Suddenly a Murder - Mord auf Ashwood Manor - Lauren Muñoz - E-Book
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Suddenly a Murder - Mord auf Ashwood Manor E-Book

Lauren Muñoz

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Beschreibung

Ein Herrenhaus auf einer abgelegenen Insel.

Eine Abschlussparty im 20er-Jahre-Motto.

Sieben Freunde - und eine von ihnen hat ein Messer mitgebracht ...

Eigentlich will Izzy Morales bloß mit ihren Freunden den Schulabschluss feiern. Dafür hat ihre beste Freundin Kassidy sie alle in ein Herrenhaus auf einer abgelegenen Insel eingeladen. Es soll eine mehrtägige Party unter dem Motto der 1920er werden, stilecht in Vintage-Kleidern und teuren Diamanten. Am Anfang genießen sie tatsächlich einige glamouröse Tage - bis Kassidys Freund plötzlich tot aufgefunden wird. Kurz nachdem die Polizei auf der Insel eintrifft, bricht ein schlimmer Sturm los. Nun sitzen sie alle auf Ashwood Manor fest. Und schon bald stellt sich heraus: Jeder von ihnen hätte ein Motiv für den Mord gehabt. Doch Izzy ist diejenige, die das Messer mit auf die Insel gebracht hat ...

Holly Jackson meets Agatha Christie

»Ein köstlicher, wendungsreicher and cleverer Locked-Room-Krimi.« KATHLEEN GLASGOW, Autorin von GIRL IN PIECES

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Seitenzahl: 412

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Prolog

1

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Danksagung

Impressum

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Svantje Volkens

Für Rixie

Prolog

Das Messer brennt kalt in meiner zitternden Hand.

Es klickt leise, als ich Blaines Tür abschließe, damit niemand mir in sein Schlafzimmer folgen kann. Die anderen sind zwar gerade damit beschäftigt, sich für die Cocktailstunde fertig zu machen, aber ich kann jetzt, da ich so weit gekommen bin, einfach kein Risiko mehr eingehen.

Die altertümlichen Wasserrohre der Dusche pfeifen und pochen genauso laut wie der rostige Heizkessel im Keller der Marian Academy. Trotzdem halte ich den Atem an, während ich zum Badezimmer schleiche. Ich verstecke mich hinter der angelehnten Tür und spähe vorsichtig durch den Türspalt. Blaine steht in der kanariengelben Badewanne. Im aufsteigenden Wasserdampf ist er hinter dem durchsichtigen Duschvorhang kaum zu erkennen. Der wollene Vintage-Badeanzug, den er am Strand anhatte, liegt als zerknittertes Häufchen auf den Mosaikfliesen.

Jedes Badezimmer auf Ashwood Manor ist sorgfältig in seinem ursprünglichen Zustand erhalten worden. Das von Blaine ist mit goldenen Art-déco-Spiegeln geschmückt.

Mein Blick fällt auf die goldene Klinge meines Messers.

Sie passen zusammen.

Wenn ich jemand wäre, der an Zeichen des Univers‍ums glaubt, könnte ich fast denken, es heißt das Verbrechen, das ich gleich begehen werde, gut.

Aber so jemand bin ich nicht. So jemand hätte Kassidy schon vor Wochen ihr Geheimnis anvertraut und darauf gehofft, dass das Universum sie dafür belohnt, die Wahrheit gesagt zu haben. Nein, ich bin eher vom Schlag: »Versau mir nicht meine Zukunft, sonst bekommst du mein Messer zu spüren«. Oder zumindest wäre ich das gerne. Meine zitternden Hände erzählen da eine ganz andere Geschichte.

Blaine hat die Augen geschlossen und sein Gesicht dem Wasserstrahl zugewandt, der, in ziemlich starkem Kontrast zu den für alte Häuser typischen, lauten Rohrgeräuschen in der Wand, nur seicht plätschert. Es klingt beruhigend, wie das Plätschern von Frühlingsregen, und kurz muss ich an den Tag vor dem Schulabschlussball zurückdenken, als Blaine während eines Gewitters im Hof unseres Apartmenthauses tanzte und meine Familie und ich ihm lachend vom Gehweg aus zusahen.

Damals sah er verletzlich und jung aus, genauso wie jetzt, als er nackt und wehrlos in der Dusche steht. Auf diesen Moment habe ich gewartet. Tagelang habe ich mir jedes kleinste Detail zurechtgelegt. Aber als sich Blaine mit den Händen durch das rote Haar fährt und einen Wasserschwall von seiner Stirn über seinen sommersprossigen Rücken schickt, breitet sich plötzlich ein so brennendes Schuldgefühl in meinen Armen aus, dass ich das Messer fast fallen lasse.

Blaine hat das hier nicht verdient – nicht wirklich. Aber ich habe es auch nicht verdient. Und ich kann nicht zulassen, dass er mein Leben zerstört.

Ich umklammere das Messer fester und trete durch die Tür.

1

Ein Glas zerbricht. Unter Deck schreit irgendwer, als die Blood Rose auf eine steile Welle trifft. Kassidy ignoriert den Laut und redet weiter. »Chloe ist zwar superschlau und so, aber selbst Dekan Halliwell ist während ihrer Rede bei der Abschlussfeier fast eingeschlafen, und er ist der langweiligste Mensch, den ich kenne.«

Kassidy scheint es egal zu sein, dass Chloe jeden Moment die Treppe heraufkommen und mitbekommen könnte, wie wir über sie reden. Ich rücke das Armband zurecht, das angeblich gegen Seekrankheit helfen soll, und atme tief durch. Die Liegen auf Kassidys Yacht sind weich und plüschig, aber trotzdem finde ich keine bequeme Position. Vielleicht liegt es an dem schaukelnden Wellengang. Oder vielleicht daran, was in dem Rucksack zu meinen Füßen versteckt ist. So oder so hoffe ich, dass Sparrow Island bald am Horizont auftaucht.

Für einen Junitag ist es heute kalt, aber die Sonne scheint hell auf das dunkle Wasser. Das Gekreische von Seevögeln, die ab und zu nach Fischen tauchen, tönt durch die Luft. Kassidy hat das Kleid, das sie bei der Abschlussfeier anhatte, hochgezogen, damit sie auf ihren langen Beinen keine Bräunungsstreifen bekommt. Wenn sie nicht so reich wäre, hätte sie von den langen Wintern in Maine elfenbeinfarbene Haut. Aber wer in den Schulferien regelmäßig auf die Seychellen und an andere, ähnlich sonnige Orte fliegt, hat das ganze Jahr über eine honigwarme Bräune. Ich muss nicht in den Urlaub fliegen, um gebräunt auszusehen – mein Nachname lautet schließlich Morales.

Das unverkennbare Geräusch eines Sektkorkens erklingt.

»Sie haben den Sekt aufgemacht!«, empört sich Kassidy, während sie aufspringt und zur Reling läuft. Die Stockwerke der Blood Rose sind versetzt, sodass man von den höheren auf die niedrigeren herunterschauen kann. »Bring mir ein Glas mit, Babe«, ruft sie Blaine zu und lehnt sich dabei so weit über die Reling, dass ihr Kopf nicht mehr zu sehen ist. »Und auch eins für Izzy.«

Widerwillig rutsche ich von meiner Liege und stelle mich neben Kassidy. Blaine hat den Doktorhut und die Robe von der Abschlussfeier abgelegt und trägt auch sein Hemd nicht mehr. Sein breites Kreuz ist über einen Tisch gebeugt, an dem er mehrere Gläser aus einer Magnumflasche einschenkt, deren Inhalt vermutlich mehr gekostet hat, als ich in einem halben Jahr in der Pegasus-Buchhandlung verdiene.

Er grinst Kassidy an, aber sein Gesichtsausdruck verrutscht, als er mich entdeckt. Schnell drehe ich mich wieder von der Reling weg und kehre zu meiner Liege zurück.

Kassidy richtet sich auf und steckt ihre blonden, glänzenden Wellen zu einem losen Dutt hoch. »Auf jeden Fall«, fährt sie arglos fort, »finde ich, dass der ganze Jahrgang wählen sollte, wer die Abschlussrede hält. Sonst endet man mit einem gefühlsduseligen Genie, das von ausgelutschten Klischees wie Hoffnungen und Träumen sülzt.«

Ich nicke, obwohl ich nur halb zugehört habe. Dummer Blaine, denke ich. Wenn er mich weiter so schuldig anguckt, ruiniert er noch alles.

Ein paar Sekunden zu spät antworte ich Kassidy. »Wenigstens musstest du nicht dabei zusehen, wie die anderen Eltern deine Mutter beim Empfang wie eine Aussätzige behandeln.«

Mitfühlend verdreht Kassidy die Augen. »Wie kann sie es auch wagen, ihren kostbaren kleinen Schätzen so gnadenlose Mathenoten zu geben.« Mit einem Lächeln lässt sie sich auf ihre Liege fallen. »Meine Eltern konnten es kaum glauben, als sie mir eine Drei gegeben hat. Sie dachten, als deine beste Freundin bekäme ich automatisch eine Eins.«

Ein plötzlicher Windstoß fährt durch meine Locken. Mit der Gischt im Gesicht und dem Brummen des Motors im Hintergrund fühle ich mich, als sei die Wohnung meiner Familie in Harker Tausende von Meilen entfernt.

Ich frage mich, was meine Mom und meine Schwester ohne mich machen. Schwer zu glauben, dass wir vor nur drei Stunden in der stickigen Aula saßen und Chloes Rede zugehört haben: Obwohl unsere Zeit an der Marian Academy sich nun dem Ende neigt, werden wir das, was wir hier gelernt haben, niemals vergessen. Und wenn ihr in die Welt hinausgeht und euch ihren Herausforderungen stellt, denkt immer an unser Schulmotto: Fortes Fortuna adiuvat!

Den Mutigen hilft das Glück.

Wieder muss ich an meinen Rucksack denken. Als ich das Messer vorsichtig in eine Jeans gewickelt und ganz unten im Rucksack verstaut habe, war ich selbst überrascht gewesen von meiner Gefühlskälte. Jetzt frage ich mich: Werde ich mutig genug sein?

Auf der Treppe erklingen Schritte. »Ihr Butler ist hier«, sagt jemand sarkastisch. Als ich mich umdrehe, entdecke ich Fergus, der drei Sektgläser in den Händen balanciert. Seine Kleidung ist das, was er als »europäischen Chic« bezeichnet, aber kritische Stimmen an der Schule immer »europäischen Geek« genannt haben: eine enge, olivfarbene Hose mit braunen Loafern und ein Button-down-Hemd, dessen Ärmel er bis zu seinen blassen Ellbogen hochgekrempelt hat. Sein dunkelblondes Haar ist zu einer Tolle frisiert, die aussieht, als sei er den 1950ern entsprungen, und er grinst sein spöttisches Lächeln, das nie ganz sein Gesicht verlässt.

Er nickt Kassidy zu, die ihm ein verkniffenes Lächeln schenkt. Fergus und Blaine sind schon von klein auf beste Freunde, und seit Jahren kämpfen er und Kassidy verbissen um Blaines Aufmerksamkeit.

»Blaine ist zu beschäftigt, um euch zu bedienen«, sagt Fergus. »Er bettelt Ellison gerade an, ihm die Details für die Olympiaqualifikation im Rudern im nächsten Jahr zu verraten.«

Kassidy und ich nehmen uns jeweils ein Glas, und Fergus stößt mit uns an. »Darauf, dass wir nie wieder einen Fuß in die Anstalt voller hinterhältiger Primadonnen setzen müssen«, prostet er.

»Wovon redest du eigentlich, Gus?«, frage ich lachend. »Du hast die Marian geliebt.«

»Und du bist die hinterhältigste Primadonna von allen«, fügt Kassidy hinzu. »Der Prinz des Theaters.«

Fergus' Miene wird säuerlich. »Damit meinst du wohl, dass Blaine der König ist.«

»Eher ein Gott.« Dabei fächelt sich Kassidy gespielt Luft zu, aber ich weiß, dass sie es ernst meint. Blaine und sie kamen zusammen, als er in unserem ersten Jahr an der Marian Academy in dem Stück Almost, Maine auftrat. Als sie ihn auf der Bühne sah, verfiel sie seinen schmachtenden blauen Augen und konnte sich nie wieder von ihnen losreißen.

»Ganz schön dick aufgetragen«, sagt Fergus. »Der einzige Grund, warum so viele unsere Mitschülerinnen und -schüler zu unseren Stücken gekommen sind, war, dass Ms Kepler immer alle B-Prominenz aus Hollywood eingeladen hat, mit denen ihr Vater zusammenarbeitet. Und wenn ich gelegentlich Klatsch und Tratsch an die Schulzeitung weitergegeben habe«, fährt er fort und dreht sich zu mir um, »dann bin ich deswegen noch lange nicht hinterhältig.«

Wieder muss ich lachen. »Bleib einfach so, wie du bist, Gus.«

An der Marian Academy waren meine Freunde wie Blumen aufgeblüht; ich fühlte mich eher wie Unkraut. Als wir zum letzten Mal die Schule verließen, weinte Kassidy, aber ich war einfach nur erleichtert. Erleichtert, dass ich nie wieder meiner Mutter im Schulflur zuwinken oder abfällige Blicke wegen meiner ausgeblichenen Schuluniform ertragen musste. Erleichtert und hoffnungsvoll, dass sich auf dem College alles ändern würde.

»Ich will auch mit anstoßen«, erklingt eine tiefe Stimme von der Treppe.

Kurz darauf ist Ellison vom Mitteldeck hinaufgestiegen und lässt sein Glas mit einer solchen Begeisterung gegen unsere klirren, dass es an ein Wunder grenzt, dass sie heil bleiben.

»Sorry.« Er lacht. »Da habe ich wohl meine eigene Kraft unterschätzt.«

Fergus verdreht so sehr die Augen, dass es aussieht, als hätte er zwei gekochte Eier in den Augenhöhlen.

Ellison lehnt sich an die Reling, die ihm nur bis zur Hüfte reicht. Für die Abschlussfeier hat er sich seinen üblichen Dreitagebart auf seinem dunkelbraunen Kinn rasiert. Jeder Zentimeter seines Körpers sieht aus wie der eines zukünftigen olympischen Athleten. Er hätte auch genauso gut selbst zu Sparrow Island rudern können.

»Blaine, kommst du?«, ruft Ellison in Richtung Treppe.

Mit polternden Schritten springt Blaine die Treppe hinauf, die Magnumflasche Sekt immer noch in der Hand. Das schwarze T-Shirt, das er mittlerweile zu seiner dunklen Jeans angezogen hat, steht in starkem Kontrast zu den klobigen weißen Turnschuhen an seinen Füßen. An Blaines lässigen Outfits merkt man, dass er zu der Riege reicher Jugendlicher gehört, die ohne mit der Wimper zu zucken Tausende von Dollar für die neuesten Schuhe ausgeben können.

»Sieht so aus, als hätte ich die Party gefunden«, bemerkt er. Er stellt die Flasche ab und verbindet sein Handy mit einem kleinen Bluetooth-Lautsprecher, den er aus der Hosentasche gezogen hat. Als er auf PLAY drückt, wird der schneidende Wind auf einmal von lautem Rap übertönt. Blaines protzige Armbanduhr funkelt in der Sonne, als er wieder nach der Sektflasche greift und direkt daraus trinkt.

»Deine Freundin betet gerade deine gottgleichen Schauspielkünste an«, sagt Fergus, und seine Stimme trieft geradezu vor Spott. »Vielleicht solltest du ihre gute Laune ausnutzen.«

Blaine zwängt sich zu Kassidy auf die Liege und zieht sie mit seiner freien Hand auf seinen Schoß. »Meine Freundin ist immer gut gelaunt«, sagt er. Das bringt uns zum Lachen, weil wir alle schon unzählige Male Kassidys Launen zu spüren bekommen haben. Sie lehnt sich an ihn, und sie küssen sich auf eine Art, wie die meisten von uns es wohl nur hinter geschlossenen Türen tun würden.

»Ich habe mich schon gefragt, wo ihr seid«, erklingt die melodische Stimme von unserer Abschlussrednerin.

Kassidy und Blaine erstarren und lösen sich voneinander. Ellison strafft die Schultern und streicht sein kurzes, braunes Haar glatt.

Chloe Li erklimmt die letzte Stufe und kommt mit einem immer noch vollen Glas Sekt zögerlich auf unsere Gruppe zu. Wie Blaine ist auch sie lässig gekleidet: High-Waist-Jeans, ein sportliches Crop-Top und rote Turnschuhe. Erst vor Kurzem hat sie ihr glattes, schwarzes Haar bis zum Kinn abgeschnitten, und irgendeine sadistische Stylistin hat ihr einen viel zu kurzen Pony verpasst, so wie man es als Kind vielleicht mit einer Barbie gemacht hätte. Kein besonders vorteilhafter Look.

Kassidy funkelt Chloe böse an, steht von Blaines Schoß auf und geht dann zur anderen Seite des Oberdecks. Blaine stellt die Sektflasche ab und folgt ihr mit einem kaum hörbaren Stöhnen. An Chloes Stirnrunzeln erkennt man, dass sie die Theatralik der beiden nicht gewohnt ist.

Ellison durchbricht das betroffene Schweigen. »Die Ausgabe der Schulzeitung für den Abschlussjahrgang war genial«, sagt er mit einem warmen Lächeln zu mir. »Besonders das Porträt, das du über die alte Calloway geschrieben hast.«

»Kassidy hat mir dabei geholfen«, antworte ich. »Dr. Calloway hat mal in New York als Model gearbeitet. Sie liebt Kassidys Modekolumne.«

»Ich kann nicht fassen, dass sie fünfzig Jahre an der Marian unterrichtet hat«, fügt Chloe hinzu, offensichtlich erleichtert, dass sie zu dem Thema etwas zu sagen hat. »Komisch, darüber nachzudenken, dass ich euch nie kennengelernt hätte, wenn sie sich nicht dafür stark gemacht hätte, dass auch Mädchen auf die Academy gehen dürfen.«

Ellison prostet ihr mit seinem Glas zu. »Das wäre für uns alle ein schlimmer Verlust gewesen«, sagt er.

Chloe wird leicht rot, als sie mit ihm anstößt, und ich muss mich wegdrehen, um mein Grinsen zu verbergen. Es ist zwar schon eine Weile her, dass Ellison für Schmetterlinge in meinem Bauch gesorgt hat, aber ich erinnere mich noch gut an das Gefühl. Vielleicht ist es ganz gut, dass Nestor nicht mitkommen konnte; ihm würde es gar nicht gefallen, Chloe, so kurz nachdem er sie abserviert hat, wieder flirten zu sehen.

Fergus, der Ellison und Chloe mit erbitterten Augen beobachtet, unterbricht das Gespräch. »Wo ist Marlowe?«, fragt er.

»Drinnen, auf dem Sofa«, antwortet Chloe. »Er meinte, er will lieber sein Buch zu Ende lesen, als sich vom Wind durchpusten zu lassen.«

»Typisch«, murmelt Fergus. »Vermutlich ist er seekrank und will es nicht zugeben.«

»Oder vielleicht ist er es nicht gewohnt, auf einer so kleinen Yacht zu fahren«, witzelt Ellison.

Ein paar Minuten später kommen Kassidy und Blaine Arm in Arm und glücklich lächelnd wieder zurück. Kassidy hat sich offenbar wieder beruhigt. Das ist eine der besten Sachen an ihr: Sie ist nie lange sauer.

Gerade, als ich darüber nachdenke, Marlowe Gesellschaft zu leisten, kreischt Kassidy und tänzelt aufgeregt auf den Zehenspitzen herum. »Da ist Sparrow Island!«, ruft sie und zeigt auf eine schnell näher kommende Felseninsel, die mit wilden Gräsern und dichten Pinienwäldern bewachsen ist. Sie sieht aus, als hätte jemand ein Stück Wald ins Meer fallen lassen. »Ashwood Manor kann man noch nicht sehen, weil es auf der anderen Seite des Hügels liegt.«

»Ich habe doch gesagt, ich hätte meinen Jaguar mit der Fähre rüberschicken sollen«, grummelt Blaine. »Du hast zehn Koffer oder so dabei, die können wir niemals alle den Hügel hinaufschleppen.«

»Entspann dich«, entgegnet Kassidy. »Ich habe uns Fahrer bestellt.« Offenbar versucht sie, nicht allzu selbstzufrieden auszusehen, was mich argwöhnisch werden lässt. Sie hat mir erst vor ein paar Tagen von der Überraschungsreise zum Schulabschluss nach Ashwood Manor erzählt, und von Autos hatte sie nichts gesagt.

Mein Magen ist so flau, dass es sich anfühlt, als verginge eine weitere Stunde, dabei dauert es nur zehn Minuten, bis die Yacht endlich anlegt. Mitglieder der Crew springen an Land und leiten die Yacht mit langen Seilen an einen Steg, der von hellgrünen Farnen umgeben ist. Sobald das Schiff vertäut ist, wird an der Seite eine Leiter angebracht, damit wir von Bord klettern können. Ein Matrose versucht, die Möwen zu verscheuchen, die auf dem Anleger nach Krumen suchen, aber sie trippeln um ihn herum, als gehöre er zur Landschaft.

Ich zurre mir meinen Rucksack auf dem Rücken fest. Mir ist durchaus bewusst, warum mir so flau im Magen ist: So fühle ich mich immer, kurz bevor ich mit Marlowe rede.

Aber bevor ich mich nicht-ganz-so-unauffällig beeilen kann, um gemeinsam mit ihm von Bord zu gehen, hält Kassidy mich am Arm fest, während die anderen unter Deck steigen, um ihr Gepäck einzusammeln. Sie wippt auf den Fußspitzen, als wolle sie gleich von Bord springen.

Kurz vergesse ich Marlowe. »Den Gesichtsausdruck kenne ich doch«, sage ich. »Du hast noch eine Überraschung.«

Sie lächelt. »Du kennst mich zu gut.«

»Bitte sag mir, dass du nicht wieder Stripper bestellt hast.«

Sie lacht so laut, dass die Möwen ungehalten aufschreien und sich in die Luft schwingen. »Keine Stripper«, versichert sie mir. Dann wird sie auf einmal ernst. »Die Überraschung ist auch für die anderen, aber ich möchte, dass du weißt, ich habe das alles für uns beide gemacht.« Sie zieht mich zur Leiter. »Ich kann es kaum erwarten, dein Gesicht zu sehen. Das wird die beste Woche unseres Lebens.«

2

Kassidys Haus

Vor drei Tagen

Kassidy und Izzy saßen an ihrem üblichen Platz: den türkisfarbenen Ledersesseln in der ersten Reihe von Kassidys Heimkino. Das Zimmer lag in der äußersten Ecke des Ostflügels, sodass Kassidys Eltern die ohrenbetäubende Musik der alten Filme nicht hörten, die Kassidy und Izzy sich jeden Mittwoch nach der Schule ansahen.

Heute Abend konnte Kassidy nicht still sitzen. Alle paar Minuten sprang sie auf und drehte Pirouetten wie eine Ballerina, die Schleppe ihres Ballkleides wischte dabei über den Boden.

Izzy stopfte sich stumpfsinnig eine Handvoll Popcorn in den Mund. Egal, wie sehr sie versuchte, ihre Gedanken unter Kontrolle zu bringen, konnte sie sich einfach nicht auf den Film konzentrieren. Erst, als Kassidy zum fünften Mal aufsprang, bemerkte Izzy sie endlich.

»Hast du eine Pille genommen oder so was?«, fragte Izzy, als Kassidy sich so schnell drehte, dass sie fast umfiel. The Secret of the Ruby Dagger lief im Hintergrund weiter. »Du darfst dich bei unserem Lieblingsfilm nicht langweilen.«

Kassidy hörte auf, sich zu drehen. »Ich habe zwei Wörter für dich, Izzy.«

Izzy wartete, wurde aber von Marla Nevercross abgelenkt, der Stummfilmschauspielerin, die für ihre großen Augen und ihren Schmollmund bekannt war – und für ihre Leidenschaft für Geparden. Izzy und Kassidy waren gerade bei dem Teil des Films, als sie ihren Mann dabei erwischt, wie er Cara Ashwood im Rosengarten verführt. »Und?«, fragte Izzy. »Was sind sie?«

»Rate mal«, sagte Kassidy und strich sich die Haare hinter die Ohren.

»Wie soll ich denn ohne Hinweise zwei zufällige Wörter erraten?«

»Es geht um dein Schulabschlussgeschenk.«

Izzy stöhnte. »Bitte sag mir, dass es nichts ist, wofür wir verhaftet werden. Oder ermordet.«

»Jetzt krieg dich mal ein«, entgegnete Kassidy. »Wann habe ich denn bitte je etwas Gefährliches geplant?«

»Zum Beispiel vor zwei Jahren, als wir nur mithilfe einer YouTube-Anleitung ein Kanu gebaut und fast im Fluss gekentert wären?«, schießt Izzy zurück. »Oder letzten Sommer, als wir deinem Vater seine Motorräder geklaut haben und damit zu diesem Folk-Festival in Kanada gefahren sind?«

Kassidy lachte. »Aber die Leute in den Bikerbars waren supernett.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie nicht unsere Ausweise kontrolliert haben.«

»Und dabei hast du so viel Aufwand in Photoshop betrieben.« Kassidy hielt inne. »Aber dieser Plan ist anders. Er hat ... Niveau.«

»Was meinst du mit Niveau?«

»Darin kommt eine Insel vor.«

Izzy ging im Geiste alle Möglichkeiten durch. »Lass mich raten«, sagte sie. »Tauchen mit Haien? Drachenfliegen von Meeresklippen?« Sie wischte ein Stück Popcorn von der Sessellehne. »Vielleicht sollten wir uns die ganze Mühe sparen und uns einfach gleich ertränken.«

Kassidys Seufzer war lauter als die Filmmusik. »Wenn du versprichst, offen zu bleiben, gebe ich dir einen Hinweis.«

»Na gut«, antwortete Izzy. »Aber wenn es irgendwas mit Haien zu tun hat, bin ich raus.«

»Das wirst du nicht bereuen!«, rief Kassidy und flitzte in den Flur hinaus. Izzy hörte, wie ihre nackten Schritte die knarzende Treppe hinaufeilten, die zur Personalküche führte.

Izzy stand aus dem Ledersessel auf und lief im Heimkino auf und ab, während Marla Nevercross auf der Leinwand ihrem Mann eine Ohrfeige verpasste. Im Zimmer war es dunkel und kühl, und in dem leichten Flapper-Kleid, das sie sich aus Mrs. Logans gigantischem Kleiderschrank geborgt hatte, bekam Izzy schnell eine Gänsehaut.

Seit Kassidys Mutter mitten in ihrer Rede auf dem Weihnachtsball der Marian Academy entdeckt hatte, dass auf einem ihrer unbezahlbaren Vionnet-Kleider mehrere Butterflecken prangten, hatte sie Kassidy und Izzy verboten, sich ihre Vintage-Kleider auszuleihen. Widerwillig hatte Kassidy in den nächsten Monaten nachgeschneiderte Kleider getragen, aber sie hatte darauf bestanden, dass ihre letzte Kinosession unter der Schulwoche das Beste verdient hatte, was der Schrank ihrer Mutter zu bieten hatte.

Mit zwei Gläsern in der Hand, in denen Eiswürfel klirrten, betrat Kassidy wieder das Zimmer. Ihr gewelltes Haar war ihr ins Gesicht gefallen und verlieh ihr den zerzausten Boheme-Look, den Dutzende Mitschülerinnen erfolglos versucht hatten, nachzuahmen. Sie reichte Izzy eins der Gläser.

»Hier ist dein Hinweis«, sagte sie. »Ist aber kein Alkohol drin. Ich weiß, dass deine Mutter ausflippen würde, wenn du betrunken nach Hause kämst.«

Izzy nahm einen kleinen Schluck, und dann noch einen. Sie war bereits daran gewöhnt, den teuren Alkohol zu trinken, den die Logans in ihren Schränken aufbewahrten. Auf den Partys, die Kassidy veranstaltete, wenn ihre Eltern nicht da waren, suchte man vergebens nach Plastikbechern oder Bierfässern; sie trank grundsätzlich nur vornehme Drinks aus echten Gläsern.

»Und, kannst du es erraten?«, fragte Kassidy.

Izzy war nicht in der Stimmung für Ratespielchen. Vielleicht hätte sie einfach sagen sollen, dass sie krank war und nicht zu Kassidy kommen konnte. Wenn Kassidy von dem Geheimnis wüsste, das Izzy ihr verschwieg, würde sie eh nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen.

»Ich gebe auf«, sagte Izzy.

Kassidy runzelte die Stirn. »Du bist ganz offensichtlich mit dem falschen Fuß aufgestanden, also gebe ich dir noch einen Hinweis. Na ja, keinen Hinweis, sondern ein Geschenk.«

Izzy rieb sich gereizt die Schläfen. »Ein Cocktail mit echtem Alkohol?«

Kassidy lachte. »Nein, aber es ist süß. Ich habe Marlowe nach Ashwood Manor eingeladen.«

Zum ersten Mal seit Beginn des Abends hat Kassidy Izzys ganze Aufmerksamkeit. »Marlowe?«, fragte sie. »Moment ... das Ashwood Manor?« Sie zeigte auf die Leinwand, auf der Marla Nevercross sich gerade auf einer gefliesten Terrasse auf Theodore Ashwoods Anwesen schluchzend über die Leiche ihres Mannes geworfen hatte.

»Ich wollte es dir eigentlich erst später sagen, aber ich kann es einfach nicht aushalten, wenn du schlecht gelaunt bist.«

»Hast du nicht gesagt, dass das Museum erst im Herbst aufmacht?«, fragte Izzy.

Kassidy lächelte. »Meine Eltern haben so viel Geld für die Renovierung gespendet, dass sie uns einen kleinen Gefallen schulden.«

Izzy schlug die Hände vors Gesicht. »Wir dürfen als Allererste eine Tour durch das Anwesen machen?«

»Keine Tour. Wir übernachten dort. Eine Woche lang.«

»Eine Woche auf Ashwood Manor«, wiederholte Izzy benommen. Dann erinnerte sie sich an den ersten Teil von Kassidys Überraschung. »Mit Marlowe? Ich hab dir doch gesagt, dass ich gar nichts mehr von ihm will.«

»Und ich bin deine beste Freundin, also weiß ich, dass du lügst.«

Sie hatte recht. Izzy hatte sich so angestrengt, zu ignorieren, dass sie in Marlowe verliebt war – erfolglos. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, fühlte es sich so an, als würde die Welt schrumpfen, bis sie in einer kleinen Blase ihres privaten Universums waren, die niemand sonst betreten konnte.

»Er hat eine Freundin«, warf Izzy ein.

Kassidy verdrehte die Augen. »Das hat er dir vor Monaten erzählt«, entgegnete sie. »Und außerdem wohnt sie in Rom. Die bleiben eh nicht zusammen.«

»Du magst Marlowe doch gar nicht«, sagte Izzy. »Wird es dann nicht komisch, wenn wir eine ganze Woche lang nur zu dritt sind?«

»Gott, ja.« Kassidy erschauderte. »Deswegen habe ich auch Blaine, Chloe, Fergus und Ellison eingeladen. Nestor habe ich auch gefragt, aber er fliegt gleich nach der Abschlussfeier mit seinen Eltern nach Monaco zu seinen Großeltern. Die Eigentümerin hat sich einverstanden erklärt, uns das Haus vollständig zu überlassen, also ist außer uns sieben nur noch etwas Personal dort. Deine Mom meinte, sie kümmert sich um Caye, während du weg bist.«

Vor Aufregung verflog Izzys schlechte Stimmung. Eine ganze Woche auf der Insel, auf der ihr allerliebster Lieblingsfilm gedreht wurde. Und nicht nur das. Eine ganze Woche ohne elterliche Aufsicht mit Marlowe.

Bis jetzt konnte man ihre Beziehung zu Marlowe kaum als solche bezeichnen. Sie nickten sich zu, wenn sie sich in der Marian Academy im Flur begegneten und hatten ein paar peinliche Gespräche in der Pegasus-Buchhandlung geführt. Aber das hielt Izzy nicht davon ab, in ihren Tagträumen mit ihm im Innenhof zu Mittag zu essen oder ihn im Lagerraum zu küssen.

Letzteres spielte sich in langweiligen Arbeitsschichten in Dauerschleife vor ihrem inneren Auge ab.

»Was hat ein Cocktail mit Ashwood Manor zu tun?«, fragte Izzy, als sie sich plötzlich an das Glas in ihrer Hand erinnerte.

Kassidys Schulterzucken war lässig. Zu lässig. »Theodore Ashwood hat das Haus in den 1920ern bauen lassen, und damals waren French 75s in Mode.« Izzy öffnete den Mund, um das, was Kassidy ihr immer noch nicht sagte, aus ihr herauszukitzeln, aber Kassidy fiel ihr ins Wort. »Schhh, wir verpassen gerade die letzte Szene.«

Sie sahen den Stummfilmschauspielerinnen dabei zu, wie sie ihren letzten, tränenreichen Abschied mimten. Als der Schock von Kassidys Überraschung langsam nachließ, entflammte ein kleiner Funke der Hoffnung in Izzy: Blaine würde auch mit nach Ashwood Manor kommen.

Auf einem so großen Anwesen, das sich auch noch auf einer so entlegenen Insel befand, wäre es nicht schwer, ihn von den anderen zu trennen. Vielleicht wäre das endlich die perfekte Gelegenheit. Sie müsste nur bereit sein.

Nachdem der Film zu Ende war, folgte Izzy Kassidy in ihr Zimmer, wo sie wieder ihre normalen Klamotten anzogen. »Ich kann nicht glauben, dass du nicht nach Paris fliegst«, sagte Izzy und ließ sich auf einen kaugummirosa Plüschhocker fallen. In Kassidys Zimmer fühlte sie sich immer so, als sei sie in einem Puppenhaus gefangen. In jeder Ecke lauerten sanfte Pastellfarben, Rüschen und niedliche Kuscheltiere. »Ashwood Manor ist herrlich, aber es ist nicht der Louvre.«

Kassidy starrte aus ihrem Panoramafenster auf die Sonne, die gerade hinter den Hügeln unterging. Sie besaß die Art von Schönheit, die Kunststudierende in ihren Gemälden einfangen wollten, und im Zwielicht sah sie aus wie ein Engel von Thayer. »Das ist vielleicht das letzte Mal, dass wir alle zusammen sind«, antwortete sie. »Wenn wir aufs College gehen, wird sich alles ändern.«

»Du und ich werden immer beste Freundinnen bleiben.«

Kassidy schenkte Izzy ein schiefes Lächeln. »Ich weiß. Aber Blaine ist dann Tausende von Meilen entfernt. Und alle sagen mir immer, dass Fernbeziehungen eh nicht ...«

Geschrei unterbrach Kassidys Gedankengang, und der Deckenventilator erzitterte unter schweren Schritten. Erschrocken starrte Izzy zur Decke. »Seit wann schreien sich deine Eltern denn an?«

»Es ist nichts«, antwortete Kassidy. »Nur Drama bei Dads Arbeit.«

Sie drehte sich vom Fenster weg. »Ich sage Miguel Bescheid, damit er den Bentley holt.«

Kassidys Fahrer brachte Izzy zu dem Apartmenthaus am Stadtrand. Der backsteinerne Komplex hatte drei Stockwerke, unebene Gehwege und vergitterte Fenster. Izzys Mom saß in ihrer kleinen Küche an einem runden Tisch und benotete Klausuren.

»¿Tienes tarea?«, fragte sie.

Izzy schüttelte den Kopf und antwortete auf Englisch. »Wir haben nur noch zwei Tage Schule. Du bist die einzige Lehrerin, die uns noch Hausaufgaben gibt.«

»In der echten Welt gibt es keine Ferien.«

Izzy nahm sich eine Limo aus dem Kühlschrank. »Meine Freunde werden sich der echten Welt nie stellen müssen.«

Ihre Mutter schnaubte wie ein Bulle. »Geld schützt dich auch nicht vor allem«, entgegnete sie und klatschte ein rotes X auf die Klausur, die gerade vor ihr lag.

Ihre Mutter unterrichtete an der Marian Academy seit Izzys erstem Jahr an der Highschool. Zwar waren ihr die Gerüchte zu Ohren gekommen, sie sei nur eingestellt worden, weil sie Latina war, aber Kritik perlte einfach an ihr ab wie Wasser von Wachspapier. Manchmal dachte Izzy, dass die anderen Lehrkräfte ihre Mutter vielleicht um ihre Jugend beneideten. Sie war schon in der Highschool mit Izzy schwanger geworden und hatte ihren Abschluss erst gemacht, nachdem Caye geboren wurde. Izzy starrte ihre langen Locken und ihre zarte Haut an und fragte sich, ob sie in ihrem Alter wohl auch noch so schön sein würde. Dann verfinsterten sich ihre Gedanken: Schönheit war nicht immer ein Segen.

»Isadora, hörst du mir zu?«

Als das Zimmer um sie herum wieder scharf wurde, begriff Izzy, dass ihre Mutter schon mehrmals ihren Namen gerufen hatte.

»Caye wartet auf dich. Sag ihr gute Nacht, damit sie schlafen kann.«

Izzy trank ihre Limo leer und ging durch den schmalen Flur zum Zimmer ihrer Schwester, wobei sie sich an dem zusammengefalteten Rollstuhl vorbeizwängen musste, der an der Wand lehnte.

Caye lag im Bett und umklammerte fest eine alte Plüschkatze. Der gemusterte Schlafanzug, den sie anhatte, war für viel jüngere Kinder gedacht. »Du bist zu Hause!«, kreischte sie.

»Schhh«, macht Izzy hastig.

»Tut mir leid«, sagte Caye mit weit aufgerissenen Augen. »Ich habe vergessen, leise zu sein.«

»Ist nicht schlimm«, beruhigte Izzy sie. »Wir wollen nur nicht, dass die Nachbarn sich wieder beschweren.«

Caye legte sich einen gekrümmten Finger an die Lippen. »Du warst weg«, flüsterte sie.

»Ich war bei Kassidy«, antwortete Izzy. Sie konnte erkennen, dass Caye sich nicht sicher war, von wem sie sprach, obwohl sie Kassidy in den letzten vier Jahren bestimmt tausendmal gesehen hatte. »Brauchst du noch irgendwas, bevor ich das Licht ausmache?«

»Mommy hat mir geholfen, zu duschen.«

»Das ist super, Caye. Noch irgendwas?«

»Sie hat mir die Zähne geputzt.«

»Klingt so, als seist du komplett bettfertig.«

Caye streckte eine verkrampfte Hand nach ihr aus. »Singst du mir das Mondlied?«

Beim Singen kam Izzy sich immer bescheuert vor, aber »Querida Luna« war Cayes Lieblingslied, und Caye zu enttäuschen war, wie einen Welpen zu treten. Also sang sie die Strophen, die ihr Dad ihnen beigebracht hatte, bis zum Ende. Caye hatte die Augen geschlossen, und ihr Mund stand leicht offen. Ein plötzlicher, wütender Beschützerinstinkt schoss durch Izzy wie ein Lichtblitz. Sie wollte die Arme um Caye legen, als würde sie sie vor einer explodierenden Granate schützen, unterdrückte den Impuls aber und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Izzys Mom erschien im Flur. Sie trug ein Schlafshirt und Shorts und hatte ein Glas Wasser in der Hand. »War es schön bei Kassidy?« In ihrer Stimme schwang ein wissender Unterton mit, der auf ihre eigentliche Frage hinwies.

»Kass hat mir von Ashwood Manor erzählt«, sagte Izzy. »Danke, dass ich mitfahren darf.«

Eine leichte Röte breitet sich auf dem Gesicht von Izzys Mom aus. Sie und Izzy hatten in den letzten Monaten nicht viel miteinander geredet. Caye und die Schule hatten ihnen so viel abverlangt, dass sie tagelang nur die nötigsten Worte gewechselt hatten.

»Gern geschehen«, sagte sie. »Ich will nicht, dass du dir um mich und Caye Sorgen machst. Das wird eine gute Übung dafür, wenn du aufs College gehst.«

Ihre Mom ging ins Bett, und Izzy stellte das Wohnzimmer in den Nachtmodus um. Caye brauchte mindestens zehn Stunden Schlaf, und die Wohnung hatte nur zwei Schlafzimmer, also schlief Izzy auf dem Ausziehsofa. Sie zerrte die dünne Matratze unter dem Sofapolster hervor und warf mehrere Kissen darauf. Dann zog sie den Vorhang zu, der das Wohnzimmer von der Küche trennte, und legte sich hin.

Ihr Stipendium für die Brown University beinhaltete ein Einzelzimmer. Sie sehnte sich so sehr nach einem eigenen Zimmer, dass es fast schon wehtat. Jede Nacht stellte sie sich vor, dass sie in einem echten Bett lag und aus einem Fenster auf ein bisschen Grün schaute, in einem Gebäude, in dem sie nicht im Morgengrauen von der Müllabfuhr geweckt wurde.

Manche Leute zählten Schafe; Izzy zählte die Tage bis zum Beginn des Herbstsemesters.

Dann musste sie an Caye denken, und Galle stieg ihr in die Kehle. Izzy hatte so hart gearbeitet, um auf ein Ivy-League-College gehen zu können, aber wenn sie nicht bald etwas unternahm, konnte sie sich das eigene Zimmer, den Gartenblick und das College überhaupt abschminken. Dann würde sie für immer in dieser Wohnung festsitzen.

Die Woche auf Ashwood Manor war die Lösung – wenn sie den Mut besaß, es durchzuziehen. Als sie im Wohnzimmer lag, dem Geschrei vom Parkplatz lauschte und langsam durch die Kissen auf die Metallstreben unter der Matratze sank, beschloss sie, dass sie alles tun würde, um hier rauszukommen.

3

Marlowe ist bereits von der Leiter auf den Anleger geklettert, als Kassidy und ich die Yacht verlassen. Am Ende des Stegs liegt eine kleine, von hohen Birken umringte Fährstation, und ich erkenne gerade noch Marlowes dunklen Lockenkopf, als er durch die gläsernen Schiebetüren verschwindet. Chloe und Ellison stehen auf halber Höhe den Steg hinauf und betrachten irgendwas durch ein Fernglas. Von Blaine ist keine Spur zu sehen.

Hinter der Fährstation schlängelt sich eine enge Straße den Hügel hinauf bis zum zerklüfteten Gipfel. Steile Klippen ragen über die Wellen, die sich an schwarzen Felsen brechen, die an Dinosauriereier erinnern.

»Manche finden, dass Sparrow Island aussieht wie der Zahn eines Riesen«, sagt Kassidy.

Ich stelle mir einen Riesen vor, der mit offenem Mund in den Tiefen des Ozeans sitzt. »Vielleicht wenn Riesenzähne mit Bäumen und Wildblumen bewachsen sind.«

Plötzlich reißt jemand hinter mir an meinem Rucksack und lässt dann abrupt wieder los.

»Bumerang!«, ruft eine vertraute Stimme.

Das Gewicht meines viel zu vollen Rucksacks lässt mich stolpern, und mit einem schrillen Schrei falle ich auf den Steg.

»Das war nicht lustig, Blaine!«, schimpft Kassidy und hilft mir auf. »Tut mir leid, Izzy. Er verhält sich wie ein Arsch, weil sein Dad zu beschäftigt war, in Europa neue Basketballtalente zu scouten, um zur Abschlussfeier zu kommen.«

Blaine sieht sie finster an, und seine Wangen werden fast so rot wie seine Haare. »Als ob mir das was ausmacht. Ich hab nur Spaß gemacht.«

»Alles gut«, sage ich, während ich meine Hände nach Splittern absuche. »Komm, wir holen die anderen ein.« Ich eile an Kassidy und Blaine vorbei, kann aber immer noch hören, wie sie ihn zischend zurechtweist. Seit unserem Streit piesackt er mich ständig, weshalb ich ihm lieber aus dem Weg gehe. Sollte Kassidy das aufgefallen sein, hat sie bis jetzt noch nichts gesagt.

Als ich schon fast an der Fährstation angekommen bin, holt Kassidy mich ein und hakt sich bei mir unter. »Bereit?«, fragt sie, und ein erwartungsvolles Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus.

»Warum gibt es hier eine Fährstation für ein einziges Anwesen?«, frage ich.

»Theodore Ashwood bestand darauf, dass die Fähre ihm jeden Tag Einkäufe und seine Post vom Festland zustellt«, erklärt Kassidy. »Als er starb, zog seine Nichte hierher und hielt mit dem Geld vom Ashwood-Manor-Fonds die Station instand. Meine Mom sagt, dass das gut so ist. Denn wenn das Museum öffnet, müssen eh mehrere Schiffe am Tag von Bar Harbor hier anlegen.«

Die Station ist schlicht eingerichtet: eine Toilette, ein Ticketschalter, ein paar zerkratzte Bänke, die verdächtig nach alten Kirchenbänken aussehen. Ein gelangweilter Wachmann sitzt am Schalter und liest in einem zerfledderten Taschenbuch. Er hat uns wohl erwartet, denn er sieht nur kurz auf, bevor er sich wieder auf sein Buch konzentriert. Die Schiebetüren am anderen Ende der Station fahren mit einem öligen Quietschen auf, als wir uns ihnen nähern. Dann sehe ich, was draußen parkt, und bleibe wie angewurzelt stehen.

Vor uns stehen zwei Rolls-Royce – Silver Ghosts –, exakte Nachbauten der Autos aus The Secret of the Ruby Dagger.

»Echt jetzt?!«, rufe ich und sprinte auf das nächstgelegene Cabrio zu. Dabei ist mir vollkommen egal, was Marlowe von mir denkt, der bereits auf dem Rücksitz des anderen Autos Platz genommen hat.

Ich fahre mit den Fingern über die runden Kotflügel, stelle mich auf das Trittbrett und streiche über die Ledersitze. »Wie hast du die denn auf die Insel bekommen?«, frage ich Kassidy.

Kassidys Grübchen vertiefen sich, und sie führt einen kleinen Freudentanz auf. »Mit der Fähre!« Sie beugt sich vor und betrachtet eine der Kühlerfiguren. »Der schwierige Teil war eher, die Autos zu finden. Viele gibt es davon nicht mehr.«

Ich keuche auf. »Das sind Originale?«

Kassidy lacht. »Auf diesen Sitzen haben tatsächlich Hintern aus den 1920ern gesessen.«

»Ist das die Überraschung?«

»Der Anfang davon«, antwortet Kassidy geheimnisvoll. Sie wirft einen Blick auf ihr Handy. »Wir sollten losfahren. Ich will noch vor Sonnenuntergang auf Ashwood Manor ankommen.« Sie steigt zu Blaine, Fergus und Ellison ins Auto. »Sieht so aus, als wäre hier kein Platz mehr«, sagt sie zwinkernd zu mir. »Du musst dich wohl zu Marlowe setzen.«

Ich verdrehe die Augen und folge Chloe zum zweiten Auto, in dem Marlowe sitzt und in einem dicken, ledergebundenen Buch liest. Er nickt uns zu und vertieft sich dann wieder in seine Lektüre.

Als wir die Fährstation hinter uns lassen, wirft Chloe einen Blick auf Marlowes Buch. »Anna Karenina«, stellt sie fest, als sie den goldgeprägten Titel liest. »Und, wie ist es?«

Marlowe hebt den Kopf, und seine dunklen Locken wehen in der Brise, während unser Fahrer eine sich zwischen blauen Glockenblumen windende Straße entlangfährt. Die Sonne betont die Sommersprossen unter seinen Augen. Seine Haut ist fast so dunkel wie meine – das hat er wohl seiner griechischen Mutter zu verdanken –, und sie ist bemerkenswert glatt, wie ein Kieselstein, der vom Meer glattgespült wurde.

»Es ist romantisch, aber auch traurig«, antwortet er und dreht sich zu mir um. »Ich glaube, es gibt eine Verfilmung aus den 30ern.«

Ich bin so überrascht, dass er erstens von dem Film weiß, und sich zweitens an mich gewendet hat, dass ich anfange zu stottern. »Ja, mit Greta Garbo. Es ist einer von Kassidys Lieblingsfilmen.«

»Schauen du und Kassidy viele alte Filme?«, fragt Chloe.

»Tonnenweise«, antworte ich. »Kassidy liebt das Jazzzeitalter. Sie will Kostümdesignerin werden.«

Chloe seufzt. »Ich lese jede Woche ihre Modekolumne in der Schulzeitung, und trotzdem schaffe ich es nicht, ein passendes Outfit zusammenzustellen.«

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, und die Stille zieht sich unbehaglich in die Länge. Bevor Nestor sie zum Abschlussball eingeladen hat, hatte niemand von uns viel mit Chloe zu tun, also weiß ich nur drei Sachen über sie: Sie ist schon seit unserem ersten Jahr an der Marian Academy Klassenbeste, sie spielt Lacrosse, und ihre Mutter ist ein hohes Tier bei irgendeiner chinesischen Investmentfirma.

»Hattest du Spaß auf dem Abschlussball?«, frage ich schließlich.

Chloe reißt die Augen auf, als hätte ich sie gerade darum gebeten, ihr Tagebuch lesen zu dürfen. Ihre Hand verkrampft sich, und sie lässt ihre Handtasche fallen, sodass sich ein Lippenstift, ein Portemonnaie und eine kleine rote Ampulle im Innenraum des Autos verteilen. Das ruckelnde Autos lässt mir die Ampulle direkt vor die Füße rollen. Ich hebe sie auf und suche nach einem Markennamen, aber sie hat kein Etikett und noch nicht mal einen Zerstäuber. Nur einen schwarzen Drehverschluss.

Chloe reißt sie mir aus den Händen und steckt alles hastig wieder in ihre Tasche. Als sie sich aufrichtet, sind ihre Wangen rot vor Anstrengung. »Der Ball hat echt Spaß gemacht«, sagt sie. »Ich kann zwar überhaupt nicht tanzen, aber es war trotzdem schön.«

Mein journalistischer Riecher für Klatsch und Tratsch kribbelt bei ihrer Reaktion auf meine Frage, aber bevor ich nachhaken kann, taucht hinter einer Kurve Ashwood Manor auf.

»Wow«, murmelt Chloe, und selbst Marlowe sieht interessiert von seinem Buch auf.

Das Anwesen liegt fast auf dem Gipfel des Hügels mit Blick auf den Ozean. Wellen klatschen an die Klippen, weiße Gischt spritzt auf und stürzt sich wieder hinaus aufs Meer. Die grauen Steine, mit denen das Haus gebaut ist, sind vom Salz ausgewaschen, als hätte es einst unter Wasser gestanden. Rosenterrassen und Kieswege ziehen sich bis zum Meer hinab, und um das Anwesen herum wachsen so viele Wildblumen, dass es fast wie ein Gemälde von Monet aussieht: ein verschwommenes Farbenmeer. Hinter dem Haus wird ein dichter Pinienwald sichtbar, dunkel und geheimnisvoll.

Es fühlt sich an, als würde jemand einen Farbfilter vor meine Augen halten. Durch die schwarz-weißen Filmszenen in The Secret of the Ruby Dagger bin ich nicht darauf vorbereitet, wie farbenprächtig und lebendig die Gärten in Wirklichkeit sind und wie viele verschiedene Grautöne das Sonnenlicht der Hausfassade entlockt. Und trotzdem hat das Haus etwas Kaltes und Unnahbares an sich, als hätte sich die Zurückgezogenheit seines Erbauers auf es übertragen.

»Jetzt verstehe ich, warum sie es in ein Museum verwandelt haben«, sagt Chloe. »Es ist wunderschön.«

»Warte nur, bis du es innen siehst«, sagt Marlowe. »Wenn man reinkommt, fühlt man sich, als wäre man in der Zeit zurückgereist.«

»Warst du schon drin?«, frage ich. Theodore Ashwood hat der Filmcrew nur Aufnahmen von außen und auf dem Anwesen erlaubt, darum habe ich noch kein einziges Bild vom Inneren des Hauses gesehen.

Marlowe läuft rot an, als hätte er ein Geheimnis verraten. »Meine Mutter ist zusammen mit Mrs Logan im Vorstand des Museums. Vor ein paar Wochen hat die Eigentümerin uns eine Privattour gegeben. Hat Kassidy dir nichts davon erzählt?«

Ich schüttele den Kopf. »Wahrscheinlich wollte sie mich überraschen«, sage ich und versuche, nicht neidisch zu klingen. Typisch Kassidy. Sie hat es geheim gehalten, um meine Gefühle nicht zu verletzen.

Die Autos halten auf der Kieseinfahrt vor Ashwood Manor. Vor dem Haus steht eine Reihe Angestellter, die altmodische Uniformen tragen. Sie sehen alle aus wie meine Eltern, und ich werde wieder daran erinnert, dass ich nicht hierher gehöre. Meine Freunde besuchen in den Sommerferien die schönsten Orte der Welt, während ich mich selten mehr als zehn Meilen von meiner Wohnung entferne.

Meine Familie war bisher nur ein mal im Urlaub. Als ich vierzehn war, fuhr meine Mom mit Caye und mir in eine belebte, kleine Küstenstadt in der Nähe von Boston. Aber meine Schwester wurde krank, und wir mussten früher nach Hause. Wegen der Kosten und Umstände, die Cayes Rollstuhl verursachen, haben wir nie wieder einen Versuch unternommen.

Ich sehe zu, wie die Fahrer dem Personal unser Gepäck aushändigen, und wie sie unsere schweren Koffer die Treppen hochwuchten. Die Vorfreude, die mir von Harker bis nach Sparrow Island gefolgt ist, wird von Angst abgelöst. Ich kann nicht zulassen, dass das meine Zukunft wird. Ich kann nicht das tun, was meine Mom und mein Dad getan haben, als ich klein war. Ich weiß noch genau, wie sie nach einem langen Tag harter Arbeit ihre Hände in Eiswasser kühlten, wie sie darüber diskutierten, welche Rechnungen am längsten warten konnten, wie sie ständig mit Krankenhäusern um die Kosten von Cayes Behandlungen stritten.

Einer der Kofferträger will mir den Rucksack abnehmen, aber ich schüttele den Kopf und ziehe die Gurte so fest, dass ich vermutlich später davon blaue Flecken auf den Schultern haben werde. Meine Gedanken an Caye haben mich wieder an das Wesentliche erinnert. Niemand darf das Messer sehen. Ich habe nur einen Versuch. Ich habe nur eine Chance.

4

Marlowe hat recht. Als ich Ashwood Manor betrete, fühle ich mich, als sei ich in der Zeit zurückgereist.

Chloe klappt die Kinnlade herunter, als sie mir und Kassidy in die Eingangshalle folgt. »Träume ich, oder ist das alles wirklich echt?«, fragt sie.

Blaine lacht. »Meine Mom würde dieses Dekor hassen«, sagt er. Er lässt den geübten Blick von jemandem, dessen Mutter Innenarchitektin ist, über die Möbel und Kuriositäten schweifen. »Das ist genau das Gegenteil von minimalistisch.«

Im Gegensatz zu seiner wettergegerbten Fassade macht Ashwood Manor von innen einen warmen und einladenden Eindruck. Eine prachtvolle Wendeltreppe führt von der Eingangshalle in den ersten Stock, an den Wänden hängen prunkvolle Ölgemälde, und Buntglasfenster werfen das schwindende Sonnenlicht in farbigen Flecken auf das Eichenparkett. Auf handgeschnitzten Anrichten stehen unzählige Vasen mit frischem Lavendel, der die Luft mit einem süßen, zarten Aroma erfüllt.

In Jeans und T-Shirt komme ich mir schäbig vor, als könnte das Haus mich jeden Moment wieder ausspucken, weil ich nicht in seine Zeit passe.

Tapfer wuchten die livrierten Kofferträger unser Gepäck nach oben, während wir das Erdgeschoss erkunden. Im hinteren Bereich entdecken Kassidy und ich ein Empfangszimmer mit einem Flügel und Samtsofas, die um einen Kamin herum gruppiert sind. Das Zimmer wirkt formell, aber gemütlich – die Art von Raum, in dem Gäste Karten spielen und Whiskeycocktails trinken. Die hohen Fenstertüren, die von indigoblauen Vorhängen umrahmt sind, stehen offen. Kassidy und ich treten auf die geflieste Terrasse hinaus.

Von hier aus schaut man auf eine wahre Explosion von Wildblumen, die den gesamten Hügel bedecken. Ein langer, staubiger Pfad, der von Rosengärten gesäumt ist, führt bis zu den Klippen, die steil zum Wasser abfallen. Abgesehen vom Rauschen der Wellen in der Ferne und einigen umherschwirrenden Bienen in der Nähe, ist es still.

»Ich kann nicht glauben, dass wir wirklich hier sind«, flüstere ich, weil ich die Stille nicht stören will. »Auf dieser Terrasse hat Marla Nevercross Cocktails getrunken.« Ich zeige auf die Klippen. »Und da hat Cara Ashwood den Rubindolch ins Meer geworfen, nachdem sie den Mann ihrer Schwester erstochen hatte.«

Kassidy lächelt und drückt meine Hand. Kurz überlege ich, ob ich ihre private Tour ansprechen soll, entscheide mich dann aber doch dagegen. Ich kenne Kassidy. Die Tour war ihr egal, aber dieser Moment zählt für sie.

»Ich glaube, es ist Zeit für die letzte Überraschung«, sagt sie.

Ich folge Kassidy zurück in die Eingangshalle, wo die anderen auf uns warten. Sie holt tief Luft, und mein Herz macht einen erwartungsvollen Satz.

»Ihr wollt vermutlich alle eure Zimmer sehen und die Koffer auspacken«, sagt Kassidy. »Aber erst muss ich euch erzählen, warum wir hier sind.«

»Weil das hier ein echt krasses Haus auf einer Privatinsel ist?«, fragt Ellison, als wäre jede andere Erklärung überflüssig.

Kassidy lächelt. »Ja, aber es geht um mehr als das. Wir stehen hier in einem Stück Filmgeschichte.«

»Jetzt geht's los«, murmelt Fergus.

Kassidy deutet auf die Antiquitäten und Gemälde. »1926 hat Theodore Ashwood dieses Haus mit dem Geld errichtet, das er mit dem Verkauf von Alkohol während der Prohibition verdient hatte«, erklärt sie. »Früher hat er hier wilde Partys gefeiert ...«

»So wie ich«, wirft Blaine mit einem verschmitzten Lächeln ein.

Kassidy rümpft die Nase. »Deine Partys sind im Gegensatz zu seinen die reinsten Kindergeburtstage.« Blaines Miene verfinstert sich, aber wir anderen lachen. »Theodores Tochter, Cara, der er den Spitznamen ›Sparrow‹ gegeben hatte, wollte unbedingt Schauspielerin werden. Also sagte Theodore Fabrizio Ricci zu, dass er seinen nächsten Film auf Ashwood Manor drehen durfte, sofern Cara eine der Hauptrollen kriegen würde. Und Ricci willigte ein.« Kassidys Gesichtsausdruck wird auf einmal ganz zärtlich. »Und sie war perfekt. So perfekt, dass der Hauptdarsteller sich in sie verliebte und Cara davon überzeugte, von Sparrow Island und ihrem Vater wegzulaufen.«

Kassidy legt eine dramatische Pause ein, aber außer Marlowe und mir sind alle mit ihren Handys beschäftigt und hören ihr kaum zu. Also komme ich ihr zu Hilfe. »Ist Theodore darum zum Einsiedler geworden?«, frage ich.

Kassidy schüttelt den Kopf. »Nachdem sie weggelaufen war, nahm Caras Leben eine genauso traurige Wendung wie die der Hauptfiguren aus einem Ricci-Film. Sie begann zu trinken, verließ den Schauspieler für den Betreiber einer Kneipe, in der illegaler Alkohol verkauft wurde, und starb allein in einem heruntergekommenen Motel in Boston.« Kassidy seufzt. »Als er seine Sparrow an genau das verlor, womit er reich geworden war, zog Theodore Ashwood sich in Ashwood Manor zurück und setzte nie wieder einen Fuß auf das Festland. Alles, was ihr diese Woche hier im Haus seht – die Sofas, auf denen ihr sitzt, die Teller, von denen ihr esst, die Badewannen, in denen ihr duscht –, sind seine letzten, einsamen Erinnerungen.«

Kurz herrscht Stille.

»Na super, jetzt hast du die Stimmung total ruiniert«, murrt Blaine.

Kassidy grinst. »Aber ich weiß, wie ich sie wieder aufhellen kann. Ich habe eine Überraschung für euch.«

Irgendetwas an Kassidys Stimme bewirkt, dass alle alarmiert von ihren Handys aufsehen. In der Luft liegt plötzlich eine Spannung, und es fühlt sich an, als würden zwischen unseren Körpern Funken sprühen.

»Wir verbringen nicht nur eine Woche in Ashwood Manor«, verkündet sie mit leicht bebender Stimme. »Das hier ist eine Mottoparty. Wir tauchen komplett in die 1920er-Jahre ein. Wir kleiden und benehmen uns so, als wären wir auf einer von Theodore Ashwoods Hauspartys. Tennis, Cocktailstunden, Drei-Gänge-Menüs, Kartenspiele, Tanzen – wir wollen das damalige Leben auf Ashwood Manor möglichst genau nachstellen.«

Ich keuche auf und halte mir die Hände vor den Mund. Vor meinem inneren Auge läuft eine Montage aus Filmszenen ab: Ballkleider, Nahtstrümpfe, Sonnenschirme zum Flanieren und Sektgläser. Heimliche Küsse unter der Treppe und Spaziergänge im Garten.

Kassidy lächelt mich an, und ich muss an ihre Worte auf der Yacht denken: Ich habe das alles für uns beide gemacht.

Ich werfe einen Blick in die Runde, um die Reaktionen der anderen zu sehen. Marlowe reagiert überhaupt nicht. Blaine stöhnt und vergräbt das Gesicht in den Händen. Fergus versucht, sich cool zu geben, aber er ist eindeutig begeistert; wenn es um Kostüme und Schauspielerei geht, ist er immer sofort dabei. Chloe sieht ein wenig besorgt aus, lächelt aber trotzdem höflich. Und Ellison scheint einfach nur amüsiert zu sein.

»Wenn es realistisch sein soll, muss ich mich wohl bei der Dienerschaft einquartieren«, sagt er. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Schwarze damals kein Tennis auf schicken Anwesen gespielt haben.«

Kassidy läuft knallrot an. Sie strengt sich immer so an, alle Schwachstellen in ihren Plänen zu beseitigen, und jetzt fragt sie sich garantiert gerade, ob sie einen gigantischen Fehler begangen hat.