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Dulce Castillo besucht eine Schule mit besonderem Schwerpunkt: An der J. Everett High werden die Schüler zu herausragenden Kriminologen ausgebildet. Jedes Jahr wird dort ein Wettbewerb veranstaltet: Anhand von vorbereiteten Autopsieberichten, Zeugenaussagen und Beweisen sollen die Schüler einen inszenierten Mord aufklären. Dulce ist fest entschlossen, den Preis dieses Jahr zu gewinnen - zusammen mit ihrer besten Freundin Emi und dem neuen Mitschüler Zane. Doch dann passiert das Unfassbare: Die Leiche ist echt - einer ihrer Mitschüler wurde vergiftet. Aus dem Spiel wird bitterer Ernst. Dulce und ihre Freunde wenden alles an, was sie je über das Ermitteln gelernt haben, um den Mord aufzuklären ...
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Seitenzahl: 505
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Prolog
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Epilog
Danksagung
Über die Autorin
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Impressum
Cover
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Inhaltsbeginn
Impressum
Dulce Castillo besucht eine Schule mit besonderem Schwerpunkt: An der J. Everett High werden die Schüler zu herausragenden Kriminologen ausgebildet. Jedes Jahr wird dort ein Wettbewerb veranstaltet: Anhand von vorbereiteten Autopsieberichten, Zeugenaussagen und Beweisen sollen die Schüler einen inszenierten Mord aufklären. Dulce ist fest entschlossen, den Preis dieses Jahr zu gewinnen – zusammen mit ihrer besten Freundin Emi und dem neuen Mitschüler Zane. Doch dann passiert das Unfassbare: Die Leiche ist echt – einer ihrer Mitschüler wurde vergiftet. Aus dem Spiel wird bitterer Ernst. Dulce und ihre Freunde wenden alles an, was sie je über das Ermitteln gelernt haben, um den Mord aufzuklären ...
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Svantje Volkens
schüttelt Magic 8 Ball
Ist dieses Buch Erin gewidmet?
In zwei Wochen
Sierra Fox hastete den matschigen Pfad entlang und tippte dabei eine Nachricht auf ihrem Handy.
Livestream ging länger. Gleich da.
Die Autokorrektur änderte die Nachricht genau in dem Moment, als sie auf Senden tippte, zu »Ich bin gleich da!« Fantastisch. Der fröhliche Tonfall würde Xavier nur noch wütender machen.
Sierra warf einen resignierten Blick auf ihre Heels, an denen Schlamm und zerdrückte Piniennadeln klebten. »Ruiniert«, grummelte sie. Und wofür? Warum musste er sie so weit weg von allen anderen treffen? Zwischen ihnen lief es nicht besonders gut, aber es war ja nicht so, als wäre es wirklich aus. Ihr Fehltritt war kein großes Ding gewesen. Ein verzeihlicher Fehler. Ohne Xavier ...
Daran durfte sie gar nicht denken.
Sierra atmete die frische Luft und den scharfen Duft der Nadelbäume ein, die lange Schatten auf den Boden warfen. Ein paar Vögel krächzten in den Wipfeln, ansonsten war es auf dem Pfad still. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler aßen drinnen gerade zu Mittag, weit entfernt von Matsch und Nässe.
Ein lautes Rascheln durchbrach die Stille. Sierra hielt inne, um zu lauschen, aber das Geräusch ertönte nicht noch einmal. Vermutlich irgendein Waldtier, dachte sie. Aber es hatte nach etwas Großem geklungen, und sie beschleunigte ihre Schritte. Zwar war noch nie ein Schüler oder eine Schülerin von einem Bären angegriffen worden, aber jedes Jahr erinnerte Dekan Whitaker sie alle daran, nicht allein in den Wald zu gehen, besonders nicht in der Zeit, in der die Bären ihren Nachwuchs aufzogen.
Plötzlich jagte ein riesiger, brauner Schemen über den Pfad und verfehlte sie nur um Haaresbreite.
»Ah!«, kreischte Sierra und schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Sie wollte wegrennen, aber sie war wie festgewachsen. Ein paar Meter entfernt kam die Kreatur im Wald zum Stehen. Zitternd zwang Sierra sich dazu, genauer hinzusehen.
Es war ein Rehkitz.
»Blödes Reh!«, schrie sie, und das Kitz stob davon und verschwand zwischen den Bäumen. Sierra versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen. Wenn ein süßes Tierbaby sie so ausflippen ließ, war sie wegen ihres Treffens mit Xavier wohl nervöser, als sie gedacht hatte.
Als sie weiter den Pfad entlangging, stießen die Stricknadeln in ihrer Tasche an ihren Arm, und sie schob die Spitzen vorsichtig von ihrer Haut weg. Alle anderen im Stitch-n-Bitch-Club, den sie gegründet hatte, benutzten Nadeln aus Metall, aber für Sierra war es Holz oder gar nichts. Sie hatte sogar ihre Initialen in die Enden brennen lassen.
Das Gewächshaus am Ende des Pfads war genauso prachtvoll wie der Rest des Schulgeländes. Hohe Spiegelglasscheiben erhoben sich in einem gotischen Bogen, wie etwas aus einem Märchenbuch. Ein paar besonders gestaltete Buntglasscheiben bildeten Fensterflügel über der Tür – die geschlossen war.
Sierra runzelte die Stirn. Xavier hatte ihr gesagt, er würde die Tür offen lassen, aber vielleicht hatte er verhindern wollen, dass der Regen hineingeweht wurde. Sie presste das Gesicht an eine der Glasscheiben, immer darauf achtend, ihr Make-up nicht zu verschmieren. Drinnen bewegte sich nichts.
Der schwere Geruch von Kompost und Veilchen ließ sie das Gesicht verziehen, als sie die Tür aufschob. Im Gewächshaus war es überraschend kühl – überhaupt nicht wie sein übliches mildes Klima. Das letzte Mal, als sie hier gewesen war, war mit ... Nein, sie würde nicht seinen Namen denken. Er hatte ihr die Tabakpflanzen gezeigt, die er züchtete, um Vape-Juice herzustellen.
»Man muss vorsichtig sein, wenn man das Nikotin extrahiert«, hatte er erklärt und dabei auf eine Pflanze mit breiten grünen Blättern gezeigt. »Es ist stark genug, um ein Pferd kaltzumachen. Krass, oder?«
Sierra hatte es überhaupt nicht krass gefunden. Das Einzige, was sie mehr verabscheute als Typen, die rauchten, waren Typen, die eine Leidenschaft dafür besaßen, Lebewesen zu töten.
»Xavi?«, rief sie in den Raum.
Die einzige Antwort war ein erschrecktes Flattern, als mehrere Vögel durch eine fehlende Glasscheibe im Schrägdach ins Freie flohen. Das Loch gab den Blick auf den grauen Himmel frei. Sie erinnerte sich nicht daran, dass die Öffnung schon da gewesen war, als sie mit ihm hier gewesen war, aber sie waren mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.
»Xavi, bist du hier drinnen?«, fragte sie wieder, während sie durch die Pflanzenreihen ging. Die meisten davon waren von den Forensikschülerinnen und -schülern für ihre Experimente angepflanzt worden.
Die Kälte in der Luft kroch in Sierras Knochen. Hatte Xavier sie versetzt? War es möglich, dass er sich ernsthaft von ihr trennen wollte? Wütende Tränen stachen ihr wie Nadeln in den Augen. Das würde sie nicht zulassen. Sie gehörten zusammen.
Sie hörte ein seltsames, schnüffelndes Geräusch, wie von einem Tier, das durch die Pflanzen krabbelte. Bei dem Klang eilte sie auf den Tisch am Ende des Gewächshauses zu, von dem Pothos-Ranken auf den Boden hingen und ihr die Sicht auf das, was dahinter lag, versperrten.
Als sie den Tisch erreichte, blieb Sierra urplötzlich stehen. Irgendetwas ragte in einem seltsamen Winkel vom Boden empor und berührte fast die entwurzelten Überreste der Tabakpflanzen. Im Gewächshaus lagen überall Werkzeuge herum, aber das hier war etwas anderes. Etwas, das sie erkannte.
Xaviers Schuh.
Sierra hastete um die Ecke und verdrehte sich dabei fast den Knöchel in ihren Heels. Als sie sah, was hinter dem Schuh lag, entrang sich ihr ein endloser, schmerzerfüllter Schrei, der aus dem Gewächshaus den Pfad entlang bis in die Cafeteria hallte.
An einem Tisch in der Nähe der Hintertür horchte Dulce Castillo auf einmal auf. Ihre beste Freundin Emi redete immer noch darüber, wie unfair es war, dass Xavier Torres immer alles in den Schoß fiel.
»Schh«, machte Dulce. »Hörst du das?«
»Höre ich was?«, fragte Emi. »Wie alle auf ihrem Essen rumkauen? Natürlich höre ich das. Es ist widerlich.«
»Nein, es klingt wie ...« Dulce hielt inne und versuchte, über das mittägliche Läuten der Kirchenglocken am anderen Straßenende weiter zu lauschen. »Na, egal. Man hört es nicht mehr.«
Zwanzig Minuten später sprintete Sierra Fox aus dem Flur in die Cafeteria. Ihre roten Locken flogen wirr um ihren Kopf und ihr Etuikleid war schlammverschmiert.
»Xavi ist im Gewächshaus!«, schrie sie mit schmerzerfüllter Stimme. »Er wurde ermordet!«
Sierra sah sich mit vor Schrecken weit aufgerissenen Augen in der Cafeteria um, bevor sie abrupt zusammenbrach. Die gesamte Schülerschaft verstummte.
Dann brachen alle in Applaus aus.
»Das ging schnell«, kommentierte Emi über den Applaus hinweg. »Normalerweise wird die Leiche erst nach dem Labor Day gefunden.« Sie fing an, sich Chips in den Mund zu stopfen. »Wir sollten schnell fertig essen, damit wir zuerst am Gewächshaus ankommen. Der frühe Vogel löst den Fall.«
Dulce lächelte. Xavier Torres war tot. Das Spiel hatte begonnen.
Als mein Dad mich vor der Schule absetzt, brauche ich eine Minute, um festzustellen, was am Hauptgebäude anders ist. Nichts Offensichtliches hat sich verändert. Die roten Backsteine sehen genauso aus wie immer: alt, aber sauber, als hätte der Gärtner sie über den Sommer hochdruckgereinigt. Das Herrenhaus erstreckt sich noch immer wie ein L auf dem grünen Rasen. Die längere linke Seite ähnelt einem gefällten Redwood, dem ein dicker Efeuteppich und stählerne Fenster gewachsen sind. Selbst der löwenförmige Messingklopfer hängt mit beruhigender Vertrautheit an der Tür.
Meine Augen wandern zu dem schwarzen Auge der Überwachungskamera, die meinen Dad dabei aufzeichnet, wie er das Auto auf der steinigen Auffahrt wendet und wieder auf den Highway fährt. Er hat so lange Zeit damit verbracht, Fotos von meinem ersten Schultag nach dem Sommer zu schießen, dass der Parkplatz am Wald mittlerweile still ist. Nur eine warme Brise, die die Stoppschilder an den Bussen, mit denen Schülerinnen und Schüler von außerhalb Cape Cherrys zur Schule fahren, leise erbeben lässt, ist zu hören.
»Aha«, mache ich, als mir endlich ins Auge fällt, was neu ist. Jemand hat den geflügelten Wasserspeiern, die auf den Giebeln hocken, geflochtene Kränze aus Gänseblümchen umgehängt. Böse starren sie auf mich herab, als hätte ich persönlich ihnen die Dekorationen um die dünnen grauen Hälse gelegt.
»Definitiv eine Verbesserung«, rufe ich zu ihnen hoch. Dann fällt mir ein, dass ich bereits riskiere, zu spät zu kommen.
Die Vordertür steht offen, aber ich gebe dem Messinglöwen trotzdem einen freundlichen Klaps, bevor ich einen langen Flur entlangeile, der mit Porträts von James Everetts Familie und den berühmteren Kriminologinnen und Kriminologen gesäumt ist, die an der J. Everett High unterrichtet haben. Ein paar getrocknete Blütenblätter haften noch an den goldenen Fransen des Teppichs, Überreste der Sommerhochzeiten, die die Stipendien der Schule mitfinanzieren.
Als ich am Sekretariat vorbeikomme, schwingt die Tür auf und ich kollidiere fast mit einem hochgewachsenen blonden Jungen, dessen Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen sind. Obwohl er ein lächerliches Sakko trägt, in dem er wie ein vergessener Hochzeitsgast aussieht, ist er die Art von attraktiv, die schwer zu übersehen ist – also kann er letztes Jahr noch nicht auf die Schule gegangen sein.
Rucksack über einer Schulter. Stundenplan ragt aus einer Mappe mit dem Wappen der J. Everett High. Karte der Schule lose zwischen seinen Fingern.
Schlussfolgerung: Er muss ein Freshman oder auf diese Schule gewechselt sein.
»Sorry«, sagt er und hält entschuldigend eine Hand hoch. Dann begegnet sein Blick meinem und er lächelt erfreut, als würde er mich erkennen. »Ich wollte so dringend von all den Schulwechselformularen weg, dass ich nicht geguckt habe, wo ich hinlaufe.«
Schulwechsel also. »Kein Problem«, antworte ich. »Ich habe mit den Statuen geredet, wir haben also beide einen schlechten Morgen.«
Der Junge lächelt weiter strahlend, obwohl ich gerade zugegeben habe, dass ich Gespräche mit leblosen Gegenständen führe. »Kannst du mir sagen, wo der Ballsaal ist?«, fragt er. »Die Assistentin des Dekans hat mir diese Karte gegeben, aber ...« Er verstummt und starrt auf die hastig gezeichneten Linien, die J. Everetts Flure darstellen sollen.
»Es ist anfangs verwirrend«, sage ich und bedeute ihm, mir zu folgen. Er geht mit einem lässigen Selbstbewusstsein und hält mit seinen langen Beinen mühelos mit mir Schritt. »Als Dr. Everett mehr Schüler annahm, musste er ständig neue Zimmer im Haus zu Klassenzimmern umfunktionieren, weil die Stadtverwaltung von Cape Cherry es ihm nicht erlaubte, höher als zwei Stockwerke zu bauen.«
Der Junge wirft einen weiteren Blick auf die Karte. »Muss komisch sein, in jemandes altem Schlafzimmer Chemie zu haben.«
»Warte ab, bis du die Fotos von Blutspritzern auf der Toilette siehst«, sage ich ihm.
Der Ballsaal ist rappelvoll mit Schülerinnen und Schülern, die auf die Versammlung zum Beginn des Schuljahres warten. Zum Glück hat sie noch nicht angefangen. Emi, die normalerweise diejenige ist, die zu spät kommt, sitzt bereits mit aufgebauschtem Tüllrock auf einem der weißen Hochzeitsstühle, die immer noch in Reihen im Saal stehen. Kleine Plüschtiertaschen und bunte Plastikspielzeuge baumeln an ihrem zerrissenen T-Shirt, auf dem die handgedruckten Worte YOU CAN'T HANDLE THE TRUTH stehen. Wie immer sieht sie aus, als würde sie viel eher in Tokios Modeviertel gehören, wo ihr Dad wohnt, statt in eine kleine Küstenstadt in Virginia.
Als sie mich im Türrahmen stehen sieht, winkt sie mit übertriebenen Armbewegungen auf den freien Platz neben sich, sodass Reihen von Süßigkeitenarmbändern an ihren Handgelenken auf und ab rutschen. »Dulce!«, ruft sie. »Setz dich zu uns!«
Mit uns meint sie offenbar sich selbst und Rose Martin, mit der wir letztes Jahr zusammen Sportunterricht hatten und die immer die ganze Stunde lang meditiert hat, statt mit allen anderen im Wald zu joggen. Wir kennen sie kaum, also fällt mir kein einziger Grund ein, warum sie auf unserer Seite des Raums sitzt, während sich ihre restlichen Freundinnen und Freunde auf der anderen Seite des Ganges um Sierra scharen.
Ich denke kurz darüber nach, den neuen Jungen zu fragen, ob er sich zu uns setzen will, aber bevor ich etwas sagen kann, senkt er den Kopf und geht leicht geduckt zu einem freien Sitz in der Ecke vor Emi, als wäre es ihm peinlich, so spät gekommen zu sein. Ich folge ihm, verwirrt von seinem plötzlichen Anflug von Verlegenheit.
»Wer ist der Hottie?«, fragt Emi, als ich mich hinsetze.
Ich werfe dem Jungen einen Blick zu und hoffe, dass er sie nicht gehört hat, aber mit zweihundert anderen Stimmen im Raum hätte sie die Worte wahrscheinlich genauso gut schreien können.
»Schulwechsel«, erkläre ich und füge dann schnell hinzu: »Und nein, ich stelle euch nicht vor. Ich habe höchstens zehn Worte mit ihm gewechselt, also kannst du dich selbst vorstellen.«
»Ein neuer Rekord!« Emi schaut auf die Keroppi-Armbanduhr an ihrem knochigen Handgelenk.
»Wovon redest du?«
»Ich habe mit Rose gewettet, dass es weniger als zwei Minuten dauern würde, bis du etwas Griesgrämiges sagst, aber du hast nur zehn Sekunden gebraucht. Jetzt schuldet sie mir einen Root Beer Float.«
Ich ignoriere die Tatsache, dass Emi mit einer Fremden Wetten über mich abschließt. »Warte nur, bis du meine Meinung dazu hörst, wie viele Haarspangen eine einzelne Person tragen kann«, entgegne ich, strecke ihr die Zunge heraus und tippe auf eine der ungelogen Dutzenden von regenbogenfarbenen Haarclips, die in ihren seidigen schwarzen Zöpfen verteilt sind.
»Glück wohnt in uns, nicht in Dingen.« Rose lehnt sich auf ihrem Platz vor und lächelt mich sanft an. Ihr Name passt zu ihr. Sie ist plump, mit porzellanfarbener Haut, hellblauen Augen und rosigen Wangen, wie ein Hobbit aus Der Herr der Ringe – wenn Hobbits pinke Haare hätten.
»Sagt das Mädchen, das in einer geschlossenen Wohnsiedlung am Strand wohnt.« Emi schnaubt.
Ich erwarte, dass Rose wegen Emis Kritik verletzt aussieht, aber sie dreht nur eins von Emis Süßigkeitenarmbändern an ihrem Handgelenk herum und kichert. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie Emi berührt, vermittelt den Eindruck, dass sie befreundet sind, was überhaupt keinen Sinn ergibt, weil Emi im Sportunterricht nie mit ihr geredet hat. Ein kleiner unbehaglicher Stich fährt mir durch den Bauch; hat Emi sich in den Sommerferien mit Rose getroffen, ohne mir davon zu erzählen?
»Warum sieht Dekan Whitaker aus, als hätte er den Sommer in einem Ofen verbracht?«, fragt Emi, als sie unserem Schuldirektor dabei zusieht, wie er zu dem Mikrofon am Kopfende des Raums geht.
Als Dekan Whitaker das Mikro erreicht, tippt er prüfend dagegen, bevor er uns allen ein Lächeln schenkt, das seine Zähne vor seiner gebräunten Haut extrem weiß erstrahlen lässt. Es ist schwer, sein Alter zu schätzen, weil er seine Haare färbt, aber er ist vermutlich über vierzig und sieht durchgestylt aus, als würde er auf einen Skihang oder in eine Männerzeitschrift gehören. Ich kann mit seiner polierten Optik nichts anfangen, aber ich kenne viele Schülerinnen und Schüler – darunter Emi –, die um seinen Namen in ihren Schulblöcken ein Herz gezeichnet haben.
Neue Veneers aus Porzellan. Schuhe aus Alligatorleder. Foto in der »Willkommen zurück«-E-Mail der Schule, auf dem er vor dem Trevi-Brunnen in Rom steht.
Schlussfolgerung: Mit Bürgermeisterin Fox verlobt zu sein hat echte Vorteile.
»Guten Morgen«, begrüßt uns Dekan Whitaker und seine tiefe Baritonstimme dröhnt durch den Ballsaal. »Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um euch an der Dr.James-Everett-Schule für Kriminologie willkommen zu heißen!« Er lächelt eine Gruppe Schülerinnen in der ersten Reihe an. »Es ist wundervoll, so viele vertraute Gesichter zu sehen, und ich freue mich besonders über all die neuen Gesichter. Es hätte Dr. Everett stolz gemacht, dass dieser Freshman-Jahrgang nicht nur der diverseste in der dreißigjährigen Geschichte der Schule ist, sondern auch die bislang höchste Bestehensquote bei der Eignungsprüfung erzielt hat. Es ist jeder und jedem von euch und unseren unglaublichen Lehrkräften anzurechnen, dass die besten und schlausten jungen Köpfe in Virginia weiterhin Interesse daran zeigen, das Feld der Kriminologie dynamischer und gleichberechtigter denn je zu gestalten.«
Er greift nach dem iPad, das seine Assistentin ihm reicht. »Gleich werde ich eure Anwesenheit feststellen und ausrufen, welcher Klassenlehrkraft ihr zugeteilt seid«, fährt er fort. »Aber vorher möchte ich euch daran erinnern, dass Bürgermeisterin Fox von Cape Cherry uns nach der Versammlung höchstpersönlich die Details des diesjährigen Großen Spiels verraten wird. Das wollt ihr bestimmt nicht verpassen.« Er strahlt seine Verlobte an, die mit eng über einer rosa Karojacke verschränkten Armen in der Ecke des Ballsaals steht.
»Ich glaube, irgendwer hat ihren Kaffee mit Zitronensaft versetzt«, flüstert Emi und zeigt auf die geschürzten roten Lippen der Bürgermeisterin. »Oder mit Cyanid.«
»Wie die Mutter, so die Tochter«, wispere ich zurück und werfe einen Blick zu Sierra. Als wir noch befreundet waren, fand sie es peinlich, dass ihre Mutter sich als Bürgermeisterin aufstellen ließ, aber jetzt sitzt sie kerzengerade auf ihrem Platz, als hätte sie Angst, Bürgermeisterin Fox könnte die Wahl im November verlieren, wenn jemand sie mit einem krummen Rücken erwischt.
Sitzt nicht neben ihrem Freund. Rote Locken sitzen perfekt, als hätte er zur Abwechslung mal nicht auf dem Parkplatz vor der Schule die Hände darin vergraben. Dicke Schicht Concealer unter den Augen.
Schlussfolgerung: Xavier und sie haben sich gestritten.
Während Dekan Whitaker die Namensliste alphabetisch abklappert, schnürt Emi ihre kniehohen Stiefel neu. Die Absätze sind so hoch, dass sie mindestens zehn Zentimeter größer wirkt, aber trotzdem ist sie noch kleiner als ich, obwohl ich überhaupt nicht groß bin.
Durchschnittliche Größe, durchschnittliche Statur, durchschnittliches braunes Haar und braune Haut. Nichts an mir ist auffällig, bis auf das Muttermal zwischen meinen Augen vielleicht, das aussieht wie ein Hase.
»Dulce Death Castillo«, ruft Dekan Whitaker, als er bei C ankommt. Er zieht die erste Silbe von »duul-say« in die Länge.
»Anwesend«, sage ich. Der blonde Schulwechsler blickt mit hochgezogenen Augenbrauen über seine Schulter, als wäre er sich nicht sicher, ob er meinen Zweitnamen richtig gehört hat. Meine Mom war nie gut genug in der Schule, um es auf die J. Everett zu schaffen, aber sie hat mich nach ihrem Lieblingsdetektiv benannt (Lord Peter Death Bredon Wimsey), in der Hoffnung, dass ich mehr Glück haben würde.
»Deine Klassenlehrerin ist Ms. Moss«, verkündet Dekan Whitaker und nickt dabei in meine Richtung.
Der Junge grinst mich entschuldigend an, bevor er sich wieder umdreht, als fühlte er sich schlecht, sich nicht dafür bedankt zu haben, dass ich ihn zum Ballsaal geführt habe. In Gedanken zeichne ich das Echo seines Lächelns nach.
Großspurig. Schief. Selbstbewusst.
Schlussfolgerung: Er und Emi passen zusammen.
»Emi Nakamura?«, sagt Dekan Whitaker ein paar Minuten später.
»Hier gegen meinen Willen!«, ruft sie und entlockt damit mehreren Anwesenden einen Lacher, darunter Rose, die spielerisch an einem von Emis Zöpfen zieht. Ich freue mich, als der Dekan sagt, dass Emis Klassenlehrerin ebenfalls Ms. Moss ist und sie nicht zusammen mit Rose Dr. Saka und ihrem Amphitheater voller toter Dinge zugeteilt wurde.
Nachdem Dekan Whitaker den letzten Namen aufgerufen hat, reicht er das iPad wieder seiner Assistentin. »Diejenigen von euch, die nicht bis zum Ende von Bürgermeisterin Fox' Präsentation bleiben wollen, können schon zum Frühstücksbuffet gehen«, sagt er. »Aber ihr solltet wissen, dass das diesjährige Preisgeld erheblich höher ausfällt als letztes Jahr, also wäre es in eurem besten Interesse, ihr zuzuhören.«
Trotz der Dollarnoten, mit denen er ihnen quasi vor der Nase herumwedelt, stehen mindestens hundert Schülerinnen und Schüler geräuschvoll auf und bringen in ihrer Eile, zum Ausgang zu kommen, die perfekten Reihen aus Hochzeitsstühlen durcheinander. Das ist die Sache mit Privatschulen: Viele hier sind so reich, dass ihnen frische Donuts wichtiger sind als Geld.
Als die anderen gegangen sind, lächelt Dekan Whitaker diejenigen von uns an, die noch immer im Saal sitzen. »Wie die meisten von euch wissen«, setzt er an; seine Stimme klingt jetzt, da weniger Körper im Ballsaal versammelt sind, noch lauter, »rief Dr. Everett die Tradition ins Leben, jedes Jahr ein raffiniertes Krimispiel zu veranstalten, um der Schülerschaft die Gelegenheit zu geben, ihr Gelerntes im Feld der Kriminologie praktisch zu erproben. Heute führt der Fox Family Trust, der großzügigerweise unsere Schule mitfinanziert« – er nickt Bürgermeisterin Fox zu, deren Lächeln aussieht, als würde es ihr Schmerzen bereiten, ihre Lippen zu strecken – »diese Tradition fort. Der Wettbewerb erfordert zwar eine nicht unerhebliche Zeitinvestition, aber er verspricht auch Belohnungen, die Bürgermeisterin Fox euch jetzt erklären wird.«
Die Jimmy Choos der Bürgermeisterin glänzen wie Blutlachen, als sie damit nach vorn stöckelt. Ihr Haar, genauso rot wie das ihrer Tochter, ist zu einem strengen French Bob geschnitten.
»Danke, Stan – ich meine, Dekan Whitaker – für diese Vorstellung«, sagt sie mit einer Stimme, die scharf genug klingt, um Glas zu schneiden. »James Everett und mein Vater waren ihr ganzes Leben lang beste Freunde, also habe ich in meiner Kindheit viel Zeit in diesem Haus verbracht. Einige meiner frühesten Erinnerungen sind, wie er in der Bibliothek saß und Pfeife rauchte, während er mir und Claire in seinem Ledersessel vorlas.«
»Vielleicht hat sie ja Claire Everett umgebracht«, flüstert Emi.
»Trotz des grausamen Verbrechens, das seiner Tochter das Leben raubte«, fährt Bürgermeisterin Fox fort, »verlor James Everett nie seine Liebe dazu, Krimispiele für seine Schülerinnen und Schüler zu veranstalten. Und deshalb beschloss ich nach seinem Tod vor zehn Jahren, das Große Spiel in seinem Andenken fortzuführen.« Sie verzieht das Gesicht, als würde sie das verabscheuen, was sie als Nächstes sagen wird. »Viele eurer Klassenkameraden sind gegangen, bevor sie die Höhe des Preisgelds hören konnten. Es wäre also schön, wenn ihr ihnen weitersagen könntet, dass der Vorstand, um mehr Beteiligung am Spiel zu fördern, beschlossen hat, dieses Jahr ein Preisgeld von dreißigtausend Dollar auszusetzen.«
Emi verschluckt sich vor Überraschung. »Das ist doppelt so viel wie letztes Jahr!« Ihre Stimme erhebt sich über das ungläubige Flüstern, das sich im Ballsaal verbreitet. »Das würde uns die ganze Reise bezahlen!«
»Welche Reise?«, fragt Rose und lehnt sich vor, als wäre sie ein Teil unseres Teams, was sie auf keinen Fall ist.
»Wir fliegen nächstes Jahr nach dem Abschluss nach England«, erklärt Emi. »Wir wollen Dorothy Sayers' Haus sehen und jeden Ort besuchen, an dem ein Lord-Wimsey-Buch spielt.«
»Klingt cool«, sagt Rose, aber es ist offensichtlich, dass sie unseren Plan nicht cool findet. Ich könnte erklären, dass es die Reise ist, die meine Mom geplant hatte und nicht mehr antreten konnte, aber das geht Rose überhaupt nichts an.
Dekan Whitaker tritt wieder ans Mikrofon, um alle zu beruhigen. »Die Spielpakete könnt ihr euch nach der Schule im Sekretariat abholen«, verkündet er. »Darin findet ihr Polizeiverhöre, Zeugenberichte, einen Autopsiebericht und Fotos von physischem Beweismaterial – alles, was ihr braucht, um den Mord des bald verstorbenen Tim Riggs aufzuklären.« Er lächelt. »Alles bis auf den Tatort selbst, über den einer oder eine von euch Unglückseligen bald stolpern wird.«
Vereinzeltes Kichern hallt von den Wänden wider. Der Reiz einer Leiche, selbst wenn sie nur gespielt ist, scheint jedes Jahr größer zu werden.
Dekan Whitaker nimmt einen Umschlag von Bürgermeisterin Fox entgegen. »Und jetzt der Moment, auf den ihr alle gewartet habt. Die Bestimmung der Leiche.«
Der gesamte Raum hält den Atem an. Emi klammert sich an mein Knie, als würde es uns vielleicht Glück bringen. Alle, die im vorherigen Jahr am Spiel teilgenommen haben, können als Leiche ausgewählt werden, und alle wollen die Leiche spielen, weil man zusätzliche Hinweise bekommt, um den Tatort wahrheitsgetreu nachzustellen. In mehr als 60 Prozent der Spiele gewinnt das Team mit der Leiche.
Dekan Whitaker öffnet den Umschlag und holt einen gefalteten Zettel hervor. »Und unser diesjähriges Opfer ist ...« Er faltet den Zettel auf. »Xavier Torres!«, ruft er, als würde er einen Oscar-Gewinner verkünden.
Xaviers Freunde brechen in Jubelgeschrei aus, als er zum Kopfende des Raums joggt, aber dazu mischen sich auch ein paar Buhrufe, darunter Emis. »Manipulation!«, ruft sie, nur halb zum Witz, aber niemand achtet auf sie. Nur der Schulwechsler dreht sich um und wirft Emi durch seine Sonnenbrille einen Blick zu.
Emi wirkt so anziehend auf Jungs wie Nektar auf Kolibris, also überrascht es mich nicht, dass sein Blick an ihr hängenbleibt. Erst als er bemerkt, dass ich ihn ansehe, beißt er sich auf die Lippe und dreht sich wieder zu Dekan Whitaker um. Er hat schöne Lippen, wie Tulpenblüten. Aber alles, was im Moment zählt, ist, dass Emi und ich nicht ausgewählt wurden.
»Warum nehmen sie nie uns?«, beschwere ich mich.
»Wir sind das kleinste Team.« Emi zuckt die Schultern und scheint ihren Protest schon wieder vergessen zu haben. »Das Glück ist nicht mit uns.«
Xaviers gegelte bronzefarbene Strähnchen und sein perfektes Lächeln strahlen um die Wette, als er wieder zu seinem Platz geht. In seinem marineblauen Pulli und der Anzughose sieht er aus wie ein puerto-ricanischer Popstar auf dem Weg zum Golfplatz. Als Sierra aufsteht, um ihm einen schnellen Kuss auf die Wange zu geben, zuckt sein markanter Kiefer.
»Ich habe schon tote Fliegen gesehen, die mehr Leidenschaft hatten«, bemerkt Emi.
Enzo Torres, Xaviers jüngerer Bruder, sieht genauso unbeeindruckt aus. Er ist die Gegenversion seines Bruders und alles, was er trägt, bis hin zu seinem stachelförmigen Augenbrauenpiercing, ist schwarz. Die Torres-Brüder können sich nicht ausstehen, also habe ich keine Ahnung, warum Sierra ihn in ihr Team gelassen hat. Vielleicht will sie mir unter die Nase reiben, dass er unser Team verlassen hat. Als würden wir seine Wutausbrüche vermissen.
»Ich hasse es, dass Sierra denkt, sie wäre besser als wir«, brumme ich zähneknirschend. »Versprich mir, dass wir nicht wieder gegen sie verlieren werden.«
Emi greift nach dem Magic-8-Ball-Schlüsselanhänger, der immer an ihrem Teddybär-Rucksack hängt, und schüttelt ihn heftig. »Werden Dulce und ich Sierra mit unseren krassen Detektivfähigkeiten zum Heulen bringen?«
Wir sehen dabei zu, wie das Dreieck träge in seiner Flüssigkeit herumschwimmt, bis es bei IT IS DECIDEDLY SO stehenbleibt.
»Siehst du? ›Es ist eindeutig so.‹« Sie nimmt meine Hand und ihre Plastikringe graben sich in meine Handfläche. »Dieses Jahr wird uns nichts als Regenbögen einbringen. Wir finden einen Forensikschüler, der hundertmal besser ist als Enzo.«
Bei ihren Worten dreht sich der Neue wieder um. »Bist du Detektivin?«, fragt er Emi.
Emi stützt sich mit den Ellbogen auf ihre Oberschenkel und beugt sich zu dem Neuen nach vorn, offensichtlich begeistert, dass er sie anspricht. »Dulce und ich sind die Lord Wimseys«, sagt sie und lehnt sich näher zu seinem Stuhlrücken.
»Die was?«
»Die Teams sind nach Detektivinnen und Detektiven aus Büchern benannt«, erklärt sie. »Die Liste war in der ›Willkommen zurück‹-E-Mail. Hast du sie nicht gesehen?« Als der Junge den Kopf schüttelt, sagt sie: »Die Miss Marples. Die Sherlocks. Die Lord Wimseys. So können wir das Spiel als Literaturkurs anrechnen lassen.« Sie nickt mit dem Kopf in meine Richtung. »Aber wir sind das einzige Team aus nur zwei Detektivinnen.«
»Wie funktioniert das?«, fragt er.
»Dulce sammelt Fakten und ich lese Emotionen.«
Der Junge grinst. »Du weißt, was ich fühle?«
»Natürlich, Neuer«, entgegnet Emi. »Du bist nervös, aber nicht zu nervös, weil du groß und gut aussehend bist und weißt, dass du überall beliebt sein wirst. Aber du machst dir auch Sorgen, dass deine Kurse in der öffentlichen Schule dich nicht auf die akademischen Anforderungen an dieser Schule vorbereitet haben.«
Der Junge zieht die Augenbrauen hoch. »Wie kommst du darauf, dass ich nicht von einer anderen Privatschule komme?«
Emi zeigt auf mich, und ich übernehme.
»Du bist zu sehr herausgeputzt«, erkläre ich. »Du hast deine Kleidung nach der Vorstellung einer Privatschule ausgesucht, nicht nach der Realität.«
»Du solltest vielleicht das Sakko ausziehen.« Emi grinst.
Unbeirrt und immer noch lächelnd zieht er das Sakko aus und stopft es in seinen Rucksack. »Ich würde nicht gegen euch zwei spielen wollen.«
»Du solltest dir schnell ein Team suchen«, rät Emi. »Sonst bleiben dir nur lauter Freshmen übrig. Welches Profil hast du gewählt?«
Bevor der Junge antworten kann, läutet die Schulglocke und Dekan Whitaker ruft: »Frohes Spurensuchen euch allen!«, während die Leute um uns herum sich ihre Taschen schnappen und aufstehen. Der neue Schüler grinst Emi und mich ein letztes Mal an und geht dann zu seiner Klasse bei ...
Ich runzele die Stirn. Warum kann ich mich nicht erinnern, bei wem er Klassenunterricht hat?
Leise Alarmglocken läuten in meinem Hinterkopf, als mir klar wird: Dekan Whitaker hat seinen Namen nicht aufgerufen.
Als mein Dad und ich für unser montägliches Abendessen bei Maldonado's Pizza ankommen, werden wir von Beth Calhoun, der Tochter des Sheriffs, zu einem Tisch mit zwei roten Lederbänken geführt. Technisch gesehen ist sie Sierras Stiefschwester (Sheriff Calhoun war mit Bürgermeisterin Fox verheiratet, als wir jünger waren), aber obwohl ich zahllose Tage bei Sierra verbracht habe, kenne ich Beth und ihre Schwester überhaupt nicht, weil sie nach der Scheidung bei ihrer Mutter geblieben sind.
In der Middle School war Sierra von der Vorstellung besessen, Schwestern zu haben, also gründeten wir eine Fantasie-Detektivagentur namens Death & Fox Investigations, um »den Fall von Beth und Averys Mom, die sie gekidnappt hat« zu lösen. Das war der einzige Grund, der uns einfiel, weswegen die beiden nicht in das Fox-Herrenhaus hatten ziehen wollen. Durch eine nicht besonders aufregende Befragung von Bürgermeisterin Fox fanden wir heraus, dass Beth und Avery bei ihrer Mom wohnten, weil sie nach der Scheidung das Sorgerecht bekommen hatte.
Ich hätte gerne geglaubt, dass eine tragische Vergangenheit der Grund für die unverhohlene Feindseligkeit ist, mit der Beth uns die Speisekarten auf den Tisch wirft und auf dem Absatz kehrtmacht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie die J. Everett High einfach genauso sehr hasst wie ihr Vater.
»So ein nettes Mädchen«, sagt mein Dad theatralisch und legt sich die Hand auf die Brust, während er Beth dabei zusieht, wie sie eine andere Familie zu ihren Plätzen führt. »Wir sind ganz offensichtlich ihre Lieblingsgäste. Vermutlich bringt sie uns gleich Getränke aufs Haus.«
»Oder vielleicht einen Gratisnachtisch«, ergänze ich.
»Oder einen niedlichen Hundewelpen.« Er lacht.
Buschiger schwarzer Bart. Runder Bauch. Immer fröhlich.
Schlussfolgerung: Mein Dad ist ein junger, mexikanischer Weihnachtsmann.
»Heute Abend schlagen wir Rocco endlich, conejita«, beteuert mein Dad mit vor Aufregung zitterndem Schnurrbart. Ich zucke innerlich davor zurück, Häschen genannt zu werden, der Spitzname, den Mom mir als Kind gegeben hat. Dad nennt mich immer noch so, obwohl mein Muttermal mittlerweile viel heller geworden ist. »Ich denke schon die ganze Woche darüber nach. Die Zutaten, die ich mir ausgedacht habe, hat er auf keinen Fall.«
Die Boardshorts eines Kellners erscheinen an meinem Ellbogen. »Willkommen bei Maldonado's, mit der käsigsten Pizza in ganz Cape Cherry«, ertönt es von irgendwo über mir. »Was kann ich euch heute Abend bringen?«
»Zwei Sprites, bitte«, bestelle ich. »Und die hier brauchen wir nicht.« Ich will dem Kellner unsere Speisekarten geben, aber sie rutschen mir aus den Fingern und fallen zu Boden. Wir bücken uns gleichzeitig nach ihnen und stoßen fast mit den Köpfen zusammen.
»Tut mir leid ...«, sage ich, aber dann halte ich inne, als ich sein Gesicht sehe. Er kommt mir bekannt vor, obwohl ich mir sicher bin, dass er noch nie unser Kellner war. Er trägt eine Kette aus winzigen Glasperlen, so wie alle Surfer hier, und die Form seiner Lippen ist irgendwie schön. Aber seine Augen ziehen all meine Aufmerksamkeit auf sich. Eins ist blau-grün und das andere ist braun. Heute Morgen waren sie noch hinter einer Sonnenbrille versteckt.
»Hey«, sage ich. »Du warst bei der Schulversammlung.«
»Und du bist das Mädchen, das mit Statuen redet«, entgegnet er, und seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Ich bin überrascht, dass er mich wiedererkennt. Ich dachte, über dem Trubel, Emi kennenzulernen, würde er meine Existenz ganz vergessen. Sie hatte den gesamten restlichen Tag davon geredet, wie heiß er sei und sogar den Vortrag unserer Englischlehrerin unterbrochen, um mir zu zeigen, dass ihr Magic 8 Ball versprochen hatte, der Neue würde sie auf dem Giftmörderfest küssen. »Ich bin gerade von der Cape Cherry High gewechselt«, fügt er hinzu. »Du weißt schon, von der öffentlichen Schule.«
»Muss ein Last-Minute-Wechsel gewesen sein«, bemerke ich. »Sonst hättest du auf der Anwesenheitsliste gestanden.«
Er kratzt sich am Hals und hinterlässt dabei pinke Fingernagelspuren. »Äh, ja, war es.«
Mein Dad räuspert sich, als wäre ihm nicht klar, was das alles mit unserem Abendessen zu tun hat, und der Junge holt einen Notizblock aus seiner Schürze.
»Wenn ihr keine Speisekarten braucht, dann seid ihr wohl Stammgäste?«, fragt er und setzt die Spitze seines Kugelschreibers auf das Papier. »Was bekommt ihr?« Er ahmt bei der Frage einen Akzent nach, als wäre er James Bond, und bestätigt damit meinen ersten Eindruck von ihm: Er ist extrovertiert und hält sich für charmant.
»Wir haben ein Spiel, das wir mit dem Besitzer spielen«, fängt mein Dad an, aber der Junge unterbricht ihn sofort.
»Oh, ihr seid das also!« Anscheinend hat Rocco ihm schon von uns erzählt. »Mit welchen zwei Belägen fordert ihr uns heute heraus?«
Mein Dad kennt Rocco aus der Highschool, und nachdem meine Mom gestorben war, schlug Rocco vor, dass wir alle ein Spiel zusammen spielen. Jede Woche bestellen wir zwei Beläge, und wenn er sie nicht vorrätig hat, bekommen wir unsere Pizza umsonst.
Rocco hat drei Regeln: Unsere Wahl muss pflanzlicher oder tierischer Herkunft sein. Sie darf nicht ausgestorben oder vom Aussterben bedroht sein. Und sie darf nicht illegal, selten oder unerschwinglich sein, weswegen die Pizza mit Schwarzkehl-Seebarsch und Kaviar, bei der ich meinen Dad letztes Jahr angefleht hatte, sie nicht zu bestellen, disqualifiziert wurde.
»Sag Rocco, wir wollen eine Pizza mit Cornish Game Hen und frischer Yuzu-Rinde«, sagt mein Dad.
»Igitt«, murmle ich.
»Eine Pizza mit Vogel und Obst, kommt sofort«, nickt der Junge und klickt mit seinem Kugelschreiber. Dann zwinkert – zwinkert! – er mir zu und geht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir in meinem ganzen Leben noch kein Typ zugezwinkert hat. Ich weiß nicht, ob ich es mögen oder hassen soll.
Beth Calhoun kommt zu uns und donnert unsere Sprites auf den Tisch. Sie grinst schadenfroh, als sie überschwappen und sich über die karierte Tischdecke ergießen. Das Grinsen verwandelt sich in ein kokettes Lächeln, sobald sie wieder zu dem Jungen aus der Schule geht, der gerade unsere Bestellung in einen Computer eingibt. Entfernt registriere ich, wie sie mit den schwarzen Bändern an seiner Schürze herumspielt, während er tippt.
Er ist gutmütig. Mag Neues. Flexibel.
Schlussfolgerung: Er ist das Gegenteil von mir.
Emi und ich spielen das Große Spiel zusammen, weil wir gemeinsam einen perfekten Wimsey ergeben: Sie hat seine schillernde Persönlichkeit und ich webe die Fakten, die ich sammle, zu einer Art mentalem Mosaik, das ich jederzeit ansehen kann. Manchmal wünsche ich, mir würde nicht so viel auffallen – wie zum Beispiel die knallroten Buchstaben auf den Krankenhausrechnungen, die mein Dad immer vor mir versteckt. Ich habe Emi noch nicht gesagt, dass unsere Reise nach England, wenn wir das Preisgeld nicht gewinnen, so weit außerhalb unserer Reichweite sein wird wie der Mars.
Als die Minuten vergehen und immer noch keine Pizza kommt, wird Dads Lächeln immer breiter. Ich kann geradezu sehen, wie er die Siegesrede vorbereitet, die er vor Rocco halten wird. Ich schaue mich über die Schulter nach dem Jungen um, und dabei fällt mir ein mittelalter Mann mit einem Cowboyhut auf, der uns böse anstarrt. Zum Glück ist mein Dad zu sehr mit der Pizza-Herausforderung beschäftigt, um seinen Todesblick zu bemerken.
Es ist mittlerweile zwei Jahre her, seit Sheriff Calhoun bekanntgegeben hat, dass meine Mutter bei ihrem Zusammenstoß mit Deputy Armstrong betrunken gewesen ist. Aber Kleinstädte vergeben nicht schnell – selbst, wenn die Geschichte, die erzählt wurde, gelogen ist. Vielleicht gerade dann.
Fünfzehn Minuten später schiebt der Junge aus der Schule eine brutzelnde Pizza auf unseren Tisch. Game Hen und Yuzu-Rinde.
»Netter Versuch, Jorge«, ruft Rocco vom anderen Ende des Restaurants, wo er gerade einen Teigfladen in der Luft herumwirbelt.
Mein Dad starrt auf die Pizza – der nackte Schock steht ihm ins Gesicht geschrieben. »Aber im Supermarkt gibt es keine frische Yuzu! Ich habe extra nachgeguckt!«
»Vielleicht sollten wir aufgeben«, schlage ich vor. »Ich glaube nicht, dass wir jemals gewinnen werden.«
»Ich gebe niemals auf.« Dads Bauch stößt fast seine Sprite um, als er von seiner Bank rutscht. »Ich muss herausfinden, wie Rocco das hinbekommen hat.«
Nachdem mein Dad gegangen ist, starrt der Junge mich mit einem gerissenen Lächeln an. »Kommst du dahinter, wie wir es geschafft haben?«
»Oh, ähm ...«, stottere ich.
Die letzte Person, die mir am Esstisch ein Rätsel vorgesetzt hat, war meine Mom. Seit sie gestorben ist, erstarre ich immer wie ein Hase im Scheinwerferlicht, wenn jemand etwas tut, das mich an sie erinnert.
»Ich ...«
Der Junge sieht mittlerweile so aus, als wünschte er, er hätte nicht gefragt, aber zum Glück löst sich mein Körper in dem Moment wieder aus seiner Starre.
»Ja«, antworte ich. »Sesseldetektivarbeit ist einfach.«
»Okay, dann beeindrucke mich.«
Roccos Pizza braucht zwölf Minuten im Ofen. Der Junge hat die Pizza eine halbe Stunde, nachdem wir bestellt haben, an unseren Tisch gebracht. Aus seiner Tasche lugt eine Busfahrkarte, also ist er nicht mit dem Auto zur Arbeit gefahren.
Schlussfolgerung: Er hat die Yuzu in einem Umkreis von weniger als zehn Minuten Fußweg gekauft.
Ich war diejenige, die Emi im Freshman-Jahr Lord Wimseys Methoden vorgeschlagen hat, und seitdem hämmere ich sie ihr in den Kopf: Ignoriere die Motive und die Psychologie. Vergiss die Gerüchte und das Warum. Finde heraus, wie etwas getan wurde, und du findest heraus, wer es getan hat.
Die Lösung des Rätsels, das der neue Junge mir gestellt hat, erscheint vollständig in meinem Kopf: Yuzu kommt aus Japan. Diese Information habe ich einem Buch über Lebensmittel zu verdanken, die giftig für Penny sein könnten. Penny ist eine Straßenkatze, die bei schlechtem Wetter bei uns schläft.
»Das Sushirestaurant drei Blocks weiter«, erkläre ich und überkreuze dabei unter dem Tisch die Finger, weil ich wirklich nicht vor dem Jungen versagen will. »Da benutzen sie bestimmt frische Yuzu.«
Ein Lächeln breitet sich langsam auf den Lippen des Jungen aus. »Wow«, sagt er.
»Liege ich richtig?«, frage ich.
»Sie benutzen sie für ihre Cocktails.« Er lässt sich auf dem Platz meines Dads nieder, als wäre ihm unser Gespräch wichtiger als die Chance auf Trinkgeld von anderen Gästen.
»Das hättest du bestimmt auch erraten können«, sage ich. »In der J. Everett wird nicht einfach jeder angenommen.«
»Da ist dein erster Fehler«, entgegnet er und sieht mich unter seinen langen blonden Wimpern mit unnötiger Intensität an. »Ich habe nicht das Detektiv-Profil gewählt.«
»Journalismus?«, frage ich und bereue meine Vermutung sofort. Er hat zwar den Nachrichtensprecher-Look, aber der oberflächliche Charme von Fernsehstar-Wannabes wie Xavier Torres übertüncht normalerweise ein wahres Säurefass aus Unsicherheit, und die Selbstsicherheit dieses Jungen wirkt nicht gespielt.
»Forensik«, entgegnet er und spielt dabei mit seinem Stift herum. »Ich will Arzt werden.«
Mein Magen zieht sich zusammen, aber das könnte auch von dem Geruch der Game Hen und der Yuzu sein. Ein Schüler aus dem Forensik-Profil ist genau das, was die Lord Wimseys brauchen.
Das Problem ist: Das letzte Mal, als wir einen Jungen ins Team eingeladen haben, den Emi mochte, haben wir Enzo bekommen. Ich wünschte, ich hätte mein Handy dabei, um Emi zu schreiben und sie zu dem Versprechen zu zwingen, diesen Jungen nicht zu einer Riesenablenkung werden zu lassen. Wenn ich bis morgen warte, sind die Chancen hoch, dass er schon vergeben ist. Jedes Team ist verpflichtet, mit jemandem aus dem Forensik-Profil zu spielen, und es ist das Profil, für das sich die wenigsten Schülerinnen und Schüler entscheiden. Ich knirsche mit den Zähnen, genervt, dass ich die Entscheidung selbst treffen muss.
Normalerweise habe ich ein gutes Gespür für Menschen. Ich bemerke immer, wenn sie lügen oder einfach scheiße sind. Ein bisschen wie ein Golden Retriever. Aber irgendwie kann ich es bei ihm nicht. Er strahlt zwei verschiedene Vibes aus, so verschieden wie seine Augen. Seine Gutmütigkeit wirkt echt, aber er hat auch etwas Distanziertes an sich, als würde er einen Teil von sich hinter seinem Lächeln verstecken.
Andererseits haben wir alle Geheimnisse. Teile von uns, die wir tief vergraben. Ich schaue in sein blau-grünes Auge und sehe die Unberechenbarkeit des Ozeans: wie das Wasser einen so sanft nach draußen zieht, dass man gar nicht merkt, wie weit man vom Ufer entfernt ist, bis es schon zu spät ist. Und dann ist da sein braunes Auge, das aussieht wie die Mitte einer Sonnenblume. Warm, mit einem starken Stängel. Immer zum Licht strebend.
Er zeigt auf mein Glas. »Möchtest du noch eine Sprite? Ich kann Grenadine dazumischen, wenn du Shirley Temples magst.«
Seine Nettigkeit regt etwas in meinem Gehirn an, das die Entscheidung für mich trifft.
»Emi und ich brauchen noch jemanden aus dem Forensik-Profil«, erzähle ich ihm. »Laut den Regeln können Teams bis zu acht Mitglieder haben, aber Emi und ich haben beschlossen, nie mehr als drei zu sein. Wenn wir gewinnen, bekommst du also garantiert ein Drittel des Preisgelds. Zehntausend Dollar.«
Die kräftigen Augenbrauen des Jungen ziehen sich zu einem verwirrten Stirnrunzeln zusammen. »Du lädst mich in euer Team ein? Einfach so?«
Mein Gehirn rudert hastig zurück. So wie er Emi bei der Schulversammlung angelächelt hat, dachte ich, er würde diese Chance sofort ergreifen, aber vielleicht habe ich ihn falsch eingeschätzt.
»Willst du mich denn gar nicht prüfen?«, hakt er weiter nach.
»Oh, stimmt, ja.« Seine Anwesenheit hat meinen Sinn für Korrektheit ganz durcheinandergebracht. »Was ist der wahrscheinlichste Grund für einen Zungenbeinbruch?«, frage ich. Es ist die erste medizinische Frage, die mir einfällt.
Er antwortet wie aus der Pistole geschossen. »Erwürgen.«
»Gut genug für mich«, sage ich. »Willst du mit uns spielen?«
Er beißt sich auf die Oberlippe und zieht die Karos auf der Tischdecke mit einem Finger nach. Er sagt Nein, wird mir auf einmal klar, und mein Herz wird schwer. Ich hätte auf Emi warten sollen. Sie hätte das Angebot verlockender machen können. Von den spaßigen Teilen des Wettbewerbs erzählen können. Das hätte einen Typen wie ihn eher gereizt als meine Fakten.
Dann lächelt er, und mein Herz schwebt wieder in meine Brust hinauf. »Klar, warum nicht?«, sagt er.
»Echt?«
Er lacht über meinen überraschten Tonfall. »Aber nur, wenn du mir verrätst, warum ihr diesen Duke-of-Wimsey-Typen ausgesucht habt«, grinst er. »Ich habe noch nie von ihm gehört.«
»Lord Wimsey«, korrigiere ich ihn. Ein plötzliches Unbehagen lässt mich zögern. Es ist immer unangenehm, zu erklären, warum ich Wimsey liebe, weil ich nicht über ihn reden kann, ohne meine Mom zu erwähnen. Das ist ohnehin schon schwer genug, aber da der Junge vorher auf die Cape Cherry High gegangen ist, hat er vielleicht schon die beschissene gelogene Geschichte von ihrem Tod gehört – darüber, wie sie gestorben ist.
In der Hoffnung, dass er die Lokalnachrichten nicht verfolgt, rede ich weiter. »Meine Mom war ein Riesenkrimifan«, erkläre ich und sehe dabei zu, wie er meine Nutzung der Vergangenheitsform verdaut. Die Haut um seine Lippen zieht sich etwas zusammen, aber ansonsten reagiert er nicht. »Mein Dad musste unsere Garage zu einer Bibliothek umbauen, weil sich an jeder Wand in unserem Haus die Taschenbücher stapelten. Er hat ihr sogar eine Rollleiter gebaut, damit sie so tun könnte, als wäre sie Belle aus Die Schöne und das Biest.« Der Junge lächelt auf eine unkomplizierte Art, die verrät, dass er nicht von dem Autounfall oder Sheriff Calhouns Hetzkampagne gegen meine Familie gehört hat. »Früher hat sie mir als Gutenachtgeschichten immer Bücher über Wimsey vorgelesen, obwohl mein Dad meinte, sie würden mir zu viel Angst einjagen.«
»Und, haben sie das?«
»Oh ja.« Ich spüre einen kleinen, schmerzlichen Stich in der Brust. »Aber ich habe es ihr nie gesagt, weil ich nicht wollte, dass sie aufhört.«
Warum liest du ihm nicht gleich dein Tagebuch vor, Dulce?
»Auf jeden Fall«, rudere ich schnell von dem viel zu persönlichen Thema zurück, »hat sie sie mir so oft vorgelesen, dass der erste fiktive Charakter, der sich wie mein Freund angefühlt hat, ein reicher, britischer Lord war, der als Hobby Mordfälle löst.« Ich schnaube. »Auch wenn alle anderen in der Schule ihre Teams lieber nach Detektivinnen oder Detektiven benennen, die ihre eigenen Fernsehserien haben.«
»Komm schon, die letzte Sherlock-Serie war gut«, wirft er ein.
Ich rümpfe die Nase. »Sherlock ist brillant, aber er behandelt Leute wie Dreck. Wimsey dagegen ist nett.« Wie du, füge ich in meinem Kopf hinzu und denke an sein Angebot, mir einen Shirley Temple zu machen. »Und fair, und einfühlsam ...«
Er unterbricht mich mit einem Lachen. »Okay, du hast mich überzeugt«, sagt er. »Ich schwöre Duke ... Lord Wimsey ... unsterbliche Treue, egal, mit wie vielen fancy Netflix-Serien meine Mitschüler mich locken.«
Ich kichere und grunze dabei aus Versehen laut, was die Augenbrauen des Jungen in die Höhe schießen lässt. Mit Wasserspeiern reden und grunzen wie ein Schwein. Ich hab's echt drauf, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen. Um die Peinlichkeit zu überspielen, senke ich den Kopf und suche in meinem Rucksack nach einem Stift, sodass ein dunkler Vorhang aus Haaren mein Gesicht verbirgt. Als ich endlich meinen schwarzen Marker finde, schreibe ich meine Handynummer auf eine Serviette.
»Ich benutze mein Handy nicht oft, aber wenn du mir morgen schreibst, schicke ich dir die Details zu unserem ersten Treffen«, sage ich. Mittlerweile habe ich meine Gefühle wieder unter Kontrolle. Bevor ich die letzte Ziffer aufschreibe, halte ich inne. »Ich weiß, dass ich ein bisschen ...« Ich überlege, wie ich es ausdrücken soll. »Was ich meine, ist: Ich weiß, dass Wimsey wie ein Simp klingt, aber Emi und ich sind hardcore. Wir spielen, um zu gewinnen.«
Seine Miene ist undurchdringlich. »Hardcore passt für mich.«
»Okay, gut.« Meine Finger zittern ein bisschen, als ich meine Nummer zu Ende schreibe und ihm die Serviette reiche.
Der Junge starrt sie ein paar Sekunden lang an, als würde er nach einem versteckten Geheimcode suchen. Dann steht er auf und stopft sie in seine Hosentasche. »Bis morgen«, sagt er und salutiert.
Als er zurück zur Küche geht, wird mir klar, dass ich aufhören muss, von ihm als der Junge zu denken, als wäre er der einzige Junge auf der Welt. »Wie heißt du?«, rufe ich ihm hinterher.
Er dreht sich um. Beide seiner ungleichen Katzenaugen sind auf mich fokussiert, als wäre ich das Zentrum des Universums. »Zane«, sagt er sanft.
Mein Herz trommelt gegen meine Brust wie ein panischer Hase. Lord Wimsey löst Fälle zusammen mit einer Frau, die er vor einer Verurteilung wegen Mordes gerettet hat. Ihr Name ist Harriet Vane.
Vane. Zane. Das kann nur Schicksal sein.
Ein paar Tage nach Semesterbeginn schiebt Emi mir im Unterricht einen Zettel zu.
»Fast hätte ich's vergessen«, sagt sie. »Das hat Dekan Whitaker mir vorhin gegeben.«
Dann schnippt sie weiter mit dem Fingernagel gegen eine Zimbel. Ms. Moss unterrichtet das Schulorchester, also sind unsere Stühle von Notenständern und Schlagzeugen umgeben. Emi ist nicht die Einzige, die an den Instrumenten herumspielt, weswegen man die morgendlichen Ankündigungen nur schwer hören kann. Sie werden über eine Sprechanlage abgespielt, die – ohne Witz – von Dr. Everett eingebaut wurde, um dem Geist seiner ermordeten Tochter einen Weg zu geben, mit dem Diesseits zu kommunizieren. Er ist dafür verantwortlich, dass seit Jahrzehnten Gerüchte umgehen, Claire würde in der Schule spuken. Auf meiner letzten Geburtstagsfeier hat Emi meinem Dad erzählt, dass sie Claires Geist in der Bibliothek gesehen habe, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ihn nur veräppeln wollte. Mein Dad ist so abergläubisch, dass er das Haus bei jedem Vollmond mit Salbei räuchert und sich bekreuzigt, sobald die schwarze Katze Penny bei uns auftaucht.
Ich falte den Zettel auf. Oben auf dem Briefpapier sind der Name und Titel des Dekans eingeprägt. Es sieht teuer aus, und es würde mich nicht überraschen, wenn es ein Geschenk von Bürgermeisterin Fox gewesen wäre.
Dulce, bitte komm nach der Schule in mein Büro. – DW
Ich drehe den Zettel um, in der Hoffnung, dass auf der Rückseite noch etwas steht, aber da ist nichts.
»Es muss wegen des Praktikums sein, oder?«, frage ich.
»Na klar.« Emis Fingernagel an der Zimbel klingt wie ein Soundeffekt aus einem Horrorfilm. »Niemand bewirbt sich je auf das Praktikum in der Gerichtsmedizin. Leichen. Köpfe aufsägen. Was für ein Psycho würde gerne ein ganzes Semester in dem muffigen Keller verbringen?«
Dulce Dahmer. So hat Emi mich den ganzen Sommer über genannt. Als wäre ich irgendeine Serienmörderin, nur weil ich mich darum beworben habe, Dr. Bates als Junior-Praktikantin bei Autopsien zu helfen. Sie weiß nichts von meinem Plan, meinen Zugang zu der Gerichtsmedizinerin dazu zu benutzen, mehr über den Tod meiner Mutter herauszufinden. Ich bin mir absolut sicher, dass der Sheriff Dr. Bates' Bericht gefälscht hat, um es so aussehen zu lassen, als sei meine Mom betrunken gewesen, als Deputy Armstrong von hinten auf ihr Auto auffuhr. Und ich will es beweisen.
»Warum macht sie ihr Make-up nicht zu Hause?« Emi runzelt die Stirn und sieht zu Ms. Moss, die gerade den Bildschirm des Fernsehers, der dunkel an der Wand hängt, als Spiegel benutzt, um ihren Lippenstift aufzutragen. Sie ist erst nach dem Klingeln in den Musikraum gehastet und dabei in ihrer Eile mit dem Gitarrenkoffer am Türrahmen hängengeblieben. Die Schülerinnen und Schüler machen sich über sie lustig, weil sie so unorganisiert ist, aber sie kennen ihre Lebensgeschichte nicht so wie ich.
Der Club der toten Mütter. Eine schreckliche Gemeinsamkeit, aber wenigstens kann ich mit ihr über den Autounfall meiner Mom reden – anders als mit meinem Dad. Er glaubt, dass das Leben voller Regenbögen ist, wenn man die stürmischen Wolken ignoriert; aber in Wirklichkeit hat man dann einfach keinen Regenschirm, wenn es anfängt zu schütten.
»Sie hat mir erzählt, dass es Ewigkeiten dauert, morgens ihre Zwillinge fertig zu machen«, sage ich.
Emi rümpft die Nase. »Erinnere mich daran, nie diesen Fehler zu begehen.«
Ich versuche mir vorzustellen, wie Emi hinter zwei Kleinkindern herrennt, und muss lachen. Im Gegensatz zu Ms. Moss mit ihren weichen Rundungen, ihrer freundlich-fröhlichen Stimme und den süßen Kinderliedern, die sie auf ihrer Gitarre spielt, ist Emi ungefähr so mütterlich wie ein Schwert. Mal abgesehen davon, dass ihr Liebesleben am ehesten einer ewig rotierenden Drehtür gleichkommt.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du dafür erst mal einen Typen für mehr als zwei Wochen mögen müsstest.« Ich grinse. »Vielleicht müsstest du dich sogar verlieben.«
»Ein Schicksal, schlimmer als der Tod«, entgegnet sie. »Ich bleibe bei Klamotten und Katzen als Gesellschaft, danke.« Sie schielt zu ihrem Magic-8-Ball-Schlüsselanhänger, als müsste sie wieder an seine letzte Vorhersage denken. »Zane könnte allerdings süß genug sein, um drei Wochen zu halten.«
Ich habe Zane seit Montag ein paarmal im Flur gesehen, und obwohl ich definitiv verstehen kann, dass Emi sich von ihm angezogen fühlt (Hypnotische Augen. Schöne Lippen. Wuschelhaare, deren Farbe an Weizenfelder erinnert. Schlussfolgerung: total süß.), ist der Wettbewerb viel zu wichtig, um sich durch bloße Verknalltheit davon ablenken zu lassen. Schon seit Tagen versuche ich dies Emi vor unserem ersten Teamtreffen heute Nachmittag einzutrichtern.
»Zane ist tabu«, erinnere ich sie. Eine dunkle Vorahnung beschleicht mich. »Es würde die Gruppendynamik ruinieren, wenn du ihn datest. Du wirst ihm total das Herz brechen, und dann verlässt er entweder das Team oder wird vor lauter Liebeskummer komplett nutzlos. Wir brauchen nicht noch einen Enzo.«
»Emi, die Herzensbrecherin«, grinst sie und zeichnet auf ihrem iPad ein Herz um den Namen Zane. Dann skizziert sie noch Teufelshörnchen dazu. Als sie mein entsetztes Gesicht sieht, zwinkert sie. »Entspann dich. Ich lasse ihn schon ganz. Versprochen.«
Aus irgendeinem Grund beruhigt mich das nicht.
Nach dem letzten Klingeln der Schulglocke betrete ich mit einem aufgeregten Pochen im Hals Dekan Whitakers Büro. Doch sobald ich seine Miene sehe, stürzt meine Stimmung ins Bodenlose.
Zusammengepresste Lippen. Hohle Wangen. Gefurchte Augenbrauen.
Schlussfolgerung: So sieht niemand aus, der mich zu meinem Praktikumsplatz in der Gerichtsmedizin beglückwünschen will.
Ich überlege fieberhaft, was ich falsch gemacht haben könnte. Habe ich das Bewerbungsschreiben vermasselt? Vergessen, meinen persönlichen Essay anzuhängen? Oder noch schlimmer: Hat Dr. Bates die 1- gesehen, die ich im Freshman-Jahr in Biologie bekommen habe, und beschlossen, dass ich nicht qualifiziert bin?
»Setz dich, Dulce«, sagt Dekan Whitaker, aber ich bleibe wie angewurzelt in der Tür stehen, als könnte er mir keine schlechten Neuigkeiten mitteilen, während ich fünf Meter weit weg stehe. Mein Blick schnellt in seinem Büro umher. Alte Lederbände auf dunklen Holzregalen säumen die Wände, an denen Dutzende Fotos von Dekan Whitaker hängen, wie er Berge erklimmt und mit dem Motorrad durch die Wüste fährt. Selbst in meinem aufgewühlten Zustand nehme ich einen schwachen Rauchgeruch wahr, als hätte er Dr. Everetts Gewohnheit angenommen, Pfeife zu rauchen.
»He-hem.« Er deutet auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Ich schlurfe darauf zu, als würde ich gerade über die Planke gehen, setze mich hin und warte auf das Unausweichliche.
»Es tut mir leid, Dulce«, beginnt er mit seiner tiefen Stimme, die Emi immer nachmacht, wenn sie auf Partys zu high ist. »Das Praktikum in der Gerichtsmedizin ist bereits besetzt.«
»Aber wie?«, flüstere ich, während um mich herum all meine Pläne zusammenstürzen. »Sie haben gesagt ...« Ich werde rot. Ich will ihm nichts vorwerfen, auch wenn er mir absolut, ohne jeden Zweifel, versichert hat, dass ich mich nirgendwo sonst bewerben müsse, weil ich das Praktikum auf jeden Fall bekomme. Du hast es quasi schon in der Tasche, hatte er mir versichert, als ich am Ende des letzten Schuljahrs meine Bewerbung bei ihm abgab. Damals war ich dankbar für das Kompliment, weil ich mir nicht sicher gewesen war, ob er wusste, wer ich bin. Er ist mir schon immer so einschüchternd vorgekommen, wie eins der gemeißelten Gesichter am Mount Rushmore.
»Ich habe dir das Praktikum versprochen«, fährt er fort und erkennt mit einem Nicken seine Verantwortung an. »Ich weiß.« Er schiebt seinen Laptop zur Seite und trommelt mit den Fingern auf den Schreibtisch, als würde er Mozart spielen. »Sheriff Calhoun hat meine Empfehlung übergangen und das Praktikum in letzter Sekunde an den Sohn der Gerichtsmedizinerin vergeben. Ich kann es kaum erwarten, bis Lily wiedergewählt wird, damit ich aufhören kann, ihm in den Ar...« Er verstummt, als wäre ihm gerade klar geworden, dass er diesen Satz vor einer Schülerin lieber nicht beenden sollte. »Was ich meine, ist, dass ich leider nichts dagegen tun kann.«
An jedem anderen Tag hätte es mir Sorge bereitet, dass der Sheriff Anstrengungen unternimmt, damit sein Cousin – dessen Wahlslogan lautet: »Cape Cherry muss rein bleiben« – die Bürgermeisterwahl gewinnt. Aber im Moment muss ich all meine Energie darauf konzentrieren, zu verhindern, dass die Tränen, die hinter meinen Augen brennen, auf die goldenen, spielwürfelförmigen Briefbeschwerer des Dekans tropfen. Zuerst hat der Sheriff die Wahrheit über den Tod meiner Mutter gestohlen; jetzt stiehlt er mir die Möglichkeit, die Wahrheit darüber herauszufinden.
»Ich finde bestimmt einen anderen Platz.« Ich versuche, meine zitternde Stimme enthusiastisch klingen zu lassen, als würden Praktika auf Bäumen wachsen und man müsste sich nicht Monate im Voraus auf sie bewerben. »Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.«
Dekan Whitaker schnaubt. »Hör auf, dich so höflich in dein Schicksal zu ergeben, Dulce«, sagt er. »Ich bin noch nicht fertig.« Er nimmt einen der Briefbeschwerer-Würfel in die Hand und dreht ihn hin und her. »Ms. Moss war gerade in meinem Büro, als der Sheriff heute Morgen angerufen hat, und sie hat mich davon überzeugt, dass wir eine leistungsstarke Schülerin wie dich nicht ohne Praktikum dastehen lassen können. Also, hier ist mein Vorschlag: Ich kann dir einen Einzelkurs anbieten, in dem ich mit dir dasselbe Material wie in dem Gerichtsmedizin-Praktikum durchnehme. Er wird keine Praxiskomponente haben, aber« – er verzieht das Gesicht – »aus meiner Erfahrung im Medizinstudium ist es vielleicht auch besser so.« Er deutet mit dem Kinn auf die Bücher hinter sich, aber der einzige Name, den ich kenne, ist Freud. »Ich bin aus gutem Grund Psychiater statt Chirurg geworden.«
Als ich nicht antworte, zieht er die Augenbrauen hoch.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragt er, als wäre er sich auf einmal nicht mehr sicher, warum er seine kostbare Zeit einer so undankbaren Schülerin anbietet, die er kaum kennt.
»Das ... das ist einfach so nett von Ihnen«, stottere ich. Ich weiß, dass Ms. Moss mir nur helfen wollte, aber ein Einzelkurs mit dem Dekan klingt eher nach einem Albtraum als einem Märchen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Er legt den Briefbeschwerer wieder hin und steht auf, was ich als Zeichen auffasse, meine Tasche in die Hand zu nehmen und aufzubrechen. »Ich freue mich, dir helfen zu können«, sagt er knapp, mit einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr. »Du hast eine echte Chance auf einen Platz an einem Spitzencollege, was gut für unsere Schule aussehen würde. Solange du in meinem Kurs deinen gewohnten Leistungsstandard aufrechterhältst, stelle ich dir am Ende gerne ein glänzendes Empfehlungsschreiben aus.« Er lächelt und zeigt dabei all seine Zähne, als wollte er mir deutlich machen, was »glänzend« bedeutet. »Wir können morgen noch ausführlicher darüber sprechen, aber jetzt bin ich spät dran für ein Wahlevent mit Bürgermeisterin Fox.«
Nach dem Gespräch mit Dekan Whitaker bin ich ebenfalls spät dran. Ich haste nach oben zu dem Musikraum, den Ms. Moss uns seit dem Freshman-Jahr für unsere Teamtreffen überlässt.
Schnell gehe ich den Flur entlang, aber die klackernden Heels hinter mir sind schneller. Jemand, der nach Chanel No. 5 riecht, rammt mich an der Schulter, ohne sich zu entschuldigen. Als das Mädchen an mir vorbeirauscht, schwingen ihre roten Locken über ihren Rücken wie sich windende Schlangen.
Sierra.
Emi hätte ihr nachgerufen, sie solle nicht so eine Bitchwitch sein, aber ich begnüge mich damit, so leise das Wort »unverschämt« zu flüstern, dass selbst ich es kaum hören kann.
Und trotzdem muss Sierra es irgendwie gehört haben. Sie wirbelt herum. Ihr Gesicht, dessen auffälligste Merkmale die hohen Wangenknochen und milchweiße Haut sind, hat einen harten Ausdruck. An einer anderen Schule wäre sie vermutlich eine Cheerleaderin gewesen und wäre mit einem kurzen Rock und einer noch kürzeren Zündschnur durch die Flure stolziert, aber hier zieht sie sich an wie Jackie O, statuenhaft in ärmellosen Kleidern und fingerlosen Handschuhen. Sie übt schon für die Zeit, wenn sie ihren Fonds erbt.
Ihre scharlachroten Lippen kräuseln sich und ich fühle mich schlagartig, als stände ich auf der Sonnenoberfläche. Wütende Hitze rast mir über die Arme. Obwohl wir uns jeden Tag auf dem Flur begegnen, haben wir nicht mehr miteinander gesprochen, seit meine Mom gestorben ist.
»Brauchst du irgendwas?«, frage ich in meiner bissigsten Stimme, weil ich nicht vorhabe, einfach dazustehen und ihre Todesblicke auszuhalten.
Sierra verdreht die Augen, als wäre ich es immer noch nicht wert, ein einziges Wort an mich zu verschwenden, aber bevor sie davonklackern kann, öffnet sich hinter mir eine Tür.
Ich drehe mich halb um und erkenne aus dem Augenwinkel die undeutliche Silhouette eines Jungen, der aus dem Besenschrank kommt. Aber dann lassen Sierras Worte mich den Kopf wieder herumreißen.
»Schöne Ohrringe«, sagt sie laut. Sie tritt einen Schritt auf mich zu und streicht mein Haar hinter mein Ohr. Nach so langer Zeit lässt ihre freundliche Berührung eine Gänsehaut über die Rückseiten meiner Beine laufen. Das letzte Mal, als ihre Finger meine berührt haben, umklammerte sie auf dem Rücksitz von Sheriff Calhouns Auto meine Hand und versuchte, mich zusammenzuhalten, während mein Leben in die Brüche ging. Bei der Erinnerung daran hämmert mein Herz unregelmäßig, als hätte es vergessen, wie es schlägt.
Sie tippt mit dem kleinen Finger an meinen rechten Ohrring. »Ist das ein Radieschen?«, fragt sie mit vor Spott triefender Stimme.
»Ja«, antworte ich, und mein Gesicht wird noch heißer. »Und?«
Sierra antwortet nicht sofort, weil sie damit beschäftigt ist, dramatisch mit den Augen zu rollen. Ich will mich wieder umdrehen, aber sie hält das Radieschen fest und zieht daran, sodass ich den Kopf wieder zu ihr wende. »Es ist nur ... Deine Mutter hatte einen so guten Geschmack.« Sie lächelt höhnisch. »Manche Dinge überspringen wohl eine Generation.«
