer Arbeiterfamilie aus Detroit, der während seiner gesamten Kindheit im Schatten seines älteren Bruders gestanden hatte. Sein Vater, der sich Zeit seines Lebens in den Automobilwerken abrackerte, hatte ihm von frühester Kindheit an eingeschärft, dass man stets versuchen müsse, der Beste zu sein. Nur so bekäme er eine Chance, besser zu leben als er. Doch er war ein verbissener, emotionsloser Sonderling und erst als er in die Armee eintrat, wurde ihm die Befriedigung des persönlichen Erfolges zuteil. Infolge seiner körperlichen Beschaffenheit und seiner psychischen Härte, die er nach außen hin zur Schau trug, fand er sehr schnell den Weg zu einer Eliteeinheit. Dort absolvierte er ein hartes Überlebenstraining, bei dem er sich außerordentlich hervortat. Er konnte unter Bedingungen überleben, bei denen kein anderer seiner Kameraden mehr dazu in der Lage war.

Seine kriminellen Neigungen führten irgendwann zur unehrenhaften Entlassung aus der Armee, und er musste feststellen, dass man mit den dort erlernten Fähigkeiten nur schwerlich das große Geld verdienen konnte. Er hielt sich mit kleinen Gaunereien, gelegentlichen Überfällen und Einbrüchen über Wasser. Aber immer häufiger stand er vor der Situation, dass sein Geld mal wieder das Weite gesucht und ihn mit leeren Taschen und knurrendem Magen, in den sich eine heiße Wut einnistete, zurückgelassen hatte.

Und eines Tages lernte er Benjamin Fowler kennen …

Draußen in der Passagierkabine stand Joe Kendall mit der Aufgabe, eine Anzahl verängstigter und unberechenbarer Menschen in Schach zu halten. Er wäre lieber da drinnen bei Fowler gewesen, der eine gewisse Sicherheit ausstrahlte, aber jeder hatte seinen Teil zu übernehmen. Das hatte Fowler ihnen vorher eingeschärft. Und schließlich ging es um fünf Millionen Dollar.

Vor Jahren noch hatte Joe Kendall das Leben eines Durchschnittbürgers geführt, war verheiratet und hatte einen neunjährigen Jungen. Und er war darauf versessen, es ihnen zeigen, dass mehr in ihm steckte, als sie alle ihm zutrauten. Er war neu in diesem Milieu und fühlte sich deshalb ein wenig unsicher. Aber diesmal war Fowler dabei. Fowler, der immer genau wusste, was zu tun war und klare Anweisungen gab. Ihm konnten sie so leicht nicht beikommen. Als junger Mann war Fowler sogar bei der Airforce gewesen. Nein, er steckte alle in die Tasche. Sein Plan war so genial, beinahe verrückt genial, dass er einfach gelingen musste.

Sein Sohn, den er als Bogart-Fan Humphrey taufen ließ, war drei Jahre alt gewesen, als Susan zur Welt kam, die kein Wunschkind war, ihn aber dennoch mit ungestümem Vaterstolz erfüllte, weil er sich schon bei ihrem ersten Kind ein Mädchen gewünscht hatte.

Leider dauerte Susans Leben nur zwei Jahre und sieben Monate, dann wurde sie beim Spielen von einem Auto überfahren, als er auf sie achtgeben sollte.

Von da an war alles schief gegangen, was er angepackt hatte, und seine Frau hatte ihm die Unaufmerksamkeit von damals nie verziehen. Zu Recht, wie er sich anfangs eingestand. Aber irgendwann musste man einmal damit aufhören, irgendwann musste dieser unselige Abschnitt seines Lebens zu Ende sein und ein neuer beginnen. Er fühlte instinktiv, dass er nun an der Schwelle eines solchen stand.

Die Frist von zwei Stunden verstrich, ohne dass etwas geschah.

Benjamin Fowlers Lippen pressten sich zu einem Strich zusammen, dünn und gerade wie der Rücken einer Messerklinge. Er fuhr mit einer hastigen Bewegung herum, als eine der Stewardessen herein kam, und feuerte einen Schuss aus seiner Pistole ab. Die Kugel schlug vor den Füßen der Stewardess in den Kabinenboden und ließ die junge Frau hysterisch aufschreien. Sie presste sich mit weit aufgerissenen Augen gegen die Wand neben der Tür.

Der Schuss und das Aufschreien der Frau waren über das eingeschaltete Mikrophon des Piloten bei der Einsatzleitung im Tower zu hören gewesen und ließen dort jene Überzeugung die Oberhand gewinnen, dass die Entführer der Maschine Ernst machten.

„Wenn ihr Tote haben wollt, dann könnt ihr es gleich sagen“, brüllte Fowler in das winzige Mikro. „Wir haben ’ne Menge Auswahl hier.“ Er griff in das Haar des Piloten und presste mit der anderen Hand die Mündung der Waffe hinter Brunstetters rechtes Ohr.

Ein Gefühl von Hilflosigkeit und Angst ließ ihm die Feuchtigkeit aus den Poren treten und in feinen Perlen seine Stirn bedecken. Würde der Bursche hinter ihm jetzt die Nerven verlieren? Oder würde er ihn aus Berechnung erschießen? Der Tod des Piloten verliehe seiner Forderung größeren Nachdruck als der jedes anderen. Was würde er spüren, wenn die Pistole hinter seinem Ohr losging? Nichts? Würde es einfach nur dunkel um ihn werden? Niemand konnte es ihm sagen …

„Sagen Sie ihnen etwas!“ Die Stimme hinter ihm klang ätzend wie Säure, die sich durch Brunstetters Gehörgänge fraß und jedes Wort in seinem Hals erstickte. Er musste zweimal ansetzen, ehe er einen Ton heraus brachte. Der Kerl wird also noch nicht schießen, lässt mir noch ein paar Worte lang Zeit, ein paar Sätze vielleicht sogar …, vielleicht auch länger … Vielleicht schießt er gar nicht und droht nur …

Vielleicht …!

„Hören Sie …“, Brunstetters Stimme klang schwer und belegt, „die machen Ernst. Wenn Sie das Leben der Passagiere und der Crew und auch die Maschine nicht gefährden wollen, dann halten sie diese Männer nicht länger hin.“

Das war’s. Diese paar Sätze hatten ihn angestrengt wie ein hartes Stück Arbeit, und er fragte sich, ob man auf der anderen Seite auch das Pumpen seines Herzens hören konnte.

„Haben sie schon jemand umgebracht?“, wollte die Stimme vom anderen Ende der Leitung knapp und nüchtern wissen.

„Bis jetzt noch nicht.“

„Wie viele sind es?“

Brunstetter zögerte. Was sollte die Frage? Sie hatten doch drei verdammte Fallschirme verlangt. Glaubten sie etwa, dass es nur eine Finte war? Die Pistole war noch immer drohend hinter seinem Ohr. Weshalb wollen sie das wissen? Wollen sie die Maschine stürmen lassen?

Mein Gott …!

„Tut mir leid“, murmelte Brunstetter. Seine Stimme klang erschöpft. Dann folgte einen Moment Stille, in der Brunstetter nur aufmerksam lauschte. Schließlich sagte er an Fowler gerichtet: „Sie brauchen nochmals eine Stunde, um die Summe herbeizuschaffen. Schließlich sind fünf Millionen …“

„Ich weiß, wie viel fünf Millionen sind“, unterbrach Fowler ihn ungeduldig. „Hoffentlich wissen die da drüben auch, was ein Menschleben wert ist.“

„Bedenken Sie, dass bis jetzt noch niemand getötet wurde.“ Brunstetter raffte sich aus seiner psychischen Erschöpfung auf. „Ganz gleich, wie die Sache auch ausgehen mag, es ist besser für Sie, wenn es dabei bleibt. Immerhin sind fünf Millionen auch eine Stunde Warten wert.“

Fowler ließ die Haare des Piloten los und nahm die Pistole zurück. Das Verschwinden des Druckes hinterließ eine erleichternde Leere in Brunstetters Empfinden. Aber er machte sich keine Illusionen und wusste, dass der Lauf der Waffe noch immer auf ihn gerichtet war.

„Wir sind nicht wild aufs Töten, sofern man uns nicht dazu zwingt“, sagte die Stimme hinter ihm auffallend ruhig. „Sagen Sie ihnen, wir akzeptieren diese Stunde. Aber nur noch diese und nicht länger.“

Brunstetters verkrampfte Schultern sanken herab, ohne sich zu entspannen. Er tat einen tiefen Atemzug, und dann sprach er wieder in das kleine Mikrophon vor seinen Mund …

Zwei Stunden später: Benjamin Fowler hatte Joe Kendall in das Flughafengebäude geschickt, um die Geldübergabe ab zuwickeln. Kendall neigte weniger zu unüberlegten Aktionen als Richie Duncan, und er ließ sich auch nicht so leicht mit irgendwelchen Tricks hereinlegen. Andererseits konnte Fowler auch, falls die Verantwortlichen der Fluggesellschaft ein falsches Spiel trieben, am leichtesten auf ihn verzichten. Duncans Brutalität und Entschlossenheit brauchte er, wenn es je zum Ernstfall käme.

Jetzt warteten sie auf Kendalls Rückkehr, und Fowler musste sich eingestehen, dass er mittlerweile nervös wurde. Schließlich war das hier nicht etwas, das man routinemäßig einmal im Monat durchzog.

Der Wagen, der Kendall von der Maschine abgeholt hatte, war noch nicht wieder zu sehen. Die Betonpiste des Byrd-Fields lag ohne Leben in der Sonne, in ihrer Eintönigkeit nur von einigen Reifenspuren unterbrochen. Die Flughafengebäude duckten sich in sicherer Entfernung unter der Hitze des Nachmittags gleich sprungbereiten Tieren. Eine lauernde, gefährliche Bereitschaft ging von ihnen aus, eine passive Drohung, die nach außen hin alle Aktivitäten, die sich in ihrem Innern abspielten, mit einem Mantel der Regungslosigkeit umhüllten.

Duncan öffnete die Tür und steckte seinen Kopf ins Cockpit. „Ziemlich lange schon. Findest du nicht auch?“

Auch er wurde langsam ungeduldig. Fowler setzte eine gelassen-zuversichtliche Miene auf, um die eigene Unruhe zu verbergen.

„Dauert eben seine Zeit, fünf Millionen nachzuzählen und in Plastiktüten zu verschweißen.“

„Und wenn sie ihn kassiert haben?“

Dieser Gedanke war Fowler auch schon gekommen, aber es war besser, er ließ ihn nicht von sich Besitz ergreifen.

„Sie würden einen zu hohen Preis dafür zahlen müssen.“

„Falls wir ernst machen.“

Der Blick, mit dem Fowler seinen Komplicen betrachtete, war fest und prüfend. „Zweifelst du etwa daran?“

Duncan grinste. „Ich nicht, aber vielleicht die da draußen.“ Das Grinsen verschwand ohne Übergang, so, wie es gekommen war und ließ sein derbes Gesicht brutal erscheinen. „Bis jetzt haben wir noch keine Leiche hinausgeworfen. Vielleicht war das ein Fehler. Die rechnen sich aus, dass auch wir noch ’ne Menge zu verlieren haben. Ich finde, wir sollten …“

„Nur ruhig Blut“, mahnte Fowler. „Dazu ist immer noch Zeit. Wir dürfen jetzt keinen Fehler machen. Aber wenn es dich beruhigt, so werde ich mal nachfragen.“ Er machte eine bezeichnende Kopfbewegung in Richtung Passagierkabine. „Und du kümmere dich wieder um die da. Macht sich langsam Unruhe breit.“

In der Tat war unwilliges Stimmengewirr aufgekommen, das jedoch sofort wieder erstarb, als Duncan auf seinem Posten war.

Fowler tippte Brunstetter mit der Pistole auf die Schulter, zeigte auf die Kopfhörer und winkte mit dem Finger. Er tat es mehr, um sich selbst zu beruhigen, aber davon hatte er Duncan lieber nichts gesagt. Der Pilot streifte sie ab und reichte sie Fowler. Dieser hielt eine Hörmuschel gegen sein Ohr und sandte Brunstetter einen auffordernden Blick. Als die Verbindung zustande kam, sprach er in das Mikrophon. „Hört mal her! Das dauert mir alles zu lange.“ Er achtete nicht auf die Fragen und Einwände, mit denen sie ihn hinhalten wollten, sondern redete sofort weiter. „Ich will mit meinem Mann reden.“

Sie versicherten ihm, dass er gleich zurückkäme.

„Ich will mit ihm reden, verdammt noch mal! Und noch was. Falls sie hinter uns irgendwelche Maschinen aufsteigen lassen … Wenn wir auch nur eines von diesen Dingern ausmachen … Ihnen ist doch klar, dass wir ’ne Menge Geiseln hier haben.“ Aus den Augenwinkeln bemerkte er das blasse Gesicht des Copiloten und die stumme Gestalt des Funkers, die dicht beieinander hockten, um sie besser im Auge zu haben. Sie hatten sich während der ganzen Zeit völlig ruhig verhalten.

Es knackste im Hörer. Sekunden schlichen dahin, wurden zu einer Minute oder mehr. Fowler fluchte leise. Dann hörte er ein

„Hallo“. Kendalls Stimme, stellte er erleichtert fest.

„Alles in Ordnung dort?“

„Bin gleich fertig“, erklärte ihm Kendall. Er klang zuversichtlich, fast heiter. „Das ist vielleicht ’n Ding, kann ich dir sagen. Ihr braucht euch erst Sorgen machen, wenn ich in zehn Minuten nicht erscheine. Übrigens, da kommt noch ein Mann mit. Ich kann das Zeug nicht alles alleine schleppen. Ende.“

Etwa sieben Minuten später wurde der Wagen sichtbar, der sich in langsamer Fahrt der Maschine näherte.

„Geh an die Tür und pass auf, dass der andere Kerl nicht rein kommt!“, sagte Fowler zu Duncan. „Und sobald Joe oben ist, sollen sie die verdammte Treppe wieder wegfahren.“

Joe Kendall kam durch die vordere Tür, durch die er auch die Maschine verlassen hatte. Zwei große Leinentaschen mit dem Logo der Fluggesellschaft hingen über seiner Schulter, und er strahlte durch die zurückliegende Anspannung etwas verkrampft, aber siegessicher. Der zweite Mann stieg hinter ihm in deutlichem Abstand die Aluminiumstufen hinauf, legte die Fallschirme auf den Boden, ohne das Flugzeug zu betreten, und verschwand wieder Dann wurde die Treppe entfernt. Alles schien glatt zu gehen.

Zwanzig Minuten später erhielten sie Starterlaubnis. Die Maschine rollte in Position, und dann heulten die Turbinen auf. Die Boing 727 jagte über das Rollfeld und verlor den Boden unter dem Fahrgestell, hob sich steil empor, der messingfarbenen Sonne entgegen wie ein Adler, der mit seiner Beute entschwindet.

1.

Wenn die Not am größten ist, flötet ein kleines Vögelchen die Melodie der Hoffnung in das verzweifelte Ohr – und schwingt sich auf Adlerflügeln hoch in die Luft.

Honduras 1982.

Hier schien es nichts zu geben, was ihr helfen könnte – gar nichts. Angst und Verzweiflung drohten ihr die Kehle abzuschnüren. Ihre Augenlider zogen sich zusammen, als könnte sich dadurch ihr Blick schärfen. Tief in ihr glomm noch ein letzter Funken Hoffnung, wehrte sich hartnäckig gegen jede Realität.

Der quälende Glutball näherte sich mit nötigender Langsamkeit dem unebenen, sich scharf abgrenzenden Horizont. Der Himmel ging vom strahlend blassen Blau in ein schimmerndes Türkis über. Die Schatten wurden länger, schoben sich einem Aufatmen gleich über das durstig hechelnde Land. Der Tag ging zur Neige.

Gott sei Dank!

Ein heißer Tag, dem andere heiße Tage vorangegangen waren, so wie das nun mal in diesem Land ist.

Eine heiße Hand wischte so hilf- wie nutzlos über eine ebenso heiße Stirn. Es gab nichts Kühles in diesem gottverdammten Land – nicht einen auch noch so kleinen Fleck. Der Weg bog sich unter der flimmernden Hitze und der Langeweile. Die junge Frau ging weiter auf die ärmlichen Hütten zu, die auf sie in einer unrealistischen Weise behaglich wirkten. Sie versprachen Ruhe – eine Pause – endlich auf einem Stuhl sitzen – etwas zu trinken

… und schließlich noch so was wie Hoffnung auf etwas, das es allem Anschein nach gar nicht gab …

Ihre Schritte waren kurz und ohne Kraft. Hitze, Staub, Schweiß und Durst hatten ihrer Erscheinung zugesetzt und sie ihrer trostlosen Umgebung angepasst, hatten ihrer einst weißen Baumwollbluse zu einem fleckigen Grau verholfen,

die hellbraune Leinenhose zerknittert und ihr an Gesäß und Knien dunkle Stellen beigebracht. Die leicht mandelförmigen Augen und die Wölbung ihrer Wangenknochen zeugten von einem Schuss Indioblut, der irgendwann einmal durch die Adern ihrer Ahnenreihe geströmt sein musste. Es mochten die Gene eines Südeuropäers – vielleicht irgendeines Abenteurers oder Conquistadors – und die eines wilden Indiomädchens gewesen sein, die sich miteinander vermischt hatten. Vor langer Zeit, vielleicht auf einer schmutzigen Decke im Gebüsch oder auch in einem mit Satin bezogenen Himmelbett, wer weiß.

Sie strich sich mit einer müden Bewegung das strähnige Haar aus dem Gesicht und blinzelte in die schmerzende Sonne, die in diesem Moment die Hügel jenseits der Hütten berührte.

Gott sei Dank?

Die herabsinkende Nacht machte zwar alledem, was hinter ihr lag, ein gnädiges Ende, aber sie würde auch unerbittliche Fesseln um sie legen und sie zur Untätigkeit zwingen – lange, qualvolle Stunden, eine weitere Nacht, deren Maß an Leid sie nicht abzuschätzen vermochte.

Die junge Frau nahm kaum Notiz von dem holprigen Weg, der inzwischen zu einer staubigen, tristen Straße geworden war, flankiert von Behausungen aus Brettern, Steinen und Wellblech, die unter Sonne, Regen und Wind ebenso gelitten hatten wie unter der Nachlässigkeit ihrer Bewohner. Ein paar Hühner rannten auf langen Beinen vor ihr davon, schüttelten den Staub aus ihrem Gefieder und machten sich wieder auf die mehr oder meist weniger erfolgreiche Suche nach etwas Fressbarem. Einige Palmen verharrten reglos in der stehenden Luft hinter der schäbigen Kulisse der Hütten, geduldig auf die Dunkelheit wartend.

Zu anderen Jahreszeiten stürzten hier wolkenbruchartige

Regengüsse nieder und verwandelten diese Straße zuweilen in ein schlammiges, grenzenloses Etwas, auf dem trübe Fluten dahin schossen, weggeworfene Bierdosen, Plastiktüten und Unrat mit sich reißend, und manchmal auch Hühner oder anderes Kleingetier, das sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Dann roch die feuchte Luft nach Moder und Vergänglichkeit, legte sich schwer auf die Atemwege und erweckte Schwärme von Moskitos zum Leben. Aber jetzt, Anfang März, war die Trockenzeit noch nicht zu Ende, und das Land dürstete nach Wasser, dessen unbarmherzige, mit nassen Fingern nach Hab und Gut greifende Fluten längst schon wieder vergessen waren.

Die junge Frau schaute sich um. Zweifel stieg zitternd wie vom Wind bewegtes Laub in ihr auf und spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider, machte die Erschöpfung darin noch deutlicher.

Ein paar Strommasten, die trotzig müde in der Abendluft hängende Drähte stützten, Karrenspuren, ein lädiertes Coca-Cola-Schild, ein paar Männer, die ihr neugierig, aber ohne sich zu bewegen, entgegenblinzelten. Jedoch keine Tankstelle, kein Anzeichen davon, dass hier irgendjemand ein Auto besaß. Nicht einmal ein ausgeschlachtetes Wrack davon oder ein rostiger Kotflügel war unter den Schrott- und Abfallhaufen zu entdecken, die sich aus dem wild wuchernden Unkraut jenseits der Straße emporhoben. Keine Kinder liefen herum, nur hier und da ein träger, räudiger Hund. Nichts, das auf irgendeine Beschäftigungsmöglichkeit hindeutete. Nichts außer Tristesse und Langeweile. Wer hier lebte, schien auf dem Abfallhaufen der zivilen Gesellschaft gelandet, ein Platz für Gescheiterte und geborene Verlierer.

Der Zweifel mobilisierte ihren Trotz, und ihre Schritte wurden

schneller. Sie ging zielstrebig auf die Männer zu, die wie überflüssige, abgestellte Gegenstände müßig vor einer Cantina hockten, ohne sich zu unterhalten. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine schwangere Frau, die mit einem Korb an die Hüfte gepresst, weiter vorn die Straße überquerte. Der Anblick einer Geschlechtsgenossin, die werdendes Leben verkörperte, brachte einen Funken Optimismus zurück. Scheinbar doch kein aussterbender Ort mit Zombies und lebenden Mumien.

Zwei Schritte vor diesen alten Männern blieb sie stehen, strich sich mit einer unsicheren Bewegung über die schweißfeuchte Stirn und fragte in fließendem Spanisch: „Gibt es hier irgendwo ein Auto? Ich brauche dringend einen Wagen.“

Einen Moment lang herrschte abtastendes Schweigen. Schwarze Augen musterten sie neugierig und leicht argwöhnisch unter zerfransten Strohhüten hervor. Eine Fremde, die aus dem Nichts kam, fragte nach einem Auto. Hier! Einer der Männer lachte mit einem heiseren Meckern.

„¿Un coche?“, fragte er mit schnarrender Stimme und lachte weiter, so als hätte die Fremde nach einem Zimmer mit Bad und Telefon gefragt. „¿De donde viene?“

Die junge Frau überging die Frage, woher sie komme, und stieß hastig hervor: „Ich werde dafür bezahlen. Ich werde gut bezahlen.“

Sie wartete, schaute irritiert von einem zum anderen dieser alten Gesichter. Das verständnislose Grinsen indessen deutete ihr an, dass es hier kein Auto gab. Gott im Himmel, sie hatte alle ihre Hoffnungen darauf gesetzt …! Wieder einmal! Wie viele Generationen von Hoffnungen hatte sie in ihrem Leben

schon kommen und gehen gesehen? Wie viele davon konnte man selbst überleben? Einer jedenfalls würde diese hier nicht …

„El gringo tiene un coche“, sagte da einer der Männer in die zitternde Stille hinein, so, als machte er einen Scherz, und das Lachen der anderen lebte wieder auf, sprang die erschöpfte junge Frau an wie eine Provokation. Die letzten Sonnenstrahlen trafen die Bartstoppeln des Sprechers und ließen sie wie Silber flirren. Seine Worte wischten diesen peinigenden Gedanken aus ihrem Kopf, ehe er bis zu seiner grausamen Konsequenz gelangen konnte, ließen das kleine Flämmchen, das irgendwo in ihrem Innern dahinzusterben drohte, noch einmal aufflackern.

„Sí“, bestätigte ein zweiter, dessen Lippen schlaff in die breiten Lücken seiner fehlenden Zähne sanken. „Sí, pero el gringo está boracho, como siempre.“

Die Frau schaute mit einem verzweifelten Aufschrei in den dunklen Augen von einem zum anderen.

„¿Qién?“, fragte sie rasch, aber nicht ganz verstehend. Die Männer sprachen da von einem Amerikaner, der ständig betrunken sei. „Wer ist dieser Mann?“, wiederholte sie schnell, als griffe sie nach einem Strohhalm, der die Rettung in letzter Not sein könnte.

Der Mann mit dem silbernen Stoppelbart schaute sie noch einmal abschätzend an, als wollte er ergründen, ob ihre Erscheinung es zuließe, ihr ein Geheimnis anzuvertrauen. Ein listiges Funkeln belebte flüchtig seine kleinen, müden Augen, dann zuckte er mit seinen mageren Schultern unter dem angeschmutzten blaugrauen Baumwollhemd, als wollte er sich entschuldigen.

„Un americano“, klärte er sie schließlich auf und deutete auf die dunkle Türöffnung im Hintergrund, die in das Innere der Kneipe führte. Er sitze da drin, aber sie könne nicht mit ihm reden. Niemand könne das, wenn er betrunken ist, und das sei er um diese Zeit immer.

„Und er besitzt ein Auto?“

„Sí“, Der Mann nickte, die Frau vor sich anstarrend, als käme sie von einem anderen Stern.

Sie schlüpfte ohne ein weiteres Wort rasch zwischen den sitzenden Männern hindurch und betrat das Innere der Cantina.

Ein düsterer Eindruck, als hüte er ein Geheimnis, das er nicht preisgeben wollte, empfing sie. An der Wand neben der Tür sah sie ein großes Reklameschild in braun und rot gehalten mit einer typisch taillierten Colaflasche, deren Frische und Kühle so anschaulich dargestellt war, dass man sie direkt spüren, fast sogar schmecken konnte. Es wirkte in dieser Umgebung auf sie deplatziert, beinahe zynisch. Die gegenüber liegende Wand zierte das etwas verblichene Plakat einer Zigarettenwerbung: Ein Cowboy mit hartem Gesicht, einer ramponierten Lederweste und abgeschabten Chaps, in der rechten Hand ein aufgerolltes Lasso, die Zigarette im schmallippigen Mundwinkel und die Augenlider gegen den aufsteigenden Rauch zusammengezogen, lehnte lässig an den Stangen einer Corralfence.

Schummrige Schwüle hüllte sie ein mit ihrem schweren Geruch nach schalem Bier und Essensdunst, nach Knoblauch und getrockneten Kräutern, die von der Decke über der Theke herabhingen. Im ersten Moment bemerkte sie nur einen Tisch nahezu in der Mitte des Raumes. Nein, da war noch einer in der Nähe der linken Wand, an dem keine Stühle standen. Die hatten wohl die Männer draußen. Eine Schüssel und ein paar leere Gläser standen ohne Ordnung auf einer abgewetzten Theke, in deren Hintergrund sich einige Flaschen aus der diffusen Dämmerung eines Regals hervordrängten. Daneben verhieß eine schmale Türöffnung einen angrenzenden Raum. Und es war niemand hier. Niemand, außer ein paar Fliegen, die aufgebracht herumsummten, und einem einzelnen Mann, von dem sie nicht wusste, ob er schlief oder wach war. Er hatte die verschränkten Unterarme auf den Tisch gestützt. Sein Kopf war so weit nach vorn gesunken, dass die Stirn beinahe die haarigen Arme berührte. Die wirr herabhängenden dunkelblonden Haare erweckten den Eindruck, als stützten sie seinen Kopf ab und bewahrten ihn somit vor dem völligen Absacken. Ein intensiver Geruch nach Alkohol, Zigarettenrauch und Körperausdünstung umhüllte ihn wie ein schützender Panzer, der zu signalisieren schien: komm mir nicht zu nahe! Sie konnte nicht erkennen, ob seine Augen geschlossen waren, doch vor ihm stand eine zu einem Drittel volle Whiskyflasche, aber kein Glas.

Die Frau blieb zögernd neben ihm stehen. Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie tun sollte. Aber sie musste irgendwas tun. Der Tag war zu Ende, und …

Ohne ihren Gedanken bis zum Schluss kommen zu lassen, tippte sie diesem Mann auf die Schulter. „Sind Sie wach?“, fragte sie dabei auf Englisch, das sie mit leichtem Latinoakzent sprach. Der Mann hob wie in Zeitlupe den Kopf und schaute zu ihr hoch. Der Blick seiner verwaschen wirkenden grauen Augen war nicht so benebelt wie sie es befürchtet hatte, aber er war betrunken genug, um über das Auftauchen einer fremden jungen Frau keinerlei Verwunderung zu empfinden. Jedenfalls zeigte er nichts dergleichen. Es war etwas in diesen Augen – etwas Altes, sehr Altes, so als wären seine Blicke schon mehr als hundert Jahre in dieser Welt herumgewandert, immer auf der Suche nach etwas, das sie nie gefunden hatten.

Er deutete mit einer unbeholfenen Handbewegung auf den freien Stuhl neben sich und fragte: „Willst du mit mir trinken?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten rief er laut: „He, Ruiz, ¡una copa para la chica!“ Es war jedoch niemand da, der seinem Ruf nach einem Glas hätte Folge leisten können. Nur die Fliegen, die sinnlos die zähe Luft durchpflügten, summten hektischer herum.

Die junge Frau setzte sich vorsichtig auf die vordere Kante des Stuhles. „Ich bin nur gekommen, um mit Ihnen zu reden, falls man das noch kann.“

Sie merkte sofort, dass sie ihre Unterredung kaum ungeschickter hätte beginnen können. Der leichte Vorwurf in ihrer Stimme trug ein Übriges dazu bei und veranlasste den Mann, sie genauer ins Auge zu fassen. Der Ausdruck in seinem Gesicht war, trotz der entspannenden Wirkung des Alkohols, misstrauisch mit einer Spur Feindseligkeit.

Sie war dunkelhaarig und jung. Ihre Worte gefielen ihm nicht, doch ihre Stimme klang recht angenehm, anders als die der keifenden Weiber hier, mit ihren überproportional entwickelten Hinterteilen. Auch wenn sie einen erschöpften Eindruck machte, konnte das die herbe, fast rustikale Schönheit ihrer Züge nicht zerstören. Und sie stammte nicht von hier aus diesem elenden, verschlafenen Nest, das sah er auf den ersten Blick. Er kannte sich mit Gesichtern gut genug aus, um diesem hier anzusehen, dass es einer Frau mit Vergangenheit gehörte, wie ihr sündiger Mund es verriet und der Ausdruck ihrer braunen Augen. Er bemerkte ein gewisses Interesse in ihrem Blick. Ein Interesse, das aber nicht ihm galt, jedenfalls nicht dem Mann in ihm. Das erkannte er trotz des bleiernen Nebels, mit dem der Alkohol seine sonst so sensiblen Sinne zu betäuben versuchte. Sie wollte etwas von ihm. Natürlich, sonst hätte sie ihn nicht angesprochen. Aber was zum Teufel hatte er schon zu bieten? Nur Männer mit Erfolg konnten sich mit solchen Frauen umgeben. Oder glaubte sie etwa, nur weil er Amerikaner war …?

„Nun sag schon, was du willst“, forderte er sie unfreundlicher auf, als er es eigentlich wollte, wobei ihm die Ungeschicklichkeit seiner Zunge einige Schwierigkeiten bereitete, „und dann lass mich in Ruhe, wenn du schon nicht mit mir trinken willst.“

Sie musste versuchen, ihren Fehler wieder gutzumachen. Sie war nun mal auf das Wohlwollen dieses betrunkenen Kerls angewiesen. Trinker hatten ihre Eigenarten, und meistens waren sie dickköpfig und voller Selbstmitleid. Aber es musste etwas geben, um ihn zugänglich für ihr Vorhaben zu machen. Sie brauchte das Auto – koste es, was es wolle. Und sie wusste auch, wie man mit solchen Männern umging. Diese Feststellung bereitete ihr keine Genugtuung. Doch schließlich war sie nicht in einem Internat aufgewachsen, sondern durch eine härtere Schule gegangen, in der es weder Zeugnisse noch Empfehlungsschreiben gab.

Sie griff entschlossen nach der Flasche und sagte dabei: „Na schön, wenn Ihnen so viel daran liegt …“ Sie nahm einen Schluck und stellte sie, ohne das Gesicht zu verziehen, fest und mit einem schwappenden Gluckser wieder hin. „Ich bin Elina Maria Ortega.“

Er legte ihr die Hand auf den Arm. „Freut mich, Mary“, sagte er mit der plumpen Vertraulichkeit, die Betrunkene meist an sich haben, und griff mit der anderen Hand seinerseits nach der Flasche. Eliana war klug genug, ihn nicht daran zu hindern, obwohl ihr die Zeit in der unrealistischen Einschätzung der Situation unter den Nägeln brannte. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass dieser Bursche ihr betrunken nicht viel nützen konnte. Ob nüchtern, wusste sie allerdings auch nicht. Als er die Flasche wieder absetzte, sagte er: „Ich bin nur el gringo.“

„Haben Sie sonst keinen Namen?“

„Wer fragt schon danach, wie ein Niemand heißt.“

„Ich.“

Er wollte wieder zur Flasche greifen, aber Eliana hatte es rechtzeitig erkannt und kam ihm diesmal zuvor.

Der Whisky war billig und schmeckte ihr nicht, und er entfachte in ihrem leeren Magen ein quälendes Feuer. Doch je mehr sie von dem Zeug trank, desto weniger bekam er davon.

Seine Hand blieb verloren und leicht zitternd in der Luft hängen, die andere lag noch immer auf Elinas Arm, und sie spürte den Druck seiner Finger stärker werden. Es waren schlanke, fast zierliche Finger mit Schmutz unter den Nägeln.

„Gordon Denison“, sagte er behutsam und machte eine Pause, als lauschte er selbst dem Klang dieses Namens nach, um festzustellen, was für einen er jetzt noch hatte. Sie kam zu dem Schluss, dass es kein guter Klang sein konnte, denn der Mund des Mannes verzog sich unter dem Stoppelgewirr seines mehrere Tage alten Bartes, und sie wusste nicht, ob die geröteten Augen, die sie unentwegt musterten, eine Folge des Alkohols oder irgendeines Gefühls waren, das ihn aus einer wie auch immer gearteten Erinnerung plötzlich ergriffen hatte. Dieser Gordon Denison schien am Ende eines Weges angelangt, der sicher nicht mit Rosen bestreut gewesen war.

Elina fühlte tief aus der Feuersbrust in ihrem Innern eine gewisse Sympathie für diesen Mann aufsteigen. Oft genug hatte auch sie den Wunsch verspürt, zur Flasche zu greifen und die ganze Welt um sie herum in der zerstörerischen Vergessenheit von Alkohol zu ertränken. Aber wäre dieser Mann unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen wie sie, dann wäre er jetzt stärker, dann besäße er jenen Willen zum Durchhalten und Überleben, der ihn letztlich doch an das Ziel seiner Wünsche und Vorstelllungen bringen musste. Nur die Schwachen, die einer besseren Zeit nachtrauern, versuchen die Gegenwart zu vergessen.

Sein Blick kehrte zu der Flasche auf dem Tisch zurück, und sie nahm diese rasch, aber ohne auffällige Hast in die Hand, hielt sie einen Moment prüfend in die Höhe und setzte sie dann an ihre Lippen, angewidert zwar, aber doch in der Lage, es sich nicht anmerken zu lassen. Als sie die Flasche mit vorsichtiger Bewegung wieder hinstellte, erklärte sie ihm geradeheraus: „Ich befinde mich in Schwierigkeiten.“

„Ich auch.“ Eine schwere, ungelenke Zunge jonglierte die Worte nach draußen. „Wenn du Hilfe suchst, ganz gleich, was … was es auch sein mag, hast du dir leider den Falschen ausgesucht. Siehst du das nicht?“ Sie ist in Schwierigkeiten, na und? So was gibt es, kommt immer wieder vor. Aber ich bin am Ende – einer, der seine letzte Chance vertan hat. Wie kann man vom mir Hilfe erwarten?

„Ernste Schwierigkeiten“, redete sie eindringlich auf ihn ein, „und Sie scheinen der Einzige hier zu sein, der mir helfen kann.“

„Hör mal, Herzchen, wenn du glaubst … mir schmeicheln zu … müssen, dann …“ Er machte eine Pause, holte tief Luft. „Darüber… darüber kann ich nur lachen. Ich kann mir nicht mal selbst helfen.“ Es gelang ihm nicht, einen Rülpser zu unterdrücken, aber das störte ihn nicht, er bemerkte es nicht einmal. „El gringo ist ein Niemand … Hast du das endlich verstanden?“

Sie betrachtete einen Moment lang sein Gesicht, schwankend zwischen Verachtung und Mitleid.

„Aber Gordon Denison hat ein Auto.“

Er schien aufzuhorchen. Seine Augen hatten einige Schwierigkeiten, sich auf sie zu konzentrieren. „Na und“, brachte er heraus, nahm seine Hand von ihrem Arm weg und begann damit, die Flasche auf dem Tisch spielerisch herumzudrehen. „Soll ich vielleicht mit dir ’ne … Sightseeing-Tour machen? Gibt nichts zu sehen hier …, das anzuschauen sich lohnt … lohnen würde. Außerdem bin ich dafür viel zu betrunken."

„Aber ich nicht. Können Sie mir den Wagen nicht für einen Tag leihen? Morgen Abend haben Sie ihn ganz bestimmt zurück.“

Gordon Denison schaute sie an wie jemand, der noch betrunkener sein musste als er selbst. Die Hoffnung, die in ihren Worten mitgeschwungen hatte, schien ihn nicht zu erreichen, und er lachte leise, fast geräuschlos vor sich hin.

„Du bist mir vielleicht ein Herzchen, Mary. Ich … ich bin zwar betrunken, aber nicht verrückt. Du verschwindest vielleicht mit dieser … dieser Kiste, und ich sitze dann hier in diesem verdammten Scheißnest und kann mich zu Tode s-saufen.“

Also doch noch ein Funken Überlebenswillen. Elina legte etwas warmen Schmelz in ihren Blick. „Ich habe nichts, was ich Ihnen als Pfand gegen könnte.“ Doch er sah sie nicht an. „Ich könnte versuchen, Sie zu überzeugen, wenn Sie mir Gelegenheit dazu geben.“

Es lag eine angenehme Weichheit in ihrer Stimme, die in ihm die Erinnerung an den weichen warmen Körper einer Frau wachrief. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal eine Frau gehabt hatte? Sein Gehirn war zu vernebelt, um diese Frage zu klären, und die Anstrengung des Nachdenkens ließ ihr Gesicht vor seinen Augen undeutlich auseinanderfließen. Er schüttelte etwas unwillig den Kopf, um das Bild wieder klar zu bekommen. Es half.

War sie eine Hure? Eine, die …? Nein. Er konnte weder in ihrem Verhalten noch in ihrer Ausdrucksweise diese vulgäre Note feststellen, wie sie Weiber dieser Art gewöhnlich an sich hatten. Aber dennoch … Sie kannten sich nicht, und trotzdem schien sie bereit … Während diese Gedanken in der Schwere seines Kopfes versackten, versuchte er sich wieder auf ihr Gesicht zu konzentrieren, wischte sich mit der Hand über das eigene, als wollte er die betäubende Wirkung des Schnapses beiseite schieben, und sein Blick suchte unsicher nach dem ihren.

„Du würdest wohl alles d-dafür tun, was?“

„Nahezu alles.“

„Muss ja verdammt … wichtig sein, diese S-sightseeing-Tour.“

Elina schwieg und sah ihm nur fest in die Augen. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, mit ihm ins Bett zu gehen und ihm den Schlüssel zu stehlen, wenn er schlief. Aber sie wusste ja nicht einmal, wo sich dieses Auto befand.

Einen Augenblick hielt Gordon Denison ihrem Blick stand, dann sagte er beinahe unwirsch: „S-sagen wir mal, ich könnte dir trauen und du kämst … zurück, dann wäre der Tank nahezu leer, oder vielleicht wäre er auch ganz leer, verstehst du? …Und es gibt hier kein Benzin zu kaufen, um von diesem beschissenen Platz wegzukommen. Du hast dir den falschen Mann ausgesucht, Herzchen … und vor allem die falsche Gegend, um ’ne Spazierfahrt zu machen. Oder ist es etwa keine Spazierfahrt?“

Sie überging diese misstrauische Frage und sagte stattdessen: „Wenn Sie von hier weg wollen, warum haben Sie es nicht schon längst getan?“

Er schwieg nach dieser Bemerkung, und sie sah ihm an, wie es hinter seiner Stirn schwerfällig arbeitete. Er mochte jetzt darüber nachsinnen, wie berechtigt ihre Frage war. Oder er mochte sich fragen, was sie überhaupt hier in dieser gottverlassenen Gegend zu tun hatte.

Und was hatte ihn hierher getrieben? Hatte er etwas verbrochen? War er auf der Flucht vor etwas und wollte sich im entlegensten Winkel dieser Welt verstecken?

Würde er sich dann betrinken?

„Gordon“, sagte sie fast zärtlich. „Wenn es nicht sehr wichtig für mich wäre, hätte ich Sie nicht damit belästigt.“

„Warum sagst du mir dann nicht den wahren Grund?“

Ihr Blick ruhte einige Sekunden auf seiner Erscheinung, tastete prüfend und unschlüssig über seine Gestalt, sein Gesicht, die nervös mit der Flasche spielenden Hände, und sie lauschte dabei auf das Klopfen ihres Herzens.

„Weil es meine Sache ist“, hörte sie sich schließlich sagen, und sie wusste sofort, dass sie einen weiteren Fehler begangen hatte. Er lehnte sich zurück und starrte trotzig auf eine nicht näher zu bestimmende Stelle der Tischplatte.

„Und ich habe das Auto.“

Elina presste die Lippen aufeinander. Zum Teufel mit ihm. Es lag ihr auf der Zunge, ihm zu sagen, dass er ja hier ganz gut aufgehoben sei, dass es hier zwar kein Benzin, dafür aber genügend Fusel gäbe, um sich jeden Tag volllaufen zu lassen. Doch so würde sie ganz bestimmt nicht weiterkommen. Und außerdem hatte er es nicht verdient, dass sie sich über ihn lustig machte. Was wusste sie denn über ihn. Nur, dass er einer wildfremden Person sein Auto nicht leihen wollte. Sie würde wohl nicht darum herumkommen, preiszugeben, was ihr streng gehütetes Geheimnis bleiben sollte. Aber die Umstände, die jetzt eingetreten waren, machten alles zunichte, was vorher gegolten hatte. Retten, was zu retten war hieß die letzte Möglichkeit, die ihr geblieben war.

„Es geht um ein Menschenleben“, musste sie schließlich nach einigem Zögern einräumen.

„So“, knurrte Gordon Denison. Dann grinste er sie trunken an. „Erzähl mir blooß keine rührselige Story, nur weil ich besoffen bin.“

So betrunken, um sein Misstrauen verloren zu haben oder nicht mehr denken zu können war er also doch nicht.

„Aber es ist die Wahrheit!“, schrie Elina ihn an. „Die wollten Sie doch hören, verdammt noch mal! Da liegt ein alter Mann mit einem zerschmetterten Bein einen Tagesmarsch von hier in der Wildnis. Er braucht dringend Hilfe …!“ Sie stoppte rasch den

Ausbruch ihrer Gefühle und versuchte, die Kontrolle über sich zurück zu gewinnen, um nicht mehr Dinge preiszugeben, als sie eigentlich musste – Dinge, die sie lieber für sich behalten sollte. Ihr argwöhnischer Blick tastete das Gesicht ihres Gegenübers ab … und gab Entwarnung.

Ruiz, der Wirt, erschien, zündete eine Petroleumlampe an und stellte sie auf den Tisch, denn es war inzwischen fast völlig dunkel geworden. Die Stromleitungen, die sie draußen gesehen hatte, schienen hierher noch keinen Zugang gefunden zu haben. Ruiz betrachtete die Frau einen Augenblick lang unschlüssig, sagte jedoch nichts und verschwand wieder, ebenso stumm, wie er gekommen war. Offenbar war er an seltsame Marotten von el gringo gewöhnt.

Ein abschätzender, nicht gerade schmeichelhafter Blick tastete sich über ihr Gesicht, ihre Gestalt, soweit sie oberhalb des Tisches sichtbar war.

„Dein Mann?“, fragte Denison knapp. Sie schüttelte den Kopf, zögerte mit der Antwort. „Ich verstehe.“ Gordon Denison hatte seinen Blick wieder gesenkt und schaute auf seine Hand mit der Flasche.

„Mein Onkel“, erklärte Elina schließlich.

„Sieh mal einer an“, sagte Gordon Denison bissig. „Der gute Alte fährt mit seiner … seiner hübschen Nichte zum Pick…nick und bricht sich beim Bockspringen das Bein, … der Arme. Und was ist denn mit s-seiner Karre passiert? Kein Benzin mehr, …wie? Siehst du, was für ’ne Scheißgegend das hier ist. Richtige Scheißgegend.“

Sein Zynismus machte sie erneut wütend und weckte das unbeherrschte Temperament in ihr.

„Sie besoffener, gemeiner Kerl!“, schrie sie ihn an. „Wir waren nicht beim Picknick …“ Sie brach ab, zögerte. Gott im Himmel, es war sowieso alles vorbei, alles gescheitert, wenigstens für dieses Mal. „Wir waren mit einem Hubschrauber unterwegs. Von Tegucigalpa her und mussten notlanden, und dabei …“ Sie hielt erneut inne, diesmal erschrocken, als sie sah, wie Denisons Kopf herumruckte und er sie anstarrte, als hätte sie ihm eine Ohrfeige versetzt. Er schüttelte seinen Kopf, als versuchte er verzweifelt, seine Trunkenheit damit loswerden zu können, was ihm nicht gelang.

„Musst entschuldigen, Mary, ich kann …“ er versuchte mit aller Anstrengung, seine Zunge unter Kontrolle zu kriegen, „kann dir nicht so schnell folgen. Du … du musst mir das noch mal langsam erklären. Hast du da was von ’nem Heli erzählt, oder hat mir der verdammte … dieses Gesöff hier ’nen Streich gespielt?“

Es sollte versöhnlich klingen, vielleicht auch seine überraschte Reaktion bemänteln, aber Elina spürte trotzdem die Gespanntheit, die plötzlich den Raum ausfüllte wie ein explosives Gas. Ein paar Fliegen stürzten sich wie Kamikazen auf die Lampe, als wollten sie sich an deren Zylinder den Schädel einschlagen.

Hatte sie einen Fehler gemacht?

Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Verdammt noch mal, sie brauchte Hilfe, und dafür musste sie alles tun, auch etwas von der Wahrheit preisgeben. Was um alles in der Welt konnte es einem betrunkenen Amerikaner hier am Ende der Zivilisation bedeuten, wenn sie mit Mase Kurvin in einem Hubschrauber unterwegs war. Kein Mensch kannte den Grund ihrer Reise, und kein Mensch würde ihn je erfahren. Und für dieses Mal waren sie ohnehin gescheitert …, für dieses Mal, nur für dieses eine Mal!

Und trotzdem war da etwas in ihr, das Gefahr signalisierte – etwas, das wild mit den Armen wedelte, um Aufsehen heischend. Etwas, das nicht bereit war, sich ignorieren zu lassen.

Ich muss es ignorieren. Ich habe keine andere Wahl.

„Wir wollten nach El Salvador hinüber“, erklärte Elina vorsichtig, und als sie den verwunderten Gesichtsausdruck ihres Gegenübers bemerkte, fuhr sie fort: „Und wir hatten uns verflogen …“

Gordon Denison unterbrach sie. Er wirkte plötzlich sehr fahrig. „Entschuldige.“ Er erhob sich etwas mühsam. „Muss erst mal nach draußen, bin aber gleich wieder da.“ Er bemühte sich mit mäßigem Erfolg gerade zu gehen und durchquerte den spärlich erleuchteten Raum zur Hintertür und verschmolz dort mit der Dunkelheit. Elina Maria Ortega schaute ihm nach und wurde das Gefühl nicht los, vielleicht doch etwas falsch gemacht zu haben.

Sie hatten sich tatsächlich verflogen. Von oben sah alles ganz anders aus, besonders nach so vielen Jahren, und Mase war überall herumgeflogen, nach markanten Punkten auszuschauen, die er kannte. Und sie hatten dazu mehrere Tage gebraucht, ehe er sicher war, auf der richtigen Route zu sein.

Die Toilette war ein kleiner muffiger Raum mit einem betonierten Fußboden, von dem sich ein ovales Klobecken mit einem runden schwarzen Loch an der hinteren Seite nur etwa zehn Zentimeter hoch abhob. Es roch nach Ammoniak, nach Kalk und irgendwelchen Desinfektionsmitteln, mit denen man die Fäkalien zu neutralisieren versuchte.

Denison erzeugte ein gurgelndes Geräusch, als er in das schwarze Loch pinkelte. Der Gestank ließ eine leichte Übelkeit in ihm hoch kriechen. Die Schmeißfliegen, die ihn mit widerlichem Gesumme umschwärmten, schienen die einzigen zu sein, die sich in solch einem Dreckloch wohl fühlten. Dann ging er rasch hinter das Haus, das wohl die letzten hundert Jahre sanitärer Entwicklung verschlafen haben musste. Aber er kannte sich mittlerweile hier gut genug aus, um nicht mehr davor zurückzuschrecken oder auf schmierigen Abfällen auszurutschen.

Draußen hockte er sich neben die primitive Pumpe und bewegte den eisernen Schwengel einige Male mit einem piepsenden Geräusch auf und ab und warf sich mit der anderen Hand das kühle, belebende Wasser ins Gesicht.

Tegucigalpa …

Hubschrauber …

Seine Gedanken stoben auf wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel. Die ersten Sterne funkelten am blassen Abendhimmel, an dem noch ein letzter Widerschein des dahingegangenen Tages verblieben war.

Sterne – er hatte sie schon seit langem nicht mehr wahrgenommen. Wozu auch? Weshalb sollte er sich um etwas kümmern, was so unerreichbar war wie diese verdammten Sterne, nach denen nur unerfahrene Träumer griffen.

Als Gordon Denison wieder herein kam, waren seine Haare an Stirn und Schläfen nass. Wasserperlen, die in seinen Bartstoppeln hingen, glitzerten wie Edelsteine im Licht der Petroleumlampe. Die Ärmel seines Hemdes, mit denen er sich das Gesicht notdürftig abgetrocknet hatte, zeigten dunkle Spuren von Feuchtigkeit. Das kühle Wasser musste diesen verdammten Alkohol weitgehend aus seinem Hirn verjagt haben, denn seine grauen Augen blickten sie wach und klar an. Oder rührte die Wirkung etwa davon her, dass sie den Hubschrauber erwähnt hatte? Dieses Wort schien eine magische Wendung seines Zustandes herbeigeführt zu haben.

Gordon Denison setzte sich wieder hin und stützte beide Unterarme auf den Tisch. Ein kleiner neugieriger Nachtfalter umkreiste taumelnd seinen Kopf, als wollte er ihm seine Gesellschaft aufdrängen, und er versuchte, ihm mit den Augen zu folgen, schlug dann ärgerlich mit der Hand nach ihm. Der Falter wich aus, stieß gegen den Zylinder der Lampe, geriet dann in den heißen Luftstrom an seiner oberen Öffnung, verbrannte sich die Flügel und stürzte wie ein abgeschossenes Flugzeug in die Dunkelheit jenseits des Tisches.

„Ihr wart also vom Wege abgekommen.“

„Ja.“ Elina nickte. „Dann war etwas mit der Maschine nicht in Ordnung. Mister Kurvin, das heißt mein Onkel, versuchte zu landen, aber es klappte nicht ganz. Als wir schon fast unten waren, begannen wir uns plötzlich wie ein Kreisel zu drehen, und das Hinterteil schlug gegen einen Felsen. Durch diese Erschütterung wurde er aus der Kanzel geschleudert und geriet mit dem Bein unter den Hubschrauber. Ich konnte ihn allein nicht aus seiner Lage befreien. Aber er hat starke Schmerzen. Jede Stunde ist eine Höllenqual für ihn.“

Etwas von dem eben gesagten musste ihn elektrisiert haben. Sie sah es an dem blitzartigen Aufzucken einer Erkenntnis in seinen Augen. Er nickte, plötzlich nachdenklich geworden. Elina beobachtete ihn unter schweren Lidern hervor. Er schien ihr zu glauben. Weshalb glaubte er ihr plötzlich?

Er hatte sich nach vorn gebeugt und starrte auf die Flasche vor

sich, als wäre sie eine Glaskugel, die ihm eine Antwort auf alle ungelösten Fragen geben könnte.

„In der Dunkelheit kann man es nicht riskieren“, murmelte er vor sich hin, „nicht mal mit dem Jeep.“

„Aber man kann ihn doch nicht die ganze Nacht dort liegen lassen“, begehrte Elina auf.

„Wir werden es wohl müssen. Ich nehme nicht an, dass ihr auf einer Straße gelandet seid. Wenn wir in ein Loch geraten oder gar den Wagen zu Bruch fahren, kannst du die ganze Aktion als gescheitert betrachten.“

Elina hob die Brauen. „Sie werden mir helfen?“

„Ja. Morgen früh, gleich wenn es hell genug ist, dass wir fahren können.“ Er deutete zur Flasche hin. „Und wenn das Zeug da mich aus den Klauen gelassen hat.“

In der Tat schien die Müdigkeit, die das kalte Wasser vertrieben hatte irgendwo in einem verborgenen Winkel seines Gehirns zu lauern, um beim ersten Anzeichen von Erschlaffung seiner Willenskraft wieder über ihn herzufallen. Seine Gesichtzüge wirkten kraftlos.

„Aber morgen ist es vielleicht schon zu spät.“ Sie flüsterte es fast. „Wenn er stirbt, dann …“ Sie sah ihn an, mit schweigender Tristesse in ihren dunklen Augen und schöpfte tief Luft. Schon eine Nacht lang hatte sie bei ihm ausgeharrt, weil die Dunkelheit sie dazu zwang. Erst als der nächste Tag anbrach, hatte sie sich aufgemacht, um Hilfe zu holen.

Denison legte seine Hand auf die ihre, und sie war jetzt leichter, behutsamer als vorhin. Er schien ihr etwas sagen zu wollen, etwas Bedeutsames, sein Gesicht spiegelte Nachdenklichkeit wider … Aber dann sagte er nur: „Vielleicht, Mary. Aber wenn wir den Jeep verlieren oder selbst verunglücken, dann ist ihm garantiert nicht mehr zu helfen.“

Sie nickte, schwieg resignierend, und ihre verkrampfte Haltung entspannte sich. Er hatte wohl Recht. Aber dennoch verstand sie seine Reaktion nicht. Was mochte ihn dazu bewogen haben, ihr plötzlich zu helfen?

„Und was ist mit dem Benzin?“, fragte sie ihn unverhofft und beobachtete sein Gesicht dabei genau. Er zuckte nur leicht mit den Schultern und verzog keine Miene. „Spielt jetzt keine Rolle mehr“, behauptete er mit der Überzeugungskraft des erprobten Lügners. „Du hast ja gesagt, es ginge um ein Menschenleben.“

Elina beobachtete ihn noch immer. Irgendeine Veränderung war in diesem Gordon Denison vorgegangen, und sie hatte das Gefühl, dass es bestimmt nichts mit der Gefahr für das Leben des alten Mannes zu tun hatte, der da irgendwo mit seinem Bein unter dem Hubschrauber lag.

* * *

2.

Die Gier ist eine gegenstandslose Bestie, ein unsichtbarer Virus, der sich in das Blut schleicht und das Tor zu Hölle öffnet – einer Hölle, der man nicht mehr entrinnen kann.

Der Motor der alten, verbeulten Fordlimousine stotterte noch ein paar Mal röchelnd wie jemand, der im Sterben liegt, und verstummte. Der über dem zerfurchten Weg aufgewirbelte Staub zog widerwillig in einer kaum spürbaren Luftbewegung zur Seite. Stille legte sich bedrückend über die Szene.

Jesús Valdez schlug wütend mit der Hand auf das Lenkrad, stieg dann fluchend aus und drückte das magere Kreuz durch, langsam und vorsichtig, als fürchtete er, es könnte zerbrechen. Das blassrosa mexikanische Hemd, das er über der dunklen Hose aus zerknittertem Tuch trug, wies in der Mitte des Rückens dunkle Stellen auf und hing im Übrigen locker wie bei einer Vogelscheuche über seinem schmächtigen Oberkörper. Sein Blick glitt deprimiert an den heißen trockenen Hängen des Berglandes hinauf und weckte in ihm den verzweifelten Wunsch, einen Kühlschrank zu öffnen und ein kaltes Bier herauszunehmen. Doch hier gab es kein Bier und schon gar keinen Kühlschrank.

Die öde Trockenzeit näherte sich langsam ihrem Ende. Seit

Monaten war kein Tropfen Regen gefallen, und das spärliche Buschland hatte eine graubraune Farbe angenommen. Die letzten Reste von Feuchtigkeit hatten sich längst in den Dschungel des Tieflandes verzogen und das höhere Bergland seiner Dürre überlassen, in der es geduldig auf Regen wartete. Eine messingfarbene Sonne schob sich – wie anderentags auch – an einem unbarmherzig wolkenlosen Himmel hinauf und lag schwer wie eine brütende Henne auf dem Land. Der Busch raschelte, wenn der heiße Wind durch das dornige, nahezu blattlose Gezweig strich, und das Land wand sich unter der gnadenlosen Sonne. Das Gestein schien sich träge zu bewegen, in dem vergeblichen Versuch, vor ihr zu fliehen. Eine Sonne, die das Blut zum Kochen – und lebendiges menschliches Fleisch zum Schmelzen bringen konnte, saugte den letzten Rest von Feuchtigkeit aus den Körpern.

„Wir hätten uns vorher noch ’nen Reservekanister besorgen sollen“, warf er dem zweiten Mann vor, der auf der anderen Seite

das Fahrzeug verließ.

Ronald Barry winkte mit der Hand ab und blinzelte in die Gegend um sich herum. Sein heller Panamahut war nach hinten gerutscht und gab ein paar dünne, schweißnasse Haarsträhnen frei. Das grellbunte Hemd mit Palmenmuster verlieh ihm das harmlose Image eines Touristen, der für die kostbarsten Wochen eines Arbeitsjahres dem Stress irgendeines Büros entkommen war.

„Habe so das Gefühl, dass dieser Scheißweg ohnehin bald zu Ende ist.“ Er bückte sich, um in das Innere des Wagens zurückschauen zu können. „Komm raus, Dutchy! Von jetzt an wird gelaufen.“

Der Ton seiner Stimme, der nicht dazu angetan war, Widerspruch aufkommen zu lassen, wollte jedoch nicht so recht zu jenem Eindruck passen, den ein oberflächlicher Beobachter auf den ersten Blick gewinnen musste. Ebenso wenig der kompromisslos harte, mit einem scharfen Intellekt gepaarte Blick, der wie eine Messerklinge aus zwei tückisch kleinen Augen hervor blitzte.

„Und wohin, verdammt noch mal?“, brauste Jesús Valdez auf. Seine schief nach vorn stehenden Schneidezähne verliehen seinem Gesicht den Ausdruck eines wütenden Nagetiers. „Wohin willst du denn zu Fuß in dieser beschissenen Gegend kommen?“ Die stechenden dunklen Augen sprühten Ronald Barry eine aggressive Vitalität entgegen. Dieser zog die wimpernlosen Lider zusammen, als er den anderen über das staubige Blech hinweg taxierte wie eine wertlose Ware. „Du kannst von mir aus zurückgehen und dich schnappen lassen. Ich jedenfalls schlage mich hier in die Büsche, wo mich keiner findet, und dann sehe ich weiter.“

Valdez schlug mit der Faust ärgerlich auf die heiße Motorhaube. Es gab ein dumpf blechernes Geräusch. „¡Qué va! Die haben schon längst aufgegeben. Oder glaubst du, die sind wegen der paar lächerlichen Scheine noch immer hinter uns her? Ihr seid hier nicht in den Estados Unidos. Hier geht alles ein bisschen gleichgültiger zu.“

„Du gestattest doch, dass ich mich darauf lieber nicht verlasse“, gab Barry zynisch zurück. „Immerhin hat es einen Verletzten gegeben, der möglicherweise auch noch abkratzt“, erinnerte er ihn.

„Na wenn schon. Das ist hier nichts Außergewöhnliches.“

Dutchy stieg jetzt ebenfalls aus. Er war Amerikaner, dessen Eltern aus Holland eingewandert waren und der deshalb den Spitznamen Dutchy trug. Wie er wirklich hieß, wussten außer ihm wohl nur wenige. Barry und Valdez jedenfalls interessierte es nicht.

„Also dann streitet euch nicht, und lasst es uns anpacken, wenn es schon sein muss.“ Ihn schien die Aussicht auf einen Fußmarsch von ungewisser Länge und bei dieser Hitze nicht besonders aufzuregen. Er wischte sich die schwitzenden Hände an seiner verwaschenen Jeanshose ab, angelte eine kurzläufige Pumpgun aus dem Wagen und stülpte sich einen breitkrempigen Cowboyhut aus irgendeinem dünnen Strohgeflecht auf seinen ungekämmten hellblonden Haarschopf. Dann schenkte er seine Aufmerksamkeit der Umgebung um sie herum und nickte ein paar Mal. „Da kocht uns nach ’n paar Stunden ganz gewiss die Scheiße in den Därmen. Aber hier bei dieser Karre sollten wir auf keinen Fall bleiben.“ Er ging zum Heck des Wagens, öffnete den Kofferraumdeckel, nahm einen gut gefüllten Rucksack heraus und warf sich mit einem Schwung das Gepäckstück auf den Rücken. Den Kofferraumdeckel ließ er offen. „Amigo Valdez trägt das Wasser.“ Damit warf er ihm drei zusammengebundene Wasserfalschen zu, die der davon überraschte Valdez nur mit Mühe auffing. „Wir beide“, er schaute zu Ronald Barry und klopfte dabei mit der Hand an den Rucksack hinter sich, „wir wechseln uns mit dem Proviant ab.“

Um seinen Frust heraus zu lassen trat Valdez noch einmal mit dem Fuß gegen den vorderen Reifen, als gäbe er ihm die Schuld an der Misere, in der sie steckten. Dann zogen die drei Männer los und verließen den Karrenweg an einer Stelle, wo der dichte Busch sie durchließ. Jesús Valdez, der Honduraner, war der einzige, der sich noch einmal umwandte und einen langen verzweifelten Blick zurück schickte, zu dem Auto, das sie bis hierher gebracht hatte und nun alt und müde mit aufklaffenden Türen wie ein abgestürzter Käfer hinter ihnen zurück blieb.

Das Gelände stieg an, und die drückende Hitze saugte ihnen die Energie aus den Knochen. Immerzu mussten sie dornigem Gestrüpp oder unwegsamen Stellen ausweichen, so dass sie nur mühsam vorankamen und immer wieder kleinere Erholungspausen einlegen mussten.