Sunshine Girl - Das Erwachen - Paige McKenzie - E-Book

Sunshine Girl - Das Erwachen E-Book

Paige McKenzie

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Beschreibung

Sunshine Griffin ist keine normale Siebzehnjährige. Sie ist eine Luiseach, ein Mensch, der Geister und Dämonen sehen und mit ihnen kommunizieren kann. Und der Geistern dabei helfen kann, ins Jenseits weiterzuziehen. Doch ihre neu entdeckten Kräfte machen Sunshine auch Angst. Nicht immer ist sie dazu in der Lage, die Geister, die sie umgeben, zu kontrollieren. Darum stimmt sie zu, mit ihrem Mentor in ein geheimes Ausbildungszentrum nach Mexiko zu fahren, auch wenn das bedeutet, dass sie ihren besten Freund und Beschützer Nolan zurücklassen muss. Aber Antworten auf Sunshines viele Fragen bleibt ihr geheimnisvoller Mentor ihr auch in Mexiko schuldig. Dafür beginnt Sunshine langsam zu begreifen, dass die Aufgaben, die auf die letzten verbliebenen Luiseach warten, weitaus größer und gefährlicher sind, als sie es sich je vorzustellen vermochte ...

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Paige McKenzie mit Alyssa Sheinmel

Sunshine Girl

Das Erwachen

Zweites Buch der Sunshine Girl-Serie

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Doris Hummel

Geschichte von Nick Hagen & Alyssa Sheinmel Nach der Webserie von Nick Hagen

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

bloomoon, München 2017

Copyright © 2016 by Paige McKenzie, Nick Hagen, Mercedes Rose and Alyssa Sheinmel

Titel der Originalausgabe: The Awakening of Sunshine Girl

Die Originalausgabe ist 2016 im Verlag Weinstein Books, New York, erschienen.

© 2017 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH,

Friedrichstraße 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Paige McKenzie, Alyssa Sheinmel

Übersetzung: Doris Hummel

Coverfotografie: Levy Moroshan

Covergestaltung: Leigh Taylor

ISBN eBook 978-3-8458-2192-4

ISBN Printausgabe 978-3-8458-1521-3

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

www.bloomoon-verlag.de

Für meine Familie.

Ihr wisst, wer ihr seid

und was ihr für mich getan habt.

Inhaltsverzeichnis

 Cover

 Titel

 Impressum

 Widmung

 Auch ich beobachte sie

Kapitel 1 Heimgesucht

Kapitel 2 Notfall

Kapitel 3 Die Wahrheit

Kapitel 4 Tränen

 Diese Frau

Kapitel 5 Gefahr

Kapitel 6 Geständnisse

Kapitel 7 Im Flug

Kapitel 8 Llevar la Luz

Kapitel 9 Trautes Heim

 Eine Sackgasse?

Kapitel 10 Ein sicherer Ort?

Kapitel 11 Lucio

Kapitel 12 Die erste Lektion

Kapitel 13 Die Spielstunde ist vorbei

Kapitel 14 Clementine

Kapitel 15 Die Dunkelheit

Kapitel 16 Die Jagd

 Ich finde den Beschützer

Kapitel 17 Mein Geist

Kapitel 18 Eine dunkle Entdeckung

Kapitel 19 Hinter verschlossenen Türen

Kapitel 20 Mädchengespräche

Kapitel 21 Helena

 Verwandte Seelen

Kapitel 22 Aussterben

Kapitel 23 Mitten in Überall

Kapitel 24 Fehlschläge

Kapitel 25 Eliminierung

 Seltsame Wörter

Kapitel 26 Argi und Jairo

Kapitel 27 Richtige Luiseach-Arbeit

Kapitel 28 Stadt in Flammen

Kapitel 29 Der Feuerdämon

Kapitel 30 Der Sturm

 Gewisse Kräfte

Kapitel 31 Beinahe

Kapitel 32 Am Abgrund

 Aufbruch?

Kapitel 33 Wieder am Netz

Kapitel 34 Eingesperrt

 Wut

Kapitel 35 Konzentration

Kapitel 36 Gefangen

Kapitel 37 Ruhe

Kapitel 38 Rettung

Kapitel 39 Wieder zu Hause

Kapitel 40 Im Inneren

Kapitel 41 Geküsst

Kapitel 42 Zu spät

Kapitel 43 Erwachen

Kapitel 44 Fallen

 Weitere Titel

 Leseprobe zu "Goddess of poison - Tödliche Berührung"

Auch ich beobachte sie

Ich spürte es im selben Moment, in dem sie ihre Prüfung bestand. Das Gefühl kam aus meinem Innersten: ein kurzes, starkes Zerren, so als hätte jemand meine Eingeweide gepackt und ganz fest daran gezogen. Unerwartet tauchte ein Bild vor meinem inneren Auge auf, von ihr, so, wie sie heute aussehen könnte: sechzehn Jahre alt. Von ihrem Vater die Augen. Von ihrer Mutter … ich weiß es nicht. Alles, woran ich mich jetzt noch erinnern kann, sind ihre Augen.

Ich will mich an nichts anderes erinnern. Ich will nicht darüber nachdenken, wem sie möglicherweise ähnlich ist, ihr Aussehen, ihre Stimme, ihr Verhalten. Ich schiebe diese Neugier nun schon seit Jahren weit von mir. Sie hat keinen Platz in meinem Leben. Sie hindert mich nur daran, das zu tun, was getan werden muss. Und es muss getan werden. Es hätte schon vor sechzehn Jahren getan werden müssen, aber er hat sie fortgebracht, bevor ich es tun konnte. Nun hatte ich jahrelang Zeit, meine Kräfte zu sammeln.

Sechzehn Jahre, um es zu planen.

Sechzehn Jahre, um es mir vorzustellen.

Sechzehn Jahre, um mich für die Aufgabe zu wappnen, die mirzugefallen ist.

Ich bin bereit, sie zu eliminieren. Ich muss sie nur zuerst finden.

KAPITEL 1

Heimgesucht

Der Biologieunterricht in der sechsten Stunde ist nicht unbedingt der Ort, an dem die meisten Leute erwarten würden, einen Geist zu sehen – aber ich bin ja auch nicht wie die meisten Leute.

Nachdem ich mir ein paar Notizen zu den genetischen Ähnlichkeiten zwischen Rhesusaffen und Menschen gemacht habe, blicke ich auf und sehe in der Ecke unseres Klassenzimmers eine alte Frau stehen, die ganz eindeutig nicht hierher gehört. Sie ist ziemlich klein und mindestens neunzig Jahre alt. Oder vielleicht sollte ich sagen: Sie war mindestens neunzig Jahre alt. Sie trägt einen rosafarbenen Frotteebademantel mit Blumenmuster am Ausschnitt. Ihre kleinen, durchdringenden Augen sitzen tief in den Höhlen versunken. Sie blinzelt nicht, sondern starrt mich einfach nur an. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Hastig blicke ich mich im Zimmer um und vergewissere mich, dass ich wirklich die Einzige bin, die sie sehen kann. Aber niemand reagiert, als hätten wir urplötzlich eine merkwürdig gekleidete Gastdozentin, deshalb weiß ich, dass sie ein Geist ist. Ich bin die Einzige, die sie sehen kann, und sie braucht meine Hilfe.

Diese ganze Luiseach-Sache ist noch neu für mich, darum versuche ich, nicht zu hart zu mir selbst zu sein, als mein erster Instinkt ist, zu fragen, ob ich mal auf die Toilette darf, und aus dem Raum zu rennen. Stattdessen strecke ich ganz beiläufig eine Hand in Richtung der Frau aus und versuche, keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Sie muss näher zu mir kommen, wenn ich ihr dabei helfen soll weiterzuziehen.

Mr.Packer setzt seinen Vortrag fort und kommt von der Vererbungslehre der Affen zu Schweinen. Ich weiß, dass ich mir neue Notizen dazu machen sollte, aber ich kann nicht. Ich strecke meinen Arm noch ein bisschen weiter aus und konzentriere mich ganz auf die Frau. Es funktioniert: Sie beginnt, auf mich zuzugehen. Sie schwebt durch drei meiner Klassenkameraden hindurch, die keine Ahnung davon haben, auch wenn ich bemerke, wie einer von ihnen erschaudert und sich umschaut, um herauszufinden, woher der kalte Luftzug kam. Er würde mir nicht glauben, wenn ich es ihm erklären würde.

Als die Frau nur noch einen Meter von mir entfernt ist, strecke ich meinen Arm noch ein Stückchen weiter aus und hoffe, dass ich sie berühren und ihr helfen kann hinüberzuwechseln, ohne dass es jemand bemerkt. Die Zähne der Frau fangen vor lauter Aufregung an zu klappern, als sie sich mir noch weiter nähert. Sie öffnet den Mund ein kleines Stück und es fließt eine widerwärtige dunkle Flüssigkeit heraus und über ihren Bademantel. Mit einem Mal weiß ich, wie sie gestorben ist: Sie lag allein in ihrem Bett, zu schwach, um sich aufzusetzen, als sie zu husten begann. Sie hat gehustet, bis sie erstickt ist. Ihr Name war Elizabeth, und es war nicht gerade der friedlichste Tod der Welt, aber wenigstens war es auch nicht der gewaltsamste. Und jetzt muss ich ihr helfen weiterzuziehen.

Sie hält ihre Augen weiter starr auf mich gerichtet, und ich frage mich, ob sie mich überhaupt sehen kann oder direkt durch mich hindurchschaut. Ich habe so was noch nie vorher gesehen, und plötzlich würde ich am liebsten laut schreien. Ich will einfach nur, dass das aufhört, für sie und für mich. Mein Stuhl schabt stöhnend über den Boden, als ich aufstehe. Ich lehne mich zu ihr, berühre ihre Schulter und schließe die Augen, während ein Gefühl des Friedens über mich hinwegströmt. Ebenso schnell, wie sie aufgetaucht ist, verschwindet Elizabeth in einer grellen Kugel aus Licht, und innerhalb weniger Sekunden haben sich auch die letzten Lichtpartikel in Luft aufgelöst.

»Kann ich dir helfen, Sunshine?«, fragt Mr.Packer, als wäre nicht gerade ein Geist aus seinem Klassenzimmer entschwebt. Ich mache die Augen wieder auf, und mit einem Mal wird mir klar, wie lächerlich ich ausgesehen haben muss, als ich dort mitten im Raum stand, einen Arm vor mir ausgestreckt und die Augen geschlossen.

»Ähm. Nein. Mir geht’s gut«, antworte ich schnell und setze mich wieder hin, während die halbe Klasse vor Lachen prustet. Bevor Mr.Packer seinen Unterricht fortsetzen kann – und bevor mein Gesicht die höchste Rotstufe erreicht –, klingelt es. Ich schnappe mir meine Sachen und stürme aus dem Klassenzimmer. Warum müssen Luiseach ihre Kräfte ausgerechnet mit sechzehn bekommen? Es ist schon schwer genug, sechzehn zu sein, ohne gleichzeitig auch noch mit dem ganzen Zeug fertigwerden zu müssen. Ich renne auf den Parkplatz hinaus und seufze erleichtert, als ich Nolans schlaksige Gestalt gegen das Auto gelehnt stehen sehe. Er wartet schon auf mich.

»Wie fühlst du dich?«, erkundigt er sich, obwohl er gar nicht weiß, was gerade in Bio passiert ist.

Es ist der erste Schultag nach den Winterferien, und um uns herum plaudern unsere Mitschüler über ihre Weihnachtsgeschenke und Urlaube in den Tropen, über Weihnachtsbäume, die sie geschmückt, und Kerzen, die sie angezündet haben, über Filme, die sie sich angeschaut, und wie lange sie jeden Tag ausgeschlafen haben. Ihre Stimmen erfüllen die Luft um uns, und während ich immer noch an die alte Frau denken muss, der ich gerade dabei geholfen habe weiterzuziehen, kann ich mich nicht entscheiden, ob ich froh darüber bin oder nicht, dass ich so anders bin als sie.

»Nervös«, antworte ich Nolan schließlich, kämme mir mit den Fingern das lange braune Lockenhaar aus dem Gesicht und fasse es mit einem Haargummi zusammen. Ich will nicht, dass mir irgendwas die Sicht versperrt, wenn ich gleich tue, was ich vorhabe.

»Du musst nicht nervös sein«, muntert Nolan mich auf. »Du bist ein Naturtalent. Du hast es schließlich schon mal gemacht, hab ich recht?«

»Ja, aber das war nur eine Übungsrunde. Und damals war ich auch nicht allein.«

»Willst du, dass ich mit dir komme?«, bietet er an.

»Nein«, antworte ich und wühle in meiner Tasche nach den Autoschlüsseln. »Ich muss das allein machen.« Aber ein Teil von mir wünscht sich doch, dass Nolan bei mir bleibt. Er könnte das Lenkrad übernehmen, falls ich plötzlich einem Geist beim Weiterziehen helfen muss. Aber das sage ich ihm nicht. Ich muss lernen, eine Luiseach zu sein und gleichzeitig ein normal funktionierender Mensch. Ich schließe die Tür auf und werfe meinen lilafarbenen, mit Aufnähern übersäten Rucksack auf den Rücksitz, bevor ich mich neben Nolan gegen den silbernen Wagen lehne. »Ich kann das. Ich kann allein mit dem Auto bis zum Krankenhaus fahren.«

Mom ist richtig zusammengezuckt, als sie mir heute Morgen die Schlüssel gegeben hat. Dabei habe ich meinen Führerschein schon seit Monaten. Ich habe die Prüfung bestanden, bevor wir von Austin in Texas hierher gezogen sind, bin aber nicht sehr viel gefahren. Bevor wir umgezogen sind, dachte ich, ich würde Mom in unserer neuen Heimatstadt ständig darum anbetteln, mich hinters Steuer zu lassen. Seit wir hergezogen sind, war jedoch nichts auch nur annähernd so, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Mom musste jeden Tag lange arbeiten und ich war in gewisser Weise in unserem Haus gefangen. Schließlich hat sie mir aber doch angeboten, dass ich mir den Wagen ausleihen darf, um zur Schule und wieder nach Hause zu fahren – der Fußweg ist ewig lang und der Januar in Ridgemont, Washington, verflucht kalt –, aber ich musste ihr versprechen, sie vom Krankenhaus abzuholen, wenn sie anders nicht nach Hause kam. Ich mache das gerne. Ich meine, das ist doch nur fair, oder? Die Fahrt zum Krankenhaus ist allerdings alles andere als eine hübsche gerade Strecke, die von A nach B führt. Ich muss die Schnellstraße nehmen und dann auf einer kurvigen Straße um den Berg fahren, der über unserer Stadt thront. Man würde denken, sie hätten den Weg zum Krankenhaus einfacher gestaltet – ich meine, Krankenwagen sind da im Zweifelsfall schließlich mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs, hab ich recht?

Die Wahrheit ist: Es sind nicht wirklich die kurvigen Straßen, die mir Sorgen machen. Es ist die Tatsache, dass mein Mentor/​Vater – dessen Name Aidan ist, wie ich inzwischen weiß – mir ständig neue verlorene Geister schickt, um mich daran zu erinnern, dass er immer noch darauf wartet, sich mit mir zu unterhalten. Ich schlinge die Arme um meinen Körper.

»Noch ein Geist?«, fragt Nolan und senkt seine Stimme zu einem Flüstern.

Ich nicke, kann aber nichts erwidern, weil meine Zähne klappern. Ich kann den Geist noch nicht sehen, aber ich weiß, dass er ganz in der Nähe ist. Glücklicherweise steht Nolan dicht neben mir, deshalb ist mir nicht zu kalt. Wenn ich in seiner Nähe bin, ist mir immer ein kleines bisschen wärmer. Trotzdem ziehe ich die langen Ärmel meiner marineblauen Strickjacke über die Handgelenke, denn wenn Geister mich berühren, sackt meine Körpertemperatur in den Keller und mein Herz beginnt wie wild zu rasen. Was in den vergangenen achtundvierzig Stunden, seit ich Aidan getroffen habe, schon viel zu oft passiert ist. Na schön, getroffen mag vielleicht ein wenig übertrieben sein. Getroffen klingt, als hätten wir uns die Hände geschüttelt und Höflichkeiten ausgetauscht und solche Sachen.

»Du kannst ihn nicht bis in alle Ewigkeit meiden, Sunshine«, fügt Nolan hinzu und lehnt sich noch ein wenig näher zu mir. Er trägt einen bläulich-grauen Kapuzenpullover sowie einen Schal, Handschuhe und eine ziemlich albern aussehende grellgelbe Wollmütze mit einem roten Bommel auf dem Kopf. Ich hab mich immer noch nicht so richtig daran gewöhnt, ihn ohne die Lederjacke seines Großvaters zu sehen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er überhaupt eine andere Jacke besitzt. Aber trotzdem hat er mir am Silvesterabend die Jacke gegeben, die er so sehr liebt, und darauf bestanden, dass ich sie behalte, selbst nachdem all diese verrückten Dinge passiert waren. Jetzt hängt sie zu Hause in meinem Schrank, immer noch nicht ganz trocken. »Du solltest mit ihm reden.«

»Das wäre entschieden einfacher, wenn ich auch nur den Hauch einer Ahnung hätte, was ich zu ihm sagen will.«

Okay, das entspricht vielleicht nicht ganz der Wahrheit. Es gibt eine Million Dinge, die ich ihn fragen will: Warum hast du mich im Stich gelassen? Wie konntest du meine Mutter in solche Gefahr bringen? Wer ist meine leibliche Mutter? Wo bist du all die Jahre gewesen? Warum bist du erst jetzt auf mich zugekommen? Wie bist du auf die Idee gekommen, das könnte die richtige Art sein, dich vorzustellen: Hi, ich habe schweigend danebengestanden, als deine Mutter beinahe gestorben wäre, damit ich dich einer Prüfung unterziehen konnte, während du gleichzeitig herausgefunden hast, dass du gar nicht der Mensch bist, für den du dich dein ganzes Leben lang gehalten hast – sondern dass du, streng genommen, in Wirklichkeit gar kein Mensch bist?

Aber als er dann an Neujahr in meiner Einfahrt aufgetaucht ist, habe ich kein einziges Wort rausgekriegt. Als er mir seine Hand hingestreckt und mir gesagt hat, wie er heißt, als er mir erklärt hat, wer er ist: mein leiblicher Vater – als hätten seine milchig grünen Katzenaugen, die mit meinen absolut identisch sind, nicht schon alles gesagt –, hatte ich Mühe, meine Muskeln überhaupt so weit unter Kontrolle zu bringen, dass ich meine Hand dazu zwingen konnte, die seine zu schütteln. Ich habe den Mund aufgemacht, aber die einzigen Laute, die ich herausbekommen habe, waren ein erbärmliches Gestammel aus Warumhastdu? Wiekonntestdu? Wannhastdu?, bevor mir schließlich klar geworden ist, dass das einfach alles ein bisschen zu viel für mich war. Danach habe ich nur noch den Kopf geschüttelt, bin zurück ins Haus gerannt und habe Nolan ganz allein mit ihm auf der Veranda stehen lassen.

Der Typ mag vielleicht mein leiblicher Vater sein, aber er war auch derjenige, der meine Mom – meine Adoptivmutter, aber trotzdem meine richtige Mom – in Gefahr gebracht hat, um meine frisch aktivierten übernatürlichen Fähigkeiten zu testen. Ich hatte mir immer vorgenommen, ihm – wie Mom es ausdrücken würde – ordentlich den Marsch zu blasen und ihm zu sagen, was ich von ihm halte, wenn ich ihm endlich begegnen würde. Aber stattdessen war mein Hirn mit einem Mal vollkommen leer.

»Er hat mir gesagt, dass er mit dir reden muss«, wiederholt Nolan zum höchstwahrscheinlich zwölften Mal.

»Ich weiß«, erwidere ich. »Aber ich bin noch nicht bereit, mit ihm zu sprechen.«

»Das verstehe ich.« Nolan nickt langsam. »Und ich kann deine Gründe nachvollziehen. Aber irgendwann wirst du dich mit ihm unterhalten müssen, also warum bringst du es nicht einfach hinter dich?«

Endlich entdecke ich den Geist, der meine Zähne zum Klappern gebracht hat. Es ist ein Mann Mitte zwanzig. Ich weiß sofort, dass sein Name Ryan Palmer ist. Sein Gesicht ist blassblau, seine Lippen sind violett und seine Augen blutunterlaufen. Er ist ertrunken, und wie es aussieht, ist das eine schreckliche Art und Weise, aus dieser Welt zu scheiden. Ich mache einen Schritt von Nolan weg, um den Mann erreichen zu können und ihm meine Hand auf die Schulter zu legen. Ich schließe die Augen und helfe ihm weiterzuziehen. Es fühlt sich genauso natürlich an wie atmen. Ich habe keine Ahnung, ob es normal ist, so vielen Geistern in so kurzer Zeit zu helfen, oder ob Aidan wirklich jeden einzelnen Geist in der Umgebung zu mir schickt. Es kommt mir jedenfalls so vor, als sei er der Ansicht, ich müsste daran erinnert werden, dass er immer noch auf mich wartet. Als bestünde auch nur die geringste, winzigste Chance, dass ich vergessen könnte, dass er hier ist.

Dass er mein Mentor ist.

Dass er mein Vater ist.

Dass ich einer magisch-mystischen Art angehöre und wir so was wie Schutzengel für die gesamte Menschheit sind.

Das sind nicht gerade Kleinigkeiten, die ein Mädchen einfach mal so vergisst. Sosehr sie es sich vielleicht auch wünschen mag.

»Können wir bitte, bitte das Thema wechseln?«, flehe ich Nolan an und balle meine Faust so fest um die Autoschlüssel zusammen, dass es wehtut. Ein Teil von mir würde am liebsten einfach verschwinden. In den Wagen steigen und davonfahren, bevor der nächste Geist von mir angezogen wird. Ich meine, es mag vielleicht ein gutes Gefühl sein, den Toten dabei zu helfen, Frieden zu finden, aber es kann auch ganz schön furchteinflößend sein, wenn jemand nicht besonders friedlich gestorben ist und urplötzlich auftaucht. Zum Glück musste ich bisher noch keinen Mordopfern helfen.

»Na schön«, lenkt Nolan ein und lehnt sich wieder neben mich gegen das Auto. »Was hältst du von unserer neuen Kunstlehrerin?«

Wenn ich ihn spielerisch wegschubsen könnte, wie es die Hälfte der Mädchen auf dem Parkplatz mit ihren Freunden macht, dann würde ich es tun. Nicht, dass Nolan mein Freund wäre. Aber er ist auch nicht wirklich nicht mein Freund. Ich meine, er ist ein Junge und er ist mein Freund und er ist echt süß – selbst mit dieser lächerlichen Mütze –, und ich fände es toll, wenn er mein Freund-Freund sein könnte. Aber wir können einander nicht mal berühren, weil mir jedes Mal, wenn er mir zu nahe kommt, ganz schwindelig wird, und das nicht im positiven Sinne wie »Ich kriege weiche Knie«.

Dass dem Mädchen jedes Mal ganz flau im Magen wird, wenn es von dem Jungen berührt wird, den es mag, war noch nie der Beginn einer großen romantischen Liebesgeschichte.

»Das ist aber nicht wirklich ein Themawechsel«, scherze ich und lächle ein wenig. Unsere neue Kunstlehrerin, Mrs.Johnson, ist überhaupt nicht so wie unsere alte. Victoria Wilde war auch überhaupt keine Lehrerin, wie sich letztendlich herausstellte. Aidan hatte sie in die Ridgemont High eingeschleust, damit sie und ich einander finden konnten. Aber jetzt ist sie fort, und ich weiß nicht, wohin.

»Ich sollte gehen«, sage ich schließlich und stoße mich vom Wagen ab. »Ich kann das nicht noch länger aufschieben.«

»Genau das denke ich auch«, bekräftigt Nolan, aber wir wissen beide, dass er nicht vom Autofahren spricht.

»Außerdem krieg ich womöglich demnächst einen Anfall, wenn ich mir diese bescheuerte Mütze noch länger anschauen muss.« Ich grinse, froh, dass ich einen Witz zustande gebracht habe. Nolan lächelt. Meine Neckerei perlt an ihm ab.

Ich setze mich auf den Fahrersitz, überprüfe sämtliche Spiegel und stelle meinen Sitz richtig ein, obwohl ich das alles schon gemacht habe, bevor ich am Morgen zur Schule gefahren bin. Ich schiebe meine Ärmel wieder über die Handgelenke hoch, damit meine Hände frei sind und ich das Lenkrad richtig festhalten kann. Die Tür ist immer noch offen, und Nolan lehnt sich nach unten, um sich von mir zu verabschieden.

Ich blicke durch die Windschutzscheibe und sehe, wie andere Mädchen ihren Freunden einen Kuss geben, bevor sie losfahren. Vielleicht muss ich das meiner Liste mit Fragen an Aidan hinzufügen, wenn ich ihm das nächste Mal begegne – sofern ich es schaffe, dass meine Stimmbänder in seiner Gegenwart funktionieren: Warum kann ich den Jungen nicht küssen, den ich so sehr mag?

Nein. Ich werde ihn das nicht fragen. Das wäre viel zu persönlich für einen Menschen, den ich kaum kenne, auch wenn er mein leiblicher Vater ist. Wie dem auch sei, ich weiß ja noch nicht mal, ob Nolan überhaupt will, dass ich ihn küsse. Er hat noch nie versucht, mich zu küssen. Aber andererseits waren die letzten paar Monate, seit wir uns kennengelernt haben, auch nicht gerade romantisch. Ehrlich gesagt waren sie eher furchteinflößend. Ein hoher Gruselfaktor führt nicht wirklich zu ausgedehnt-sehnsuchtsvollen Blicken, bebenden Herzen und langen Spaziergängen bei Regen übers Moor.

Reiß dich zusammen, Sunshine. Du bist eine Luiseach, nicht die Hauptfigur in einem Brontë-Roman.

»Viel Glück!«, ruft Nolan und macht die Tür für mich zu.

Richtig. Es ist Zeit loszufahren. Als ich den Schalthebel auf »Drive« schiebe und das Auto vom Parkplatz lenke, kann ich Nolans zerzaustes Haar im Rückspiegel erkennen. Er muss die Mütze ausgezogen haben, und ich kann nicht anders, als zu lächeln. Es kommt mir gar nicht in den Sinn, dass dies für sehr lange Zeit das letzte Mal sein könnte, dass ich lächle.

KAPITEL 2

Notfall

Das sind keine hübschen kleinen Miniflöckchen. Das hier sind dicke, fette, nasse Schneeflocken, so schwer, dass sich die Scheibenwischer kaum über das Glas vor mir bewegen können. Die ohnehin bereits einschüchternde Strecke von der Ridgemont High zu Moms Krankenhaus hat sich in eine geradezu tückische Straße verwandelt. Ich krieche im Schneckentempo vorwärts, was mir haufenweise Zeit verschafft, über die Tatsache nachzudenken, dass diese Autofahrt nicht der einzige Grund ist, warum ich mich nicht unbedingt darüber freue, Mom abzuholen. Ich meine, ich freue mich natürlich schon, dass ich sie abhole, ich bin nur nicht besonders scharf darauf, sie aus dem Krankenhaus abzuholen.

Ich habe mich in Krankenhäusern früher nie unwohl gefühlt. Mom war – ist – Krankenschwester auf der Neugeborenenstation, und als ich noch klein war, habe ich viel Zeit in der Kinderkrippe im Krankenhaus in Austin verbracht. Später, als Moms Dienstpläne immer unregelmäßiger wurden und sie keinen Babysitter finden konnte, der nach der Schule auf mich aufpasste, hat sie mich manchmal auf die Station mitgenommen, wo ich still und leise an der Anmeldung saß und meine Hausaufgaben gemacht habe. Ich war an das Geräusch der Sirenen und die kreischenden Babys gewöhnt und sogar an die Ärzte und Schwestern, die bei einem Notfall nach Hilfe schrien.

Aber jetzt ist alles anders. Als ich das letzte Mal in diesem Krankenhaus war, habe ich einem Geist dabei geholfen hinüberzuwechseln. Tatsächlich war es das allererste Mal, dass ich das gemacht habe. Aber das ist nicht der Grund, warum ich jetzt noch langsamer fahre als die langsamsten Autos auf der Straße vor mir. Der Grund ist ein anderer: Das letzte Mal war ich an dem Tag im Krankenhaus, an dem sie mir gesagt haben, dass Victoria tot ist. Diese Worte zu hören, fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube, so als würde ich nie wieder Luft holen können.

Plötzlich kreischen Sirenen und übertönen meine Gedanken. Ein Krankenwagen nach dem anderen rast über den Krankenhausparkplatz, und ich schaffe es kaum noch, den Wagen in eine Parklücke zu lenken, bevor es anfängt.

Zuerst ist es nur ein Geist. Ein junger Mann, der vor wenigen Sekunden gestorben ist, das Opfer einer Massenkarambolage auf der Schnellstraße, von der ich eben abgefahren bin. Sein Name ist Matt und er sitzt neben mir auf dem Beifahrersitz und starrt mich mit seinen regungslosen blauen Augen durchdringend an. Er ist an irgendeiner schlimmen Verletzung im Bauchraum gestorben. Ich versuche, meinen Blick nicht zu seiner Magengegend hinabwandern zu lassen, weil ich weiß, dass der Anblick seiner Wunden grauenvoll sein muss. Stattdessen blicke ich ebenso starr in seine Augen, die von unendlicher Traurigkeit erfüllt sind. Sein Wagen hat alles ausgelöst. Er ist mit seinen abgefahrenen Reifen an einer glatten Stelle ins Schleudern geraten und über den Mittelstreifen in den entgegenkommenden Verkehr gerutscht. Ich kann die entsetzlichen Schuldgefühle spüren, die sein Geist ausstrahlt. Er wird keinen Frieden finden, solange er nicht weitergezogen ist.

Doch bevor ich ihm helfen kann, spüre ich noch etwas anderes. Einen weiteren Geist. Diesmal ist es eine junge Frau, Kimberly. Sie ist nur ein paar Jahre älter als ich. Sie steht neben der Fahrertür und wartet auf mich. Ihre Verletzungen sehen nicht so dramatisch aus wie Matts, aber aus ihrem Ohr tropft Blut. Sie ist einer Kopfverletzung erlegen, die größtenteils unter ihrem Haar verborgen ist.

Zwei Geister so dicht in meiner Nähe, in so schneller Folge, sind überwältigend. Obwohl heiße Luft aus der Lüftung hinter dem Lenkrad bläst, ist es mit einem Mal so kalt, dass ich sehen kann, wie mein eigener Atem in hyperventilierenden, keuchenden Stößen aus meinem Mund strömt, weil mein Herz viel schneller schlägt als jemals zuvor.

Ein weiterer Geist ist ganz nah. Ich schnappe erschrocken nach Luft, als ich ihn sehe, und wende den Blick so schnell wie möglich wieder ab. Seine Verletzungen sind grauenvoll. Niemand hat mir gesagt, dass ich Geister in so entsetzlichem Zustand sehen würde. Aber andererseits habe ich meinen Mentor ja auch die ganze Zeit gemieden, den einzigen Menschen, der mir solche Dinge überhaupt erklären könnte. Bevor ich wirklich begreifen kann, was passiert, ist schon der nächste Geist da und wartet auf meine Hilfe. Ich kann Matt nicht mehr sehen, den Mann, dessen abgefahrene Reifen diese Tragödie ausgelöst haben. Ich wünsche mir verzweifelt, ihm beim Hinüberwechseln zu helfen, aber ich kann ihn nirgends mehr entdecken. Ich spüre nur noch die überwältigende Kälte, die sie alle auf einmal ausströmen. Ich sinke in die grauen Polster meines Sitzes zurück, so als hätte mir jemand ein mächtiges Gewicht um den Hals gehängt, das mich immer tiefer, tiefer, tiefer nach unten drückt.

Ich habe noch nie zuvor solche Kälte gespürt. Ich hätte den Reißverschluss meiner Jacke zumachen sollen, bevor ich in den Wagen gestiegen bin. Hätte die bunte Häkelmütze und die Handschuhe anziehen sollen, die nutzlos in meinem Rucksack auf dem Rücksitz liegen. Ich hätte in meine Stiefel und in dicke Socken schlüpfen sollen anstatt in meine Turnschuhe, als ich mich heute Morgen angezogen habe. Ich hätte mir Nolans lächerliche Mütze ausleihen sollen.

Es gelingt mir, mich auf meine Finger zu konzentrieren, die noch immer das Lenkrad umklammern, und ich bin nicht überrascht, als ich sehe, dass sie an den Knöcheln schon ganz blau werden. Ich versuche nach Luft zu schnappen, aber sie entwischt mir immer wieder beharrlich. Ich kann meine Augen nicht offen halten. Meine Sauerstoffzufuhr ist schon zu lange abgeschnitten, und ich bin kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Ich sammle das letzte bisschen Kraft zusammen, das ich noch in mir habe, und drücke so fest ich kann auf die Hupe, so als würde ich denken, ich könnte die Geister verschrecken und davonjagen.

Mom macht die Beifahrertür auf und mein überlastetes Herz macht einen Satz. »Du wolltest wohl in diesem Schneegestöber nicht aussteigen, um deine arme alte Mom abzuholen, und hast dir gedacht, du kannst ja genauso gut auf die Hupe drücken, was?«, fragt sie mit einem Lächeln, das sofort wieder verschwindet, als sie sieht, in welchem Zustand ich mich befinde.

»Sunshine!«, ruft sie aus und legt ihre warmen Finger an meinen Hals. Nachdem sie meinen Puls gefühlt hat, weicht sie wieder zurück. Dann schaltet sie sofort in den Krankenschwester-Modus: Sie löst meinen Sicherheitsgurt, zieht mich durch den Wagen und legt mich mit dem Rücken auf den verschneiten Boden. Sie beginnt mit den Wiederbelebungsmaßnahmen und schafft es gleichzeitig, die Aufmerksamkeit der Rettungssanitäter auf der anderen Seite des Parkplatzes zu erregen. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich auf einer Trage ins Krankenhaus gerollt werde, während meine Mutter immer wieder auf einen dieser Ballons drückt, die ich bisher nur im Fernsehen gesehen habe, und versucht, damit Luft in meine Lunge zu pusten.

Wenn ich sprechen könnte, würde ich ihr sagen, dass es keinen Sinn hat. Die Ärzte können mir nicht helfen – sie sind nicht dafür ausgebildet, zu behandeln, was mit mir los ist. Dank Nolans Recherchen weiß ich, dass eine Luiseach wie ich nicht von einem dunklen Geist getötet werden kann, aber ich frage mich allmählich, ob mich ein Ansturm heller Geister womöglich umbringen könnte. Ich keuche so heftig, dass meine Lunge richtig wehtut. Die Ärzte und Krankenschwestern um mich herum rufen durcheinander, als ich in den OP geschoben und an irgendwelche Schläuche und Maschinen angeschlossen werde.

»Wir müssen ihren Herzschlag stabilisieren!«

»Wir müssen ihre Körpertemperatur wieder erhöhen!«

»Wir müssen herausfinden, warum ein ansonsten vollkommen gesundes sechzehnjähriges Mädchen gerade mit Hypothermie und Herzrhythmusstörung in den OP gebracht wurde.«

Okay, den letzten Satz haben sie vielleicht nicht wirklich gerufen. Aber es ist auch nicht schwer zu erraten, dass es das ist, was sie alle denken.

In all dem Chaos, als ich immer wieder ins und aus dem Bewusstsein drifte, kann ich die Wärme durch die Berührung meiner Mutter spüren. Ihre Hand auf meinem Arm ist wie eine winzige Wärmequelle, die mich weiter mit der Welt der Lebenden verbindet, wie eine kleine Flamme in der Dunkelheit. Mit einem Mal habe ich ein viel besseres Verständnis dafür, wie es für die Geister sein muss, die mich finden, nachdem sie gestorben sind.

Und dann hört alles auf. Nicht das Gewusel der Ärzte um mich herum, sondern das wilde Pochen in meiner Brust und die drohenden Erfrierungen an meinen Armen und Beinen. Das Geräusch des Herzmonitors, an den sie mich angeschlossen haben, verwandelt sich von einem kreischenden Heulen in ein regelmäßiges Piepsen. Unter den wärmenden Decken, in die ich eingepackt bin, wird mir auf einmal viel zu heiß. Von einer Sekunde auf die andere muss ich nicht mehr zittern, sondern schwitze heftig.

Das Gewicht hebt sich von meinen Schultern. Die Geister sind verschwunden. Mein Tunnelblick löst sich auf und alles wird wieder klar und hell. Mom schaltet aus dem Krankenschwester-Modus zurück in den Mom-Modus. Sie schiebt die Geräte beiseite, lehnt sich zu mir herunter und drückt mich in einer innigen Umarmung ganz fest an sich.

»Mom«, japse ich, »ich hab eben erst wieder angefangen zu atmen. Ich glaube nicht, dass es eine besonders gute Idee ist, mich zu ersticken.« Ich erwarte, dass sie über meinen Witz lacht, aber stattdessen drückt sie mich nur noch stärker an sich und presst ihre Wange fest an meine. Ich kann spüren, dass ihr Gesicht vor Tränen ganz nass ist.

»Mir geht’s gut«, versichere ich und sie lässt mich endlich los. Sie dreht sich zu den Ärzten um, die um mein Bett herumstehen und einer verdutzter aussieht als der andere.

»Was ist mit meiner Tochter passiert?«

»Das wissen wir nicht, Kat«, antwortet jemand. Ich werfe einen Blick auf sein Namensschild und lese, dass er Dr.Steele heißt. Derselbe Nachname wie Lucys in Sinn und Sinnlichkeit von Jane Austen. Anscheinend setze ich mein Leben jetzt, wo alle meine Vitalzeichen wieder normal sind – glaube ich zumindest –, sofort wieder in Verbindung zu den Geschichten meiner Lieblingsschriftstellerin. Wenigstens ein paar Dinge ändern sich nie.

»Was meinen Sie damit, Sie wissen es nicht?« Mom richtet sich auf. Sie sieht verwirrt aus. »Es muss doch eine Erklärung für eine Episode von diesem Ausmaß geben.«

Ich schließe die Augen. Es gibt durchaus eine Erklärung für das alles, nur keine, die meine Mutter – oder so gut wie überhaupt irgendjemand – glauben würde. Wie die meisten Menschen – und wie ich, vor den vergangenen vier Monaten – glaubt Mom an Wissenschaft und Vernunft, nicht an Magie und Mysteriöses. Ich konnte sie noch nicht mal davon überzeugen, dass es in unserem Haus gespukt hat, nachdem ihr Körper von einem Dämon besessen gewesen war. Besonders nachdem sie von diesem Dämon besessen war.

»Wir würden sie gerne zur Beobachtung hierbehalten«, fügt Dr.Steele hinzu. »Sie können über Nacht bei ihr bleiben.«

»Natürlich werde ich bei ihr bleiben«, blafft Mom ihn an und Dr.Steele tut mir tatsächlich ein bisschen leid. Es ist nicht seine Schuld, dass er nicht weiß, was mir fehlt. Nicht seine Schuld, dass er nie in der Lage sein wird, die Fragen meiner Mutter zu ihrer Zufriedenheit zu beantworten. Nicht seine Schuld, dass sie von jetzt an wahrscheinlich der Gedanke verfolgen wird, dass er ein schrecklich mieser Arzt ist.

»Mir geht’s gut, Mom«, bekräftige ich noch einmal. Sie wendet sich von Dr.Steele ab und mir zu, während frische Tränen in ihren Augen schimmern.

Es ist offensichtlich, dass sie mir nicht glaubt. Und ich bin mir auch nicht wirklich sicher, ob ich es selbst tue.

KAPITEL 3

Die Wahrheit

Sie verlegen mich in ein Einzelzimmer auf der Kinderstation. Einer der Vorteile, wenn man die Tochter einer Krankenschwester ist, schätze ich. Das Bett steht direkt neben dem Fenster, und ich blicke nach draußen und schaue zu, wie die Schneeflocken herabrieseln. Genau wie der Rest unserer kleinen Stadt ist das Krankenhaus von Ridgemont von hohen Tannen umringt und der Schnee klammert sich an ihre Äste und lässt die immergrünen Bäume immerweiß aussehen. Obwohl sich meine Körpertemperatur wieder normalisiert hat, läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.

Warum war was immer da auch mit mir passiert ist so urplötzlich wieder vorbei? Warum hat sich mein Herzschlag wieder normalisiert und warum haben sich meine blauen Finger wieder rosa verfärbt? Habe ich diesen Geistern dabei geholfen weiterzuziehen, ohne es überhaupt zu bemerken? Oder sind sie einfach wieder davongeschwebt, als ihnen klar wurde, wie nutzlos ich bin, und haben sich auf die Suche nach einem besseren, kompetenteren Luiseach gemacht, der ihnen hilft? Natürlich kenne ich die Antwort auf all diese Fragen in meinem tiefsten Inneren bereits. Als ich mich vom Fenster abwende und zur Tür umdrehe, sehe ich ihn direkt vor mir stehen.

Er war der bessere, kompetentere Luiseach. Er hat all diesen Geistern dabei geholfen hinüberzuwechseln und sie wie ein Magnet von mir weggezogen. Und er hat die ganze Zeit geduldig auf den richtigen Moment gewartet, um sich mit mir zu unterhalten.

Als ich Aidan das letzte Mal gesehen habe, waren erst zwölf Stunden vergangen, seit meine Mutter von dem Dämon befreit worden war, der von ihr Besitz ergriffen hatte. Es waren erst wenige Minuten vergangen, seit ich erfahren hatte, dass Nolan mein Beschützer ist. Seit ich erfahren hatte, dass Victoria – obwohl sie in diesem Krankenhaus für tot erklärt worden war – einfach aufgestanden und fortgegangen ist, nach wie vor sehr lebendig und noch immer so sehr eine Luiseach, dass ein Dämon sie nicht töten konnte.

Einmal mehr fühlt es sich an, als würden ungefähr eine Million Fragen in meinem Hals brodeln und die Worte regelrecht zwischen meinen Stimmbändern gegeneinander kämpfen und darum streiten, welches von ihnen zuerst ausgesprochen werden darf.

Doch bevor ich irgendetwas sagen kann, blickt Mom in ihrem Stuhl neben meinem Bett auf und sagt mit ruhiger, gefasster, professioneller Krankenschwesternstimme: »Kann ich Ihnen helfen?« Sie glaubt wahrscheinlich, er hätte sich verlaufen, dass er hier im Krankenhaus ist, um jemand anderen zu besuchen. Sie hat keine Ahnung, dass er hier ist, um mich zu sehen.

Aidan betritt das Zimmer, den rechten Arm sehr förmlich vor sich ausgestreckt. Er trägt einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug und schwarze Lederschuhe mit Lochverzierung. Um seinen Kragen ist eine metallisch graue Krawatte perfekt gebunden. Sein Haar ist mehrere Schattierungen dunkler als meins, beinahe schwarz, aber seine Haut ist blasser. Seine Nase ist pfeilgerade, und ich wette, dass er sie nie so rümpft, wie Mom und ich unsere rümpfen.

Er sieht überhaupt nicht aus wie meine Mutter in ihrer pastellfarbenen Krankenhauskleidung und den schwarzen Clogs und auch überhaupt nicht so wie ich in meinem Krankenhausnachthemd und den Socken. Die meisten Leute in diesem Krankenhaus sind höchstwahrscheinlich so angezogen wie Mom und ich und nicht so wie er. Trotzdem gibt er mir das Gefühl, wir seien diejenigen, die unpassend gekleidet sind.

»Mein Name ist Aidan«, beginnt er. »Es ist schön, Sie kennenzulernen, Katherine.«

»Kat«, korrigiert ihn Mom automatisch, wie sie es immer tut, wenn jemand sie mit ihrem vollen Namen anspricht. Sie steht auf und wundert sich zweifellos, dass er ihren Namen kennt.

»Ich wollte nur mal sehen, wie es Sunshine geht«, fährt Aidan fort, und ich beiße mir so fest auf die Lippe, dass es wehtut. Weil Mom ihn jetzt nämlich gleich fragen wird, woher er die Namen von uns beiden kennt.

Ich schüttle den Kopf. Ich will ihn hier nicht haben oder dass er Moms Kopf mit Fragen füllt.

All die Worte, die in meinem Hals miteinander gekämpft haben, beruhigen sich wenigstens so lange, dass ich einwerfen kann: »Ich glaube, Sie sollten jetzt lieber wieder gehen.«

Es ist der erste vollständige Satz, den ich ihm gegenüber je zustande gebracht habe, und ich kann nicht anders, als deswegen ein bisschen stolz auf mich zu sein. Wenn ich einen Satz schaffe, dann schaffe ich sicher auch bald den nächsten, was bedeutet, dass ich irgendwann in der Lage sein werde, ihm tatsächlich all diese Fragen zu stellen. Aber ich will sie ihm nicht jetzt stellen. Nicht hier. Nicht vor meiner Mom. Noch nicht.

»Ich glaube, ich sollte lieber bleiben«, kontert Aidan vollkommen ruhig und setzt sich auf der anderen Seite meines Bettes gegenüber von Mom auf einen Stuhl. Er bittet sie mit einer Geste, sich ebenfalls wieder zu setzen, was sie auch tut, möglicherweise ein wenig perplex darüber, wie wohl er sich hier mit uns zu fühlen scheint. Seine Hose knittert nicht mal, als er sich hinsetzt. Bevor ich protestieren kann, fährt Aidan fort: »Sie wird dir nicht glauben, wenn ich nicht bleibe, um es zu beweisen.«

»Um was zu beweisen?« Mom steht wieder auf, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie holt ganz tief Luft, immer noch verängstigt wegen dem, was mit mir passiert ist. »Sind Sie eine Art Spezialist?«, fragt sie, nach wie vor auf der Suche nach einer vernünftigen Erklärung für die gelassene Anwesenheit dieses Mannes. Ihre Stimme klingt höher als normalerweise, deshalb weiß ich, dass sie verunsichert ist. »Haben die Ärzte Sie hierher bestellt, um Sie zu konsultieren? Haben Sie neue Informationen, was den Zustand meiner Tochter betrifft?«

Mom muss denken, Aidan sei hier, um uns eine hoffnungslose Diagnose mitzuteilen, oder so. Und in gewisser Weise ist er das ja auch, schätze ich. Wahrscheinlich ist es auch nicht unbedingt hilfreich, dass er angezogen ist, als würde er ein Beerdigungsinstitut leiten. Ich strecke meine Hand aus und nehme ihre. Ihre Haut ist ganz klamm und kalt.

Ich schließe die Augen, so als würde ich glauben, dass Aidan nicht mehr hier ist, wenn ich sie wieder aufmache, und dass Mom und ich vielleicht auch nicht mehr hier sind. Dass wir auf magische Weise wieder zurück nach Hause transportiert worden sind. Aber nicht zu unserem Haus hier in Ridgemont, sondern zu unserem alten Haus in Austin mit seinem sonnendurchfluteten Garten und den weit aufgerissenen Fenstern, damit die Wärme hereinströmen kann. Das Haus, in dem wir sechzehn Jahre lang gewohnt haben, bevor ich erfahren habe, dass ich noch nicht mal ein richtiger Mensch bin. Bevor ich wusste, dass Geister und Dämonen wirklich existieren. Das Haus, in dem ich gewohnt habe, als ich noch normal war.

Na ja, so normal, wie ich früher eben war.

Aber als ich die Augen wieder aufmache, sind wir natürlich noch hier. Und Aidan ist auch noch hier. Und am allerschlimmsten: Mom starrt ihn an. Sie zieht die Hand aus meiner und legt sie auf ihren Mund. Weil sie gerade eben Aidans Augen bemerkt hat. Die Augen, die genauso aussehen wie meine.

»Jemand muss mir bitte sofort sagen, was hier los ist«, flüstert sie atemlos und ihre Augen huschen zwischen uns beiden hin und her.

Ich wollte ihr noch nie etwas verschweigen. Ich meine, ich hatte noch nie ein Geheimnis vor Mom – die letzten Monate natürlich nicht mitgezählt, in denen sie nicht wirklich meine Mom war, sondern nur eine Hülle, in der sich ein Dämon eingenistet hatte. Dieses ganze Mom-nicht-erzählen-was-ich-über-mich-selbst-erfahren-habe-und-was-sonst-noch-so-alles-passiert-ist fühlt sich für mich richtig, richtig unnatürlich an. Ich habe sechzehn Jahre damit verbracht, ihr einfach alles zu erzählen.

Aber sobald ich es ihr erzähle, wird sich alles ändern. Wird sie mich trotzdem noch auf dieselbe Weise anschauen, wenn sie weiß, was ich bin? Wird sie trotzdem noch über meine Witze lachen und sich über meine Tollpatschigkeit lustig machen? Wird sie sich trotzdem noch mit mir darüber streiten, wer das letzte Stück Pizza bekommt, und gemeinsam Rezepte nachkochen, die wir aus dem Internet ausgedruckt haben? Wird sie mir trotzdem noch sagen, dass sie mich mehr als alles andere auf der Welt liebt?

Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Ein Teil von mir glaubt, dass es ihr lieber wäre, von Aidan irgendeine Diagnose zu hören anstatt der Wahrheit. Zumindest wüsste sie, wie sie mit einer Diagnose umgehen soll. Aber es gibt keine Heilung dafür, als Luiseach geboren worden zu sein.

Ich setze mich auf und blinzle meine Tränen weg. »Und wie wollen Sie das beweisen?«, frage ich vorsichtig. Mein zweiter vollständiger Satz in Aidans Richtung.

»Vertrau mir.« Er sieht mir direkt in die Augen. Ihm vertrauen? Er ist derjenige, der das Leben meiner Mutter in Gefahr gebracht hat. Der mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt und mich in Alice verwandelt hat, die in den Kaninchenbau hinunterstürzt. Interessiert es ihn überhaupt, dass er gleich wieder alles verändern wird?

»Sunshine«, fleht Mom nach Luft schnappend. Ich wünschte, ich könnte sie umarmen, aber ich bin an so viele Kabel und Schläuche angeschlossen, dass ich nicht weiß, wie ich meinen Arm um sie legen soll. »Bitte, erklär mir, was hier los ist.«

Der Klang ihrer Stimme macht mir klar, dass ich keine andere Wahl habe, als das zu tun, was Aidan von mir verlangt. Weil ich die Wahrheit nicht weiter vor meiner Mutter geheim halten kann. Sanft ziehe ich sie zu mir herunter, bis sie neben mir auf der Bettkante sitzt. Ich spanne meine Schultern an, schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und fange an zu erzählen.

Ich beginne mit der Tatsache, dass Aidan mein leiblicher Vater ist. Bevor sie ihre eigene Fragensalve abfeuern kann – Wie haben Sie meine Tochter gefunden? Wie konnten Sie sie als Baby einfach so im Stich lassen? –, spreche ich hastig weiter und erkläre ihr, dass ich von meinen leiblichen Eltern gewisse besondere Eigenschaften geerbt habe.

»Was für Eigenschaften?«, fragt Mom scharf. »Rezessive Gene transportieren alle möglichen Eigenschaften.« Sie spricht so schnell, dass sämtliche Worte auf einmal über ihre Lippen zu sprudeln scheinen. »Schau dir nur mal deine Augen an. Und ich nehme an, dass du auch gewisse medizinische Vorbelastungen geerbt hast – aber mir fällt beim besten Willen keine genetische Erklärung für das ein, was heute Nachmittag mit dir passiert ist …«

»Es ist nicht so eine Art der Vorbelastung«, unterbreche ich sie. »Ich meine, es erklärt schon, was heute Nachmittag mit mir passiert ist, aber es sind keine medizinischen Gründe.«

»Das ist doch lächerlich.« Mom schüttelt den Kopf und erhebt sich wieder. Sie geht um mein Bett herum und bleibt vor Aidan stehen, der immer noch völlig ruhig auf seinem Stuhl sitzt. Mom ist groß, größer als ich, aber Aidan ist noch größer. Ganz offensichtlich habe ich mein Größenhandicap nicht von ihm.

»Erlauben Sie mir, es zu erklären, Katherine –«

»Kat«, unterbricht sie ihn, die Arme noch immer um ihre Brust geschlungen.

»Kat«, wiederholt er. »Als Ihre Tochter heute am Krankenhaus eingetroffen ist …« Ich atme aus, dankbar dafür, dass er mich als ihre Tochter bezeichnet hat. »… sah sie sich einem wahren Ansturm von Geistern gegenüber, die erst kurz zuvor aus ihren irdischen Verstrickungen befreit worden waren. Opfer eines Unfalls auf der Schnellstraße.«

Mom klappt die Kinnlade herunter. Ich glaube, sie will protestieren, aber irgendetwas in Aidans Stimme sorgt dafür, dass sie schweigt. Selbst wenn er über Geister spricht, klingt er genauso ruhig und rational wie ein College-Professor, der über Zahlen und Fakten doziert.

»Die Anwesenheit so vieler Geister zur selben Zeit hat sie überwältigt«, fährt er fort. »Es bedarf einer umfangreichen Ausbildung, um mit mehreren Geistern gleichzeitig umgehen zu können. Und selbst unter den bestens Ausgebildeten gibt es nur wenige unter uns, die wirklich ausreichend vorbereitet sind, wenn sie auf diese Weise überrascht werden.«

»Nur wenige von uns?«, wiederholt Mom. »Wer ist uns?«

»Luiseach«, antworte ich leise. »Luiseach.« Ich spreche das Wort noch einmal aus, diesmal lauter. »Sie sind eine uralte Art von Schutzengeln, die es schon genauso lange gibt, wie Menschen auf der Erde leben und sterben. Es ist ihre Aufgabe, den Geistern dabei zu helfen weiterzuziehen. Und diejenigen zu exorzieren, die zu dunklen Geistern geworden sind.«

Mom sieht mich an, als würde ich chinesisch sprechen. Ich bin versucht, ihr zu erklären, dass das Wort »Luiseach« keltischen Ursprungs ist und dass es »Lichtbringer« bedeutet, obwohl Nolan der Ansicht ist, das Wort könnte so alt sein, dass es der keltischen Sprache sogar noch vorausgeht. Er wollte es noch recherchieren, und wenn es irgendjemand herausfinden kann, dann Nolan.

»Das ist doch absurd«, entgegnet Mom. »Sie haben ja noch nicht mal Beweise dafür, dass Sie wirklich der leibliche Vater meiner Tochter sind. Und Sie können ganz sicher nicht sechzehn Jahre, nachdem Sie sie verlassen haben, einfach so in einem Krankenhaus auftauchen und sie mit diesen haarsträubenden Geschichten für sich beanspruchen.« Im Gegensatz zu mir ist Mom in Aidans Gegenwart ganz eindeutig nicht sprachlos. »Ich weiß nicht, was Sie mit dieser ganzen Sache erreichen wollen, aber Sie können meine Tochter nicht einfach einer Gehirnwäsche unterziehen, damit sie an derartige Märchen glaubt. Ich möchte, dass Sie jetzt gehen, und wenn Sie es nicht tun, dann rufe ich den Sicherheitsdienst.«

Sie greift nach dem Telefon neben meinem Bett, aber ich kann sehen, dass ihre Hände zittern. Trotzdem versucht sie, ebenso ruhig und autoritär zu klingen wie Aidan, als sie hinzufügt: »Meine Tochter erholt sich gerade von einer sehr ernst zu nehmenden Herzattacke, und ich glaube nicht, dass diese Art von Stress –«

Bevor sie den Satz zu Ende bringen kann, packt Aidan sie am Arm und sie verstummt erschrocken. Sie lässt den Telefonhörer fallen.

Moms Gesichtszüge erschlaffen und ihre Augen werden ganz schwer und fallen zu. »Was tun Sie denn da?«, frage ich aufgebracht, setze mich auf und strecke meine Arme nach ihr aus. Sofort verheddere ich mich in den Kabeln und Schläuchen, an die ich angeschlossen bin.

»Mach dir keine Sorgen«, sagt Aidan.

»Ich soll mir keine Sorgen machen?«, brülle ich. »Als Sie das letzte Mal etwas mit ihr gemacht haben, war sie von einem mörderischen Dämon besessen!«

Es ist das Längste, was ich je zu ihm gesagt habe, und zu meiner großen Überraschung kommen mir die Worte ganz leicht über die Lippen. Meine Sorge um Moms Sicherheit ist einfach viel größer als meine Angst vor Aidan.

»Ich zeige ihr, was am Silvesterabend passiert ist«, erklärt er gelassen.

Ich bin vollkommen überwältigt von der Vorstellung, dass Mom sieht, was wir am Silvesterabend durchgemacht haben. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr überhaupt davon erzählen sollte, in welcher Gefahr wir in jener Nacht alle geschwebt haben. Ich wusste, dass sie sich selbst die Schuld geben würde, auch wenn es gar nicht ihre Schuld war. Meine Augen füllen sich mit Tränen, als ich ihr Gesicht beobachte und weiß, dass sie diese grauenvollen Ereignisse zum allerersten Mal durchlebt.

»Ich weiß nicht, ob …« Meine Stimme erstirbt, und ich bin unsicher, wie ich meine Gedanken zum Ausdruck bringen soll.

»Es ist schon gut. Ich werde ihr jetzt etwas Schöneres zeigen«, versichert mir Aidan, so als könnte er meine Gedanken lesen. »Ich zeige ihr ein wenig davon, was du und ich fühlen können. Die Geister, die durch dieses Krankenhaus schweben und sich von ihren Körpern lösen, wenn der Tod immer näher kommt. Die Geister, die diesen Ort bereits verlassen und nicht mehr als einen Schatten zurückgelassen haben.«

Obwohl Mom mit uns im Raum ist, habe ich das Gefühl, sie sei irgendwie abwesend.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das überhaupt fühlen kann«, widerspreche ich, aber Aidan nickt nur langsam.

»Kannst du.« Seine Stimme ist sanft, aber beharrlich. »Schließe die Augen. Konzentriere dich.«

Ich will meinen Blick nicht von Mom abwenden, aber ich will auch ganz genau wissen, was sie gerade fühlt, deshalb lasse ich meine Augenlider zufallen. »Konzentriere dich«, flüstert Aidan.

»Auf was?« Ich kneife die Augen ganz fest zusammen.

»Entspann dich. Lass es über dich hinwegströmen. Öffne dich selbst, um es zu empfangen.«

Ich atme tief ein und versuche, sämtliche Muskeln zu entspannen, rolle meine Schultern nach hinten und lasse mich schlaff nach vorne sacken, bis sich mein Bauch zu einem C zusammenkrümmt. Beinahe so, als würde ich versuchen einzuschlafen.

Und dann fühle ich es. Es ist überhaupt nicht mit dem kalten Schauer zu vergleichen, den ich spüre, wenn ein Geist in meiner Nähe ist oder mich berührt. Es ist eher wie ein Brummen, ein Herzschlag, das Gefühl, dass die Luft an sich lebendig ist, so als sei sie elektrisch aufgeladen.

»Wow«, sage ich und mache die Augen wieder auf. Für einen Sekundenbruchteil könnte ich schwören, dass Aidan mich anlächelt.

»Betrachte das als deine erste Lektion«, sagt er. Er fügt nicht hinzu: Und stell dir nur mal vor, was du alles lernen könntest, wenn du mit mir kommen und deine Ausbildung beginnen würdest. Das muss er nicht. Ich kann nicht anders, als zur Antwort darauf eine Augenbraue zu heben.

Schnell wie eine Schlange lässt er Mom los und sie fällt auf mein Bett hinunter und setzt sich sofort kerzengerade auf. Als sie die Augen öffnet, sehe ich, dass sich ein Ausdruck kompletter Verwunderung auf ihrem sommersprossigen Gesicht ausgebreitet hat, weil sie erkannt hat, dass die Welt viel mysteriöser ist, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Sie blinzelt, und ihr Blick bleibt an Aidan hängen, so als würde sie ihn zum allerersten Mal sehen. Ich strecke meine Arme aus und nehme ihre Hände in meine.

»Katherine«, beginnt er. »Kat«, korrigiert er sich dann selbst. »Es gibt einen Grund dafür, dass Sie Ihre Tochter Sunshine genannt haben.«