Summ, wenn du das Lied nicht kennst - Bianca Marais - E-Book

Summ, wenn du das Lied nicht kennst E-Book

Bianca Marais

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Beschreibung

Südafrika 1976. Die neunjährige Robin wächst behütet in einem Vorort von Johannesburg auf. In derselben Nation, aber Welten von Robin getrennt, lebt Beauty Mbali, eine verwitwete Xhosa-Frau, die sich allein um ihre Kinder kümmert. Als Robins Eltern getötet werden und zur selben Zeit Beauty in den Wirren des Schüleraufstands von Soweto nach ihrer Tochter sucht, führt das Schicksal diese zwei Menschen zusammen, deren Wege sich sonst nie gekreuzt hätten. Bei Beauty findet Robin Geborgenheit, und es entspinnt sich eine innige Beziehung zwischen den beiden. Doch Robin fürchtet, Beauty wieder zu verlieren, sobald diese ihre Tochter findet. Verzweifelt trifft das Mädchen eine folgenschwere Entscheidung ...

Weitere berührende Wunderraum-Geschichten finden Sie in unserem kostenlosen aktuellen Leseproben-E-Book »Einkuscheln und loslesen – Bücher für kurze Tage und lange Nächte«

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Inhalt

Südafrika im Jahr 1976: In einem Vorort von Johannesburg wächst die neunjährige Robin auf, behütet und doch voller Abenteuerlust. In derselben Nation, aber Welten von Robin getrennt, lebt Beauty Mbali, eine verwitwete Xhosa-Frau, die sich allein um ihre Kinder kümmert. Als in Soweto infolge von Schülerprotesten Unruhen ausbrechen, die von der Regierung gewaltsam niedergeschlagen werden, gibt es viele Opfer, darunter auch Robins Eltern. Zur selben Zeit begibt sich Beauty auf die Suche nach ihrer Tochter, die wegen der Unruhen in großer Gefahr schwebt. Das Schicksal führt zwei Menschen zusammen, deren Wege sich sonst nie gekreuzt hätten. Bei Beauty, ihrer neuen Kinderfrau, findet Robin Geborgenheit, und es entspinnt sich eine innige Beziehung zwischen den beiden. Doch Robin fürchtet, Beauty wieder zu verlieren, sobald diese ihre Tochter findet. Verzweifelt trifft das Mädchen eine folgenschwere Entscheidung …

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»Hum If You Don’t Know The Words« bei G. P. Putnam’s Sons,

an imprint of Penguin Random House, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Wunderraum-Bücher erscheinen im

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Random House GmbH.

Copyright © der Originalausgabe

2017 by Bianca Marais

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Bärbel Brands

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21973-4V002

www.wunderraum-verlag.de

Für Maurna,

meinen geliebten Schatz,

und für

Eunice,

Puleng und Nomthandazo,

die mir beibrachten, dass Rassentrennung

keine Macht über die Herzen der Menschen hat,

denn Liebe ist farbenblind und kann jede

Mauer überwinden.

1

ROBIN CONRAD

13. Juni 1976

Boksburg, Johannesburg, Südafrika

Als ich den Hüpfkasten fertiggemalt hatte, schrieb ich eine große »10« in das oberste Feld. Ich war ganz aufgeregt, denn so alt würde ich bei meinem nächsten Geburtstag werden, und wenn man eine zweistellige Zahl erreichte, war man kein Kind mehr, das wusste jeder. Der grüne Kreidestummel, den ich mir von der Dart-Tafel meines Vaters stibitzt hatte, war schon so geschrumpft, dass meine Finger über den Asphalt der Auffahrt schrammten, als ich meiner Kreation den letzten Schliff verlieh.

»So, jetzt ist es fertig.« Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete mein Werk. Wie üblich war ich enttäuscht darüber, dass das Ergebnis nicht ganz so gut war, wie ich mir vorgestellt hatte.

»Ist super geworden«, erklärte Cat, die mal wieder meine Gedanken lesen konnte und mich davon abhalten wollte, den Hüpfkasten vor lauter Selbstzweifeln wieder wegzuwischen. Ich grinste, obwohl auf ihre Meinung eigentlich nicht viel zu geben war; meine eineiige Zwillingsschwester fand nämlich grundsätzlich alles gut, was ich machte. »Du fängst an«, sagte Cat.

»Okay.«

Ich zog den bronzenen halben Cent aus meiner Tasche und rieb die Münze wie einen Glücksbringer, bevor ich sie in die Luft schnippte. Glitzernd wirbelte sie durchs Sonnenlicht, und als sie auf dem ersten Feld landete, hüpfte ich los mit dem Ziel, diesmal einen Rekord hinzulegen.

Bei der vierten Runde landete die Münze außerhalb des Feldes. Ich warf Cat einen Blick zu. Sie wurde gerade von einem Hagedasch-Ibis abgelenkt, der auf dem Nachbardach Radau machte. Schnell schob ich die Münze mit meiner Schuhspitze ins Feld zurück und hüpfte weiter.

»Du bist echt gut!«, rief Cat ein paar Sekunden später, als sie sich wieder umdrehte. Sie hatte nichts mitbekommen.

Angespornt durch ihren Beifall hüpfte ich noch schneller, ohne zu merken, dass sich die Schnürsenkel meines Turnschuhs gelöst hatten. Ich schaffte gerade noch das letzte Feld, dann geriet ich ins Stolpern, stürzte auf den rissigen Asphalt und schürfte mir das Knie auf. Ich schrie, erst vor Schreck, dann vor Schmerz, und schließlich hörte ich Flipflops, die eilig angeschlappt kamen. Meine Mutter. Ihr Schatten fiel auf mich.

»Herrgott noch mal, nicht schon wieder.« Sie beugte sich herab und zog mich hoch. »Du bist so ungeschickt. Keine Ahnung, von wem du das hast.« Als ich ihr mein blutendes Knie zeigte, machte sie nur »tss«.

Cat, die neben mir hockte, zuckte zurück, als sie den Dreck in der Wunde sah. Schon kamen mir die Tränen, aber ich musste mich zusammenreißen, sonst würde ich den Ärger meiner Mutter zu spüren bekommen.

»Mir geht’s gut, alles okay.« Ich lächelte die Tränen weg und stand vorsichtig auf.

»Oh, Robin«, seufzte meine Mutter. »Du willst doch jetzt nicht heulen, oder? Du weißt doch, wie hässlich du dann aussiehst.« Sie schielte und zog eine Grimasse. Ich kicherte, denn das war die Reaktion, die sie von mir erwartete.

»Quatsch, ich bin doch keine Heulsuse«, sagte ich. Vor den Augen der Nachbarn in Tränen auszubrechen wäre ein unverzeihliches Vergehen gewesen. Meine Mutter legte nämlich großen Wert auf die Meinung anderer Leute und war sehr darauf erpicht, dass ich ihr nacheiferte.

»Braves Mädchen.« Sie lächelte und gab mir einen Kuss auf die Stirn, als Belohnung für meine Tapferkeit.

Doch leider blieb mir keine Zeit, mich an ihrem Lob zu weiden. Das schrille Klingeln des Telefons zerriss den Morgen, und schon war einer der letzten zärtlichen Momente, die ich mit meiner Mutter erleben sollte, vorbei. Sie blinzelte, und die Wärme in ihrem Blick verwandelte sich in Anspannung.

»Mabel soll euch helfen, euch sauber zu machen, ja?«

Meine Mutter war kaum im Haus verschwunden, als ich ein Schluchzen hörte. Ich schaute zu Cat hinunter. Sie weinte. Wenn ich meine Schwester ansah, war mir immer so, als schaute ich in einen Spiegel, aber in jenem Moment fühlte es sich an, als gäbe es kein Glas mehr zwischen meinem Spiegelbild und mir – als sähe ich kein Bild von mir, sondern tatsächlich mich selbst.

Das Leid in Cats zerknirschter Miene war mein eigenes Leid. Ihre blauen Augen standen voller Tränen, ihre schmollende Unterlippe zitterte. Jeder, der Zweifel daran hegte, dass es Zwillingsempathie tatsächlich gab, wäre beim Anblick meiner weinenden Schwester sofort bekehrt worden.

»Hör auf«, zischte ich. »Willst du, dass Mom dich eine Heulsuse nennt?«

»Aber es sieht aus, als ob es wehtut.«

Wenn es für meine Mutter doch auch so offensichtlich gewesen wäre. »Geh auf unser Zimmer, damit sie dich nicht sieht, und komm erst wieder raus, wenn du dich beruhigt hast«, sagte ich und strich ihr eine braune Haarsträhne hinters Ohr.

Sie nickte schniefend, dann huschte sie ins Haus. Ich folgte ihr eine Minute später. Mabel, unsere Maid, war in der Küche, sie spülte gerade das Frühstücksgeschirr. Sie trug ihre verblichene minzgrüne Uniform (die viel zu eng war für ihre mollige Figur, die Knöpfe sprangen vorn fast ab), dazu eine weiße Schürze; um den Kopf hatte sie ein Tuch gewickelt.

Meine Mutter saß im Esszimmer und telefonierte mit ihrer Schwester Edith, der einzigen Person, bei der sie sorglos und glücklich klang. Ich ließ sie in Ruhe, denn wenn ich sie störte, würde sie mir befehlen, entweder keine Erwachsenengespräche zu unterbrechen oder aber aufzuhören, mich am Klang meiner eigenen Stimme zu ergötzen.

»Schau mal, Mabel«, sagte ich und zeigte ihr mein Knie. Ich war froh, dass sie an jenem Sonntag nicht freihatte.

Beim Anblick der Wunde zuckte Mabel zusammen und ließ erschrocken die Hände zum Mund fahren, dass der Spülschaum durch die Luft flog. »Yo! Yo! Yo! Tut mir leid!«, rief sie, als trüge sie die Schuld an meiner Verletzung.

Ihre Litanei war wie Balsam für mich, viel besser als jedes Pflaster.

»Setz dich. Ich muss das ansehen.« Sie kniete sich hin und japste vor Schreck, als sie die Schürfwunde inspizierte. »Ich brauche Erste-Hilfe-Sachen.« Ich liebte Mabels Akzent. Wenn sie redete, klangen die Wörter, als kämen sie aus einer völlig anderen Sprache, und ich fragte mich immer, ob ihre Kinder (die ich nicht kannte und die das ganze Jahr über in QwaQwa lebten) wohl genauso redeten.

Sie holte den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Küchenschrank und kniete sich wieder hin, um die Wunde zu versorgen. Der Wattebausch hob sich strahlend weiß von ihrer dunklen Haut ab. Sie tränkte ihn mit orangefarbenem Desinfektionsmittel und betupfte die Wunde damit. Es brannte, doch jedes Mal, wenn ich versuchte, das Knie wegzuziehen, murmelte sie tröstende Worte.

»Tut mir leid! Tut mir so leid. Gleich ist alles wieder gut. Du bist tapfer.« Wenn sie sprach, klang es weich und warmherzig.

Ich aalte mich in ihrer Aufmerksamkeit. Schaute zu, wie sie vorsichtig auf mein Knie pustete, und war überrascht, dass die Schmerzen sofort verschwanden. Zum Schluss klebte sie ein großes Pflaster auf die gereinigte Wunde und zwickte mich sanft in die Wange.

Dann gab sie mir ein paar dicke Schmatzer, und ich hielt den Atem an in der Hoffnung, endlich einen auf den Mund zu bekommen. Doch sie begnügte sich mit meinem Kinn und meiner Stirn. »Alles wieder gut!«

»Danke!« Ich umarmte sie schnell, dann lief ich wieder hinaus. Draußen rief mein Vater nach mir.

»Sommersprosse!« Er hatte es sich auf einem Liegestuhl neben dem tragbaren Grill bequem gemacht, der mitten auf dem braunen Rasen in der Sonne stand. »Hol deinem alten Vater ein Bier.«

Ich huschte wieder hinein und holte eine Flasche Castle Lager aus dem Kühlschrank. Mein ungeschickter Umgang mit dem Flaschenöffner brachte eine Schaumfontäne hervor, die sich auf dem Linoleum ergoss, aber ich machte keine Anstalten, den Boden aufzuwischen. Mabel schnalzte zwar, als ich wieder hinausrannte, aber ich wusste, sie würde klaglos hinter mir herwischen.

»Hier«, sagte ich und reichte meinem Vater die schäumende Bierflasche. Er kippte den Inhalt sogleich über die Flammen, die durch den Grillrost schlugen.

»Genau im richtigen Moment«, sagte er. Dann bedeutete er mir, auf dem Stuhl neben ihm Platz zu nehmen und zwinkerte mir zu.

Mein Vater war ein gut aussehender Mann mit blauen Augen und wildem Haarschopf. Blonde Locken fielen ihm in die Stirn, und hinten trug er sein Haar so lang, dass es über den Hemdkragen fiel. Außerdem hatte er lange Koteletten, die fast mit seinem buschigen Schnurrbart zusammenstießen. Wenn man ihm einen Schmatzer gab, war das eine kratzige Angelegenheit, aber ich liebte seine Stoppeln.

Ich setzte mich, und er reichte mir die Grillzange, als wäre sie eine kostbare Reliquie. Dann nickte er mir feierlich zu, und ich erwiderte das Nicken, um die Übernahme der Macht zu bestätigen. Nun trug ich die Verantwortung für das Fleisch.

Mein Vater lächelte, als ich mich über den rauchenden Grill beugte. Dann fiel sein Blick auf mein Pflaster. »Bist du mal wieder in die Schlacht gezogen, Sommersprosse?«

Als ich nickte, lachte er. Mein Vater witzelte oft, dass er eigentlich einen Sohn hatte, der im Körper einer Tochter gefangen war. Am liebsten erzählte er von dem Tag, als ich mit zerrissener Strumpfhose und blutverschmiertem Bein von meiner ersten und einzigen Ballettstunde zurückgekehrt war. Als er wissen wollte, wie ich es geschafft hatte, mich beim Ballett so zuzurichten, gestand ich ihm, dass ich beim Versuch, vor der Lehrerin zu fliehen, auf einen Baum geklettert und dann heruntergefallen sei. Mein Vater war in schallendes Gelächter ausgebrochen, während meine Mutter mich ausgeschimpft hatte, weil ich das Geld meiner Eltern verschwendete.

Eigentlich hätte mein Vater das Grillen einem Sohn beibringen sollen. Falls er enttäuscht gewesen war, dass er keinen bekommen hatte, verlor er nie ein Wort darüber. Er forderte meine jungenhafte Art bei jeder Gelegenheit heraus.

Cat dagegen war sehr empfindsam und in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von mir. Und rohes Fleisch fand sie ekelhaft. Sie hätte sich niemals von meinem Vater zeigen lassen, wie man ein perfektes Steak hinkriegt, wie man die Faust für einen K.-o.-Schlag ballt oder wie man jemanden durch ein Rugby-Tackle zu Boden bringt.

»Okay, jetzt dreh die Würstchen um. Sieh zu, dass du sie alle mit der Zange gepackt kriegst, sonst gibt’s ’ne Riesensauerei. Gut. Jetzt schieb die Steaks an den Rand, sonst werden sie zu stark gebraten. Das Fett soll schön knusprig sein, aber nicht angekokelt.«

Ich befolgte sorgfältig seine Anweisungen und schaffte es, das Fleisch so zu grillen, dass er zufrieden war. Als wir fertig waren, trug ich das Fleisch in einer Pfanne an den Tisch auf der Terrasse, den Mabel für uns gedeckt hatte. Das Knoblauchbrot stand schon bereit, ebenso der Kartoffelsalat und die Maiskolben, alles unter dem Fliegennetz deponiert, das ich manchmal als Schleier benutzte, wenn ich die als Braut verkleidete Spionin spielte.

»Sag deiner Mutter, dass wir fertig sind«, sagte mein Vater. Er hegte jedes Mal Argwohn gegen die großen Hagedasche mit ihren langen Schnäbeln und fürchtete um sein Fleisch. Oft stibitzten sie Hundefutter aus den Näpfen, gelegentlich auch größere Beute, zum Beispiel Fische aus Gartenteichen.

»Sie telefoniert gerade.«

»Na, dann sag ihr, dass sie aufhören soll. Ich hab Hunger.«

Ich lief zum Eingang hinüber und rief: »Wir wollen essen!«, dann rannte ich wieder zurück.

Ich hatte gerade neben meinem Vater Platz genommen, als Cat sich zu uns schleppte. Sie hatte sich alle Tränenspuren aus dem Gesicht gewaschen und lächelte, als unsere Mutter sich neben sie setzte.

»Mit wem hast du denn telefoniert?«, fragte mein Vater und griff nach der Butter und der Bovril-Paste, um seinen Maiskolben schön dick damit zu bestreichen.

»Mit Edith.«

Mein Vater verdrehte die Augen. »Was wollte die denn schon wieder?«

»Nichts. Sie hat sich einen Darmvirus eingefangen. Der grassiert wohl gerade. Sie ist krankgeschrieben.«

»Oh, dann steckt sie jetzt wohl in einer Lebenskrise, weil sie auf überteuerten Flügen keinen widerlichen Fraß mehr an arrogante Passagiere verteilen kann. Meine Güte, deine Schwester macht wirklich aus jeder Mücke ’nen Elefanten.«

»Wer redet denn von Krise, Keith? Sie wollte einfach nur reden.«

»Von wegen. Sie wollte dich mal wieder in das Drama ihres Lebens verwickeln.«

»Welches Drama?« Meine Mutter wurde lauter.

Mit aufgerissenen Augen starrte Cat zuerst unsere Eltern und dann mich an. Ihre Botschaft war klar und deutlich. Tu was!

»Bei der ist doch alles ein Drama!« Mein Vater wurde auch lauter. »Wenn die nur einen kleinen Schluckauf hat, geht gleich die ganze Welt unter!«

»Die ganze Welt geht unter? Was redest du denn da?« Meine Mutter pfefferte den Servierlöffel in die Salatschüssel zurück und starrte meinen Vater an. Die Ader auf ihrer Stirn pulsierte, was kein gutes Zeichen war. »Meine Güte! Warum hackst du immer so auf ihr herum? Sie wollte doch einfach bloß …«

Da klingelte es an der Tür.

Cats erleichterte Miene sprach Bände. Noch mal Glück gehabt!

»Verdammt noch mal!« Mein Vater haute sein Besteck auf den Tisch. »Es ist Sonntagmittag! Das ist ja wohl eine Frechheit, um diese Zeit zu stören!« Meine Mutter stand auf, doch mein Vater hielt sie zurück. »Lass Mabel zur Tür gehen.«

»Ich habe ihr aber gesagt, dass sie sich den Nachmittag freinehmen und das Spülen heute Abend erledigen kann.«

Als meine Mutter im Haus verschwand, rief mein Vater ihr hinterher. »Wenn es die Zeugen Jehovas sind, sag ihnen, dass sie sich gefälligst verpissen sollen, oder ich erschieße sie! Sag ihnen, dass ich eine große Flinte habe und keine Skrupel, sie zu benutzen!«

»Wer mag das wohl sein?«, fragte Cat. Ich zuckte mit den Achseln. Ich war mehr an der Flinte interessiert.

Als meine Mutter ein paar Minuten später zurückkam, war sie puterrot im Gesicht und hatte zwei Bücher dabei, die sie auf den Tisch schleuderte, direkt vor meine Nase.

»Was ist das?«, fragte mein Vater. »Wer war an der Tür?«

»Gertruida Bekker.«

»Hennies Frau?«

»Genau.«

»Und was wollte sie?«

»Sie wollte sich über Robin beschweren, weil sie einen schlechten Einfluss auf ihre Tochter hat.«

»Was?« Mein Vater sah mich an. »Was hast du angestellt, Sommersprosse?«

»Keine Ahnung.«

Meine Mutter deutete mit dem Kopf auf die Bücher. »Hast du die Elsabe geschenkt?«

»Nein. Ich habe sie ihr geleiht.«

»Geliehen«, korrigierte meine Mutter.

»Ja, geliehen.«

Mein Vater holte die Bücher zu sich herüber. »Der Zauberbaum und Fünf Freunde auf neuen Abenteuern«, las er vor. »Bücher von Enid Blyton?«

»Ja, Gertruida findet die Namen der Figuren anstößig und will, dass Robin nicht mehr mit Elsabe spielt.«

»Was für Namen denn? Wovon redet diese Frau überhaupt?«

Meine Mutter schwieg einen Moment, bevor sie antwortete. »Dick und Fanny.«

»Ist das dein Ernst?«

Meine Mutter nickte. »Ja, sie sagte, diese Namen wären ekelhaft und hätten in einem christlichen Haushalt nichts zu suchen.«

Da lachte mein Vater aus vollem Hals, und meine Mutter fing ebenfalls an zu kichern. Cat und ich starrten uns verwirrt an. Wir hatten keine Ahnung, was meine Eltern so lustig fanden.

Ich hatte Elsabe oder Mrs Bekker nicht verärgern wollen, sondern einfach nur versucht, meinen eigenen Geheimclub zu gründen, wie die Kinder in den Büchern. Ich wollte Geheimnisse aufdecken, ein Geheimquartier haben und mir exotische Codewörter für Marmeladentörtchen ausdenken. Leider waren alle anderen Mädchen in Witpark, unserem ausschließlich von Weißen bewohnten Vorort von Boksburg, Afrikaanerinnen, und sie wollten die ganze Zeit nur Vater-Mutter-Kind spielen. Ich hatte allerdings keine Lust auf Kochen, Stricken, Nähen und Backen oder darauf, mich um schreiende Babys zu kümmern oder betrunkene Ehemänner anzuschreien, die mitten in der Nacht vom Zechen-Stammtisch zurückkehrten. Stattdessen wollte ich lieber ihren Horizont erweitern und ihnen eine völlig neue Welt zeigen, die sie ansonsten verpasst hätten.

»Ich wollte bloß, dass sie und die anderen Mädchen die Bücher lesen und dann meinem Geheimclub der Sieben beitreten«, sagte ich. »Im Moment besteht der Club nur aus Cat und mir, und wir brauchen noch fünf Mitglieder.«

»Auf die könnt ihr jedenfalls gut verzichten«, sagte mein Vater und wuschelte mir durchs Haar. »Ihr seid doch schon zu zweit ein Höllenteam. Am besten vergesst ihr die Mädels und spielt mit den Jungs.«

Meine Mutter verdrehte zwar die Augen, war aber weiterhin guter Laune, und die wollte ich auf keinen Fall verderben, indem ich darüber klagte, dass keiner von den Jungs mit mir spielen wollte. Sie konnte Gejammer nicht ausstehen und forderte mich immer auf, nach Lösungen zu suchen, anstatt auf dem Negativen herumzureiten. Da fiel mir wieder ein, was mein Vater zuvor gesagt hatte.

»Wo ist deine große Flinte, Daddy?«

»Was?«

»Deine große Flinte? Mit der du die Zeugen Jehovas erschießen wolltest?«

»Das war nur ein Witz, Sommersprosse. Ich hab gar keine Flinte.«

»Oh.« Ich war enttäuscht, denn ich hatte gehofft, bei den Jungs damit Eindruck zu schinden. »Vielleicht solltest du dir eine besorgen.«

»Wieso?«

»Piets Vater hat gesagt, dass die Kaffer, diese verdammten Nigger, uns im Schlaf ermorden werden, weil wir Memmen sind. Er sagte, wenn wir uns keine Waffen besorgen, können wir es uns genauso gut direkt von hinten besorgen lassen, wie die Schwuchteln.«

»Ach wirklich? Und wann hat er das gesagt?«, fragte mein Vater, nachdem meine Mutter mich ermahnt hatte, die Wörter Kaffer und Schwuchteln nicht in den Mund zu nehmen.

»Vor ein paar Tagen, als ich dort mit den Hunden gespielt habe. Was lassen sich die Schwuchteln denn von hinten besorgen?«

»Jetzt reicht es mit der Fragerei, Robin.«

»Aber …«

»Keine Widerrede.« Er warf meiner Mutter einen Blick zu, und beide prusteten vor Lachen. »Thema abgehakt.«

Es war in jeder Hinsicht ein ganz gewöhnlicher Sonntag. Meine Eltern kabbelten sich die ganze Zeit und wurden so übergangslos von Gegnern zu Verbündeten, dass man unmöglich sagen konnte, in welchem Moment sie das Lager wechselten. Cat spielte ihren Zwillings-Part als stille Zweitbesetzung perfekt, sodass ich meine Position im Rampenlicht einnehmen und die Hauptrolle übernehmen konnte. Wie üblich nervte ich unsere Eltern mit Fragen, testete unermüdlich Grenzen aus, wohlwissend, dass Mabel hinter den Kulissen für mich da sein würde wie ein gütiger Schatten.

Der einzige Unterschied war, dass die Uhr bereits tickte. Aber das wusste ich damals noch nicht. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass ich nur wenige Tage später drei der wichtigsten Menschen in meinem Leben verlieren sollte.

2

BEAUTY MBALI

14. Juni 1976

Transkei, Südafrika

Meine Tochter schwebt in Gefahr.

Dieser Gedanke schießt mir beim Erwachen als Erstes durch den Kopf und treibt mich dazu, mich schnell anzuziehen. Es sind noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang, und in unserer Hütte ist es pechschwarz. Normalerweise kann ich mich im Raum umherbewegen, ohne in der Dunkelheit über die Schlafmatten der Jungs zu stolpern, aber jetzt brauche ich Licht, um zu Ende zu packen.

Das Kratzen des Streichholzes über die Reibfläche der Lion-Schachtel ist in der Stille deutlich vernehmbar, und mein Schatten steigt auf wie ein Gebet, als ich die Kerze anzünde und sie neben meinen Koffer auf den Boden stelle. Der vertraute Schwefelgeruch, der für mich eng mit dem Tagesanbruch verknüpft ist, hat jetzt etwas Unheilverkündendes. Ich atme durch den Mund, damit ich den Dunst der Angst nicht riechen muss.

Ich bewege mich so leise wie möglich, doch hier gibt es nichts, was die Geräusche meiner Bewegungen schlucken könnte. Unsere Hütten sind rund und vollkommen offen innerhalb der Außenmauern aus Lehm. Es gibt keine Zimmerdecken, die auf unsere Köpfe drücken und die Kuppeldächer von den Böden aus gestampftem Kuhdung trennen. Keine Trennwände, die den gemeinsamen Wohnraum in verschiedene Zimmer aufteilen. Unsere Unterkünfte sind so offen, wie die Welt einst war, als es keinerlei Wände oder Dächer gab außer jenen, die unmittelbaren Schutz gewährten. Privatsphäre ist kein Konzept, das mein Volk versteht oder wünscht; wir sind Zeugen des Lebens der anderen und finden es tröstlich, dass unser eigenes Leben wahrgenommen wird. Welches Geschenk könnte größer sein, als jemandem zu sagen: Ich sehe dich, ich höre dich, du bist nicht allein?

Deswegen sind nun auch meine beiden Söhne erwacht, egal wie sehr ich mich bemüht habe, leise zu sein. Khwezi sieht zu, wie ich meine Schilfmatte aufrolle, und das reflektierte Licht der Kerzenflamme brennt in seinen Augen. Er ist dreizehn Jahre alt und mein jüngstes Kind. Er kann sich nicht an den Tag vor zehn Jahren erinnern, als sein Vater zu den Goldminen in Johannesburg aufgebrochen ist, und auch nicht an die Qual der Monate zuvor, in der die große Trockenheit herrschte. Er erinnert sich nicht daran, wie die Schultern des einst stolzen Mannes allmählich hinuntersanken, während er mitansehen musste, wie seine Familie und sein Vieh starben. Aber Khwezi ist jetzt alt genug, um Angst davor zu haben, ein weiteres Familienmitglied an die hungrige Stadt zu verlieren.

Ich lächle ihm beruhigend zu, aber er erwidert mein Lächeln nicht. Sein schmales Gesicht blickt ernst, als er gedankenverloren die glänzend kahle Stelle über seinem Ohr reibt. Das fleckige rosafarbene Gewebe in der Form eines Akazienbaums stammt daher, dass er vor langer Zeit in ein offenes Feuer gefallen ist. Es gibt einen Grund dafür, warum Gott die Narbe an einer Stelle platziert hat, die Khwezi nicht sehen kann, ich als Mutter aber stets gezwungen bin, von oben anzuschauen. Sie ist eine Erinnerung daran, dass die Ahnen mir eine zweite Chance mit ihm gegeben haben, eine, die ich bei meinem erstgeborenen Sohn nicht hatte, den ich nicht vor dem Unheil habe schützen können. Ich kann nicht noch eines meiner Kinder im Stich lassen.

»Mama«, flüstert Luxolo, dessen Matte gegenüber der seines jüngeren Bruders liegt. Er hat die graue Decke um sich gewickelt wie ein Leichentuch, um sich vor der Morgenkühle zu schützen.

»Ja, mein Sohn?«

»Lass mich mit dir gehen.« Darum bittet er mich schon seit gestern, als der Brief meines Bruders angekommen ist.

Der knittrige gelbe Umschlag mit meinem Namen, Beauty Mbali, hat vom Wohnort meines Bruders Andile in Zondi, einem Viertel mitten in Soweto, einen weiten Kreis beschrieben, ehe er mich erreichte.

Unser Dorf ist so klein, dass es nicht mit offiziellem Namen auf der Landkarte der Transkei verzeichnet ist, und daher wird die Post nicht direkt in die ländliche Umgebung der Gebirgsausläufer in unserem schwarzen Homeland geliefert. Nachdem mein Bruder den Brief aufgegeben hatte, brachte ihn die Post aus dem Township Soweto auf sandigen Straßen voller Schlaglöcher nach Johannesburg, im Herzen Südafrikas, und dann in Richtung Süden auf der zentralen Autobahn aus Transvaal hinaus über den Fluss Vaal und in den Orange Free State hinein.

Von dort aus reiste er weiter nach Süden über die nebelverhangenen Drakensberge und dann im Zickzack hinunter über Haarnadelkurven bis nach Pietermaritzburg. Danach bog er ab in die verzweigten, vernachlässigten Seitenstraßen, die ihn offiziell zur Post von Umtata beförderten, der Hauptstadt der Transkei.

Doch seine Reise war noch nicht vollendet, da der Umschlag immer noch persönlich von der Frau des Postbeamten an den schottischen Missionar in Qunu übergeben werden musste – über eine Entfernung von dreißig Kilometern hinweg, für die ich sechs Stunden brauchen würde, die die weiße Frau im Auto ihres Mannes aber in nur vierzig Minuten zurücklegt – und dann wiederum weiter von der schwarzen Putzfrau des Missionars zu dem indischen Spaza Shop-Besitzer. Die letzte Etappe der Reise wurde von Jama zurückgelegt, einem neunjährigen Hirtenjungen, der die drei Kilometer über staubige Pfade bis zu meinem Klassenzimmer rannte, um ihn mir stolz zu überreichen.

Ich weiß nicht, wie lange der Brief brauchte, um die fast neunhundert Kilometer von dem schwarzen Township zum schwarzen Homeland zurückzulegen und seine Warnung zu überbringen. Der Poststempel ist verwischt, und Andile hat den Brief in seiner Eile nicht datiert. Ich hoffe, ich komme nicht zu spät.

»Mama, nimm mich mit«, fleht Luxolo erneut. Doch es ist nur sein Wunsch, sich als Mann im Haus zu beweisen, der ihn dazu treibt, meine bereits getroffene Entscheidung in Frage zu stellen. Aus keinem anderen Grund würde er es riskieren, sich mir gegenüber respektlos zu zeigen. Luxolo ist erst fünfzehn, hat aber die Pflichten eines erwachsenen Mannes in unserem Haushalt übernommen. Er ist überzeugt, dass der Schutz der Frauen ebenso in seine Verantwortung fällt wie das Beaufsichtigen der Rinder, die unsere Lebensgrundlage bilden. Indem er mich auf der Reise begleitete, würde er seine Schwester vor Unglück beschützen und sicherstellen, dass wir beide heil und gesund zurückkehrten.

»Das Dorf braucht dich. Ich gehe Nomsa holen und bringe sie nach Hause.« Ich drehe mich von ihm weg, damit er die Sorge in meinen Augen nicht erkennt und ich seinen verletzten Stolz nicht mitansehen muss.

Meine Bibel ist das letzte meiner Besitztümer, das ich einpacke. Ihr schwarzer Ledereinband ist von den vielen Stunden, die ich sie in den Händen gehalten habe, abgenutzt. Ich stecke den Brief meines Bruders zum Schutz zwischen ihre hoffnungsdünnen Seiten, obwohl ich bereits die besorgniserregenden Stellen auswendig gelernt habe.

Du musst sofort kommen, Schwester. Deine Tochter ist in größter Gefahr, und ich fürchte um ihr Leben. Ich kann ihre Sicherheit hier nicht garantieren. Wer weiß, was passiert, wenn sie hierbleibt.

Mit einem Blinzeln verscheuche ich die Vision von Andile, wie er verkrampft diesen Brief an mich gekritzelt und dabei die Tinte mit der linken Hand quer über die soeben geschriebenen Wörter verteilt hat wie die Asche eines Veld-Feuers. Dabei steigt auch wieder die Erinnerung an meine Mutter auf, die ihn aus ihrem Aberglauben heraus jedes Mal mit einem Zweig auf die Finger schlug, wenn er mit der falschen Hand nach etwas griff. Doch wie sehr sie ihn auch quälte, sie konnte ihm die Linkshändigkeit ebenso wenig austreiben wie mir meinen Wissensdurst und Ehrgeiz. Und ebenso wenig konnte ich gegen Nomsas Entschlossenheit ankommen.

Nachdem ich mir ein Tuch um den Kopf gebunden habe, schlüpfe ich in meine Schuhe. Sie sind genauso unnachgiebig und unbequem wie die westlichen Sitten, die mich zum Tragen dieser Uniform zwingen. Hier in meinem Homeland gehe ich immer barfuß, und auch im Klassenzimmer, in dem ich unterrichte, stehen meine Fußsohlen in direkter Verbindung mit dem Fußboden aus Dung. Doch wenn ich mich hinaus in das Territorium des weißen Mannes wage, muss ich die Kleidung des weißen Mannes tragen.

Ich öffne den Reißverschluss meines perlenbestickten Geldbeutels und zähle die gefalteten Scheine darin. Es reicht gerade für die Taxen und Busse auf meinem Weg nach Norden. Die Fahrtkosten für die Rückreise werde ich mir von meinem Bruder leihen müssen, Schulden, die wir uns kaum leisten können. Ich stecke die Geldbörse in meinen BH, eine weitere einengende westliche Erfindung, und bitte Gott in einem stillen Gebet, dass ich nicht beraubt werde. Ich bin eine schwarze Frau, die alleine reist, und eine schwarze Frau ist immer die leichteste Beute in der Nahrungskette der Opfer.

Ein Hahn kräht in der Ferne. Es wird Zeit. Ich breite die Arme für meine Söhne aus, und sie erheben sich schweigend von ihren Matten, um sich umarmen zu lassen. Ich drücke sie fest und würde sie am liebsten nicht mehr loslassen. Es gibt so vieles, was ich ihnen gerne sagen würde, weise Worte und triviale Ermahnungen, möchte sie aber nicht mit einem langen Abschied belasten. Es ist leichter, so zu tun, als begäbe ich mich auf eine kurze Reise und kehrte vor Einbruch der Nacht zurück. Es ist außerdem wichtig für Luxolo, ihm zu verstehen zu geben, dass ich felsenfest davon überzeugt bin, dass er sich während meiner Abwesenheit gut um seinen Bruder und das Vieh kümmern wird, und ich möchte sein Bemühen nicht durch Ermahnungen zur Vorsicht und Wachsamkeit anzweifeln. Er weiß, was er zu tun hat, und wird alles richtig machen.

»Nomsa und ich kommen bald nach Hause«, sage ich. »Macht euch keine Sorgen um uns.«

»Und du, Mutter, brauchst dir keine Sorgen um uns zu machen. Ich kümmere mich um alles«, erwidert Luxolo ernst. Er erweist sich der neuen Verantwortung als würdig.

»Ich mache mir keine Sorgen. Ihr seid beide brave Jungs, die bald großartige Männer sein werden.«

Luxolo löst sich aus meiner Umarmung und nickt, als nehme er das Kompliment an. Khwezi will noch nicht loslassen. Ich küsse ihn auf den Kopf, meine Lippen berühren seine Narbe. »Versucht, noch eine Stunde zu schlafen.« Da sie brave Jungs sind, gehorchen sie mir und kehren zu ihren Matten zurück.

Mit einer Decke um die Schultern trete ich hinaus ins Morgengrauen und mache mich auf den Weg den schmalen Hügelpfad hinunter. Die Gerüche von Holzfeuer und Dung steigen auf, um mir auf Wiedersehen zu sagen. Grillen zirpen dissonant zum Abschied. Mein Atem kondensiert im kalten Mondlicht; geisterhafte Wölkchen weisen mir den Weg, und ich folge ihnen genauso, wie ich dem Phantom meiner Tochter den sandigen Weg hinunter folge. Meine Füße treten in die Spuren, die sie vor sieben Monaten hinterlassen hat, als sie unsere ländliche Idylle gegen die Schule in der Stadt eintauschte.

Ich versuche mich daran zu erinnern, wie sie am Tag ihres Abschieds ausgesehen hat, doch stattdessen fällt mir eine Episode aus der Zeit ein, in der sie fünf war. Unser Reetdach musste repariert werden, und ich nahm die Panga, um langes Gras zu schneiden. Da ich Angst hatte, die Kinder könnten irgendwie in den Weg der Klinge geraten, schickte ich sie zum Kraal, um nach dem Lamm zu sehen, das in der Nacht geboren worden war. Der dreijährige Luxolo rannte los, um mit seiner Schwester Schritt zu halten, und ich begann, das Reet zu ernten.

Später, als der Schrei über die Felder hallte und einen Schwarm Sperlinge aufschreckte, ließ ich die Panga sofort fallen und rannte los. Bis ich den Kraal erreichte, hinter zwei anderen Frauen, die vor mir herrannten, war der Schrei in ein schrilles Kreischen übergegangen. Ein weiterer gefährlicher Laut vermischte sich mit dem Lärm, den ich jedoch nicht einordnen konnte, bis ich die letzte Hütte hinter mir gelassen hatte.

Und da stand Nomsa, die stämmigen kleinen Beine in Kampfposition gespreizt. Sie hatte sich zwischen Luxolo und einen geduckten Schakal gestellt, der mit Schaum vor dem Mund nach ihr schnappte und sie anknurrte. Der Schakal war tollwütig und außer sich vor Aggression, weil er an seine Beute gelangen wollte: meinen Sohn.

Nomsas kleine Faust war erhoben, und sie schüttelte sie und schrie das Tier an, das auf sie zuschlich. Bevor ich losrennen konnte, griff Nomsa nach einem Stein und warf ihn mit solcher Kraft, dass sie den Schakal mitten am Kopf traf und er seitlich wegtaumelte. Als wir die Kinder erreichten, riss ich Luxolo und Nomsa gleichzeitig hoch in meine Arme, während die Frauen aus dem Dorf den Schakal verscheuchten. Nomsa zitterte vor Angst. Meine erst fünf Jahre alte Tochter hatte tapfer ein Raubtier bekämpft, um ihren jüngeren Bruder zu beschützen. Ich erwartete, Tränen in ihren Augen zu sehen, erblickte stattdessen jedoch Triumph.

Ich verdränge die Erinnerung und das dazugehörige Unbehagen. Es liegen noch sechs Kilometer staubiger Wege vor mir, bevor ich die Hauptstraße in der Nähe von Qunu erreiche. Qunu ist ein kleines Dorf wie unseres und liegt versteckt in einem grasbewachsenen, von grünen Hügeln umgebenen Tal. Da es jedoch mehrere hundert Einwohner hat, besitzt es einen richtigen Namen. Ein Gerücht besagt, dass Nelson Mandela in diesen Hügeln aufgewachsen ist und dieser Boden daher Größe hervorbringt. Vielleicht ist es ein gutes Omen, ihn auf meiner Reise zu berühren.

Von Qunu aus muss ich das erste Taxi nehmen, das mich aus dem Schutz des Bantustans Transkei in die weiße Provinz Natal bringt, genauer gesagt vierhundert Kilometer weit nordwestlich durch Zuckerrohr und Maisfelder, und über Kokstad schließlich nach Pietermaritzburg. Danach werde ich nach Norden weiterreisen müssen, an den Midlands vorbei, durch die Drakensberge und dann weiter nach Johannesburg. Meine Reise wird mich aus der ländlichen Idylle, wo die Zeit stehen geblieben ist, zu einer Stadt bringen, die durch die Dynamitexplosionen in den Goldminen regelmäßig in ihren Grundfesten erschüttert und von oben von den starken Highveld-Gewittern bedroht wird, die den Himmel über ihr aufreißen. Beinahe tausend Kilometer erstrecken sich zwischen hier und Soweto in einem Strang aus Angst und Zweifeln, doch ich versuche, nicht an die Entfernung zu denken, während ich den Koffer von meinem Körper weghalte, damit er nicht dauernd gegen meinen Oberschenkel schlägt.

Ich folge dem Morgenstern und freue mich auf den Sonnenaufgang. Dies ist meine Lieblingstageszeit, während Nomsa den Sonnenuntergang lieber mag. In Afrika gibt es keine langanhaltende Dämmerung, kein weiches Verglühen, wenn der Tag in die Nacht übergeht, kein sanftes Geben und Nehmen zwischen Licht und Schatten. Die Nacht bricht schnell herein. Wenn man aufmerksam ist und sich nicht ablenken lässt, kann man fast den kurzen Moment spüren, in dem das Tageslicht einem durch die Finger schlüpft und man plötzlich den tintenschwarzen Saft der Subsaharanacht auffängt. Es ist ein scharfes Ausatmen am Ende eines Tages, ein Seufzer der Erleichterung. Der Sonnenaufgang ist das Gegenteil: ein sanftes Einatmen, eine allmähliche Vorbereitung des anbrechenden Tages auf das, was kommen mag. Genauso, wie ich mich jetzt auf das vorbereiten muss, was immer mich in Soweto erwartet.

Ich bin gerade in das Tal eingebogen, um dort dem mäandernden Fluss zu folgen, als mich eine dünne Stimme ruft.

»Mama!« Das Wort dehnt sich in der stillen Heiligkeit des Morgens aus und wird von der Nebeldecke des Flussbetts verschluckt. Ich muss es mir eingebildet haben, ich muss die Stimme meiner um Hilfe rufenden Tochter quer über das ganze Land hinweg heraufbeschworen haben, doch dann höre ich es wieder. »Mama!«

Ich drehe mich um, blicke den Weg entlang, den ich gekommen bin, und sehe eine Gestalt auf mich zuspringen. Es ist Khwezi, so trittsicher wie eine Bergziege. In wenigen Minuten ist er bei mir, und unser Atem vermischt sich aufgeregt keuchend, als wir einander gegenüberstehen.

»Du hast deinen Proviant vergessen«, sagt er und hält die Tüte hoch, in die ich gestern den gegrillten Mais und die Hühnerteile gepackt habe. »Ich will nicht, dass du Hunger hast.«

Er sieht seinem Vater so ähnlich – dem Jungen, der sein Vater war, bevor die Goldminen ihm die Freude raubten und sie zerschmetterten – und er schenkt mir ein offenes Lächeln, stolz auf sich, dass er mich vor dem Hunger bewahrt hat. Mein Herz geht auf vor Liebe.

»Bringst du Nomsa nach Hause?«, fragt er, und ich nicke nur, weil mir die Worte fehlen. »Kommst du wieder?«

Wieder nicke ich.

»Versprichst du das, Mama?«

»Ja.« Es kommt als ersticktes Schluchzen heraus, ein emotionales Feuer, dem die Luft fehlt, aber es ist ein Versprechen. Ich werde Nomsa nach Hause bringen.

3

ROBIN

15. Juni 1976

Boksburg, Johannesburg, Südafrika

Irgendein Viech krabbelte langsam meinen Arm hoch und kitzelte mich, doch ich wollte mich nicht von meiner Observierung ablenken lassen und nachschauen, was es war. Es stellte sicher keine Gefahr für meine hochgeheime Spionagemission dar. Doch dann hielt es inne und biss mich.

»Aua!« Ich ließ das Fernglas fallen und schaute auf meinen Unterarm. Eine rote Ameise weidete sich an der zarten Haut auf der Innenseite.

Ich schnippte sie fort und drehte mich zu Cat, die bäuchlings auf die Ellbogen gestützt im Sand lag, in der gleichen Pose wie ich.

»Schau, was du angerichtet hast«, zischte ich. »Du hast uns direkt auf einen Ameisenhaufen geführt.«

Sie schaute auf das Getümmel im Sand unter uns, dann sah sie mich panisch an. »Tut mir leid!«

»›Tut mir leid‹ bringt jetzt nichts, du Doofi. Die attackieren uns! Schnell, lass uns abhauen, bevor die Jungs kommen.«

Wir wischten uns ab, duckten uns und sprinteten zu einem anderen geeigneten Beobachtungsposten, der allerdings für meinen Geschmack etwas zu nah am Ort des Geschehens war.

Wir befanden uns am Treffpunkt der Jungs auf der großen Grubenhalde gegenüber von unserer Siedlung, auf der anderen Seite der Straße. Witpark war eine Sozialbausiedlung, wo Minenarbeiter der nahe gelegenen Witbok-Grube wohnten, und so lebten wir alle zusammen in einem Viertel, das direkt an den Minenkomplex grenzte. Die Grubenhalde war das, was nach dem Goldabbau übrig blieb, und daneben zu wohnen war Teil und Bürde eines Minenarbeiterlebens, wie mein Vater sagte. Anscheinend reichte es nicht, dass man die Kumpel tief hinunter in die Eingeweide der Erde schickte; sie mussten sich deren Innereien auch noch von zu Hause aus ansehen.

Im Winter türmte sich die Halde lediglich zu einer etwa dreißig Meter hohen Sandwoge auf, die uns alle zu überrollen drohte. Wenn jedoch der Frühling kam und ständigen Wind mitbrachte, konnten sich die zotteligen Grasbüschel und Sträucher, die auf der Halde wuchsen, nicht mehr am Boden festhalten, wie sehr sie sich auch daran klammerten, und dann wehten Wellen von feinem weißem Staub durch die Luft, überzogen unsere Häuser, Rasenflächen und Autos (nichts, was draußen blieb, wurde verschont), drangen durch die Fensterritzen und rieselten im Schlaf in unsere Augenwinkel.

Nur der Sommerregen konnte den Staub fortspülen, und die Hitze tauchte die Grubenhalde dann in zauberhaftes Gold, wie eine schimmernde Fata Morgana. In dieser Jahreszeit faszinierte uns die Halde am meisten, sirenengleich lockte sie uns zu sich, um ihre geheimnisvollen Höhlen und Schächte zu erforschen.

Natürlich war es strengstens verboten, sich in der Nähe der Halde aufzuhalten oder gar auf ihr zu spielen. Es gab Einbruchstellen, wo man sich den Hals brechen oder ersticken konnte. Wir erzählten uns gegenseitig Schauergeschichten von Kindern, die auf Nimmerwiedersehen in Tunneln verschwunden waren, und von den ruhelosen Geistern der Minenarbeiter, die in der Grube ums Leben gekommen waren und nun auf der Halde ihr Unwesen trieben. Unsere Eltern warnten uns vor schwarzen Landstreichern, die dort hausten und keine Skrupel hatten, weiße Kinder zu ermorden. Doch all diese Geschichten konnten uns nicht von der Halde fernhalten. Die Kinder von Kapstadt erlebten ihre Abenteuer am Tafelberg, und wir hatten die aufregenden Grubenhalden des Witwatersrand.

»Schnell, versteck dich!«, zischte ich Cat zu. »Ich höre sie schon!«

Wir warfen uns an einer Stelle mit hohem Gras auf den Boden, duckten die Köpfe und horchten, wie die Jungs den Pfad entlangkamen, der zur Lichtung führte.

Sie trafen sich fast jeden Tag nach der Schule, und ich wollte unbedingt herausfinden, was sie machten. Sie waren zu sechst, zwischen acht und zwölf Jahre alt und nannten sich »die Burenbande«. Ich wollte unbedingt dazugehören, und um meine Aufnahmechancen zu vergrößern, wollte ich herausfinden, was so eine Mitgliedschaft bedeutete.

Meine Aussichten auf Erfolg waren allerdings gering, denn bisher hatten sie mich erst zwei Mal zum Mitspielen eingeladen: ein Mal, um als Wicket (tatsächlich als Wicket, nicht als Wicket-Keeper) bei einem Kricketspiel herzuhalten, und ein Mal, um als Versuchskaninchen eine ihrer Erfindungen zu testen, genauer gesagt, ein großes Skateboard mit Handbremse, das sich leider als Fehlkonstruktion entpuppte, wovon die Narben an meinem Knie zeugen.

Dummerweise hatte ich beide Male nicht richtig zeigen können, was in mir steckte. Die perfekte Gelegenheit hatte sich einfach noch nicht ergeben. Also spionierte ich ihnen schon seit Wochen hinterher, um herauszufinden, was sie auf der Halde eigentlich trieben. Zuerst war ich ihnen gefolgt, doch das hatten sie gemerkt und mich jedes Mal abgehängt. Also hatte ich mich von meinen Bücherhelden, der Schwarzen Sieben, inspirieren lassen und beschlossen, dass sich eine Observierung besser eignete.

Ich hatte Cat erlaubt, mich unter der Bedingung zu begleiten, dass sie still blieb und nicht jammerte. Ich hätte ihr die zusätzliche Bedingung stellen sollen, ein Versteck zu finden, das nicht lebensgefährlich war, aber hinterher ist man immer schlauer.

Wir kauerten im Gras und beobachteten, wie Piet Bekker auf den riesigen verrottenden Baumstumpf zusteuerte, der den Großteil der Lichtung einnahm. Piet war barfuß und trug weiße Shorts und ein langärmeliges grünes Rugby-Trikot, die anderen Jungs hatten das Gleiche an. Afrikaanerjungs froren nie, selbst im Winter liefen sie ständig barfuß herum.

»Wo hast du die Sachen versteckt?«, fragte Piet seinen Adjutanten auf Afrikaans. Ich verstand die Sprache, weil wir sie in der Schule lernen mussten und weil die meisten unserer Nachbarn Afrikaaner waren.

»Im Baumstumpf«, antwortete Wouter, ebenfalls auf Afrikaans. »Im Loch, auf der anderen Seite.«

»Worauf wartest du dann noch? Hol die Sachen raus.«

Vorsichtig hob ich den Kopf und stützte ihn auf der Handfläche ab, um besser sehen zu können. Das Fernglas meines Vaters (wenn wir die Ferien in Durban verbrachten, sagte er immer, dass er damit Schiffe beobachtete, aber er meinte wohl eher die Frauen am Strand) war überflüssig, wir waren nur wenige Meter entfernt.

Wouter legte sich auf den Bauch, griff in den Stamm, zog eine weiße Schachtel hervor und gab sie Piet. Piet öffnete sie und holte eine Zwille heraus, bevor er die Schachtel an den nächsten weitergab. Die Afrikaaner bauten sich gern solche Schleudern aus Y-förmigen Astgabeln. Sie waren schon gefährlich genug, wenn man Eicheln als Munition benutzte, aber mit Steinen waren sie tödlich.

»Stell die Ziele auf«, befahl Piet.

Einer der Jungs, Marnus, stellte die schwere Tasche ab, die er mitgeschleppt hatte, und zog diverse leere Behälter hervor, hauptsächlich Lion- und Castle-Bierdosen, aber auch ein paar Pullen Gordon’s Gin und Smirnoff-Wodka-Fläschchen.

Ich hielt die Luft an: Das waren unsere Flaschen! Meine Tante Edith war Stewardess bei South African Airways und brachte meinen Eltern immer Alkoholfläschchen mit, die sie auf Flügen und aus Hotel-Minibars mitgehen ließ. Ich konnte nicht fassen, dass Marnus unseren Müll durchwühlt und die Fläschchen gestohlen hatte.

Er stellte zehn Flaschen und Dosen in einer Reihe auf den Baumstamm, dann gingen die Jungs in Stellung. Leider lag unser Beobachtungsposten denkbar ungünstig, nämlich direkt in der Schusslinie der Jungs.

Ich warf Cat einen Blick zu und bedeutete ihr, sich zu ducken. Das ließ sie sich nicht zweimal sagen und schirmte den Kopf mit den Armen ab. Unheilvolle Stille folgte. Dann zog Piet das Gummiband seiner Zwille nach hinten und ließ los. Es flitschte laut, der Stein pfiff durch die Luft, dann klirrte es. Piet hatte getroffen. Jubel ertönte, dann eiferten die anderen ihm nach und feuerten einen Stein nach dem anderen in unsere Richtung.

Cat wurde glücklicherweise nicht getroffen, worüber ich sehr erleichtert war, vor allem, weil sie ihre Schmerzensschreie nicht so gut unterdrücken konnte wie ich. Ein Stein prallte mit voller Wucht gegen meine Wade. Es tat furchtbar weh und fing an zu bluten, und ich musste mich gewaltig zusammenreißen, um nicht loszuheulen. Aber ich wollte mich nicht durch ein paar kleine Verletzungen von meiner Mission abbringen lassen.

Gott sei Dank gingen den Jungs schon bald die Ziele aus, und es kehrte wieder Ruhe ein; die Staubwolken verzogen sich.

»Und worauf sollen wir jetzt schießen?«, fragte Wouter auf Afrikaans.

»Wir können ja schauen, wer am weitesten schießen kann.«

»Nee, das ist langweilig. Lasst uns was Schwierigeres machen.«

»Was denn?«

»Vögel«, sagte Piet. »Lasst uns auf Vögel schießen.«

Doch ausnahmsweise war weit und breit kein einziger Vogel zu sehen. Das Federvieh hatte Glück. Gerade als es den Jungs langweilig wurde, in die Luft zu starren, raschelte es auf dem Pfad.

»Pst!«, sagte Piet. »Was ist das?«

Eine räudige Katze erschien auf der Lichtung und lief auf den Baumstamm zu. Ein Hund bellte ganz in der Nähe. Die Katze machte einen Buckel und fauchte, doch ihr Verfolger blieb unsichtbar. Dann flitzte sie weiter und huschte in das Baumstammloch.

Ich sah, wie Piet langsam seine Zwille hob und auf die andere Seite des Baumstamms zielte, wo die Katze gleich wieder herauskommen würde. Er kniff ein Auge zu und zog das Gummiband weit zurück, bis es ganz straff war.

»Nein!« Ehe ich michs versah, war ich aufgesprungen und rannte auf ihn zu.

Piet war so verblüfft, dass sein Schuss danebenging. Kaum war der Stein auf dem Boden gelandet, ergriff die Katze die Flucht und sauste davon. Piet stöhnte frustriert auf.

Als ich empört vor Piet stand, war die Mieze über alle Berge, und die zornigen Blicke der Jungs richteten sich nun auf mich.

»Sie hat uns nachspioniert!«, kreischte Wouter auf Afrikaans, und die anderen Jungs stimmten wütend mit ein.

Ich versuchte, in ihrer Sprache mit ihnen zu reden in der Hoffnung, sie so zu beschwichtigen. »Ek is nie ’n sampioen nie!«

Die Jungs starrten mich an, als wäre ich geisteskrank, dann brachen sie in lautes Gelächter aus. Zuerst dachte ich, es läge an meiner dreisten Lüge, doch dann dämmerte mir, dass ich »Spion« auf Afrikaans mit »Champion« verwechselt hatte.

Um mir Gehör zu verschaffen, brüllte ich: »Ich will bei euch mitmachen!«

Piet war darüber so perplex, dass er schlagartig zu lachen aufhörte und in meiner Sprache antwortete: »Du wills bei ons mitmache? Vergess es!« Er sprach mit dem starken Akzent eines eingefleischten Afrikaaners.

»Wieso?«

»Du bist ein Mädchen.« Aus seinem Mund klang es so, als wäre es das Schlimmste der Welt, ein Mädchen zu sein. »Hau ab und spiel mit den anderen Mädchen.«

»Mit denen will ich aber nicht spielen. Ich will bei euch mitmachen und einer von den Jungs sein.« Dass seine Mutter mir verboten hatte, mit seiner Schwester zu spielen, behielt ich für mich.

»Nein!«, stieß Piet hervor. »Du bist eine Rooinecke!« Eine Engländerin, ein Rotnacken, zu sein war offenbar noch schlimmer, als ein Mädchen zu sein.

Ich wusste, dass die Afrikaaner die Engländer wegen der Burenkriege hassten, aber ich hielt das nicht für so wichtig. Ich dachte, dass es ja schon fast hundert Jahre her war, seit die Briten und die Afrikaaner versucht hatten, sich gegenseitig umzubringen, und jetzt war 1976, da sollte doch längst Gras über die Sache gewachsen sein. Doch dem war natürlich nicht so.

Die Afrikaaner waren weder darüber hinweggekommen, dass sie beide Kriege verloren hatten, noch hatten sie vergessen, dass ihre Frauen und Kinder von den Briten in den weltweit ersten Konzentrationslagern interniert worden waren. Eines hatte ich schon als kleines Kind gelernt: Die Afrikaaner erinnerten sich an jede Kleinigkeit, und sie konnten sehr nachtragend sein.

»Jetzt verschwinde, oder ich ziele dich mit diesem Stein«, befahl Piet und griff nach dem nächsten Projektil.

»Du willst wohl sagen, du zielst auf mich mit diesem Stein. Hast du in der Schule nicht aufgepasst?«

Plötzlich griffen alle Jungs nach Steinen, und statt weiter die Lehrerin zu spielen, rannte ich lieber los, umhüllt von einer Wolke verräterischen Staubs, den ich mir würde abwaschen müssen. Erst als ich fast zu Hause war, ganz außer Atem und tief beschämt, fiel mir auf, dass ich Cat zurückgelassen hatte. Sie war in Deckung geblieben, als ich fast gelyncht worden wäre. Ich hatte nichts anderes erwartet. Sie war ein Angsthase.

Ich war drauf und dran, umzukehren und sie zu holen, aber dann wäre sie aufgeflogen. Sie würde schon alleine klarkommen. Niemand konnte sich so geschickt unsichtbar machen wie Cat.

4

BEAUTY

15. Juni 1976

Pietermaritzburg, Südafrika

Wie lange dauert es denn noch, Mutter?« Das Mädchen, Phelisa, seufzt und wendet sich vom Fenster des Taxis ab, das von ihrem Atem beschlagen ist.

Sie erinnert mich an Nomsa, nur dass sie dicker ist und einen resignierten Blick hat, den ich auf dem Gesicht meiner Tochter nie gesehen habe. Vielleicht besteht die einzige Ähnlichkeit in ihrem Alter, oder meine Tochter beschäftigt mich so sehr, dass ich sie auf jede Leinwand projiziere, die leer genug ist, um meine Erinnerungen aufzusaugen.

Ein kleiner Junge liegt quer über der jungen Frau, den Kopf an das weiche Kissen ihrer Brüste gebettet, die Arme fest um ihren Hals geschlungen. Er tritt mit erstaunlicher Kraft um sich und trifft meinen Bauch, als er mit seinen Träumen kämpft. Ich beneide das Kind. Ich wünschte, ich könnte schlafen. Ich wünschte auch, ich könnte das Trommeln meines ängstlichen Herzens verlangsamen oder den wilden Flug meiner Gedanken zähmen, die umherhuschen und Kreise ziehen wie Fledermäuse in der Dämmerung.

»Wir sitzen jetzt schon seit über zwei Stunden hier fest«, mault Phelisa und tätschelt beruhigend den Rücken ihres Sohnes, damit er nicht aus seinen unruhigen Träumen erwacht. »Wie lange dauert es denn noch?«

»Ich weiß nicht, mein Kind.« Ich seufze. »Wir müssen uns mit dem Warten abfinden, denn Ungeduld lässt die Zeit nur umso langsamer vergehen.« Das habe ich ihr nicht zum ersten Mal gesagt.

Es sind achtundzwanzig Stunden vergangen, seitdem ich Khwezi nachgeblickt habe, wie er den Hügel zurück zum Dorf erklommen hat, mehr als ein Tag, seitdem ich das weite offene Land meiner Heimat gegen das beengte, muffige Innere von diversen Minivan-Taxis eingetauscht habe. Wir stehen am Straßenrand in der Nähe einer Tankstelle knapp außerhalb von Pietermaritzburg, schon jetzt zusammengepfercht wie Vieh, während wir darauf warten, dass das Fahrzeug noch noch voller wird. Der Fahrer will nicht starten, bis sich weitere vier Passagiere auf den Rücksitz quetschen, auf dem nur zwei bequem sitzen könnten. So war es schon die ganze Reise über: Ich verbrachte mehr Zeit mit Warten als in Bewegung.

Das Mädchen sieht mich mit gerunzelter Stirn an, als wäre ich ein Problem, dass sie lösen müsse. »Ich habe mir überlegt … Du bist nicht wirklich eine von uns, Mutter, oder?«

»Was meinst du, mein Kind? Ich bin von hier, genau wie du.« Wir reden Xhosa, unsere Muttersprache, und sind beide aus der Transkei aufgebrochen, dem Xhosa Bantu Homeland. Ich weiß, dass ich die Verbindungen zwischen unseren beiden Klans mittels einiger weniger Fragen feststellen könnte, wenn ich die Energie für die übliche freundliche Plauderei hätte.

»Ich meine nur, dass du nicht wie wir anderen bist, Mutter. Irgendetwas an dir ist anders. So wie du redest und was du sagst.«

Sie meint wahrscheinlich damit, dass ich wie eine gebildete Frau spreche, wohingegen die meisten aus unserem Volk nicht einmal ihren eigenen Namen schreiben können. Ich habe das schon viele Male zuvor gehört, diese Feststellung, ich sei keine von ihnen, obwohl ich genauso schwarz, arm und unterdrückt bin wie der Rest meines Volkes. Manchmal schwingt darin Bewunderung und Respekt mit, häufiger aber Kritik. Ich werde nie verstehen, warum wir so argwöhnisch miteinander umgehen. Warum wir alle so sehr fürchten, dass einer von uns sich über seinen Status erhebt, wo doch der weiße Mann als selbst ernannter Wächter darauf achtet, dass das niemals geschieht. Wenn es eines gibt, das eine schwarze Frau vom Moment ihrer Geburt an weiß, dann, wo ihr Platz ist; sie braucht niemanden, der sie daran erinnert.

»Ich bin Lehrerin«, sage ich als Erklärung.

»Hayibo.« Phelisa lächelt. Die Vorstellung, dass eine Frau Lehrerin ist, amüsiert sie. »Mein Lehrer war ein Mann. Ich bin zwei Jahre zur Schule gegangen.«

Aus ihrem schüchternen Lächeln schließe ich, dass sie stolz darauf ist. Sie hat es geschafft, bis zum Alter von neun Jahren in der Schule zu bleiben, was bedeutet, dass sie das Alphabet, einfache Wörter und die Grundrechenarten kann. Dies ist alles an Bildung, was sie je erhalten wird.

Ich tätschele ihr das Knie, zu traurig, um ihr das verdiente Lob zu schenken, und wechsle das Thema. »Warum fährst du nach Johannesburg?«

»Der Vater meines Kindes arbeitet in den Minen, schickt aber kein Geld. Ich mache mir Sorgen.«

Ich nicke, spreche aber meine Gedanken nicht aus. Wenn sie ihn findet, wird er wahrscheinlich kein Geld haben, um es ihr zu geben, und er wird auch nicht nach Hause kommen, um sich um sie und das Kind zu kümmern. Es gibt keine Arbeit für junge Männer in den Homelands, und die Bergwerksindustrie entreißt sie ihrer Kultur, ihrem Klan und ihren Gebräuchen. Elf Monate im Jahr leben und atmen sie die Dunkelheit unter Tage, und irgendwie sickert sie in ihre Seelen. Das wenige Geld, das sie haben, geben sie oft für Zerstreuungen wie Frauen, Glücksspiel und Alkohol aus.

»Und du, Mutter? Warum fährst du hin?«

»Mein Bruder hat mir einen Brief geschickt, weil er sich Sorgen um meine Tochter macht. Sie wohnt in diesem Jahr bei seiner Familie in Soweto, während sie dort die Schule abschließt. Es muss irgendwelche schrecklichen Unruhen im Township geben, denn er hat gesagt, sie schwebt in Gefahr. Ich hole sie ab.«

Sie nickt. »Ich habe gehört, das Township ist ein gefährlicher und gottloser Ort. Es heißt, da gibt es Shebeens, wo sich die Leute illegal betrinken, und Tanzsäle, Glücksspiel und Prostituierte. Ich habe sogar gehört …«

Ich unterbreche sie und wechsle das Thema, weil ich schon Sorgen genug habe, ohne die Verkommenheit Sowetos in vollem Ausmaß zu beleuchten. »Soll ich einmal deinen Jungen nehmen?«

»Ja, gerne, vielen Dank, Mutter.« Sie nimmt mein Angebot dankbar an, reicht mir das schlafende Kind herüber und steigt dann aus dem Bus, um sich die Beine zu vertreten.

Eine weitere Stunde vergeht, und zwei zusätzliche Passagiere bezahlen für die Fahrt. Das Kind wacht auf, und ich gebe es seiner Mutter zurück, damit sie es füttern kann. Ich muss zur Toilette, will aber den alten Mann nicht aufwecken, der auf meiner anderen Seite schläft. Er hat seine dünnen Arme und Beine eng an den Körper gelegt, um so wenig Platz wie möglich einzunehmen. Ich spüre an meinem Arm, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt, und ein trockenes Pfeifen – wie Wind im Schilf – entschlüpft seinen Lippen. Gerade, als ich es wirklich nicht mehr aushalten kann, erwacht er von seinem eigenen Schnarchen.

»Entschuldige, tat’omkhulu, ich müsste mal vorbei.« Er macht mühsam Platz, um mich vorbeizulassen, und berührt seinen Hut zum Gruß, als ich aus dem Bus steige.

Zwei neunachsige Lkw rasen vorbei, wirbeln Kies auf und hüllen mich in eine Wolke von Auspuffgasen. Ihnen folgt ein Bakkie mit einem Bootsanhänger, wahrscheinlich auf dem Weg nach Durban. Das Meer liegt ungefähr hundert Kilometer entfernt, und jeder weiß, dass die Weißen aus Johannesburg mindestens einmal im Jahr an die Küste Natals reisen, um dort Urlaub zu machen. Sie verbringen ihre dreiwöchigen Ferien, indem sie am Strand liegen, im warmen Indischen Ozean baden und angeln, um Fisch umsonst zu bekommen, obwohl sie es sich leisten könnten, ihn im Geschäft zu kaufen. Ich habe keine Ahnung, warum sie stundenlang in der Sonne braten, um braun zu werden, wo sie unsere Hautfarbe doch so abstoßend finden.

Ich habe das Meer noch nie gesehen, und meine Vorstellung davon stammt von Fotografien in Büchern und Zeitschriften. Ich habe nie nahe genug am Meer gelebt, um einfach so hinfahren zu können, und seitdem Schwarze nicht mehr an den Stränden oder im Wasser erlaubt sind, würde es sich ohnehin nicht mehr lohnen. Ich kann nicht schwimmen, aber es wäre schön, bis zu den Knien im Wasser zu waten und das Salz auf meiner Haut zu spüren.

...Ende der Leseprobe