Wie man Gott zum Lachen bringt - Bianca Marais - E-Book

Wie man Gott zum Lachen bringt E-Book

Bianca Marais

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Beschreibung

Am 10. Mai 1994 bricht mit Antrittsrede Nelson Mandelas eine neue Zeitrechnung für Südafrika an. Am selben Tag wird auf einer Farm in einer Weißensiedlung bei Magaliesburg ein schwarzes Neugeborenes gefunden. Die beiden Schwestern Ruth und Delilah nehmen den Säugling bei sich auf und erleben, wie über Generationen verfestigte Ansichten über Rasse und Identität ins Wanken geraten. Doch sie müssen sich auch gegen den militanten Rassismus ihrer Nachbarn zur Wehr setzen. Währenddessen macht sich nicht weit von Magaliesburg entfernt die siebzehnjährige Zodwa auf die Suche nach ihrem Baby, das am Tag seiner Geburt spurlos verschwand ...

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Buch

Südafrika 1993: Die siebzehnjährige Zodwa lebt mit ihrer kranken Mutter Leleti in einer Armensiedlung vor den Toren Johannesburgs. Als Zodwa ungewollt schwanger wird, bricht für sie eine Welt zusammen: Sie kann die Schule nicht beenden – ihre einzige Chance auf eine bessere Zukunft in einem Land, das von Bürgerkriegsgefahr und den verheerenden Auswirkungen der Aids-Epidemie gezeichnet ist. Mit letzter Kraft versucht Leleti ihrer Tochter zu helfen und trifft an dem Tag, an dem Zodwa einen Sohn zur Welt bringt, eine folgenschwere Entscheidung.

Am selben Tag wird auf einer Farm bei Magaliesburg ein schwarzes Neugeborenes gefunden. Die beiden Schwestern Delila und Ruth nehmen den kleinen Jungen vorübergehend bei sich auf. Ruth, eine selbstverliebte Tänzerin, die mit ihrem Leben hadert und Zuflucht auf der Farm ihrer europäischen Vorfahren gesucht hat, entwickelt eine große Zuneigung zu dem Kind, konnte sie doch selbst nie Kinder bekommen. Delila jedoch, die lange in einem Waisenheim in Zaire gearbeitet hat, kann den Anblick des Babys kaum ertragen, da es sie an eine schreckliche Schuld erinnert. Mit der Ankunft des Babys brechen neue Zeiten an. Die beiden ungleichen Schwestern erleben, wie über Generationen verfestigte Ansichten über Rasse und Herkunft ins Wanken geraten und Vergebung möglich wird.

Auch das Land selbst gerät in Bewegung: In Johannesburg hält am 10. Mai 1994 zum ersten Mal ein schwarzer Präsident seine Antrittsrede: Es ist Nelson Mandela. Mit ihm verbinden sich die Hoffnungen von Millionen Schwarzen auf eine gerechtere Zukunft. Von dieser Hoffnung getrieben macht sich auch Zodwa endlich auf, ihren Sohn zu finden.

Übersetzt von Heike Reissig und Stefanie Schäfer

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

»If you want to make God laugh« bei G. P. Putnam’s Sons,

an imprint of Penguin Random House, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Wunderraum-Bücher erscheinen im

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Random House GmbH.

Copyright © der Originalausgabe

2019 by Bianca Marais

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Bärbel Brands

Umschlaggestaltung und Konzeption: Buxdesign | München

Umschlagmotiv: © Collage: Ruth Botzenhardt; Eule: Creativmarket/Piñata

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25293-9V001

www.wunderraum-verlag.de

Für Poodle

(Tut mir leid, was ich mit Sodom und Gomorrha gemacht habe. Man kann nicht alles haben, aber dir bleiben ja noch »Orc« und »Faloolah«)

KAPITEL EINS

Zodwa

21. November 1993

Sterkfontein, Transvaal, Südafrika

Eine dünne Rauchsäule schlängelt sich hinauf in den wolkenlosen Himmel und dient Zodwa als Orientierungspunkt. Sie strebt darauf zu, bis der sandige Weg plötzlich steil abfällt und eine Hütte sichtbar wird, die sich in das Grasland unterhalb von ihr duckt. Eine Frau sitzt wartend auf der Schwelle, nach vorn gekrümmt wie ein Fragezeichen, und ihr Kopfschmuck aus weißen Perlen verdeckt teilweise ihr Gesicht. Ein Leopardenfell umhüllt ihre Schultern, und der Anblick beruhigt Zodwa; der golden und schwarz gesprenkelte Pelz-ibhayi bedeutet, dass die nyanga eine mächtige Heilerin ist.

Die Frau kaut Tabak, den sie ausspuckt, als Zodwa sie erreicht. »Warum hast du so lange gebraucht?«, murrt sie und richtet sich mit ihren arthritischen Knien mühsam auf.

»Woher wusstest du, dass ich komme?« Zodwa hat bis heute früh selbst nicht gewusst, dass sie diese Reise unternehmen würde.

»Die Ahnen haben es mir gesagt.« Die nyanga streckt die Hand aus.

Zodwa greift in ihren BH und holt ein paar zerknitterte Geldscheine heraus. Mehr hat sie nicht. »Was kostet es?«

Die knorrige Hand der nyanga schnellt hervor und schnappt sich alles, bevor Zodwa protestieren kann. Die Frau verschwindet im Halbdunkel und winkt Zodwa, ihr zu folgen. Innen sieht die Hütte ganz normal aus: runde Außenwände, Strohdach und Fußboden aus festgestampftem Dung, aber Zodwa weiß, dass sie von den Geistern verstorbener Clanmitglieder erfüllt ist; die ndumba ist ein heiliger Ort.

Die Heilerin bedeutet Zodwa, sich auf den Boden zu setzen. »Wie alt bist du, Kind?«

»Ich bin siebzehn«, antwortet Zodwa. »Beinahe achtzehn.« Sie weiß, dass sie jünger aussieht, und führt es auf ihre rundliche Wangenpartie zurück, die ihrem Gesicht einen kindlichen Ausdruck verleiht.

Die Heilerin mustert Zodwa von Kopf bis Fuß, und die junge Frau errötet, weil sie weiß, dass der alten Frau nicht gefällt, was sie sieht. Der Saum ihres schwarzen Faltenrocks reicht Zodwa zwar bis über die Knie, ist aber dennoch zu kurz, um den Traditionen gemäß als sittsam zu gelten. Die weiße Bluse ist einen Tick zu eng, aber nur weil Zodwa aus ihr herausgewachsen ist, nicht weil es ihr gefällt.

Die nyanga hält eine Kalebasse hoch. »Undlela zimhlophe«, erklärt sie, bevor sie den Inhalt leert. Sie humpelt zu einer Matte und kniet sich hin.

Die Mittagszeit ist schon vorbei, und die wirkmächtige Wurzel muss auf leeren Magen eingenommen werden, um die hellseherischen, prophetischen Träume auszulösen, die der nyanga helfen, die Stimmen der Ahnen zu hören. Die alte Frau muss hungrig sein. Auch Zodwa hat Hunger, aber nicht weil sie gefastet hat. Ihr Hunger ist kein vorübergehender, der rasch gestillt werden kann; es ist ein nagender, der sich in einem Magen einnistet, der zu lange leer gewesen ist. Es ist ein aus Armut geborener Hunger.

Die nyanga fängt an zu stöhnen und sich vor und zurück zu wiegen. Der Geruch von brennendem impepho liegt in der Luft, und der Salbei füllt Zodwas Lunge mit jedem Atemzug, vernebelt ihre Sinne mit seinem hypnotischen Duft. Die halbdunkle, warme Hütte erinnert sie an zu Hause. Jedenfalls das Zuhause, das sie mit ihrer Großmutter in KwaZulu geteilt hat, bevor sie vor ein paar Monaten zu ihrer Mutter in das Squatter Camp gezogen ist.

Ihre Großmutter hat sich zunächst gesträubt, Zodwa an Leleti abzugeben, und wenn man bedenkt, was schon alles passiert ist, kann Zodwa ihr das nicht verübeln. Ihre gogo hat ihren einzigen Sohn, Zodwas Vater bei einem Minenunglück in der Goldstadt verloren, und Zodwas Bruder Dumisa ist mit achtzehn Jahren spurlos verschwunden, knapp ein Jahr nachdem er nach Johannesburg gegangen war. Zodwa war damals sieben.

»Du musst sehr vorsichtig sein, mein Kind«, hat Zodwas gogo sie gewarnt, bevor sie das Dorf verließ, um in die Township zu gehen. »In der Stadt passieren schlimme Dinge. Ihre Götter sind hungrig und verlangen Opfer. Lass nicht zu, dass du eines von ihnen wirst. Du musst fleißig lernen, mzukulu wami«, fügte ihre Großmutter hinzu. »Du musst tapfer sein, aber versuch nicht, auf dieselbe Art deinen Mut zu beweisen wie dein Bruder. Wenn dein Licht zu hell scheint, wird immer jemand versuchen, es auszulöschen. Und gib den Versuchungen nicht nach. Die Stadt lässt Mädchen ihre Tugend und Bescheidenheit vergessen. Sie macht, dass sie sich schamlos benehmen. Vergiss nicht, mein Kind, dass ein guter Brautpreis auf Respekt beruht.«

Zodwa hat versucht, dem Rat ihrer gogo zu folgen, das hat sie wirklich, aber die Township weckte etwas in ihrem Inneren. Es war, als hätte die Elektrizität der Stadt ihren Körper kurzgeschlossen, und egal wie sehr sie versuchte, ihre Gedanken rein zu halten, sie sträubten sich.

Es wird keinen guten Brautpreis für sie geben. Es wird gar keinen Brautpreis geben, da ihr niemand einen Heiratsantrag gemacht hat.

Als sich die nyanga von ihrem Platz auf dem Boden erhebt, wird Zodwa aus ihren Gedanken gerissen. Die alte Frau krümmt sich unter Schmerzen, als sie sich mit steifen Knien aufrichtet und zu Zodwa hinüberschlurft.

»Die amadlozi sind böse auf dich«, krächzt sie mit heiserer Stimme.

Davor hat sich Zodwa am meisten gefürchtet. Niemand möchte den Zorn der Ahnen auf sich ziehen. »Wegen des Babys?«

Die alte Frau wirft Zodwa einen verschlagenen Blick zu. »Nein, die Ahnen meinen nicht das Baby.«

Zodwa lässt den Kopf hängen, und die altbekannte Scham schlängelt sich wieder ihre Wirbelsäule hinauf.

»Was hast du geträumt, als du zum letzten Mal geschlafen hast?«, fragt die Heilerin.

Die Antwort fällt Zodwa nicht schwer, da der Albtraum sie den ganzen Tag verfolgt hat. »Ich habe geträumt, dass ich verfolgt werde.«

»Von wem oder was?«

Zodwa erschauert innerlich. »Von zwei weißen Eulen. Ihre Schwingen erstreckten sich über den ganzen Himmel und verdunkelten die Sonne.«

Die Furchen auf der Stirn der Heilerin vertiefen sich. »Und was ist dann passiert?«

»Ich dachte, sie würden mich töten, aber sie waren nicht hinter mir her.«

»Hinter wem denn?«

»Dem Baby. Sie haben es mir entrissen und sind weggeflogen.«

Die nyanga nickt und seufzt. »Es ist so, wie die Ahnen gesagt haben. Du führst einen Krieg gegen dich selbst, indem du dem falschen Weg folgst. Du hast es nur dir selbst zuzuschreiben, dass du jetzt dieses Kind erwartest, das dir noch größeres Leid bringen wird.«

»Was soll ich machen?«

»Wegen des Babys … Das kannst nur du entscheiden.« Die nyanga zuckt mit den Achseln. »Ich kann dir Kräuter geben, um es loszuwerden. Was die andere Sache angeht … Die Ahnen sagen, dass du dem Weg folgen musst, der dir vorherbestimmt ist. Nur dann wirst du Ruhe finden.«

Daran kann Zodwa im Augenblick nicht denken. Frieden und Ruhe würde ihr nur der Abbruch der Schwangerschaft bringen, die das dringendere ihrer Probleme ist. »Ich nehme die Kräuter.«

»Es könnte schon zu spät sein.« Das Gesicht der nyanga ist undurchdringlich, als sie sich umdreht und zu dem Tisch humpelt, auf dem Dutzende von Tiegeln und Körben stehen.

Zielsicher bewegt sie sich zwischen ihnen hin und her, wählt Zweige aus dem einen und Wurzeln aus einem anderen Gefäß, während sie ihren Trank vorbereitet. Sie füllt Wasser in einen Dreibeinkessel und gibt die Zutaten hinein, bevor sie den Topf über die Feuerstelle in der Mitte des Raums stellt. Unter Rühren bringt sie die Mixtur zum Kochen und seiht sie anschließend durch ein Tuch ab.

»Trink«, sagt sie und reicht Zodwa eine Kalebasse mit bitter riechendem Gebräu.

Zodwa wird neuerdings von vielem übel, aber dieser Trank ist besonders widerlich. Sie zwingt sich, ihn zu trinken, würgt zwischendurch ein paarmal und erbricht ihn beinahe wieder.

Als sie den letzten Tropfen geschluckt und sich den Mund abgewischt hat, nimmt ihr die nyanga die Kalebasse wieder ab. »Jetzt warten wir.«

KAPITEL ZWEI

Delilah

22. April 1994

Goma, Zaire

Der Brief, der alles veränderte, traf ein, als Xavier und ich gerade versuchten, den Generator zu neuem Leben zu erwecken, nachdem der Strom wieder einmal ausgefallen war. Da das Waisenhaus über zweihundert Kinder beherbergte, war der Mangel an Strom für Licht und Heizung schon schlimm genug, aber kein Wasser aus dem Bohrloch pumpen zu können bedeutete eine potenzielle Katastrophe.

Dabei waren die Nerven aller bereits so gespannt wie Drahtseile, nachdem das Flugzeug mit den Präsidenten von Ruanda und Burundi vor zwei Wochen abgeschossen worden war. Tausende Ruander rannten um ihr Leben, und die Tutsis strömten über die Grenze nach Zaire. Wir alle waren in voller Alarmbereitschaft und mussten jederzeit darauf vorbereitet sein zu flüchten, falls das ruandische Militär Stoßtrupps über die Grenze schickte. Es schien immer wahrscheinlicher, dass dies geschehen würde.

Natürlich war der Generator nutzlos ohne Brennstoff, von dem jedoch jeder Tropfen in die Tanks der Landrover gewandert war, falls wir das Waisenhaus evakuieren mussten. Ich musste etwas davon für die Maschine absaugen, aber das widerspenstige Biest weigerte sich immer noch, das Opfer anzunehmen und anzuspringen.

Ich blickte zum Horizont, zur Sonne, die bald untergehen würde. Xavier konnte im Dunkeln nicht arbeiten, deswegen blieb uns nicht mehr viel Zeit. Ich wollte schon durch eine Socke Reste von Sonnenblumenöl filtern, das als Schmierstoff dienen konnte, falls Xavier es brauchte, als jemand meinen Namen rief.

Ich drehte mich um und sah, wie Doctor breit grinsend auf mich zugerannt kam, wobei er mit einer Hand irgendetwas schwenkte. Alle traten zurück, als er über den Spielplatz lief. Er war wie Moses, der das Rote Meer teilte. »Granny! Granny!«, rief er.

So nannten die Kinder alle über vierzig, und da ich schon auf die sechzig zuging, war es mehr als passend. Als ich noch sehr viel jünger als Sozialarbeiterin jenseits der südafrikanischen Grenze anfing, wurde ich »Mother« genannt. Das hatte sich angefühlt wie ein Schlag ins Gesicht, als verhöhnte man mich für meine Kinderlosigkeit, was natürlich nicht der Fall war. Viele Länder und Missionen später, nachdem ich mich um Tausende von Kindern gekümmert hatte, hatte ich mich endlich daran gewöhnt. Als Doctor auf mich zugerannt kam, hätte ich ihn für seine Unvorsichtigkeit in der Nähe der Maschine schelten sollen, aber ich tat es nicht. Seine Lebensfreude war so unverfälscht, dass ich mich eines Tages dabei ertappt hatte, wie ich ihn bevorzugte und sogar von den Regeln entband, die für alle anderen galten. Meine besondere Zuneigung für den Jungen basierte nicht nur auf seiner positiven Lebenseinstellung; ich hatte ihn fünf Jahre zuvor auf die Welt geholt.

Obwohl ich Geburtshilfe nicht gelernt hatte, war ich eingesprungen, als sämtliche Hebammen sich geweigert hatten, seiner HIV-positiven Mutter zu helfen, damals, als HIV noch so selten war, dass es eher als schwarze Magie denn als eine Krankheit betrachtet wurde. Die Wehen hatten ein paar Wochen zu früh eingesetzt, nachdem man die Frau mit Gewalt aus dem Dorf gejagt und beinahe zu Tode gesteinigt hätte. Ich war entschlossen, nicht zuzulassen, dass sie eine weitere Prüfung allein durchstehen musste.

Über Satellitentelefon von einem Geburtshelfer der Ärzte ohne Grenzen gecoacht bastelte ich mir einen improvisierten Schutzanzug, bevor ich half, Doctor auf die Welt zu bringen. Wir hatten Glück: Trotz der gesundheitlichen Probleme seiner Mutter war es eine Bilderbuchgeburt.

Sie drückte ihn anschließend eine Stunde lang an ihre Brust, zu schwach, um sich aufzusetzen, aber zu widerspenstig, um ihn sich von mir abnehmen zu lassen. Sie hielt ihn im Arm, und ich hielt sie. Meine von einem Handschuh geschützte Hand lag über ihrer nackten, die auf seinem mageren Popo ruhte.

»Der hier wird mal ein großer Mann«, sagte sie und lächelte schwach. »Ich nenne ihn Doctor.« Einen ehrenvolleren Namen hätte sie ihm in ihrer Vorstellung nicht geben können. Es deprimierte mich, dass die medizinische Zunft nichts für sie hatte tun können.

Ich habe mich seitdem oft gefragt, ob ein Kind im Bauch durch die starke Liebe einer Mutter vor den Schrecken der Welt gewappnet werden konnte und ob diese Liebe einem Kind Freude einzuflößen vermochte, selbst wenn es ihre Gegenwart nicht mehr konnte. Gott weiß, wenn es je eine Frau gegeben hatte, die leben wollte, um ihr Kind großzuziehen, dann diese. Sie kämpfte wie eine Ausgeburt der Hölle, damit er auf die Welt kommen konnte. Sie sagte mir, sie habe es deswegen getan, weil er das Einzige in ihrem Leben war, was einzig und allein ihr gehörte.

»Ich habe einen Brief für dich, Granny«, sagte Doctor jetzt und lächelte stolz, als er mir den Umschlag reichte.

Der Junge war erschreckend dünn und ganz außer Atem von dem kurzen Sprint. Sein Atem klang besorgniserregend, als wäre die Luft etwas Festes, das zerhackt werden musste. Dennoch hatte Doctor jetzt schon drei Jahre länger überlebt, als irgendeiner von uns erwartet hätte, und er akzeptierte stoisch seinen Zustand.

»Danke, dass du ihn mir gebracht hast, Doctor. Das hast du gut gemacht«, sagte ich feierlich, streckte die Hand nach ihm aus und drückte seine Schulter. Er strahlte bei der Berührung. »Könntest du ihn in meine Tasche stecken?«, bat ich, zeigte ihm meine schmutzigen Hände und drehte mich um, so dass er den Umschlag hinten in meine Gesäßtasche stecken konnte.

Es war nach Mitternacht, als Xavier und ich uns endlich trennten, erschöpft, aber erfolgreich. Der Generator lief wieder. Die Katastrophe war für einen weiteren Tag abgewendet worden. Ich suchte Zuflucht in meinem Zimmer, schleppte mich zum schmalen Bett und hob das Moskitonetz an, um mich auf das Baumwolllaken zu setzen, für das ich ein Vermögen bezahlt hatte.

Von meinem Platz aus blickte ich auf meinen improvisierten Kleiderschrank, der aus einer Stange bestand, die zwischen zwei Pfeilern aus aufeinandergestapelten Holzklötzen balancierte. Die wenigen Kleidungsstücke, die ich besaß, waren dort aufgehängt, während mein leerer Rucksack aufrecht in einer Ecke des Raums stand. Amelia, die UN-Hilfskoordinatorin, hätte einen Anfall bekommen, wenn sie das gesehen hätte, da wir strikte Anweisungen hatten, uns jederzeit für die Evakuierung bereitzuhalten.

Doch wohin floh man, wenn man sich bereits im Fegefeuer befand und auf allen Seiten von der Hölle umzingelt war? Und wie konnte Flucht eine Option sein, wenn sie bedeutete, sich selbst zu retten, dabei aber Hunderte wehrloser Kinder im Stich zu lassen?

Ich zündete die Kerze auf meinem Nachttisch an und verdrängte die Gedanken an die Bedrohung jenseits der Grenze, genauso wie das Licht die Dunkelheit zurückdrängte. Dann bückte ich mich, um die Schnürsenkel meiner Boots zu lösen. Normalerweise trugen wir Flipflops wegen der Hitze, aber sie waren diese Woche verbannt worden, weil es unmöglich war, in ihnen zu rennen. In den Boots bekamen wir zwar Schweißfüße, aber man stolperte nicht darin oder verknackste sich den Knöchel, wenn man sich schnell in Sicherheit bringen musste.

Als ich die Schuhe abgestreift hatte, zog ich den zerknitterten Umschlag aus meiner Hosentasche. Ich hielt die Kerze an die Briefmarke und achtete darauf, die Flamme nicht am Papier lecken zu lassen. Der Brief war in Johannesburg aufgegeben worden, aber das Datum war zu verschmiert, um es lesen zu können. Es stand kein Absender darauf, aber ich erkannte die Handschrift wieder, obwohl ich sie seit vielen Jahren nicht gesehen hatte.

Mein Puls beschleunigte sich, als ich den Kerzenhalter abstellte und mit den Fingern unter die Umschlagklappe fuhr. Ich zwängte sie hinein, bis das Siegel brach, und fand ein einzelnes Blatt Luftpostpapier darin. Als ich es auseinanderfaltete, flatterte ein Polaroidfoto zu Boden. Ich bückte mich, hob es auf, und als ich es umdrehte, setzte mein Herz beim Anblick des Gesichts darauf aus. Ich legte das Foto beiseite und hielt den Brief ans Licht.

Meine liebe Delilah,

ich bete, dass dieser Brief sicher in deine Hände gelangt. Bitte vergib mir, dass ich schlechte Nachrichten überbringen muss, und dann auch noch auf so unpersönliche Weise.

Das Blatt zitterte in meinen Fingern, während unverständliche Wörter über seine Oberfläche wanderten: Pater Daniel … Pfarrhaus … Raubüberfall … Johannesburger Allgemeinkrankenhaus … Koma … ringt um sein Leben … Ich musste ihn drei Mal lesen, bevor ich die ganze Tragweite der Nachricht erfasste. Die Vergangenheit lockte, und ich hatte keine andere Wahl, als ihrem Sirenenruf zu folgen.

Ich würde so bald wie möglich abreisen.

KAPITEL DREI

Ruth

22. April 1994

Clifton, Kapstadt, Südafrika

Ich muss meinen Unterarm benutzen, um den beschlagenen Badezimmerspiegel freizuwischen, weil ich beide Hände voll habe: In einer halte ich ein Weinglas und in der anderen das Rasiermesser. Die Tabletten habe ich schon genommen, so muss ich nicht auch noch das Tablettenröhrchen halten. Wenigstens eine kleine Annehmlichkeit.

»So viel zum Reisen mit leichtem Gepäck, wenn’s ans Sterben geht«, murmele ich mit der Zigarette zwischen meinen Lippen und kichere, als ich mein verschwommenes Spiegelbild sehe. Die Zigarette steckt verkehrt herum in meinem Mund, und der Filter qualmt. Als mein Blick jedoch vom Mund aus weiter nach oben wandert, vergeht mir das Grinsen. Mein Mascara ist völlig verschmiert und hat sich in den Krähenfüßen rings um meine Augen abgelagert. Ich sehe aus wie ein Waschbär im Fummel.

Ich seufze, stelle das Glas ab und lege das Rasiermesser hin. Altwerden ist scheiße. In den Spiegel zu gucken und ein zerfließendes Wasserspeiergesicht zu sehen, das in nichts mehr dem eigenen gleicht, ist auch scheiße. Im Grunde ist das ganze Leben total scheiße.

Ich rupfe die nutzlose Zigarette aus dem Mund und spucke Tabakkrümel aus. Dann stecke ich die Zigarette richtig rum wieder rein, drehe den Wasserhahn der Badewanne zu und gehe zurück in die Küche, um ein Feuerzeug zu holen und mein Glas aufzufüllen. Ich stelle es auf die Marmoranrichte neben zwei fast leere Weinflaschen und das Telefon, das ich von der Station genommen habe. Ich ermahne mich, auf die Uhr zu sehen, um zu überprüfen, wie viel Zeit vergangen ist, seitdem ich angerufen habe. Mir bleiben noch ungefähr fünfzehn Minuten, aber die Tabletten benebeln mich, so dass ich nicht ganz sicher sein kann.

Ich zünde die Zigarette an und inhaliere tief. Mein Blick wird von dem vergrößerten und eingerahmten Zeitschriftencover angezogen, das mich vor dreißig Jahren zeigt und an zentraler Stelle im Wohnzimmer hängt. Es sollte mich trösten, dass ich mal so ausgesehen habe wie dieses nackte, wunderschöne Mädchen, das herausfordernd meinen Blick erwidert – ein Python um den Hals drapiert, der die Brust bedeckt –, doch das tut es nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass dieses Mädchen noch ein Teil von mir ist, es ist eher, als wäre es jemand Jüngeres, Wilderes, den ich früher mal gekannt habe.

Ich reiße mich von ihrem Anblick los und lenke mich mit der Aussicht ab. Sie ist spektakulär. Die umlaufenden Glasfronten rahmen perfekt die funkelnden Lichter von Kampsbaai im Osten ein, während der Infinity Pool genau vor dem Patio die Illusion erweckt, man könnte von unserem Zuhause aus direkt hinaus aufs Meer schwimmen.

Na ja, wenn ich »unser Zuhause« sage, meine ich eigentlich das von Vince. Ich hätte nie diesen verdammten Ehevertrag unterzeichnen dürfen. Verdammt, dabei war ich diejenige, die ihn überhaupt vorgeschlagen hat. Wenn man bis über beide Ohren verliebt ist, trifft man eben manchmal kopflose Entscheidungen. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich sein Geld nicht brauchte, als wir geheiratet haben. Darum ging es bei uns auch gar nicht. Aber ich habe seitdem ein paar Dummheiten gemacht und bin nicht mehr ganz so unabhängig wie damals. Um offen zu sein: Es ist der schlimmstmögliche Zeitpunkt, alles zu verlieren.

Ich drücke die Zigarette aus und starte die CD, die ich vorher ausgesucht habe. Dann leere ich den Rest des Kanonkop Pinotage in mein Glas. Ich stelle den Brief an Vince gegen die leere Flasche, wo er ihn nicht übersehen kann, und kehre mit einem Kerzenleuchter ins Badezimmer zurück. Nachdem die Kerzen angezündet sind (mit Moschusduft, für einen noch dramatischeren Effekt), bleibt mir nicht mehr viel zu tun, außer mich bestmöglich zu inszenieren.

Ich wische die schwarzen Flecken weg, tusche meine Wimpern neu und trage knallroten Dior-Lippenstift auf. Dann muss ich mir nur noch überlegen, ob ich nackt in der Badewanne liegen will oder nicht. Nackt würde mehr Eindruck schinden, aber das alte Gestell ist nicht mehr das, was es mal war. Ich möchte Vince daran erinnern, was er verliert, und ihn nicht in die Berge jagen.

Ich komme zu dem Entschluss, dass ein Killerdekolleté der beste Freund einer Frau ist und behalte meinen La-Perla-Spitzen-BH und den passenden Slip an, greife wieder nach meinem Weinglas und dem Rasiermesser und steige ins Bad. Ich deponiere alles auf dem Wannenrand und lasse mich ins Wasser gleiten. Air Supply schmachtet laut »Without You« aus den versteckten Lautsprechern. Ich möchte, dass dieser Song läuft, wenn Vince mich findet; den CD-Player habe ich auf Wiederholung gestellt, da ich nicht genau weiß, wann er kommt.

Mir verschwimmt alles vor den Augen, und ich blinzele ein paarmal. Das Badewasser könnte für den besseren Effekt ein bisschen Blut vertragen, aber ich will mich lieber nicht zu sehr schneiden oder zu viel Blut verlieren, deswegen werde ich mich erst in letzter Minute ritzen. Schon der Anblick meiner eigenen Periode reichte damals, als ich sie noch hatte, damit mir schwummrig wurde.

Ich lasse mich tiefer ins Wasser sinken, um meine Rückenmuskulatur zu entspannen, und trinke einen Schluck Wein, vorsichtig, damit kein Badewasser über den Rand des Glases schwappt. Preisgekrönten Wein zu verdünnen wäre ein Sakrileg. Der Schweiß läuft mir von der Stirn in die Augen. Immer noch kein Lebenszeichen von Vince, aber er wird kommen. Natürlich wird er das.

Aber angenommen, er kommt nicht?

Ich verdränge den Gedanken und schließe für einen Moment die Augen. Das Wasser reicht mir bis knapp unter die Nase. Ein angenehmes, kitzelndes Gefühl.

KAPITEL VIER

Zodwa

21. November 1993

Sterkfontein, Transvaal, Südafrika

Eine Stunde, nachdem Zodwa das Gebräu getrunken hat, setzen die Krämpfe ein. Sie beginnen wie sich kräuselnde Wellen auf einem Teich, werden aber schon bald zu Meereswogen, die sie von einer Seite auf die andere werfen. Als der Schmerz den Gipfel erreicht, werden sie zu Brechern mit weißer Gischt, die schäumen, bis sich Zodwa auf den Boden kniet und ihren Bauch umklammert.

Nein! Nein! Nein!

Ihr Darm entleert sich, und Zodwa stöhnt auf, als sie nach dem Eimer greift, den die nyanga neben sie gestellt hat. Der Salbeiduft ist zum Geruch von Leid geworden und quält Zodwa noch mehr als der Gestank ihrer Ausscheidungen.

Vielleicht ist dies ihre Strafe für den Versuch, den Willen des Herrn nach ihrem eigenen zu beugen. Sie weiß, dass ihre Mutter es zutiefst missbilligen würde, dass sie hierhergekommen ist und versucht, Gott zu spielen. Als die Krämpfe endlich abebben, wird Zodwas Stöhnen zu einem Wimmern. Zusammengekrümmt liegt sie da, zitternd und vollkommen erschöpft, und sieht zu, wie die nyanga sich von ihrem Platz am Feuer erhebt und zu ihr herüberhumpelt. Grob spreizt sie Zodwas Schenkel und fasst dazwischen. Ihre Finger kommen sauber heraus.

»Kein Blut. Das Baby will nicht gehen. Es hat gekämpft und gewonnen. Mögest du stärker sein, um den anderen Kampf zu gewinnen. Jetzt geh, Kind. Du hast diese alte Frau müde gemacht.«

Zodwa hat kein Geld mehr, um sich wie geplant ein Taxi nach Hause zu nehmen, deswegen muss sie den langen Weg zu Fuß zurücklegen. Ihr ist klar, dass er in Anbetracht ihres geschwächten Zustands wesentlich länger als die fünf Stunden dauern wird, die sie hierher gebraucht hat.

Schwankend entfernt sie sich die ersten fünf Schritte von der Hütte und blinzelt ins Sonnenlicht. Mit ihren geschärften Sinnen glaubt Zodwa, die Wildblumen und Insekten entlang des Weges hören zu können, die zu ihr sprechen. Die rosa-weißen Kosmeenblüten wiegen sich im Wind, als nickten sie ihre Zustimmung zu dem Urteil der Ahnen, dass Zodwa durch und durch eine Enttäuschung ist.

Und das, obwohl sie doch so angestrengt versucht hat, alles richtig zu machen: Sie hat fleißig in der Schule mitgearbeitet und bei Kerzenlicht bis spät in die Nacht gelernt, einen weiten Bogen um die Jungen geschlagen, die sich an den Straßenecken in Grüppchen zusammenfanden, sie hat Angebote von Alkohol und anderen Zerstreuungen abgelehnt, ist eine gehorsame Tochter und Enkelin und eine gute Freundin gewesen.

Eine gute Freundin.

Zodwa kann die Gedanken an Thembeka nicht mehr verdrängen, die sie gemieden hat, seitdem sie wusste, dass sie schwanger war. Thembeka: ihre beste Freundin. Thembeka, deren Freund der Vater des Kindes ist, das Zodwa trägt. So schwer es sein wird, es ihrer Familie beizubringen: Es Thembeka zu sagen wird unendlich viel schlimmer sein.

KAPITEL FÜNF

Delilah

25. April 1994

Goma, Zaire

Meine Abreise aus Goma verlief lautstark und turbulent. Die Kinder umringten mich und rissen mich mit im Wirbel ihres Überschwangs, während ich verzweifelt versuchte, mich loszureißen.

Michel umklammerte mein Bein, während die kleine Sonia bettelte, auf den Arm genommen zu werden. Xavier, mein Kollege und engster Freund im Waisenhaus, marschierte mir voraus, und sein steifer Rücken und seine energischen Schritte verurteilten mich auf eine Art und Weise, für die er keine Worte fand. War ich nicht diejenige gewesen, die ihm erst vor wenigen Wochen gesagt hatte, sie würde auf keinen Fall flüchten, selbst wenn wir den Befehl erhielten? Und dennoch war ich gerade dabei, das sinkende Schiff zu verlassen, ohne auch nur ein Wort der Erklärung abzugeben.

Doctor war nirgends zu finden. Ich hatte am Morgen überall nach dem Kind gesucht, um mich gebührend von ihm verabschieden zu können. Dieser Junge war einfach zu oft im Stich gelassen worden, und er würde mir nicht die Gelegenheit dazu geben, es wieder zu tun. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Ich nahm Abschied in dem Bewusstsein, dass es der denkbar schlechteste Zeitpunkt war zu gehen.

In Anbetracht dessen, was jenseits der Grenze in Ruanda geschah, wurde meine Hilfe im Waisenhaus mehr denn je benötigt. Der Massenmord an den Tutsi ließ Tausende ihrer Kinder verwaist zurück, und der weitverbreitete Einsatz von Vergewaltigungen als Kriegsmittel sowohl von den Milizen als auch den Hutu-Zivilisten würde noch mehr unerwünschte Babys nach sich ziehen, um die man sich kümmern musste. Doch zu bleiben war keine Option mehr.

Als ich auf den Brief hin die Intensivstation des Johannesburger Krankenhauses angerufen hatte, hatte die Krankenschwester am Telefon gefragt, ob ich zur Familie gehöre.

Ich schluckte und erwiderte mit einem Kloß im Hals: »Nein, ich bin nur eine Freundin.«

Sogar das war eine Lüge. Es gab eine Zeit, in der ich so viel mehr für ihn hätte bedeuten können, aber ich war weggelaufen und hatte versucht, die größtmögliche Distanz zwischen uns zu bringen. Ich floh sowohl vor dem Verdikt der Kirche als auch vor meiner eigenen Scham über das, was ich getan hatte.

»Es tut mir leid, aber ich kann Informationen nur an Familienangehörige herausgeben.«

»Könnten Sie mir wenigstens sagen, ob es ihm gut geht? Ich rufe aus Zaire an und breche gerade nach Johannesburg auf, um ihn zu besuchen. Ich möchte einfach nur wissen, ob es ihm gut geht. Bitte!«

Die hörbare Verzweiflung in meiner Stimme erweichte sie. »Ich kann Ihnen nichts weiter sagen, als dass sein Zustand weiterhin kritisch ist.«

Wenigstens lebte er noch. Ich war mir dessen nicht sicher gewesen, da der Brief, in dem mir von seinem Zustand berichtet wurde, zwei Wochen alt war. Es gab immer noch Hoffnung, wenn ich nur rechtzeitig bei ihm sein konnte.

Die Schuldgefühle, die mir durch die Waisenhaustore hinaus gefolgt waren, lähmten mich noch Stunden später, als Xavier mich am Goma International Airport absetzte. Er war ein Bär von einem Mann, hochgewachsen und kräftig, und normalerweise lächelte er über das ganze Gesicht, stets angetrieben von seinem unerschütterlichen Optimismus. Doch in diesem Moment sah er elend aus.

»Xavier …«, sagte ich, brachte aber kein Wort mehr heraus, als wir einander gegenüberstanden.

Ich wollte so sehr, dass er verstand, warum ich gehen musste, aber es gab keinen einfachen Weg, ihm zu erklären, dass ich mich vor fast vierzig Jahren in einen Priester verliebt und eine schreckliche Sünde begangen hatte, während ich selbst auf dem besten Weg war, mein Gelübde als Nonne abzulegen. Ich war daraufhin exkommuniziert worden und hatte mich bereit erklärt, ohne Aufhebens die katholische Kirche zu verlassen, um Daniel die Schande zu ersparen.

Denn egal wie sehr ich ihn geliebt hatte – egal ob er möglicherweise gewollt hätte, dass ich Teil seines Lebens blieb, egal welche Konsequenzen das hatte –, ich wusste, dass er mich irgendwann dafür verachtet hätte, wenn ich geblieben wäre. Die Wahl, ihn aus weiter Ferne zu lieben, war die schwerste Entscheidung, die ich jemals treffen musste. Manchmal verlangt ein Opfer, das wir als sinnvoll erachten, einen zu hohen Preis, um ihn jemand anders abverlangen zu können.

Es gab keine Möglichkeit, lebenslangen Herzschmerz in eine einfache Erklärung zu packen, deswegen tätschelte ich Xavier nur verlegen am Arm, entschuldigte mich und wandte mich zum Gehen.

Als das Flugzeug ein paar Stunden später abhob, glitzerte das Sonnenlicht auf dem Lake Kivu. Ich sah zu, wie der vulkanische Gipfel des Mount Nyiragongo zu einem harmlosen Flecken am Horizont wurde. Erst als wir in Kinshasa landeten und ich auf meinen Anschlussflug nach Johannesburg wartete, spürte ich endlich, wie die Last der Schuldgefühle ein wenig leichter wurde.

»Ich komme, Daniel«, flüsterte ich. »Ich komme. Halte durch!«

KAPITEL SECHS

Ruth

23. April 1994

Groote Schuur Hospital,

Kapstadt, Südafrika

Ich erwache in einem Krankenhausbett, was überhaupt keinen Sinn ergibt. Dieser klinische Geruch, die piependen Maschinen, die quietschenden Schuhe auf dem Linoleum, der potthässliche Baumwollkittel: alles kompletter Blödsinn.

Nur ein Gutes hat die Sache: Vince ist da.

Er sitzt schlafend auf dem Stuhl neben mir und sieht unermesslich traurig aus. Oh mein Gott, wie ich mich in dieses Basset-Gesicht mit den noblen Hängebacken und seelenvollen braunen Augen, dem Bartschatten und den unregelmäßigen Grübchen verliebt habe! Und wie sehr ich es immer noch liebe, obwohl es in letzter Zeit mir gegenüber so verschlossen war, verhärtet von Enttäuschung und Missbilligung.

Vince muss meinen Blick gespürt haben, denn er schlägt plötzlich die Augen auf. »Ruth!« Er klingt resigniert.

Ich lächle, um meine Verletztheit zu überspielen. »Hey, Baby«, flüstere ich. Ich habe Halsschmerzen. Warum das? Dann fällt es mir wieder ein. Man hat mir den Magen ausgepumpt.

Vince reibt sich die Augen, und seine riesigen Hände bedecken für einen Augenblick sein Gesicht. Sein Armani-Anzug ist ganz zerknittert, und seine Seidenkrawatte hängt ihm lose um den Hals wie eine Henkerschlinge. Die beiden oberen Hemdknöpfe sind geöffnet, und graues Brusthaar kräuselt sich heraus.

»Wo bin ich?«

»Im Groote Schuur Hospital«, antwortet er.

»Du siehst richtig scheiße aus.« Ich lächle. »Du hättest dich wenigstens ein bisschen zurechtmachen können, bevor du mich besuchst.« Ich hoffe auf ein Lachen, denn das war immer unser Ding.

Es ist vorbei. Ich ernte nicht mal ein Lächeln. »Du wärst beinahe gestorben«, sagt er.

»Unsinn!«, erwidere ich schroff, zu müde und schwach, um das Geplänkel weiterzuführen. Natürlich wäre ich nicht beinahe gestorben. Ich hatte keinerlei Absicht zu sterben. Ich wollte nur seine Aufmerksamkeit, sonst nichts. »Ich habe doch nur zwei Rohypnol genommen.« In Anbetracht der Menge an Medikamenten, die ich immer in meiner Handtasche und im Badezimmerschrank aufbewahre, hätte ich mich mehrmals umbringen können, wenn ich es wirklich gewollt hätte.

»Du hast in der Wanne das Bewusstsein verloren und wärst beinahe ertrunken«, sagt er tonlos. »Ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen, um dich rauszuziehen.«

Das haut mich um. Der Tod war eine Nebenwirkung meines Selbstmordversuchs, die ich nicht vorausgesehen hatte.

Ich versuche, in Vince’ Gesicht zu lesen, was er denkt, was er fühlt. Früher war er wie ein offenes Buch für mich, und als er dort so sitzt, erhasche ich einen letzten Blick in sein Inneres und weiß Bescheid. Mein Plan ist nicht aufgegangen. Ich sehe es in seinen Augen und an der Art und Weise, wie er die Arme fest über dem Herzen verschränkt hat. Ich kenne diese Geste. Es ist eine Schutzhaltung, und ich hasse es, wenn er sie mir gegenüber einnimmt, als wäre ich eine Bedrohung für ihn. Wann bin ich zu seiner Feindin geworden?

Ich räuspere mich. »Du verlässt mich trotzdem, oder?«

Ich habe meinen stoischen Ehemann noch nie weinen sehen, nicht ein einziges Mal in den zwölf Jahren, die wir zusammen waren. Seine Tränen sind die Antwort. Mit einem kurzen Nicken akzeptiere ich meine Niederlage.

KAPITEL SIEBEN

Zodwa

24. April 1994

Big Hope Informal Settlement,

Magaliesburg, Südafrika

Der Hund winselt im Schlaf, zappelt mit den Hinterbeinen und weckt Zodwa noch vor Sonnenaufgang. Das Baby in ihrem Bauch bekommt einen Schluckauf. Obwohl sie unbequem liegt und den Hund am liebsten wegschubsen möchte, versucht Zodwa sich nicht zu bewegen, um ihre Mutter nicht zu stören. Sie teilen sich eine Matratze auf dem Boden der Hütte, und in dem Maße, wie Zodwas Bauch gewachsen ist, hat sich Leletis Gereiztheit in Bezug auf alles, was sie tut, verstärkt.

Zodwa liegt wach und lauscht dem nächtlichen Chor des Elendsviertels, dessen Stimmen ihr ebenso Gesellschaft leisten wie der schwere Atem ihrer Mutter. Die Hütten im Big Hope Informal Settlement, dem Squatter Camp, sind praktisch übereinandergebaut. Ihre Wände bieten keinerlei Isolation gegen die Kälte, und Geräusche dringen ungehindert durch das Wellblech. Musik, Gelächter, Gespräche, Flüche, das Weinen von Babys und Laute von entweder Sex oder Gewalt oder beidem gehen ein und aus wie ungebetene Gäste.

Als Leleti auf den fernen Schrei eines Hahnes hin endlich erwacht, steht sie auf und zündet die Flamme des Paraffinkochers an. Zodwa kämpft sich hoch, hüllt sich in eine Decke und macht sich auf den Weg zur Gemeinschaftstoilette, um ihre Blase zu leeren. Sie muss aufpassen, dass sie in der Dunkelheit nicht über den Steinhaufen stolpert, den ihre Mutter täglich um einen Stein erhöht. Den Schrein umzuwerfen wäre ein unverzeihliches Vergehen.

Es ist kalt draußen, doch bei den Temperaturen ist wenigstens der Geruch aus der tiefen Sickergrube nicht allzu schlimm. Tagsüber bringt die Hitze die menschlichen Exkremente fast zum Kochen, so dass ihr Gestank in Verbindung mit den schwirrenden Schmeißfliegen sie schwindeln lässt. In den ersten Monaten ihrer Schwangerschaft ist es noch schlimmer gewesen.

Als Zodwa zurückkehrt, beendet Leleti ihre morgendliche Bibellektüre und klappt das Buch zu. Das Kerzenlicht ist schmeichelnd, doch trotz seines sanften Scheins sieht Leleti wesentlich älter aus als siebenundvierzig. Sie hat Zodwa mit neunundzwanzig bekommen und ist damit die älteste von allen Müttern in Zodwas Freundeskreis. Dennoch hat sie immer jugendlich ausgesehen, bis es mit ihrer Gesundheit so schnell bergab ging und sie rapide an Gewicht verlor, so dass ihre Haut wie ein loses Kleidungsstück an ihr herabhängt. Durch ihr Haar, das sie zu einem kurzen Afro geschnitten trägt, zieht sich noch kein Grau, aber um ihre Augen haben sich Falten der Sorge und Erschöpfung eingegraben.

Wortlos reicht sie Zodwa eine Tasse schwarzen Tee und eine Scheibe trockenes Brot mit Aprikosenmarmelade. Der große Hund erhebt sich vom Bett und tappt zu ihr herüber. Leleti gibt ihm eine Scheibe Fleischwurst, die sie ihn vorsichtig annehmen lässt.

»Guter Hund, Shadow«, sagt Leleti lächelnd, und Zodwa spürt, wie die übliche Ablehnung in ihr aufwallt.

Es ist lächerlich, dass sie sich diesen Riesenhund als Haustier leisten. In der ganzen Township lachen die Leute über sie, jedenfalls die, die keine Heidenangst vor dem Tier haben. Wer gibt einem Hund Fleisch, wenn er selbst nichts zu essen hat? Dennoch liebt Leleti das schwarze Tier und will kein böses Wort darüber hören. Sie behauptet, es sei zweimal so treu wie alle Menschen, die sie je gekannt hat.

Leleti selbst isst nichts. Sie behauptet, sie äße die Reste der Kinder, draußen bei ihrer Arbeit als Hausmädchen im über sechzig Kilometer entfernten Rustenburg. An Wochentagen muss sie um sieben Uhr morgens in der Küche stehen, damit sie den Kindern vor der Schule das Frühstück machen kann. Das bedeutet, dass sie um vier Uhr aufstehen und einen langen Weg in Kauf nehmen muss. Ihre Madam hat Leleti wiederholt gewarnt, dass sie, wenn sie zu spät käme, ein Hausmädchen engagieren würden, das bereit wäre, auf dem Grundstück zu wohnen und damit verfügbarer für sie wäre. Da heute Sonntag ist, kann Leleti zwei Stunden später aufbrechen.

»Hast du am Mittwoch freibekommen, um wählen zu gehen?«, fragt Zodwa, um das Schweigen zu brechen.

Leleti schüttelt den Kopf.

»Aber es ist ein wichtiger Tag für unser Volk, und du solltest …«

»Glaubst du, das weiß ich nicht?«, erwidert Leleti ruppig. »Glaubst du, ich mache diesen Job, für den du zu schade bist, nur aus Spaß?«

»Ich habe nie gesagt, dass ich mir zu schade dafür bin …«

»Ich sage, dass du zu schade dafür bist, Hausmädchen zu sein. Und du brauchst mir nicht zu erzählen, wie wichtig der Mittwoch ist: Auf diesen Tag habe ich mein ganzes Leben lang gewartet! Aber Essen ist auch wichtig. Geld ist wichtig. Und wer bringt das nach Hause, hä?« Leleti schüttelt den Kopf und wird von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt.

Zodwa reicht ihrer Mutter ein Taschentuch. Während Leleti hineinhustet, bei jedem heftigen Krampf am ganzen Körper zuckend, wendet Zodwa den Blick ab, damit sie nicht sehen muss, wie die Blutspritzer den Stoff verdunkeln. Sie fragt sich, wie es Leleti geschafft hat, ihre Krankheit so lange vor ihrer Madam zu verbergen. Wie lange wird ihr das noch gelingen?

Endlich geht der Anfall vorüber, und der hin und her laufende Hund beruhigt sich. Als Leleti wieder spricht, hat ihr Tonfall alle Schärfe verloren. »Die Hoffnungen, die ich für dich gehegt habe, mein Kind! Die Hoffnungen, die wir alle für dich hegten. Nachdem dein Bruder …« Sie beendet ihren Satz nicht.

Sie muss ihn auch nicht beenden, Zodwa weiß genau, was ihre Mutter denkt.

Als Dumisa vor über zehn Jahren nach Johannesburg gegangen ist, sah seine Zukunft so strahlend aus, wie es die eines schwarzen Mannes während der Apartheid nur sein konnte. Er hatte sein letztes Schuljahr in KwaZulu mit Bestnoten abgeschlossen und eine Stelle als Junior Manager im Baragwanath Hospital in Soweto ergattert. Die Familie war überglücklich über die Nachricht gewesen.

Zodwas Bruder würde nicht mit den Händen arbeiten müssen. Er würde der erste Mann in der Familie sein, der zur Arbeit Anzug und Krawatte trägt und sein Gehirn anstelle seiner Muskeln benutzt, und wenn er zu Wohlstand käme, würde er seine Familie mitziehen, als Belohnung für all die Opfer, die sie für ihn gebracht hatte.

Das war der Plan gewesen, und anfangs lief alles noch besser als erwartet. Dumisa schickte jeden Monat Geld nach Hause, und bald erhielt er eine Beförderung und konnte es sich sogar leisten, ein gebrauchtes Auto zu kaufen. In seinen Briefen beschrieb er ausführlich, was er alles kaufte, dass er auf ein Haus sparte und wie viele Geschenke er für die Familie hortete. Er war die Verkörperung der Hoffnung, die das Land für seine schwarzen Söhne hegte, und er lebte das Leben, von dem sie alle nie zu träumen gewagt hatten.

Doch all das änderte sich, nachdem Dumisa von der Jugendbrigade der Inkatha-Freiheitspartei in Soweto rekrutiert worden war. Schon wenige Monate nachdem er sich der Widerstandsbewegung angeschlossen hatte, verschwand er auf mysteriöse Weise wie so viele andere Anti-Apartheid-Aktivisten vor ihm. Der letzte Mensch, der ihn lebend gesehen hatte, berichtete, dass Dumisa von der Sicherheitspolizei gefoltert worden sei, weil er sich geweigert habe, seine Genossen zu verraten. Der Mann sprach von seiner Tapferkeit und Würde, und daraufhin wurde Dumisa als Held verehrt für das, was er für sein Volk auf sich genommen hatte.

Leleti wäre jedoch ein lebendiger Sohn, der sein Potenzial ausschöpfte, lieber gewesen als einer, der gestorben war, um die Rechte des Volkes durchzusetzen. Da die Leiche ihres Sohnes nie gefunden wurde, weigerte sich Leleti zu akzeptieren, dass er tot war. Es gab keine letzte Ruhestätte für ihn, kein Grab, an dem Leleti Frieden finden konnte, und deswegen suchte sie ihn und baute ihm einen Schrein, auf den sie für jeden Tag, den er verschwunden blieb, einen weiteren Stein legte.

Nach Dumisas Verschwinden oblag es Zodwa, die Träume zu verwirklichen, die alle für ihren Bruder gehegt hatten, doch anstatt aus seinem Schatten heraus in ihr eigenes Licht zu treten, hat Zodwa eine noch tiefere Dunkelheit über sich und ihre Familie gebracht, eine, die sie sich selbst zugefügt hat und der sie nicht entkommen kann: Schande. Denn obwohl Teenagerschwangerschaften in der Township an der Tagesordnung sind, hatten sich die Khumalos bisher davor gefeit geglaubt.

Leleti schüttelt den Kopf. »Was nutzt uns die Freiheit, wenn du nicht die Chancen nutzt, für die ich gekämpft habe – die Chancen, für die Dumisa gekämpft hat –, damit du eine Zukunft haben kannst? Dann kannst du genauso gut als Hausmädchen arbeiten, wenn Babys zu bekommen das Beste ist, was dir einfällt.«

Zodwa senkt den Kopf.

»Und wofür, mein Kind?«, fragt Leleti. »Wo ist der Vater des Babys? Hier ist kein Mann, der dich liebt.« Ihre Stimme bricht. »Der liebe Gott weiß, dass du dieses Kind gar nicht willst.«

Es ist das erste Mal, dass ihre Mutter so etwas gesagt hat, und es tut Zodwa weh, den großen Schmerz in ihrer Stimme zu hören. Sie hätte so gerne die Arme nach ihr ausgestreckt, um Leleti zu zeigen, wie sehr sie sie liebt und wie leid es ihr tut, sie enttäuscht zu haben, aber der Zorn ihrer Mutter hat eine Mauer zwischen ihnen errichtet. Zodwa fällt nichts ein, womit sie sie einreißen könnte, nicht einmal die Wahrheit.

Vor allem nicht die Wahrheit.

KAPITEL ACHT

Delilah

26. April 1994

Johannesburg General Hospital und

Verdriet, Transvaal, Südafrika

»Hallo«, begrüßte ich die Intensivkrankenschwester. »Ich möchte Pater Daniel besuchen, den Priester. Er wurde vor etwas über zwei Wochen mit einer Schusswunde eingeliefert. Ich konnte leider nicht eher kommen«, fügte ich hinzu. Ich merkte, dass ich dummes Zeug redete, konnte mich aber nicht zurückhalten. »Ich bin direkt vom Flughafen aus hierhergefahren.«

»Oh nein! Sie waren doch hoffentlich nicht von der Bombenexplosion betroffen?«, fragte sie mit einem besorgten Ausdruck auf ihrem freundlichen Gesicht.

»Bombenexplosion?«

»Ja, vor zwei Stunden ist eine Autobombe auf dem Jan- Smuts-Flughafen explodiert. Ich habe es in den Nachrichten gehört«, sagte sie und wies mit dem Kinn auf ihr kleines Radio.

»Vor zwei Stunden? Dann muss es kurz nach meiner Landung passiert sein.«

»Nun, dann hat Ihr Schutzengel wohl heute Überstunden gemacht. Wie ist Ihr Name, meine Liebe?«

»Delilah. Delilah Ferguson. Ich bin keine Verwandte, falls Sie das wissen wollen.« Ich spähte über den Tresen und hielt nach so etwas wie einer offiziellen Besucherliste Ausschau. »Aber ich weiß, dass er mich gerne sehen würde, deswegen bin ich sofort aus Zaire angereist, nachdem ich von dem Überfall erfahren habe. Könnten Sie mich bitte zu ihm hineinlassen? Nur für einen Moment. Ich verspreche, nicht lange zu bleiben.«

»Ich befürchte, das ist nicht möglich, Mrs Ferguson.«

»Es ist nämlich so. Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein«, sagte ich, bereit, meine Seele vor einer vollkommen Fremden zu entblößen und ihr zu offenbaren, was Daniel und mich verband, in der Hoffnung, dass sie dann eher dazu bereit wäre, meiner Bitte nachzugeben. »Er …«

»Ich meine es doch nicht böse, meine Liebe. Aber es ist immer nur ein Besucher erlaubt, und gerade ist ein anderer Priester bei ihm und hält Wache, falls er die Letzte Ölung braucht.«

Die Letzte Ölung.

»Steht es so schlimm um ihn? Besteht denn keine Hoffnung, dass er aus dem Koma erwacht?«

»Wunder geschehen immer wieder«, antwortete sie ausweichend und betastete geistesabwesend das Kreuz um ihren Hals. »Aber ja, er ist immer noch in einem kritischen Zustand und hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.« Sie deutete mit dem Kinn auf ein Fenster in der Wand, durch das Besucher in die Intensivstation hineinblicken konnten.

Alle Betten waren belegt, und fast ein Dutzend Patienten waren an alle Arten von lebensrettenden Maschinen angeschlossen. Nur um ein Bett war eine Gardine zugezogen, jedoch nicht vollständig.

Durch den Spalt sah ich einen Priester neben dem Bett stehen.

Er war ein wenig gebeugt vom Alter und hatte den Kopf im Gebet gesenkt. Er hielt eine Bibel in den Händen, aber noch während ich ihn beobachtete, legte er sie beiseite, nahm die Hand des Patienten in seine und wickelte den Rosenkranz um ihre Finger, so dass sie verbunden waren.

Die Szene traf mich so heftig, dass mir ein schmerzlicher Stich durch die Brust fuhr. Sosehr die Religion einst ein Teil von mir gewesen war, sosehr sie mich früher auch definiert hatte, ich war nicht länger Teil jener Welt, so wie Daniel es war, der Welt des Glaubens, Gottes und der Kirche. Ich war hinausgeworfen worden und jetzt nichts als eine Betrügerin, deren verlorene Seele höchstens mögliche Wunder abschwächen konnte.

Als fühle er sich beobachtet, hob der Priester den Kopf und wandte sich mir zu. Unsere Augen trafen sich für eine Sekunde, bevor ich mich umwandte und davonlief.

KAPITEL NEUN

Ruth

25. April 1994

Clifton, Kapstadt, Südafrika

Ich bin dabei zu packen, als Vince ins Schlafzimmer kommt. Der Schlafmangel hat dunkle Ränder unter seine Augen gezeichnet. »Ich wollte dich im Krankenhaus abholen, aber dort hat man mir gesagt, du hättest es vorzeitig verlassen.«

»Na ja, du hast unsere Ehe vorzeitig verlassen, dann sind wir jetzt wohl quitt.«

»Ruth!«, stöhnt er. Hilflos steht er da, ein paar Schritte von der Tür entfernt, als sei er in Strömungen geraten, in denen er nicht länger navigieren kann. Er sucht Halt, indem er die Hände in die Taschen steckt. »Du weißt, du musst nicht sofort ausziehen. Das hat doch keine Eile.«

»Ich weiß, wann ich unerwünscht bin.« Schon als ich es ausspreche, merke ich, dass ich wie meine Mutter klinge: märtyrerhaft. »Gib mir eine Stunde Zeit, um fertig zu packen, dann bist du mich los.«

»Darf ich fragen, wohin du willst?«

»Nein.«

Die Wahrheit ist, dass ich es selbst noch nicht weiß. Meine Möglichkeiten sind äußerst limitiert. Ich habe einmal vier Mietwohnungen besessen, aber davon ist nur noch eine übrig, und die Erlöse aus dem Verkauf der anderen drei sind in Investitionen geflossen, von denen ich hoffte, sie würden meine schwindenden Reserven wieder auffüllen. Doch ich habe mich verkalkuliert und alles verloren. Ich habe immer Geld gehabt, war aber nie besonders gut darin, damit umzugehen. Natürlich weiß Vince nichts von alldem. Ich war immer stolz darauf, dass ich sein Geld nicht brauchte. Bis jetzt, genau genommen.

Meine letzte verbleibende Immobilie, ein Apartment in Kampsbaai, ist noch für zehn Monate vermietet, deswegen kann ich es momentan weder verkaufen noch beziehen, und obwohl ich viele Bekannte habe, ist nicht die Art von Freunden darunter, die mich aufnehmen würden. Und keine, von denen ich wollte, dass sie von der schmählichen Art wüssten, wie ich auf die Straße gesetzt werde.

Ich habe auf ein Zeichen gehofft, irgendetwas, was mich in die richtige Richtung lenken würde, aber das Universum ist derzeit stumm; es ist wahrscheinlich ebenso erschüttert von meiner misslichen Lage wie ich.

»Hör mal«, fährt Vince fort, »warum bleibst du nicht so lange, bist du etwas Dauerhaftes gefunden hast? Ich ziehe in eines der Gästezimmer und mache mich rar.«

Das ist es ja gerade! Ich will nicht, dass er sich rarmacht. Ich könnte es nicht ertragen, mit ihm im selben Haus zu leben und zu wissen, dass er in einem anderen Zimmer schläft, weil er unseres nicht mit mir teilen will.

»Nein, vielen Dank. Ich habe schon Pläne.« Ich schaue ihn nicht an, während ich das sage. Ich konzentriere mich darauf, einige Blusen und meinen Seidenkimono zu falten, um mich daran zu hindern, mich in seine Arme zu werfen und ihn anzuflehen, es sich noch einmal zu überlegen. Nun ja, und um mich davon abzuhalten, ihn windelweich zu prügeln, weil er mich derart im Stich lässt. Mich fallen lässt wie eine heiße Kartoffel.

Er kommt zu mir, setzt sich auf das Bett, und der Koffer kippt in seine Richtung, als er mit seinem Gewicht die Matratze hinunterdrückt. Ich drehe mich um und gehe zurück in mein Ankleidezimmer, um Distanz zwischen uns zu schaffen.

Vince’ Stimme hinter mir klingt gedämpft, sein Tonfall gekünstelt fröhlich. »Weißt du, es gibt auch noch eine andere Option, und ich finde, dass du darüber nachdenken solltest. Ich habe mit dem Arzt gesprochen, der dich im Krankenhaus behandelt hat, und er meinte, ich solle dir vorschlagen, dich in eine Kurklinik einweisen zu lassen.«

»Eine Entzugsklinik?«, erwidere ich und lache laut auf. »Vergiss es.« Habe ich alles schon hinter mir. Hat nicht geholfen. »Ich brauche keinen Entzug.«

»Nein, keine Entzugsklinik.« Vince räuspert sich. »Eine Klinik für psychische Erkrankungen.«

Ich denke, ich höre nicht richtig. Ich umklammere das Negligé in meiner Hand und marschiere zurück ins Schlafzimmer. »Eine Klinik für psychische Erkrankungen?«

Er nickt, sichtlich nervös.

»Eine Klapsmühle? Glaubst du ernsthaft, ich gehöre in eine Klapsmühle?«

»Das ist keine Klapsmühle. Es ist eine Einrichtung für Menschen, die …«

»Die nicht alle Tassen im Schrank haben«, ergänze ich verächtlich.

»… die emotional instabil sind und ein wenig Zeit brauchen, um wieder zu sich zu kommen.« Vince spricht über mich.

»Verdammt noch mal, ich bin nicht ›emotional instabil‹!« Es würde überzeugender klingen, wenn meine Stimme nicht brüchig wäre, als würde ich jeden Moment zusammenklappen.

»Du wolltest Selbstmord begehen, Ruth.«

»Nein, wollte ich nicht!«, rufe ich und stelle zufrieden fest, wie er zusammenzuckt. »Das Ganze war inszeniert, und natürlich war es total bescheuert, aber ich fand, irgendjemand sollte um diese Ehe kämpfen, da dir so offensichtlich kein Deut daran liegt!«

Vince fährt sich mit einer Hand durchs Haar. »Mein Therapeut hat vorhergesagt, dass du so reagieren würdest. Dass du manipulativ werden und mir die Schuld geben würdest, um von dir abzulenken.« Er wendet die Augen von meinem Gesicht ab und richtet sie stattdessen auf ein Objekt nach dem anderen, um meinen Blick zu vermeiden.

»Dein Therapeut? Du gehst zu einem Therapeuten?« Ich kann nicht anders, ich muss lachen.

»Die Therapie hat mir bei vielen meiner Probleme geholfen, und ich glaube, dass es auch dir helfen würde, professionelle Hilfe anzunehmen. Es gibt so vieles in deiner Vergangenheit, das du nie aufgearbeitet hast …«

»Und was hat das mit der jetzigen Situation zu tun?«

»Ich glaube, dass du deswegen trinkst, Ruth. Dass du deine Gefühle mit Alkohol betäubst. Wenn du darüber sprechen würdest, könntest du vielleicht …«

»Was?«, schnaube ich. »Wie durch ein Wunder in der Zeit zurückgehen, und dann würde sich alles einrenken? Ich bitte dich, das sind uralte Geschichten, und es kann nichts Gutes dabei herauskommen, sie alle noch mal durchzukauen. Außerdem braucht man keinen anderen Grund zum Trinken als einen Heidendurst.«

...Ende der Leseprobe