Sündenmeer - Cookie Ellerdahl - E-Book + Hörbuch

Sündenmeer E-Book und Hörbuch

Cookie Ellerdahl

0,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Zitat People-Magazin GALA: "In diesem Lofoten-Thriller geht es nicht nur um Morde, sondern auch um Wunden, die nicht heilen und Menschen, die trotz aller Verluste und Enttäuschungen Mensch bleiben. Kommissar Rasmussen und seine Kollegin Luca Ferrari sind ein Ermittler-Duo zum Verlieben." Spannend - beklemmend - eisig! Das neue Ermittler-Duo Karl Rasmussen & Luca Ferrari erwartet dich mit seinem ersten mitreißenden Fall! Inhalt: Der Tod hat unzählige Gesichter. In beinahe jedes habe ich geblickt. Unangreifbar und heldenhaft bin ich gewesen, bis mein Partner ermordet wurde. Sein Tod hat mir alles entrissen: den Job in der Mordkommission Oslo, die Überzeugung unverwundbar zu sein und meine Geschichte mit Frida, der Polizeichefin. Meinen Protest ignorierend, hat sie mich auf die friedlichen Lofoten-Inseln versetzt, damit ich wieder auf die Beine komme. Dort hat sie mir die Leitung über eine kleine Wache übertragen. Doch die Ruhe verwandelt sich in einen Albtraum. Plötzlich taucht eine Leiche aus den eisigen Fluten des Nordmeeres auf. Ermordet. Weitere Bluttaten bringen ein mörderisches Geheimnis ans Licht. Während wir dem Täter blind nachjagen, hinterlässt er eine Spur der Vernichtung, die auf religiösen Wahn deutet. Niemand ahnt, wie nah er uns bereits gekommen ist. Er ist der Sturm, der uns zerreißt, und treibt mich über alle Grenzen, bis ich nur noch eins im Sinn habe: seinen Tod! Der erste Fall für Karl Rasmussen & Luca Ferrari auf den norwegischen Lofoten-Inseln.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 305

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:6 Std. 13 min

Sprecher:Jürgen Bärbig
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


 

 

Sündenmeer

 

Der erste Fall für

Karl Rasmussen & Luca Ferrari

 

 

Band 1 Norwegen-Thriller

 

 

 

 

 

 

Cookie Ellerdahl

 

Prophezeiung

 

An einem Tag

– zwischen jetzt und später –

werde ich einen Atemzug nehmen und meine

Existenz wird sich aus ihrem Fundament lösen.

 

Der mich hält, wird mich fallen lassen.

 

Der Tod hat unzählige Gesichter. In beinahe jedes habe ich geblickt. Unangreifbar und heldenhaft bin ich gewesen, bis mein Partner ermordet wurde. Sein Tod hat mir alles entrissen: den Job in der Mordkommission Oslo, die Überzeugung unverwundbar zu sein und meine Geschichte mit Frida, der Polizeichefin.

 

Meinen Protest ignorierend, hat sie mich auf die friedlichen Lofoten-Inseln versetzt, damit ich wieder auf die Beine komme. Dort hat sie mir die Leitung über eine kleine Wache übertragen.

 

Doch die Ruhe verwandelt sich in einen Albtraum.

 

Plötzlich taucht eine Leiche aus den eisigen Fluten des Nordmeeres auf. Ermordet. Weitere Bluttaten bringen ein mörderisches Geheimnis ans Licht. Während wir dem Täter blind nachjagen, hinterlässt er eine Spur der Vernichtung, die auf religiösen Wahn deutet. Niemand ahnt, wie nah er uns bereits gekommen ist.

 

Er ist der Sturm, der uns zerreißt, und treibt mich über alle Grenzen, bis ich nur noch eins im Sinn habe: seinen Tod.

 

Der erste Fall für Karl Rasmussen und Luca Ferrari

auf den norwegischen Lofoten-Inseln.

 

Table of Contents

Titel

Das Buch

Prolog

1. Odd

2. Ein Ferrari

3. Die Kammer

4. Irre-Führung

5. Das Lamm

6. Chef? Was sonst!

7. Wo ist dein Vater?

8. Hei Gott

9. Resonanz

10. Versau mir nicht den Tag

11. Mutterliebe

12. Verflucht, Karl!

13. Sjokoladebomber

14. Das Ruder

15. Besinnungslos

16. Eine Million Gründe

17. Dämonen

18. Herzenge

19. Der Herr ist mein Hirte

20. Ragnarök

21. Auge um Auge

22. Abgrund

23. Nicht genug

24. Zu spät

25. Wunden

26. Abschied

27. Filmriss

Epilog

Danksagungen

Prolog Band 2 - Vaterblut

Der Rasmus-Effekt – Der Beginn

Der Rasmus-Effekt

Impressum

Prolog

 

Dieser Tag ist aus Heldenblut gemacht. Er ist geboren aus Wut, schlaflosen Nächten und Kampfeswillen. Der Tag gehört nur uns beiden. Doch kaum, dass wir diese Tatsache begriffen haben, hat er sich mit dem Tod verbrüdert, uns alles Heldenhafte genommen. Unwiederbringlich.

 

»Verdammt, Karl, du bist schon abgeschossen? Wir haben was zu feiern, und du hängst nach zwei Drinks in den Seilen. Komm, wenigstens noch einen Absacker!« Er grinst mich mit glasigen Augen an.

»Du bist besoffen, Petter«, sage ich nicht minder hinüber und werfe ihm einen Untersetzer an den Kopf.

Er hebt die Hand und sagt mit schwerer Zunge: »Mein Kollege und ich nehmen einen Schlummertrunk, dann muss er nämlich die Chefin glücklich machen.« Er macht anzügliche Bewegungen mit der Hüfte, die ihn fast vom Sitz katapultieren.

»Verfluchter Sausack!« Ich grinse, proste ihm zu und klammere mich mit der anderen Hand am Eichentresen fest. Die Bar hat soeben angefangen, sich um mich zu drehen. Der rauchige Geschmack von Whiskey liegt auf meiner Zunge, aber mit jedem Schluck nimmt der Genuss ab.

Eternal Flame von den Bangles läuft in voller Lautstärke. Ruckartig springt Petter auf, greift meinen Arm, will mich vom Hocker ziehen. »Das ist mein Song! Thore, dreh lauter!«, ruft er dem jungen Barkeeper zu.

»Herrje, Petter, lass uns Feierabend machen. Ich kann kaum geradeaus gucken«, sage ich lachend, weil er Verrenkungen veranstaltet, die einen Tanz darstellen sollen.

»Nur noch drei Minuten.« Petter macht auf sterbenden Schwan und tänzelt über das blankpolierte Parkett. Er grölt mit, zerrt an meiner Hand und drückt sie theatralisch auf sein Herz. Ich liebe diesen Mistkerl. Was soll’s, ich gebe mich geschlagen und singe, eine schwere Beleidigung für die Ohren. Die verbliebenen Gäste sehen zu uns rüber und fragen sich vermutlich, was mit uns nicht stimmt. Sie können es nicht wissen, wir haben heute einen komplizierten Fall abgeschlossen, an dem wir fast zwei Jahre gearbeitet haben. Das ist den Kater definitiv wert, der uns morgen den Schädel einschlagen wird.

Petter ruft uns ein Taxi, wir leeren die Gläser und taumeln aus der Bar. Die Osloer Nachtluft empfängt uns mit frühherbstlicher Kühle und pustet Frischluft in meinen benebelten Kopf.

Kaum sitzen wir im Wagen, verkündet mein Freund und Kollege: »Die Torte! Die hauen wir uns jetzt rein. Nora hat sie zur Feier des Tages für uns zubereitet und ich hab nicht mal dran gerochen. Schokoladencreme, darauf stehst du doch.«

»Petter, ich will nach Hause. Mir ist übel.«

»Halte bitte am Polizeipräsidium«, sagt er an den Fahrer gewandt und ich boxe ihm gegen die Schulter.

 

Der riesige Glaskasten ist bis auf die Nachtbesetzung leer. Gut, wenn uns niemand hier herumtaumeln sieht. Wir fahren mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock, oben biege ich zu den Toiletten ab, Petter wankt in die Küche. Ich hoffe, ihm wird schlecht von der Torte und ich kann endlich ins Bett.

Als ich zu ihm stoße, sitzt er auf dem Küchentisch und stopft sich riesige Stücke in den Mund.

»Göttlich! Wenigstens einen Bissen, Karl.« Er schmatzt genüsslich und leckt sich die Finger ab.

»Vielleicht morgen. Können wir los?« Ich gähne lautstark.

»Ja, du Spaßbremse. Ich hole nur meine Jacke aus dem Büro.«

Ich warte drei Minuten, aber er kommt nicht zurück. Dann werde ich ihn wohl raustragen müssen. Auf dem Weg zu unserem Dienstzimmer schwankt der Boden unter meinen Füßen, ich bin glücklich und geschafft wie lange nicht mehr. Endlich haben wir die Dreckskerle gefasst.

»Was haben wir denn da?« Höre ich, kurz bevor ich den Raum erreicht habe. Petter redet mit sich selbst, der besoffene Kopf.

Plötzlich geschieht alles gleichzeitig. Eine markerschütternde Explosion reißt mich von den Füßen, dunkler Qualm schiebt sich in den Flur, Papierschnipsel wirbeln wie Falter durch die Luft. Sofort bin ich nüchtern, springe auf, Adrenalin treibt meine Beine an, die letzten Meter renne ich und brülle nach Petter.

Das Büro ist rauchgeschwängert, Wasser sprudelt aus der Sprinkleranlage, Feueralarm heult durch das Gebäude und vermischt sich mit meinen Schreien. Der beißende Geruch nach verbranntem Fleisch nimmt mir die Luft.

Petter liegt auf dem Rücken, sein Gesicht ist von schwarzen Brandwunden überzogen, aus denen Blut quillt. Sein Shirt hängt zerfetzt über seiner aufgerissenen Brust. Er blickt mich an. Seine Augen sind leer.

1. Odd

Du hast immer die Wahl, sagen sie. Doch deine Mutter kannst du dir nicht aussuchen! Wenn das Leben es gut mit dir meint, wirst du ihr blutverschmiert in die Arme gelegt und sie liebt dich. Für alle Zeiten.

Meine hat mich mit sechzehn Jahren bekommen, und obwohl sie es gewiss gewollt hat, hat sie nicht aufgehört, sich Gift in die Adern zu pumpen. So bin ich im Kinderheim Ramberg gelandet. Ein zweijähriges Bündel Verwahrlosung.

Meine Mama hat ihren kleinen Odd so sehr vermisst, dass sie sich ein Jahr später ins Paradies geschossen hat. Ich habe nicht verstanden, was mit ihr passiert ist. Also haben sie mir ein Foto von Mama gezeigt. Wie sie in einem Sarg gelegen hat. Trotz der vornehmen Bluse, die man ihr angezogen hat, habe ich später gewusst: Sie ist nicht ins Himmelreich gekommen. Schmerz und Enttäuschung haben sich in ihr blasses Gesicht gegraben. Obwohl sie so jung gewesen ist, hat sie den Tod in sich getragen. Nichts in ihrem Leben hat einen Sinn ergeben. Auch ich nicht.

 

Das Kinderheim ist kein guter Ort gewesen. Wir, die Ausgestoßenen und Verlassenen, haben miteinander um ein bisschen Wärme gerungen, die dort nie existiert hat. Eine dunkle Zeit ist das gewesen, bis zu meinem vierten Lebensjahr.

Dann bin ich zu neuem Leben erwacht, weil Halli, ein Neuankömmling, mein Freund geworden ist. Nur zwei Jahre älter als ich, hat er mich tagsüber vor den größeren Kindern beschützt, sich nachts in die Küche geschlichen und etwas Essbares für mich beiseitegeschafft. Tagelang hat er nicht sitzen können, weil Herr Kydland, der Kinderheimleiter, ihn mit dem Gürtel gezüchtigt hat. Halli hat sich davon nicht abschrecken lassen. Die Mahlzeiten sind zunehmend spärlicher ausgefallen und so hat er uns beide immerzu mit Äpfeln, Brot und manchmal sogar mit Schokolade versorgt.

Wir haben uns wie Geschwister geliebt. Er hat mich Lillebror – seinen kleinen Bruder – genannt, gleichwohl er selbst erst sechs Jahre alt gewesen ist. Seine Eltern sind bei einem Autounfall gestorben. Damals haben wir nicht verstanden, wie endgültig der Tod ist. Gewiss hat der liebe Gott mir Halli als Wiedergutmachung geschickt und mich ihm als Trost.

Manchmal haben wir uns zusammen in ein Bett gelegt, besonders, wenn es gewittert hat. Halli hat sich, genau wie ich, vor Blitzen gefürchtet, den Speeren Gottes, mit denen schlechte Menschen totgestochen werden. Wir sind bei jedem Aufleuchten zusammengezuckt und haben uns die Decke über die Köpfe gezerrt, beide mit einem Schrei in der Kehle, den wir uns gegenseitig erstickt haben. Aus jeder Pore haben wir nach herber Angst gerochen. Hosenscheißer hat die Nachtwächterin aus den Betten gezogen und vor die Haustür gestellt, bis das Gewitter abgezogen ist. Vor ihr haben wir uns fast wie vor dem Unwetter gefürchtet.

So haben wir in inniger Verbundenheit gelebt, uns Halt und Geborgenheit gegeben. Ein wahrer Bruder ist er für mich gewesen, ein Freund auf Leben und Tod.

 

Alle Kinder, besonders jene, die schon länger im Heim gelebt haben, haben davon geträumt, neue Eltern zu bekommen. Jeder hat sein eigenes Bild von ihnen entwickelt. Halli hat sich Vater und Mutter gewünscht, die wie seine verstorbenen Eltern sein sollten, und ich habe auf eine engelshaarige Mama gehofft. Einen Vater habe ich mir nicht vorstellen können, nur wie Herr Kydland hat er nicht sein dürfen.

Schließlich ist der Tag gekommen, an dem meine zukünftige Mutter Elin und mein Vater Leif mich zum ersten Mal im Heim besucht haben. Meine Mama hat genau so ausgeschaut, wie ich sie mir vorgestellt habe. Lange blonde Locken und ein gütiges Lächeln. Sofort habe ich bemerkt, dass sie Kummer hat. Ihre Augen haben wehmütig geschimmert, als habe sie eine Erinnerung gequält. Mein künftiger Vater Leif hat stattlich ausgesehen. Wie habe ich wissen sollen, wie ein Vater zu sein hat? Er hat wie ein feiner Herr gewirkt.

Sie haben mich einige Male besucht, mir vorgelesen und Fragen gestellt. Für alles, was ich zu sagen gehabt habe, haben sie sich interessiert gezeigt und mir das Gefühl gegeben, willkommen zu sein. Sogar mein zu kurzes Bein hat sie nicht abgeschreckt.

Meine Engelsmama hat mich auf den Schoß genommen und die Arme um mich gelegt. »Bald kannst du richtig herumtollen, kleiner Odd«, hat sie gesagt und versprochen, das Bein in Ordnung bringen zu lassen.

Sie hat nach Liebe geklungen. Noch heute habe ich ihren Duft nach Vanille und Karamell in der Nase.

Das Glück hat mir gehört, doch nichts habe ich so sehr gewollt, wie es mit Halli zu teilen. Erst haben sie mit Unwillen reagiert, aber ich habe nicht lockergelassen. Sie haben uns beide mitnehmen sollen. Schließlich haben sie nachgegeben und Halli auf meinen Wunsch kennengelernt. Sofort habe ich etwas in den Augen meiner Mama gesehen, dass bei unseren Begegnungen gefehlt hat. Sie haben gestrahlt und der schmerzhafte Ausdruck hat nicht mehr existiert.

 

Sie haben sich für Halli entschieden.

 

Er ist an einem Donnerstag gegangen, meinem sechsten Geburtstag. Seine Beine haben sich so schnell bewegt, als habe er geschwebt. Wie ein Engel.

 

Er hat sich nicht verabschiedet.

2. Ein Ferrari

Hundegebell reißt mich aus dem Schlaf. Den Kopf ins Kissen gegraben versuche ich, den Krawallmacher zu überhören, aber mein Rücken hat die durchgelegene Matratze ohnehin satt. Dieses elende, nach Fisch stinkende Ferienhaus, das bar jeder Annehmlichkeit an die raue Küste von Gimsøya gezimmert worden ist, um Angler zu beherbergen. Seit einigen Wochen lebe ich hier. Unfreiwillig.

Es ist vier Uhr morgens, die verfluchte Töle dreht weiter auf. Ächzend reiße ich die Decke weg, koche Espresso und setze mich ans Fenster. Grüne und purpurfarbene Polarlichter veranstalten ein Feuerwerk über dem Fjord, während die Wogen des Meeres schwarz an den Strand branden.

Das Bellen wird lauter und ein weißes Zottelvieh rast durch den Schnee in mein Sichtfeld. Ich verfolge seinen Weg, der rechts vor dem Haus an der Küste endet. Vor einem Gegenstand, den das Meer ausgespuckt hat. Der bekloppte Hund winselt und kläfft ohne Pause.

Müde werfe ich mir eine Jacke über den Pyjama, schlüpfe in die Pantoffeln und schnappe die Taschenlampe. Mit Filzschuhen durch den Schnee zu rennen, ist eine dumme Idee, wie ich nach einigen Schritten bemerke. Egal, nun sind sie durchnässt und ich bald zurück im warmen Haus.

Der Vierbeiner veranstaltet einen Freudentanz, als er mich entdeckt. Ich schaue mich um, sehe niemanden, zu dem er gehört.

Eisiger Wind reißt an meiner Jacke. Mit klammen Fingern schließe ich sie und stapfe an den verwaisten Strand. Der gefrorene Schnee knarzt bei jedem Schritt und gerät kaltnass in die Pantoffeln. Warum bin ich aus dem warmen Haus gerannt? Wegen irgendeines Treibguts friere ich mir den Hintern ab.

Der Hund springt um mich herum, wedelt mit dem Schwanz und rennt voraus, als wolle er mich zu seinem Fund lotsen. Kurz erwäge ich, dem kleinen Kerl einen Unterschlupf anzubieten. Aber dann entdecke ich ein Halsband inmitten seines Zottelfelles.

Meine gefrorenen Finger können den winzigen Druckschalter der Taschenlampe kaum betätigen. Endlich gelingt es, im gleichen Augenblick formt sich aus dem vermeintlichen Treibgut eine menschliche Silhouette.

Der Impuls kehrtzumachen und die Decke über den Kopf zu ziehen, wird übermächtig. Nach drei Monaten ist das meine erste Begegnung mit einer Leiche. Jeden Tag habe ich mich gefragt, wie es sich anfühlen wird. Entweder kann ich mich entscheiden wegzurennen oder mich zu übergeben. Vielleicht beides. Aber noch bin ich hier, atme ein und aus, versuche, meine zitternden Knie unter Kontrolle zu bekommen. Tief drinnen weiß ich, dass ich es kann, es immer gekonnt habe.

Zögernd nähere ich mich dem Leichnam und bin erleichtert, diesen Moment nur mit dem Hund und der Nacht zu teilen. Es handelt sich um einen Mann mittleren Alters. Er liegt auf dem Bauch, sein Kopf ist seitlich in den Sand gebettet, als würde er nur kurz verschnaufen.

Plötzlich sehe ich Petter vor mir liegen und wende mich keuchend ab. Nichts passt zu den Erinnerungen und gleichzeitig alles. Das Leben ist fort, keine Reanimation kann ihn zurückbringen.

Ich versuche mich zu beruhigen und betrachte, was von seinem aufgetriebenen Gesicht übriggeblieben ist. Es sieht aus, wie mit einer groben Raspel bearbeitet. Treibspuren. Zügig leuchte ich über seinen zerschundenen Körper. Die Knochen seiner Hände, Knie und Zehen sind freigelegt, weitere Schleifspuren. Er ist nackt und scheint Bekanntschaft mit Felsen und einer Schiffsschraube gemacht zu haben. Vermutlich auch mit Bewohnern des Meeres. Seinem Rücken fehlen handtellergroße Stücke. Langsam richte ich die Lampe wieder auf seinen Kopf und halte die Luft an. Auf den ersten Blick hat nichts auf eine Gewalttat gedeutet, jetzt entdecke ich eine massive Verletzung an seinem Hinterkopf.

 

Eine Stunde später ist der Strand abgesperrt und die Spurensicherung hat ihre Arbeit aufgenommen. Die Gerichtsmedizinerin steigt aus dem Wagen, stemmt sich gegen den Nordwind und marschiert durch den hartgefrorenen Schnee zur Küste. Ihre Körpersprache verkündet eindeutig: Sie freut sich nicht, hier um diese gottverlassene Zeit aufkreuzen zu müssen. Kurz bin ich versucht, ins Haus zu gehen und ihr einen Kaffee anzubieten.

Doch dann plärrt sie: »Hast du etwas angefasst?«

Und ich frage mich, ob sich jemals irgendwer getraut hat, Svenika Nielsen anzufassen.

 

 

Fünf Tage später

 

»Warum schneidest du mir nicht gleich die Eier ab, Frida Hansen?«, brülle ich ungläubig und starre auf die E-Mail, die sie mir kommentarlos geschickt hat. Hauptkommissar Luca Ferrari – das soll mein neuer Partner sein? Klingt wie eine beschissene Pizza auf der Tageskarte von Luigi. Auf gar keinen Fall!

Meine Faust knallt auf den Schreibtisch und eine kaffeebraune Flut ergießt sich über die Anzeige wegen Schwarzfischerei, die ich eben verfasst habe. Emilie Dahl, unsere junge Empfangsdame, zuckt zusammen und sieht mich wieder einmal mit hochgezogenen Augenbrauen an. Entschuldigend schüttle ich den Kopf und blicke die Sauerei auf dem Tisch an. Dann bist du nochmal davongekommen, Bjorn Hagebak. Das tropfende Blatt landet im Papierkorb.

Dass die Polizeichefin mich aus ihrem Bett gejagt hat, nachdem ich … ach, lassen wir das, nein, das habe ich ihr nicht übelgenommen. Auch die Versetzung von Oslo auf die Lofoten-Inseln, wo Schwarzfischen und Hinterhof-Schnapsbrennerei die schlimmsten Delikte sind, habe ich akzeptiert. Wohlwollend hat Frida mir die »Leitung« über das Polizeirevier der Insel Leknes übertragen. Ein winziges Haus mit Stockflecken an den Wänden und neun launischen Mitarbeitern, die mir alle suspekt erscheinen. Ist das ihr Sanatorium für ramponierte Polizeibedienstete? Bis auf drei Kollegen stammt niemand von den Inseln. Vier haben Disziplinarverfahren durchlaufen.

In der Erwartung, sie holt mich umgehend zurück auf meinen Posten in der Mordkommission und unter ihre Bettdecke, bin ich mit dem Inhalt eines Koffers in ein Rorbu, ein altes Fischerhaus, auf die einst von Mooren bedeckte Insel Gimsøya gezogen.

Aus umgehend sind zwei Monate geworden, in denen ich hier gehockt und Erscheinungen in den Stockflecken an den Wänden der Wache beobachtet habe. Bis vor fünf Tagen die Leiche vor meiner Unterkunft angetrieben worden ist und uns aus dem Dämmerschlaf gerissen hat. Wir sind soeben in die Ermittlungen eingestiegen, da ruft Frida an und hat beunruhigende Nachrichten für mich:

»Karl, ich kann dich nicht mehr allein auf die Menschheit loslassen. Was ich jetzt sage, ist nicht verhandelbar! Du akzeptierst die Unterstützung durch Luca und gehst zu Gunnar in Behandlung! Donnerstag um neun Uhr liegst du auf seiner Couch! Das ist überfällig. Wie es aussieht, hast du einen Mord in deinem Distrikt. Ich werde es nicht drauf ankommen lassen, dass du nochmal bizarre Lieder auf einer Beerdigung singst und die Trauergäste zum Tanz aufforderst! Die Versetzung hat dir Zeit zum Durchatmen geben sollen und jetzt sowas! Du musst es mir sagen: Fühlst du dich in der Lage, den Fall zu übernehmen?«

»Ja«, sage ich mit fester Stimme, weil ich mein Leben zurückwill. »Ich habe zwei Monate meditiert und aufs Wasser gestarrt. Es geht mir ausgezeichnet!«

»Sehr witzig, Karl.«

Ich sehe sie vor mir, wie sie sich durch die blonde Mähne fährt, ihr vornehm geschnittenes Gesicht verzieht und den Tisch mit der Faust traktiert. Sie hat mich immer an eine moderne Version von Grace Kelly erinnert.

»Bitte, lass es mich versuchen, Frida. Aber verschon mich mit einem neuen Partner. Dazu bin ich nicht bereit. Noch nicht.« Nie – ergänze ich in Gedanken.

»Du bekommst den Fall mit Luca oder gar nicht«, sagt sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet.

Bei der Vorstellung an einen neuen Kollegen wird mir hundeelend. Aber ich will ihr und mir selbst beweisen, dass ich wieder stabil bin, und ein Partner scheint unausweichlich.

»Gott, verdammt! Dann eben mit der Pizza!«

»Bitte lass es mich nicht bereuen.«

»Wirst du nicht, ich verspreche es.« Mich um Kopf und Kragen zu reden, ist meine Spezialität.

 

Weder Frida noch ich haben in diesem Moment eine Vorstellung von den Geschehnissen, die unserem Gespräch folgen sollen. Und der Mann, auf den sich alle verlassen, soll dabei zum Brandbeschleuniger werden.

 

Erneut starre ich auf den Lebenslauf meines neuen Kollegen. Ein Musterknabe, der wohl zeitlebens in Universitäten gehockt, Zusatzausbildungen absolviert hat und mit einunddreißig Hauptkommissar geworden ist? Ein Theoretiker der übelsten Sorte. Er wird die Insel verlassen, sobald der Fall aufgeklärt ist, dafür werde ich sorgen.

Ich kneife ein Auge zu, nehme Maß, werfe das Telefon mit Karacho los und treffe das letzte Blatt am Ficus Benjamini auf der hinteren Seite des Raumes. Es fällt hinunter zu den anderen toten Blättern. Diese Rumpelkammer von Wache. Was hat Frida sich nur dabei gedacht, mich hier abzustellen? Und dann will sie mich zu Gunnar Hansen schicken. Ihrem Ex, der Psychotherapeut auf der Nachbarinsel Flakstadøya ist. Er hasst mich. Beste Voraussetzungen.

Emilie schleicht wieder mit ihrem raschelnden Rock um mich herum und stellt einen Teller mit Karamellpralinen auf den Besuchertisch. Sie hält inne und schaut mit großen grauen Augen durchs Büro, als suche sie Beschäftigung. Scheinbar beiläufig spaziert sie zum Ficus, sammelt das Telefon ein und legt es zurück auf die Station.

Ich schwöre, ihr Mundwinkel hat kurz gezuckt, aber sie hat sich offenbar auf Regel Nummer eins besonnen: Auf der Wache wird nicht gelacht. Zwei Monate habe ich hier niemanden lachen hören, auch ich habe es nicht getan.

 

Auf dem Weg zum Institut für Rechtsmedizin fahre ich einen Umweg und halte am Nordlandssykehuset, dem zentral gelegenen Krankenhaus in Gravdal. Es schadet nicht, einen Blick in Catalina Andreassens Wagen zu werfen, den die OP-Schwester hier vor Dienstbeginn abgestellt hat. Die Verrückte hält sich für so etwas wie einen Kautions-Cop. Viermal hat sie verirrte Touristen und Betrunkene in ihren Kofferraum katapultiert, sie nach Leknes zur Wache gefahren und Geld für sie kassieren wollen. Wahrscheinlich schaut sie zu viele idiotische Polizeiserien. Catalina weiß, beim nächsten Mal werde ich sie verhaften. Auf diese Mitteilung hat sie sich nicht beeindruckt, sondern mir den Mittelfinger gezeigt.

Am Krankenhaus angekommen, bleibe ich kurz im Auto sitzen. Die Wolken hängen so tief, als wollten sie die Inseln inhalieren, wieder fegt der arktische Wind Schneeregen über den Landstrich.

Obwohl es nichts helfen wird, klappe ich den Kragen meines Mantels hoch, springe hinaus und leuchte mit der Taschenlampe in den roten Golf. Heute ist der Kofferraum leer. Klatschnass hechte ich zurück in den Dienstwagen.

Es regnet, es schneit, es stürmt. Seit ich hier angekommen bin, haben die Tage zusehends an Licht verloren, eine scheiß endlose Dezembernacht ist das.

 

Ein grauer Landrover Defender parkt vor dem Institut. Ein Blick auf das Kennzeichen verrät, der Leihwagen ist von Moskenesøya, einer südlich gelegenen Insel.

Festen Schrittes haste ich durch die hellerleuchteten Räume zum Sektionssaal. Nie habe ich die Rechtsmedizin gern betreten, drinnen ist es eiskalt und der scharfe Geruch von Desinfektionsmitteln kann das hartnäckige Aroma des Todes nicht verhüllen. Durch die zuständige Gerichtsärztin Svenika Nielsen hat diese Abneigung ein neues Ausmaß erreicht. Bei ihr stört mich sogar das in Norwegen übliche Duzen.

Sie beugt sich zusammen mit einer anderen Frau über den Leichnam, den wir bisher nicht identifizieren konnten. Die Ärztin produziert ein Geräusch, das wie ein Lachen klingt. Irritierend. Offenbar ist die Frau neben ihr die Ursache für das Kichern. Verwundert halte ich inne und beobachte die beiden, die mit dem Rücken zu mir stehen und erneut auflachen. Die Unbekannte trägt einen leuchtend roten Daunenmantel. Noch auffälliger sind ihre braunen Locken, die wie dunkle Schokolade über ihre Schultern fließen.

Wer ist das?

Die Nielsen wandert um den Tisch, greift ein Seziermesser und blickt auf. »Wenn man vom Teufel spricht. Tag, Karl«, sagt sie ebenso frostig, wie sie eben lustig gewiehert hat. Die blonden, streng nach hinten gebundenen Haare betonen ihre hohen Wangenknochen und unterstreichen ihre Kühle.

»Hei, Svenika.«

In diesem Moment dreht sich der Daunenmantel, die Fremde sieht mich prüfend an. »Karl? Kommissar Karl Rasmussen?«, fragt sie, als würde sie mich kennen.

Was bedeutet die hochgezogene Augenbraue? Während sie sich federnden Schrittes auf mich zubewegt, die Einweghandschuhe schnalzend von den Fingern zieht, wohl, um mir die Hand zu schütteln, überfällt mich eine Erkenntnis: Pizza! Nein, Ferrari. Fuck, Luca Ferrari. Mein neuer Partner … ist eine Sie. Sprachlos fahre ich mir mit den Fingern durch die durchnässten Haare.

Es ist die Hölle, in die Frida mich geworfen hat. Diese Frau könnte Fotomodell sein, eine frisch gekürte Miss mit Schärpe. Großgewachsen, langbeinig und bildschön.

Ein paarmal blinzele ich und will den Film vor meinen Augen anhalten. Keine Chance. Sie schwebt in Zeitlupe auf mich zu, flankiert von Trouble und Verderben, ihren zwei hungrigen Löwen, die mit ihr in die Arena marschieren und mich zerfleischen werden. Ich spüre die schwere Rüstung an mir kleben. Nutzloses Blech. Karl, der Gladiator.

Zögernd strecke ich ihr die Hand entgegen: »Luca Ferrari? Willkommen. Du willst sicher auf der Tribüne zusehen, wie die beiden mich auseinandernehmen?«

Sie umgreift meine Hand wie eine Schraubzwinge und runzelt die makellose Stirn. Kurz erwarte ich Löwengrollen.

»Tribüne?« Sie blickt mich fragend an und die umtriebige Augenbraue hebt sich erneut.

Haben sich alle abgesprochen oder ist das ansteckend? »Sagt man hier so, die Tribüne des Verbrechens sozusagen.« Mein Versuch, den Schwachsinn zu entschärfen, geht schief.

»Ach so, ja?« Ihre verwunderten Gedanken sind förmlich hörbar.

Was hat Frida ihr über mich erzählt? Alles? Wenigstens eine geschönte Version?

Seit Petters Tod kämpfe ich damit, Kontrolle über meine Betriebsstörung zu gewinnen. Mit Albträumen hat es seinen Anfang genommen und sich allmählich in die Realität gedrängt.

Luca blickt mich mit ihren Pralinenaugen an. Wie viele Herzen sie wohl auf dem Gewissen hat? Während ich sie mustere, vermutlich penetrant anglotze, begreife ich, ihre Anmut ist nur die Verpackung eines hellwachen Verstandes, mit einem rosigen Mund, der scharfkantige Worte zu sprechen vermag. Ein rosenumranktes Inferno. Habe ich schon gesagt, sie muss verschwinden?!

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also wende ich mich dem Toten auf dem Obduktionstisch zu. »Gibt es neue Erkenntnisse, Svenika?«, murmle ich und drehe mich ruckartig von ihm weg, sein Anblick jagt meinen Puls in die Höhe.

»Hab dir doch schon alles geschickt«, sagt sie augenrollend. »Vielleicht erfahren wir noch irgendwas durch den Zahnabgleich.«

»Kannst du inzwischen etwas Genaueres zum Todeszeitpunkt sagen?«

»Was ist los, Karl? Hat die Demenz eingesetzt? Er ist ungefähr drei Wochen im Wasser gewesen, wie es im Bericht steht.«

Mir liegt einiges auf der Zunge, doch sie schiebt sich demonstrativ die Kopfhörer, die um ihren Nacken gebaumelt haben, auf die Ohren. Was sie wohl hört? Death Metal?

Obwohl sie nichts mitbekommt, sage ich: »Halt uns auf dem Laufenden« und verlasse den Sektionssaal. Ich muss an die Luft und den Kopf für einen Moment im Schneeregen abkühlen.

Klack, klack, klack und Luca hat mich eingeholt. Wie sollte es auch sonst sein? Ein Ferrari ist schnell.

»Fahren wir zur Wache? Ich will die Kollegen kennenlernen!«, sagt sie schnittig, dann lächelt sie charmant und hält sich ihre teure Aktentasche über den Kopf, um nicht nass zu werden.

Diese Frau scheint es gewohnt zu sein, Menschen für sich einzunehmen. Sie hat Svenika Nielsen zum Lachen gebracht, was bisher außerhalb meiner Vorstellungskraft gelegen hat. Mein Team wird sie lieben. Alle werden sie lieben. Sie geht mir jetzt schon auf den Sack.

»Fahr hinter mir her.« Ich zeige auf meinen Dienstwagen, einen VW Passat. Geradlinig, uneitel und zuverlässig. Wie ich. Nichts, was man liebt, aber zu schätzen weiß, wenn es drauf ankommt. Hoffentlich werde ich dieser Beschreibung irgendwann wieder gerecht.

Wir steigen in die Fahrzeuge und machen uns auf den Weg zur Wache nach Leknes. Ich kann mich kaum auf die Straße konzentrieren, so oft blicke ich in den Rückspiegel und fasse mein Schicksal nicht, das am Kofferraum meines Wagens klebt. Luca, die Pizza, wird alles verändern. Diese Erkenntnis erzeugt eine Mischung aus Anspannung und Weigerung, wie man sich auf eine Zahnoperation freut. Vielleicht ist sie verträglich und kompetent in ihrem Job, aber ich will sie auf keinen Fall an meiner Seite. Nicht weil sie attraktiv oder eine Frau ist. Ich will weder Zuneigung noch Sorge für einen neuen Partner empfinden.

Vor der Wache parken sechs Wagen, einer gehört nicht den Kollegen. Es ist der rote Golf der vermeintlichen Kautionseintreiberin. Schon von draußen ist lautes Geschrei zu vernehmen. Was zum Teufel ist da drinnen los?

Luca sieht mich befremdet an, während ich zur Tür rase und sie aufreiße. Mein erster Blick fällt auf Emilie, die mich mit hochrotem Kopf anblickt. Ihr zartes Gesicht ist mit einer steilen Zornesfalte gespickt, sie zittert und scheint dabei ihre dunkle Haarmähne elektrisch aufzuladen.

»Endlich bist du da, Karl!«, sagt sie schrill und drückt meine Hand.

Sie wirkt erleichtert und zugleich habe ich den Eindruck, sie eskaliert jeden Augenblick. Die gesamte Mannschaft hat sich in den kleinen Empfangsraum gedrängt. Gespanntes Knistern liegt in der Luft.

»Was ist hier los?«, poltere ich wenig originell.

Anni Lund, unsere feenhafte Phantombildzeichnerin schaut durch die blonden Fransen in den Laptop auf dem Besuchertisch und erzeugt Runzeln im Gesicht, die sie eigentlich nicht besitzt. Ihr gegenüber sitzt die OP-Schwester und Dauergast der Wache: Catalina Andreassen. Wie immer ist sie in Lila und Gelb gekleidet. Der verächtliche Blick, den sie mir aus dunklen Augen unter der tiefsitzenden Mütze zuwirft, hat es in sich. Vorhin hat ihr Wagen noch vor dem Krankenhaus geparkt, aber heute will sie scheinbar keine Kaution für einen Touristen kassieren.

»Ich bin dann fertig.« Anni schaut mich verlegen an. Je länger sie mich ansieht, desto tiefer röten sich ihre Wangen, als wollte sie sich für das, was nun kommt, entschuldigen. Umständlich dreht sie den Laptop um, bis wir alle das von ihr erstellte Phantombild betrachten können.

»Ja, genau so sieht er aus, mein Gedächtnis vergisst kein Detail. Nie. Er hat diesen armen Mann im Fjord ertränkt«, ruft Catalina mit schriller Stimme und nickt wie ein Wackeldackel.

Stille. Alle halten den Atem an. Emilie bricht in Tränen aus und einen Augenblick später registriere ich, wie sich der Becher in ihrer Hand auf die Reise macht, einen Salto in der Luft vollführt und gegen Annis Notebook prallt. Trotz des heruntertropfenden Kaffees erkenne ich eine jüngere Version eines mir bekannten Mannes. Braune Augen, dunkle Haare, Vollbart. Es ist der, den ich jeden Morgen im Spiegel anblicke.

Luca schaut ungläubig in die Runde, als sei ihr gerade klar geworden, in welchem Irrenhaus sie gelandet ist. Dann bleibt sie mit ihren betörenden Augen an mir hängen und bricht die erste Regel der Wache. Sie lacht.

3. Die Kammer

Halli ist gegangen und hat alles Vertraute, die Hoffnung und mein Herz mitgenommen. Auf mein jämmerliches Dasein zurückgeworfen bin ich bei den anderen Kindern verblieben, die immer roher geworden sind und sich gegenseitig Schmerz zugefügt haben. Dabei haben sie sich, wie ich, nur nach Geborgenheit, einem guten Wort und einer Hand, die ihre hält, gesehnt.

All das habe ich ertragen, weil mein Bruder nie gänzlich von mir gegangen ist. Er hat mir körperlos wie ein himmlischer Gefährte zur Seite gestanden. Wenn Blitze über den Himmel gezuckt sind, habe ich mich in seine haltlosen Arme geflüchtet. Wenn mich Hunger gequält hat, habe ich mich an die Leckereien erinnert, die er auf seinen nächtlichen Raubzügen aus der Küche gestohlen hat, wie Fantasiegebilde habe ich sie verschlungen.

Halli hat all seine Sachen hiergelassen. Obwohl er größer als ich gewesen ist, bin ich in seine Kleidung geschlüpft, die nach der vertrauten Zeit nach ihm gerochen hat. Alle haben mich gehasst, den furchtsamen und verkrüppelten Troll. Und ich habe mich nicht minder verachtet.

Kurz nachdem ich Halli und das Luftschloss neuer Eltern verloren hatte, hat Herr Kydland Pflegeeltern für mich gefunden. Aufrechte Menschen, die versprochen haben, eine gute Seele aus mir zu machen. Sie haben kein Geheimnis daraus gemacht, dass das ein schwerer Weg werden würde.

Ruth und Isaak Fatland haben mich auf die kleine Felseninsel Mosken mitgenommen, auf der außer zweihundertacht Schafen und unzähligen Seevögel niemand mehr gelebt hat. Die Insel liegt am tückischen Moskenstraumen, einer der stärksten Meeresströmungen der Erde. Umgeben von über dreihundert Meter hohen Felsen hat sich ihr morsches Rorbu unauffällig in die Landschaft eingefügt. Früher haben hier Menschen von der Schafzucht gelebt und Vater Isaak hat diese Tradition wiederaufleben lassen. Er hat ihre Wolle verkauft und, wenn das Geld zu knapp geworden ist, auch einige Schafe.

Sie haben mir einen neuen Namen gegeben. Mikael, wie der Erzengel aus der Bibel. Mikael, der den Teufel in Gestalt eines Drachen besiegt hat. Stolz hat mich erfüllt, diesen Namen bekommen zu haben und den kläglichen Odd wie einen schmutzigen Mantel ablegen zu können.

Im Dach ihres windschiefen Hauses habe ich ein Zimmer erhalten. Klein und bescheiden. Jesus hat an einem großen Kreuz über meinem Bett gehangen und eine Bibel auf meinem Kissen gelegen.

»Jeden Abend und ebenso am Morgen liest du das Wort Gottes, Mikael«, hat Mutter Ruth zu mir gesagt. »Der Ewige muss einen Plan für dich haben, er hat dich bewahrt und seine Hand über dich gehalten. Sonst wärst du wie die abscheuliche Frau, die dich geboren hat, in die Hölle gefahren. Doch deine Seele ist unrein und voller Sünde. Ich sehe es in deinen gottlosen Augen. Du musst dagegen ankämpfen, Mikael. Das Böse breitet sich wie die Pest in dir aus, Junge.«

Mit meinen damaligen sechs Jahren habe ich noch nicht lesen können und nicht verstanden, was Sünde bedeutet. Den Gesichtsausdruck, mit dem sie dieses Wort gesprochen und ihren Mund verzogen hat, werde ich nie vergessen. Als würde sie etwas Verdorbenes ausspucken.

Fehlerhaft. So habe ich mich gefühlt und für meine tote Mama geschämt. Nichts habe ich mehr gewollt, als von Mutter Ruth geliebt zu werden. Auch, wenn sie keinerlei Ähnlichkeit mit meiner Fastmama Elin gezeigt hat. Welche Wahl habe ich gehabt? Das Loch in meiner Seele ist jeden Tag gewachsen, ich habe nach der Liebe gedürstet, die ich einmal für eine unvergessliche Zeit bei Halli gefunden habe.

Mutter Ruth ist grau gewesen. Ihre Kleidung, ihre Haut und Haare, wie ein verhangener Himmel. Immer hat sie Röcke getragen, auf denen Blumenmuster gedruckt gewesen sind. Doch vom vielen Waschen in den Jahren haben sie ihre bunten Töne verloren und das Gewebe ist spröde geworden. Auch Vater Isaak hat trotz seiner Arbeit im Freien angemutet, als sei er immun gegen das Sonnenlicht. Knorrig wie ein alter Baum hat er ausgesehen, mit ellenlangen, hageren Armen und einem von Falten zerfurchten Gesicht. Der Blick aus seinen hellblauen Augen hat gewirkt, als sei er zu erhaben, um mich wirklich zu bemerken. Beide haben wie Menschen auf antiquierten Fotos ausgeschaut, ohne Farbe. Nie habe ich sie lachen gehört oder glücklich gesehen. Sie haben sich kein einziges Mal unterhalten und ihre Körper sind gebückt gewesen, als würden sie sich vor etwas ängstigen.

Nun weiß ich, wovor sie sich gefürchtet haben. Mit dieser Angst haben sie mich geimpft, bis ich an nichts anderes mehr gedacht habe.

Schon wenige Wochen nachdem ich eingeschult worden bin, habe ich zu lesen gelernt. Die Bibel habe ich eingepaukt, bis ich meinen Eltern die korrekten Textstellen habe aufsagen können, wenn sie mich abgefragt haben.

Die Heilige Schrift hat mich zur gleichen Zeit fasziniert wie geängstigt. Gott hat die Menschen getötet, wenn sie gesündigt haben. Auge um Auge hat er ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht und sie in die ewige Verdammnis geschickt. Nicht alles habe ich damals verstanden, doch Mutter Ruth hat fortwährend gesagt, dass ich schwer zu retten sei, manche Menschen seien zu schmutzig.

 

Tag für Tag und bei jedem Wetter hat Vater Isaak mich mit dem Boot auf die Nachbarinsel gebracht und nach der Schule wieder abgeholt. Jahrelang. An diese Zeit erinnere ich mich nicht gern. Ich bin der hinkende Junge gewesen, der selbstgenähte Hosen und altes Zeug getragen hat. Ein willkommenes Ziel für alle, die sich haben stark fühlen wollen. Neben mir ist das niemandem schwergefallen.

Doch nicht alles in der Schule ist schlecht gewesen. Meine Lehrerin Tobi Ragnarsdóttir hat mich nicht nur Lesen und Schreiben gelehrt, oft hat sie ein gutes Wort für mich gehabt und manchmal haben ihre Augen in Tränen geschwommen, wenn sie zu mir gesagt hat, ich sei ein anständiger Junge.

Auch wenn ich ihr kein Wort habe glauben können, für diese Schwindelei habe ich sie geliebt. Ihre kupferroten Haare haben wie glühendes Gold ausgesehen, wie ein himmlisches Wesen hat sie geleuchtet. Manchmal habe ich mir vorgestellt, sie würde mich zu sich nehmen, weg von meinen Pflegeeltern, die mich nie adoptiert haben.

Einmal hat unser Mathelehrer Herr Gudbrand sie vor der ganzen Schulklasse angeherrscht, weil sie uns, in ihrer grenzenlosen Liebe zu Worten, beigebracht hat, alle Zahlen auszuschreiben. Die Tränen habe ich ihr getrocknet, wie sie es oft für mich getan hat. Sie hat die Arme um mich gelegt und geweint.

Nach Halli ist sie der zweite Mensch, für den ich etwas empfunden habe, sie hat eine Saite berührt, die klangvoll gewesen ist. Wie einen Engel habe ich sie geliebt.

 

Eines Tages, ich bin gerade sieben Jahre alt geworden, habe ich mich unseligerweise nach der Schule verspätet. Vater Isaak hat mich wie immer am Anleger erwartet, aber ich habe mich in die Backstube in Sørvågen geschlichen, wo mir die freundliche Bäckerin Freydis Sjokoladebomber zugesteckt hat. Sie ist so gutherzig gewesen und die Schokolade hat verführerisch geschmeckt. Nur wenige Minuten bin ich zu spät gekommen.

»Es tut mir leid, Vater Isaak«, habe ich fortwährend gestammelt. Er hat mich nicht angesehen. Ohne ein Wort zu sprechen, hat er das Boot zu unserer Insel gesteuert und mich mit seinen riesigen Händen vor Mutters Füße geworfen, wie vor einen tobsüchtigen Löwen.

»Du verkommene und undankbare Brut, Mikael. Wie oft soll Gottes Sohn gekreuzigt werden und sein Blut für einen wie dich vergießen? In der Hölle wirst du brennen, für immer. Der Herr hasst Menschen wie dich. Bete, Junge. Deine arme Seele, sie ist verloren.«

Mutter Ruth hat mich das erste Mal angebrüllt. Ohrenbetäubend wie ein Donner. Sie hat mir einen Stoß versetzt, mich in die zugige Kammer in der Küche gesperrt und die Tür verriegelt.

Ab diesem Tag habe ich mehr Zeit in dem kleinen Verschlag verbracht als an irgendeinem anderen Ort.