Stuttgarts geheime Portale und wie man sie durchquert - Katrin S. Knopp - E-Book

Stuttgarts geheime Portale und wie man sie durchquert E-Book

Katrin S. Knopp

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Beschreibung

Du kennst dich in Stuttgart aus? Du glaubst, du kennst alle Ecken? Mit ihren Texten führen die Autorinnen dich durch Portale in Stuttgarts Parallelwelten, die du so in der süddeutschen Großstadt nicht erwartet hättest: Hier triffst du Zombies und sprechende Katzen, betrittst das Jenseits und die Unterwelt. Und das ist erst der halbe Weg... Erst, wenn du die sieben Geschichten gelesen hast, kannst du wirklich behaupten, die Stadt zu kennen.

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Seitenzahl: 247

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Vorwort

Vollmondtanz - Follow the White Rabbit

Augenblick mit dir

Die Brunnengeister von Stuttgart

Der Tunnel

Der verwunschene Garten

Die Hütte

Ort der Zeit - Stairway to Time

Historischer Hintergrund

Die Autorinnen

Vorwort

Anna Leyk

Vorwort

Im Frühjahr bin ich vom Stuttgarter Osten aus in den Stubenweinbergen spazieren gegangen. Die Wege waren mir bekannt, ich hätte sie mit verbundenen Augen laufen können, so oft war ich sie schon gegangen. Aus einer puren Laune heraus nahm ich an einem Wegkreuz nicht die altgewohnte Biegung in Richtung meines Zuhauses, sondern wählte die andere Option. Kaum dreihundert Meter weit führte mich der Weg, dann ging er in einen engen Pfad über, dem ich so lange folgte, bis er an einer Treppenflucht endete. Durch wildgewachsene Hecken kaum einsehbar, wirkte die ausgetretene Staffel so verwunschen, als wäre sie einem alten Märchenbuch entsprungen. Ich war verzaubert vom verborgenen Charme der Treppe und stieg langsam Stufe für Stufe hinab. Ich ging sie ein wenig unsicher und gleichzeitig sehr neugierig darauf, wohin sie mich bringen würde. Unten angekommen, sah ich eine alte Holzkirche mit einem Friedhof davor, der so aus der Zeit gefallen wirkte, dass er nur mit dem altmodischen Namen Gottesacker bezeichnet werden konnte. Der Ort war verlassen, und es schien, als wäre er seit einhundert Jahre nicht mehr betreten worden. Ich spürte mit jeder Faser den Sog des Vergangenen; fast war mir, als würde ich in der Ferne sogar das Hufgeklapper von Pferdefuhrwerken hören. Ich konnte es kaum glauben, doch keine drei Kilometer von meinem Wohnort entfernt hatte ich einen magischen Ort entdeckt, der weiter weg schien, als ich je zuvor in meinem Leben gewesen war.

Stuttgart ist voll von solchen magischen Orten. Für alle, die etwas entdecken wollen, offenbart die Stadt eine große Anzahl an faszinierenden Plätzen; einige licht und heiter, andere düster und unheimlich. Was liegt da für eine Stuttgarter Autorinnengruppe näher, als sich dieser Orte anzunehmen?

Einen Stadtplan mit Beschreibungen zu erstellen, ist noch ohne Schriftstellerei und gänzlich ohne Magie. Es existieren zahlreiche Stadtpläne, Stadtführer zu historisch bedeutenden Plätzen, Tipps zu den angesagtesten Spots der Schwabenmetropole. Doch welche verborgenen Geheimnisse schlummern unter der Oberfläche? Was wäre, wenn all die Durchgänge, Türen oder Tore an Parks und Gebäuden nicht nur räumlichen Zutritt zu einem Ort gewähren, sondern Einlass in andere zeitliche oder weltliche Dimensionen? Was wäre, wenn es nur ein winziges Detail wie ein außergewöhnliches Wetterphänomen, eine seltene Mondkonstellation oder das Berühren eines Steins bräuchte, damit sich uns Portale in andere Welten öffnen?

Unsere Autorinnengruppe hat diese besonderen Orte aufgespürt, einige davon längst Lieblingsplätze, andere neu entdeckt. Auf der Suche nach dem Geheimnisvollen sind sieben magische Geschichten entstanden, die zeigen, was passieren kann, wenn die Stuttgarter Portale durchschritten werden.

Vollmondtanz – Follow the White Rabbit

Katrin S. Knopp

Bildquelle und Rechte: MSeses CC BY-SA 3.0

Vollmondtanz – Follow the White Rabbit

Damit sie mir nicht von der Schulter rutschte, krampfte ich meine Hand um den Tragegurt meiner schweren Reisetasche. Bei jedem Schritt schlug sie gegen meinen Oberschenkel. Ich rannte, so schnell ich konnte, dabei den entgegenkommenden Fußgängern und Kofferträgern auf dem Bahnsteig ausweichend. Meine Lungen brannten.

Doch es war zu spät. Mit lautem Piepen schlossen sich die Türen und langsam setzte sich der Zug Richtung München in Bewegung. Es war der letzte, der heute fuhr.

Ich wurde langsamer, blieb stehen, blickte den roten Lichtern des Zuges hinterher, der langsam beschleunigte und in die Dunkelheit verschwand. Auch die Passanten, die mir entgegenkamen, wurden weniger. Bis ich schließlich allein auf dem Bahnsteig stand.

Stuttgart! Wie lang war ich nicht mehr hier gewesen. Ein Teil meiner Vergangenheit, unter den ich endlich einen Schlussstrich hatte ziehen wollen. Nun war ich also von allen möglichen Orten ausgerechnet hier gestrandet. Und das nur, weil ich die Umsteigezeit von einer dreiviertel Stunde hatte nutzen wollen, um mir noch etwas zu essen zu holen. Wütend pfefferte ich meine Tasche zu Boden. Wie um alles in der Welt hätte ich auch ahnen sollen, dass sich die Fußwege zu den Gleisen durch die Bahnhofsumbauten von Stuttgart 21 verlängert hatten und jetzt auf Umwegen um die Bahnhofshalle führten? Was für ein schwachsinniges Bauprojekt.

Missmutig schüttelte ich den Kopf und hob die zerdrückte McDonald‘s-Tüte hoch. Immerhin hatte ich nun Zeit, in Ruhe zu essen.

Mit einem Schulterzucken schob ich den Gurt meines Gepäckstücks über den Kopf und drehte mich um. Langsam lenkte ich meine Schritte wieder der Innenstadt zu und während ich den langen Weg Richtung Fußgängerzone zwischen Baustelle und Schnellstraße entlang schritt, wanderten meine Gedanken zurück zum Grund meiner Reise. Und weiter in die Vergangenheit. Nach Stuttgart und zu Alice.

Wir hatten uns während des Studiums kennengelernt. Architektur an der Bauhaus-Universität in Weimar. Alice war mir sofort aufgefallen. Klein und zierlich, doch voller Energie. Sie strahlte förmlich Lebensfreude aus. Sie zog mich unwiderstehlich an. Ihr Lachen war glockenhell und die Aussprache ihres Dialekts weich. Dabei nahm sie kein Blatt vor den Mund, ging auf jeden direkt zu. Fröhlich und unbekümmert. Ich weiß noch, wie bei unserem ersten Zusammentreffen ihre blonden Haare im Licht der Herbstsonne geglänzt, ihre Augen geblitzt hatten, als wir bei der Erstsemesterführung gemeinsam durch die Weimarer Altstadt geschlendert waren.

Wie ein schillernder Schmetterling war sie mir erschienen. In ihrer Leichtigkeit und Unbeschwertheit das genaue Gegenteil von mir. An mir war alles Durchschnitt. Meine Körpergröße, mein mittelbraunes Haar, das Allerweltsgesicht. Alles an mir war eine Spur zu weich, die Kinnpartie, der Mund, die Augen, die Statur. Wie gerne hätte ich an diesem Tag männlicher ausgesehen, eindrucksvoller und bestimmter gewirkt, um Alice zu beeindrucken. Doch trotz meiner Schüchternheit hatte sie sich sofort mit mir angefreundet, wurde sogar meine erste feste Freundin.

Warum, ist mir bis heute ein Rätsel. Zuerst hatte ich mein Glück nicht fassen können, doch irgendwann war ich ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie auch das weitere Leben mit mir teilen würde. Schließlich hatte sie mir ihre Familie und Freunde aus Stuttgart vorgestellt und ich hatte sie in den Semesterferien immer wieder dort besucht.

Doch mit genau derselben Unbeschwertheit, mit der sie in mein Leben geschwirrt war, verließ sie mich auch wieder. Nach dem Abschluss unseres Studiums vor einem halben Jahr war sie davon geflattert, um einen Aufbaustudiengang in Brüssel anzutreten. Ich blieb zurück in Weimar. Mit gebrochenem Herzen, einem mittelmäßigen Zeugnis und einem schlechtbezahlten Job als Kunstvermittler im Bauhaus-Museum.

Lange hatte ich die Wunden geleckt, bevor ich es gewagt hatte, mich neu zu sortieren. Doch jetzt hatte ich endlich die Aussicht auf einen Neuanfang: einen Praktikumsplatz beim renommierten Innenausstatter District8 in München. Und nun war ich unterwegs in mein neues Leben, zuerst nach Frankfurt, um einige Dinge bei meinen Eltern unterzustellen, und dann weiter nach München. Dass ich ausgerechnet beim Umsteigen in Stuttgart stranden würde, damit hatte ich von allen Eventualitäten am wenigsten gerechnet.

So sinnend erreichte ich schließlich den Ampelübergang, der von dem Bahnhof zur Fußgängerzone, der Königstraße, führte. Wohin um alles in der Welt sollte ich jetzt? Mich in den Park setzen, um dort mein Abendessen zu mir zu nehmen? Oder sollte ich mich nach einem noch geöffneten Biergarten umsehen? Der Himmel war wolkenlos und die Sommernacht lau.

»Grün!«, hörte ich eine helle Stimme neben mir und schreckte aus meinen Gedanken.

Eine junge Frau stand neben mir. Schlank und hochgewachsen. Sie taxierte mich eindringlich. »Sollen wir in den Park und gemeinsam was essen?«

Hatte sie etwa meine Gedanken gelesen? Ihre großen wasserblauen Augen waren leicht zusammengekniffen, als sie mich von oben bis unten musterte.

Mir wurde mit einem Mal ganz heiß, und ich fragte mich, wie ich auf sie wirken musste. In meinen zerbeulten Jeans, mit den ausgetretenen Chucks, dem etwas zu langen Haar, das mir in die Augen hing. Dazu die abgeschabte Reisetasche über der Schulter und die zerdrückte McDonald’s-Tüte in der Hand. Ich räusperte mich verlegen.

Sie stieß mich mit dem Ellbogen an und ging über die Straße. Verblüfft schaute ich ihr hinterher. Sie trug ein hellblaues Sommerkleid, das am Rücken mit einer weißen Schleife gebunden war. Fahl schimmerten die langen weißblonden Haare im orangefarbenen Licht der Straßenlampen. Sie leuchtete von innen heraus. Mit ihrer hellen Haut und den Pastellfarben ihres Kleides erschien sie mir wie ein Glühwürmchen, das zwischen den grell geschminkten Mädchen und den bunt gekleideten Partygängern herausstach, die nun langsam die Straße bevölkerten.

Sie drehte sich um und warf mir über die Schulter ein Lächeln zu. »Jetzt komm schon!«

Hastig straffte ich den Riemen meiner Tasche und folgte ihr.

Als ich den zerdrückten Burger aus der Papiertüte fischte, fühlte ich schon, dass er längst kalt geworden war. Egal. Inzwischen hatte ich riesigen Hunger und hätte selbst eine der Brezeln vom Vortag, die Alice immer aus Stuttgart nach Weimar gebracht hatte, mit größtem Appetit verschlungen. Der Teig schon trocken, die Lauge aufgequollen. Mit einem Schulterzucken wickelte ich den Burger aus dem Papier und biss herzhaft hinein.

Dabei ließ ich den Blick über die Wasserfläche des Anlagensees schweifen. Wir hatten auf einer der Bänke Platz genommen, die das Opernhaus flankierten. Streng und elegant erhob sich die klassizistische Fassade. Das Halbrund des geschwungenen Baukörpers wurde von hohen Säulen rhythmisiert und schloss mit einer von Statuen geschmückten Balustrade ab. Von Scheinwerfern angestrahlt, hob sich der helle Sandstein des Gebäudes in einem warmen Goldton vom samtdunklen Nachthimmel ab. Ein lauer Wind kräuselte die Wasseroberfläche und brachte die Reflektion der Oper zum Zittern.

Die junge Frau neben mir hatte ihre Tasche zwischen uns gestellt. Ob sie dadurch einen Sicherheitsabstand schaffen wollte? Dabei war sie es doch gewesen, die mich aufgefordert hatte, ihr zu folgen. Tatsächlich beachtete sie mich überhaupt nicht, sondern wühlte in besagter Tasche, als ob sie nach irgendetwas suchen würde.

Ich nahm einen weiteren Biss von meinem Burger.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte sie. Dabei schob sie eine Strähne hinter ihr Ohr und blickte mich kurz von unten an.

Wieder fiel mir auf, wie blass ihre Augen waren. Hastig schluckte ich. Dabei verschluckte ich mich am noch nicht durchgekauten Bissen und Tränen stiegen mir in die Augen.

»Lewis«, brachte ich mit gepresster Stimme hervor. Um den Kloß in meiner Speiseröhre hinunterzuspülen, nahm ich schnell einen Schluck von meiner Cola.

Die Stimme fester, fragte ich: »Und du?«

»Grace.« Sie strahlte mich an. Dabei fiel mir auf, dass sie eine Zahnlücke zwischen den Vorderzähnen hatte, die mir erstaunlich groß vorkamen. Ungewöhnlich, aber charmant, fuhr es mir durch den Kopf.

»Grace!«, wiederholte ich nachdenklich. Ein seltsamer Name. Aber nicht unpassend, entschied ich, ihre ungewöhnliche Erscheinung musternd. Grace beachtete mich nicht weiter, sondern fuhr fort, in ihrer Tasche herumzuwühlen.

Wie konnte es nur so lange dauern, das Gesuchte zu finden? So groß war sie doch gar nicht. Vielleicht handelte es sich um so eine Zaubertasche, wie Hermione sie bei Harry Potter mit sich herumtrug.

Kurz sah sie von ihrer Tätigkeit auf. Sie hob bedeutsam eine Augenbraue und grinste. Erneut hatte ich das Gefühl, sie habe meine Gedanken gelesen. Langsam wurde mir das Mädchen unheimlich.

Rasch stopfte ich den letzten Rest meines Burgers in den Mund. Verlegen kauend ließ ich den Blick wieder durch den Park schweifen. Eine Gruppe Jugendlicher hatte es sich auf der benachbarten Bank bequem gemacht. Sie trugen Jogginganzüge und Sportschuhe. Ein paar hatten Basecaps auf.

»Ach, hier ist es«, rief Grace triumphierend aus. Ich zuckte zusammen und drehte mich zu ihr. Sie zog ein in Alufolie gewickeltes Bündel hervor und streckte den Arm in Siegerpose in die Luft. Ihr Ausruf war so laut gewesen, dass sich ein vorbeischreitendes Paar neugierig nach uns umsah.

Wie Grace so selbstzufrieden dasaß, konnte ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken, doch gleichzeitig fühlte ich ein schmerzhaftes Ziehen in meinem Inneren. Auch mit Alice war es mir immer wieder so gegangen, dass ihre lebhafte Art die Blicke anderer auf sich gelenkt hatte.

»Was ist das?« Meine Stimme klang brüchig.

»Dein Nachtisch«, sagte sie lachend. Sie schob ihre Tasche beiseite und legte das Päckchen zwischen uns auf die Bank.

Sorgsam öffnete Grace die Alufolie und ein zerdrücktes Stück Sandkuchen kam zum Vorschein. Wieder strahlte sie mich an.

»Sehr appetitlich sieht das aber nicht aus«, kommentierte ich mit zweifelndem Blick auf die Krümel. Ich versuchte ebenso bedeutungsvoll eine Augenbraue zu heben, wie ich es bei ihr gesehen hatte.

»Sagt der Mann, der eben ein kaltes Fastfood-Menü verdrückt hat.« Vorwurfsvoll warf sie die Lippen auf und steckte sich die fast farblose Strähne ihres langen Haares hinters Ohr, die ihr wieder ins Gesicht gerutscht war. Wie lang ihre Ohrenspitzen waren. Irgendetwas an ihr war anders, geheimnisvoll.

»Du denkst wohl, ich will dich vergiften? Mhhhh?« Ihr Gesicht hatte einen lauernden Ausdruck angenommen.

Ich lehnte mich zurück und schlug ein Bein übers Knie, streckte die Arme über die Lehne der Bank. Ich hoffte, die Geste wirkte lässig. »Vergiften nicht«, versuchte ich meine Unsicherheit zu überspielen. »Ist ein Space Cake, oder?«

Mein Blick wanderte zu der Gruppe junger Männer auf der Nachbarbank. Einige saßen auf der Rückenlehne der Bank, die anderen standen im Halbkreis darum herum und wippten entspannt zu der Musik, die nun aus den Lautsprechern drang. Dumpfer Beat, monotoner Rapgesang, dazu ließen sie einen Joint kreisen.

Grace nahm den Kuchen in die Hand und streckte ihn mir entgegen. Dabei lehnte sie sich nach vorne und ihr Gesicht näherte sich dem Meinen. Sie kam mir so nahe, dass ich im Halbdunkel der Straßenlaterne ihre Sommersprossen sehen konnte.

»One bite makes you larger, one bite makes you small …«, wisperte sie. Ihre Augen funkelten und sie fuhr sich provokant mit der Zunge über die Lippen.

Wo war ich hier nur hineingeraten? Meine Muskeln verkrampften sich und ich schluckte hart. Was um alles in der Welt hatte mich dazu verleitet, gestrandet in einer Stadt voll bitterer Erinnerungen, mit einer Fremden mitzugehen? Wahrscheinlich war es genauso gewesen wie mit Alice. Ich hatte einfach nachgegeben. Es fiel mir schwer, jemandem etwas entgegenzusetzen, etwas abzulehnen oder mich abzugrenzen.

Ein Verhalten, das ich in Zukunft ändern musste, machte ich eine gedankliche Notiz. Am besten fing ich sofort damit an. Es war Zeit zu gehen. Seufzend richtete ich mich auf und rieb die schwitzenden Handflächen an meiner Jeans ab. Ich räusperte mich. Doch bevor ich etwas sagen konnte, lachte Grace auf. Ihr Lachen klang warmherzig und ihr Gesicht war sanft.

»Keine Angst, Lewis. Das ist nur das letzte Stück meines Geburtstagskuchens, den ich mit dir teilen wollte.« Sie brach ein kleines Stück ab und schob es sich in den Mund.

Die bedrohliche Atmosphäre, die ich eben wahrgenommen hatte, zerplatzte und ich sah Grace wieder vor mir, wie sie war. Eine junge Frau im hellen Sommerkleid, offen und freundlich.

Ich fühlte, wie mir Hitze in die Wangen stieg. »Mhh, das ist nett«, sagte ich verlegen. Versuchte, meine Unsicherheit zu überspielen. »Wie alt bist du denn geworden?«

»Hundertzweiundfünfzig!«, sagte sie kauend und brach noch ein Stückchen vom Kuchen ab. Dabei lächelte sie breit.

»Einhundertzweiundfünfzig Jahre also«, wiederholte ich, nun auch breit grinsend. »Das ist tatsächlich ein Grund zu feiern.«

Noch immer wusste ich nicht, was ich von dem seltsamen Mädchen halten sollte, aber ihr schräger Humor gefiel mir. Allerdings fragte ich mich, warum sie sich zum Feiern ausgerechnet mich ausgesucht hatte.

»Ernsthaft?«, erkundigte sie sich. »Es geht natürlich darum, zu testen, ob du der Richtige bist für den Job.«

Grace strich die Hände gegeneinander, um so die feinen Krümel abzuklopfen. Dann nahm sie die Kette, die um ihren Hals hing und zog eine Kugel aus ihrem Ausschnitt. Das Schmuckstück sah antik aus, war reich verziert. Aber irgendwie passte es zu ihr.

Was sich wohl darin verbarg? Mit den Fingern fuhr sie über die Oberfläche und mit einem leisen ›Klick‹ öffnete sich die Kugel. Da erkannte ich, dass es sich um eine Taschenuhr handelte. Genau in diesem Augenblick schlug eine nahe Kirchturmuhr die Stunde. Mitternacht!

»Oh je, Oh je, ich komme noch zu spät«, murmelte Grace und runzelte die Stirn.

Also war nun doch Zeit, sich zu verabschieden. Sie musste weiter. Erleichtert lehnte ich mich zurück. Ich atmete aus und fuhr mir durch die Haare. Jetzt würde ich also doch aus dieser unangenehmen Situation herauskommen. Endlich entspannt, beobachtete ich Grace.

Sie stand auf und klopfte sich das Kleid ab. Komisch, jetzt wo es so weit war, Lebewohl zu sagen, fühlte ich einen Stich, wünschte, die Situation doch noch ein wenig herauszögern zu können. Hatte ich nun also doch Interesse an ihrer Gesellschaft gefunden?

Ohne Worte schwang Grace sich die Tasche über die Schulter. Sie trat vor mich und ich erwartete schon, dass sie sich nun verabschieden würde. Aber Grace kam näher und beugte sich zu mir. Dann nahm sie den letzten Bissen des Kuchens und hielt ihn mir vor die Lippen.

»Eat me!«, flüsterte sie und ich fühlte, wie ihr Atem über meine Wange hauchte. Meine Nackenhärchen stellten sich auf, und ohne nachzudenken, öffnete ich den Mund. Sie schob mir das Gebäckstück hinein, einen Moment verweilte ihr Finger auf meinen Lippen.

Ich schloss die Augen. Dunkelheit umgab mich und meine Geschmacksknospen explodierten: süß, ein Hauch von Vanille, das zarte Aroma von Zitrone, dann ein bitterer Nachgeschmack. Für einen Augenblick umgab mich tiefe Schwärze und ich hatte das Gefühl zu fallen.

Als ihre warmen Hände meine klammen Finger umschlossen, hob ich die Lider. Da stand Grace. Sie musterte mich mit ihrem unheimlichen Blick, ihre Mundwinkel zuckten. »Komm, Süßer, es ist Zeit. Nun gehen wir zum Vollmondtanz.«

Hinter uns hatten wir Bahnhof und Stadtpark zurückgelassen und vor uns erhob sich eine Anhöhe, die von zwei großen Autotunneln durchschnitten wurde. Ich fragte mich, wohin die Straße führte und vor allem, wohin Grace wollte. Sie hielt meine Hand fest umschlossen, zog mich über die Kreuzung. Noch immer benommen folgte ich, ohne Widerstand zu leisten.

Trotz der späten Stunde herrschte reger Verkehr und, um einem nahenden Auto auszuweichen, rannten wir die letzten Schritte, gelangten so auf den Gehsteig auf der Seite der Tunnel. Mein Atem ging schnell und ich fühlte mein Blut in den Ohren rauschen. Ob dies am Rennen lag oder an der Anwesenheit der jungen Frau, vermochte ich nicht zu sagen.

Nun hielten wir uns links und bogen in einen schmalen gewundenen Pfad ein, der von Bäumen gesäumt wurde. Die Straßenlaternen standen weit auseinander und die Abschnitte dazwischen lagen in tiefem Schatten. Musik wehte herüber, der treibende Rhythmus eines wummernden Basses, darüber legte sich eine hypnotische Melodie. Ich fühlte mich magisch angezogen, als habe die Musik etwas in mir zum Erklingen gebracht und locke mich nun zu sich.

Der Weg machte noch eine Biegung und öffnete sich dann in einen kleinen Platz direkt vor dem Hügel. Ein steinerner gemauerter Bogen umrahmte eine zweiflügelige Eingangstür, zu der metallene Treppen emporführten. Über dem Portal prangte ein Schriftzug, violett leuchteten die Buchstaben: Die Röhre.

Während wir weitergingen, schweifte mein Blick über den Vorplatz, der von seltsam gekleideten Menschen bevölkert war. Manche saßen auf den Treppenstufen und unterhielten sich, andere standen zusammen und rauchten oder strebten, wie wir, dem Eingang zu. Wie sehr unterschieden sich diese Leute doch vom Partyvolk, das durch die Fußgängerzone gehastet war, von den jungen Männern in Trainingsanzügen im Park oder von den distinguiert wirkenden Opernbesuchern. Sie schienen aus einer anderen Zeit, vielleicht sogar von einem anderen Ort zu stammen.

Sie trugen Spitzenkrägen, flatternde Ärmel, Gehröcke und Zylinder. Die Haare lang und die Augen auffällig geschminkt. Die dunkeln Kleider und blassen Gesichter erweckten in mir den Eindruck, ich bewege mich in einem Schwarz-Weiß-Film und nur Grace mit ihrem blassen Leuchten geisterte wie eine Motte durch diese wundersamen Gestalten aus der Vergangenheit und aus fernen Welten.

Der pulsierende Rhythmus der Musik umschloss uns, kroch unter meine Haut und prickelte. Am Fuße der Treppe blieb ich stehen, sog alles in mir auf und auf einmal war mir, als trete ich aus meinem Körper. Stimmen und Musik wurden leiser, mein Leib war taub und ich fühlte mich weit davongetragen.

Grace drückte meine Hand und neigte sich zu mir. Ihr Atem auf meiner Wange brachte mich ins Hier und Jetzt zurück. Erneut spürte ich ihre Präsenz, die Geräusche drangen wieder lauter auf mich ein.

»Bleib bei mir, Lewis.« Sie zwinkerte mir zu. »Wir sind da.«

»Wo sind wir hier?« Meine Stimme klang heiser. »Und wer sind diese Leute?«

»Es gibt Orte, die einen Zauber besitzen.« Grace lächelte geheimnisvoll. »So wie dieser. Hier haben Menschen etwas Besonderes erlebt, hier haben sich Emotionen eingeschrieben und Erinnerungen.«

Was erzählte sie da! Das klang doch reichlich esoterisch. Als habe sich hier Energie manifestiert.

Sie nickte ernst. Sie hatte meine Gedanken erneut erraten.

»Du machst es mir aber auch einfach.« Grace zwinkerte wieder.

Seufzend fuhr ich mir mit der Hand über die Stirn. Warum hatte dieses Mädchen mich nur hierhergeführt? Nun wollte ich doch etwas mehr wissen.

»Gibt es viele dieser Orte?«, fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern. »Na, das nächste Mal entführe ich dich vielleicht ins alte Lusthaus im Schlosspark.«

Ich spürte den Druck ihrer warmen schlanken Finger. »Aber nun wollen wir nicht reden. Es ist Zeit zu tanzen.«

Und mit diesen Worten zog sie mich durch die Menge und ins Innere. Es ging durch einen gekachelten Vorraum, erneut stiegen wir Stufen empor, dann betraten wir den schlauchförmigen Club. Als wir die Türen öffneten, verdoppelte sich die Lautstärke der Musik. Feuchtigkeit und Hitze schlugen uns entgegen. All das umschloss unsere Körper wie ein Kokon. Ich fühlte den Bass vibrieren, wie sich mein Unterleib schmerzhaft zusammenzog. Die ganze Haut begann zu prickeln.

Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, gingen wir über das Schachbrettmuster der schwarz-weißen Fliesen auf die Tanzfläche zu. Die Bar auf der Linken, die Sitzgelegenheit auf der Rechten zurücklassend. Über uns bog sich die schwarz gewölbte Decke.

Wir begannen zu tanzen. Im Stroboskoplicht wirkten die Bewegungen der Tänzer abgehackt. Jeder Schlag meines beschleunigt hämmernden Herzens zeigte für einen Moment die Bewegungen der Feiernden in einer anderen Pose eingefroren. Mir war, als stockte der Film, ruckelte, wie auch mein Atem und mein Puls.

Mein Ich verband sich nun mit den anderen Menschen auf der Tanzfläche zu einer großen Masse. Nur Grace leuchtete zwischen den anderen. Ihre Bewegungen waren fließend, passten sich meinem Körper und der Musik an. Ich ließ mich fallen und schloss die Augen. Ich fühlte den Beat, die Melodie, die mir unter die Haut kroch, spürte, wie Grace mich berührte und dabei vergaß ich alles um mich herum.

Als ich aus dem Club hinaustrat, wehte mir kühle Nachtluft entgegen. Nass klebte mein T-Shirt am Körper und kurz schüttelte es mich. Doch war ich so erhitzt, dass ich die Kälte als angenehm empfand und tief einatmete. Ich weiß nicht, wie lange wir getanzt hatten. Doch es mussten mehrere Stunden vergangen sein. Der Verkehr hatte nachgelassen, es waren nur noch wenige Leute da. Ein grauer Schimmer lag über der Stadt, der bereits vom nahenden Morgen kündete.

Ich fühlte mich angenehm leer und schwerelos. Grace schob ihre Hand unter meinem Arm hindurch. War sie noch immer eine Fremde? Sie war mir in den letzten Stunden seltsam nah gekommen. Ich blickte sie an. Hell leuchtete ihr Gesicht.

»Lewis, es wird Zeit zu spielen«, flüsterte sie.

Ich blieb stehen. Irritiert kratzte ich mich am Kopf.

»Was für ein Spiel soll das sein?« Die ganze Nacht war mir wie ein Spiel vorgekommen.

Sie drehte sich zu mir, legte beide Hände auf meine Schultern und blickte zu mir auf. Ihre großen Augen waren wie Spiegel.

»Wir wollen herausfinden, ob du der Richtige für den Job bist.« Sie zwinkerte mir zu. »Schon vergessen, Süßer?«

Sie wies mir den Tisch zu, der rechts neben dem Eingang stand. Es saßen bereits zwei Männer dort. Der eine klein, mit einem hohen Zylinder, hatte eine Maus auf einer Hand sitzen, die er gedankenverloren streichelte. Er musterte mich aufmerksam und winkte uns schließlich herüber.

Der andere hatte genau denselben blassen Haut- und Haarton wie Grace, seine Ohren stachen lang aus den Haaren hervor und seine Vorderzähne waren prominent. Wie er mit der Nase schnüffelte, fühlte ich mich an einen Hasen erinnert. Er hatte ein Kartenspiel in der Hand und mischte es.

»Los, setz dich!« Grace schob mich nach vorn. »Der mit dem Hut ist Hatta und der andere Haigha.«

Ich nickte den beiden zu und nahm wortlos auf einem der Stühle Platz. Grace stellte sich hinter mich an den Tisch. Die seltsamen Gesellen zollten meiner Anwesenheit keine weitere Beachtung und schon glaubte ich, sie hätten mich und das Spiel vergessen.

Doch da begann Haigha, die Karten zu verteilen. Dabei hielt er sich nicht an die sonst vorgegebene Reihenfolge, sondern häufte wahllos Karten vor mir und Hatta auf.

»Worum spielen wir heute?«, wandte er sich schließlich an Grace.

»Es ist Vollmond!«, sagte sie, als erkläre das alles.

»Na, sonst wären wir ja nicht hier!« Hattas Stimme war ein tiefes Brummen. Er nahm sein Blatt auf. »Aber was hat die Königin gesagt? Spielen wir nur um seine Seele oder um sein Leben?«

»So genau hat Olga mich gar nicht instruiert. Mir lediglich seine Personenbeschreibung gegeben.« Grace lehnte sich nach vorne und musterte mich. »Aber ich glaube, es geht um sein Leben.«

Ich schluckte hart. Auch wenn mir nicht nur Grace, sondern auch die anderen Gäste dieser Party reichlich verrückt vorkamen, wurde mir nun doch langsam mulmig.

»Und ich habe da kein Wörtchen mitzureden?«, warf ich ein.

»Nein!«, lautete die einstimmige Antwort.

Oh Mann, das konnte nicht wahr sein. Der Nachtwind hatte meinen Schweiß getrocknet, klamm klebte das T-Shirt an meinem Körper, trotzdem wurde mir auf einmal ganz heiß. Es war Zeit, dass ich mein Gepäck schnappte und mich in Richtung Bahnhof verdrückte. Wenn ich doch nur wüsste, wo ich die Sachen abgelegt hatte.

»Erst wird gespielt.« Grace strich mir mit einem Finger über das Genick und unterbrach damit jedes Grübeln. Brennendheiß floss es mir die Wirbelsäule hinunter und die Nackenhärchen stellten sich auf.

»Viel Glück.« Sie hauchte mir einen Kuss auf die Schläfe, drehte sich um und ging wogenden Schrittes davon.

Bevor ich aufspringen oder protestieren konnte, warf Hatta die erste Karte auf den Tisch. »Herz! Das fängt ja gut an.«

»Los, was hast du zu bieten?« Haigha lehnte sich nach vorne. Seine Nasenspitze zitterte erwartungsvoll.

Ich wusste weder nach welchen Regeln gespielt wurde noch ob es überhaupt irgendwelche Regeln gab. Und so nahm ich einfach die oberste Karte vom Stapel und legte sie auf Haighas.

»Pik Sechs!«, wurde einstimmig kommentiert. »Eine schwache Karte«, fügte Hatta erklärend hinzu und schob sich den Hut aus der Stirn.

Und so ging es weiter. Abwechselnd legten ich und Haigha Karten auf den Stapel, manchmal durfte ich weitere hinzulegen. Immer wurden die Karten nickend begutachtet und kommentiert. Selbst die kleine Feldmaus krabbelte aufgeregt über den Tisch und rieb ihr Näschen an den Karten. Was das alles zu bedeuten hatte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Noch immer war ich der Überzeugung, in Gesellschaft eines Haufen Verrückter gelandet zu sein. Es blieb nur zu hoffen, dass sie sich als harmlos herausstellten.

Wie erleichtert war ich, als das Kartenspiel sich dem Ende zuneigte. Endlich legte ich meine letzte Karte.

»Da ist sie!« Aufgeregt sprang Haigha von seinem Stuhl auf, der krachend zu Boden fiel.

»Er hat sie.« Hatta schlug die Hände zusammen.

»Die Herzkönigin!«, hörte ich da eine inzwischen vertraute helle Stimme neben mir. Grace war herangetreten. Geschickt balancierte sie eine Teekanne und Tassen auf einem Tablett, stellte dieses auf den Tisch.

»Komm, trink erstmal einen warmen Schluck.« Während sie mir eine Tasse eingoss, zog ein blumiger, zarter Duft zu mir herüber. Es roch nach Frühling und Verheißung. Ein Lächeln umspielte Grace‘ Gesicht und sie hob die Augenbraue. »Wie schön, dass du bei uns bleibst, ich habe schon angefangen, dich zu mögen.«

»Bei uns!« Was sollte das denn wieder heißen? So angenehm ich Grace‘ Gesellschaft empfand, konnte ich doch auf die beiden seltsamen Gestalten verzichten. Ich warf Hatta und Haigha einen Blick zu. Sie waren nun ganz mit sich beschäftigt, schoben die Gedecke und Tassen hin und her.

»Du wirst dich schon an die beiden gewöhnen.« Grace brach in Gelächter aus. Als sie sich beruhigt hatte, fuhr sie ernsthaft fort: »Und natürlich wirst du bei uns bleiben. Du hast den Job, stehst ja nun in ihrem Dienst.«

Wieder fühlte ich diese seltsame Unruhe von mir Besitz ergreifen. Um meine Unsicherheit zu überspielen, legte ich meine kalten Hände um die Tasse. Warm und glatt fühlte sich das Porzellan an. Ich hob sie an den Mund. In welchen Dienst sollte ich nun treten? Das konnte doch alles nicht ernst gemeint sein.

»Na, in den Dienst der Herzkönigin.« Grace neigte sich zu mir. Sie blies den aufsteigenden Dampf in mein Gesicht. Der Duft nach Blüten und Frühlingswind umwehte mich. »Los, trink.«

Vorsichtig nahm ich einen Schluck. Ich schmeckte Sonnenstrahlen und Wärme. Genussvoll schloss ich die Augen. Schwärze umfing mich und erneut hatte ich das Gefühl zu fallen.

Mein Gott, wie kalt es doch ist. Zitternd zog ich beide Beine an den Körper und schlang meine Arme um mich. Doch worauf lag ich hier? Meine Hand tastete. Das war Gras und es war feucht. Blinzelnd versuchte ich, meine Augen zu öffnen. Sie waren verklebt, das Licht zu hell. Rasch versuchte ich, in eine sitzende Position zu kommen. Die Steifigkeit meiner Glieder und die Schmerzen im Nacken machten diese einfachen Bewegungen zu einem mühsamen Unterfangen. Langsam richtete ich mich auf, rieb mir die Augen und blinzelte ein paar Mal. Dann sah ich mich um.

Ich saß auf einem schmalen Grünstreifen unter dichten Kastanienbäumen. Das Licht war noch grau und dünn, es musste früher Morgen sein. In der Ferne sah ich einen vereinzelten Spaziergänger im dunklen Anzug und mit Hut die Straße entlanghasten. Auf der Straße vor mir verliefen Schienen und auf der gegenüberliegenden Seite konnte ich altertümliche Straßenlaternen erkennen, dahinter erhob sich der Königsbau. Ich hatte die Anlage anders in Erinnerung, dass hier Straßenbahnen fuhren, musste mit den Umbauten im Zuge von Stuttgart 21 eingeführt worden sein. Seltsam! Aber immerhin wusste ich nun, wo ich mich befand. Das war doch schon einmal etwas.