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Schlimm genug, dass ein neuer Reiterhof der Sunshine Ranch Konkurrenz macht. Hannahs beste Freundin Myriam wechselt auch noch dorthin und ist nicht wiederzuerkennen! Bei einem Turnier spitzt sich die Lage zu …
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2013
Inhalt
Impressum
Aus und vorbei
Myriam ist sauer
Alles Kingsize
Hannah traut sich
Die Entscheidung
Vertrauen
Flatrate-Day
Zweifel
Die Vorausscheidung
Die Favoritin
Hannah will’s wissen
Hausverbot
Slalom
Der Liebesbrief
Hannes rastet aus
Das Pattern
Am Ende der Welt
Das Turnier
Myriam
Als Ravensburger E-Book erschienen 2013Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH.© 2013 Ravensburger Verlag GmbH Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbHISBN 978-3-473-47263-5www.ravensburger.de
Aus und vorbei
„It’s over!“
Hannah duckte sich gerade noch rechtzeitig. Aus dem Wohnhaus der Sunshine Ranch flog ein Schuh. Er sauste haarscharf an ihrer Schulter vorbei und fiel einen halben Meter neben ihr zu Boden.
„Get your stuff and go!“
Der Hof war übersät mit Hosen, Socken, Hemden, T-Shirts und Unterhosen. Jetzt rannte Robert Hansen aus dem Haus. Ohne Hannah zu beachten, stürzte er sich auf die verstreuten Gegenstände und begann sie aufzusammeln. Gleich darauf warf er alles wieder zu Boden.
„Hol’s der Teufel!“, hörte Hannah ihn schimpfen. Er kickte einen Schuh ein paar Meter weiter, sodass die Perlhühner, die nach Körnern pickten, mit entsetztem Gackern auseinanderstoben. Dann stürmte er zu seinem Auto und brauste vom Hof.
„Is he gone?“ Sue Mirador streckte den Kopf aus der Tür. Die rotblonden Locken der Ranchbesitzerin loderten um ihren Kopf wie Feuer, ihre Augen sprühten Funken. Als Hannah nickte, schleuderte sie wütend einen Rasierapparat auf den Hof. Das Plastikgehäuse zersplitterte. „That’s it“, sagte sie. „Das war’s.“
Hannah schluckte. „Was ist denn los?“, fragte sie unsicher. Wenn Sue so wütend war wie jetzt, ließ man sie besser in Ruhe, das wusste sie so gut wie die anderen Pferdemädchen. Aber sie konnte ja nicht so tun, als ob nichts gewesen wäre.
„Nothing!“, schrie Sue. „Überhaupt nichts!“ Damit rannte sie zurück ins Haus und knallte die Tür hinter sich zu. Die Perlhühner, die gerade wieder angefangen hatten zu picken, gackerten empört und suchten das Weite.
„Wer macht denn hier einen solchen Radau?“ Tori und Sina streckten den Kopf aus dem Stall.
„Boah!“, machte Tori, als sie das Durcheinander auf dem Hof sah. „Was ist denn hier los? Warst du das?“
„Quatsch.“ Hannah deutete zum Haus. „Sue ist ein bisschen … ausgerastet. Mannomann! Dass die Erwachsenen sich auch immer wie kleine Kinder aufführen müssen.“
„Aber das sind nicht Sues Klamotten.“ Zum Beweis hob Tori ein Paar blau gestreifte Boxershorts auf.
„Nee. Ich glaube, die gehören Robert.“
„Hat sie ihn rausgeworfen?“, fragte Sina.
„Sieht so aus.“ Hannah zuckte mit den Schultern. „Schrecklich, oder?“
„Na, wenn du mich fragst, war das überfällig“, meinte Tori.
Das war gemein, fand Hannah. Das Verhältnis zwischen Robert und Sue war niemals einfach gewesen, das wusste jeder, der die beiden kannte. Sie waren viel zu unterschiedlich. Die Ranchbesitzerin Sue war Amerikanerin, eine ehemalige Hollywood-Schauspielerin, groß, gut aussehend und sehr temperamentvoll. Der ruhige, kleine und eher unscheinbare Robert war der Grund gewesen, warum sie ihre Filmkarriere an den Nagel gehängt hatte und nach Deutschland gezogen war. Nach einer Weile hatte Sue aber die Scheidung eingereicht. Der Grund dafür waren Roberts ständige Eifersuchtsanfälle. Er konnte es einfach nicht ertragen, wenn Sue sich mit anderen Männern auch nur unterhielt.
Als Sue Robert vor einem halben Jahr eine zweite Chance gegeben hatte und die beiden wieder zusammengekommen waren, hatten sich Hannah und ihre Freundinnen zunächst sehr gefreut. Weil sie den lustigen, netten Robert nämlich alle mochten. Aber in letzter Zeit hatten sich die beiden nur noch gezofft. Nun hatte Sue Robert endgültig den Laufpass gegeben. Er hatte seine Bewährungszeit nicht bestanden.
„Also, ich kann Sue total gut verstehen“, sagte Sina. „Ich würde ausrasten, wenn mir Viktor ständig grundlos irgendwelche Szenen machen würde.“
„Und ich würd mir überlegen, ob ich ihm nicht mal einen echten Grund zur Eifersucht gebe“, murmelte Tori.
Hannah schwieg. Seit Sina und Tori beide einen Freund hatten, wussten sie scheinbar alles über Beziehungsfragen. Hannah fand das längst nicht so klar und einfach. Aber sie hatte ja auch keine Erfahrung auf diesem Gebiet.
Soeben war ein staubiger Mercedes auf den Hof gefahren. Stefan Müller, der neue Verwalter der Sunshine Ranch, schob seinen langen Körper aus dem Wagen. Als er den Kofferraum öffnete, sprang sein zotteliger Mischlingshund Heinrich heraus, schüttelte sich ausgiebig und machte sich dann auf die Suche nach Washington, dem Ranchhund.
„Vor allem, wenn ich einen schnuckeligen Verwalter hätte wie Stefan“, fügte Tori noch hinzu.
„Meinst du, da ist etwas zwischen den beiden?“, fragte Hannah aufgeregt.
„Schsch!“, machten die beiden anderen.
Denn Stefan kam jetzt direkt auf sie zu.
„Hallo, zusammen! Alles okay?“
„Tach!“ Tori versuchte, die Männerunterhose, die sie immer noch in den Händen hielt, möglichst diskret hinter ihrem Rücken verschwinden zu lassen.
„Was ist denn hier los?“ Stefans Blick wanderte überrascht über die im Hof verstreuten Kleidungsstücke. „Große Wäsche?“
„So was Ähnliches“, sagte Sina. „Da würd ich jetzt nicht reingehen“, fügte sie hastig hinzu, als sie sah, dass Stefan auf Sues Haus zusteuerte.
Er hielt verdutzt inne. Man konnte fast dabei zusehen, wie die Gedanken in seinem Kopf ratterten. „Okay“, nickte er dann und ging stattdessen zum Stall.
„Meinst du wirklich, Sue steht auf Stefan?“, griff Hannah den Gesprächsfaden wieder auf, als der Verwalter im Stall verschwunden war. Nachvollziehbar wäre es ja. Stefan arbeitete erst seit ein paar Wochen auf der Ranch, aber bereits jetzt konnte sich keiner mehr vorstellen, wie es jemals ohne ihn gegangen war. Er kümmerte sich um die Buchhaltung, die Bestellungen und die Einkäufe, um die Organisation der Reitstunden und um die Tierarztrechnungen. Er brachte die Pferde zur Weide und bewegte sie, wenn Sue oder die Pferdemädchen keine Zeit dafür hatten, und er versorgte auch die anderen Tiere. Denn auf der Sunshine Ranch gab es nicht nur zehn Pferde und ein kleines Fohlen, sondern auch einen Esel, die Hängebauchschweine Horst und Klothilde, die Ziege Ilka und eine Unmenge an Gänsen, Enten und Hühnern. Und natürlich Washington, den riesigen Neufundländer, der allerdings meistens schlief und mit Vorliebe den Menschen im Weg herumlag.
Tori lachte. „Keine Ahnung. Geh doch rein und frag sie.“
„Lieber nicht.“ Hannah seufzte. „Der arme Robert.“
„Ach was“, meinte Sina mitleidslos. „Er hatte seine Chance. Du hättest mal miterleben sollen, wie er neulich ausgerastet ist, nur weil Sue dem Futtermittelvertreter einen Kaffee angeboten hat. Und der Typ war um die sechzig und total fett. Ein Wunder, dass Sue das Spiel so lange mitgemacht hat.“
Hannah seufzte dennoch noch einmal. „Kommt, wir räumen ein bisschen auf“, schlug sie dann vor. „Das sieht ja schlimm aus.“
Sie hatten die Kleider gerade in einen Wäschekorb verfrachtet, als die anderen Pferdemädchen auf den Hof radelten. Ayla, Juliana und Myriam besuchten zusammen mit Hannah, Tori und Sina die Klasse 7a des Friederike-Fliedner-Gymnasiums. Vormittags büffelten sie gemeinsam Mathe, Englisch und Deutsch, nachmittags trafen sie sich auf der Sunshine Ranch. Jede von ihnen hatte ein Pflegepferd, für das sie allein verantwortlich war, das sie ausritt, fütterte und pflegte.
„Eigentlich war es ja abzusehen“, sagte Ayla, nachdem Tori ihnen erzählt hatte, was geschehen war. „Und vielleicht ist es sogar besser so.“
„Das ist nicht wahr“, widersprach Hannah empört. „Die beiden sind wie füreinander gemacht. Und Robert liebt Sue wirklich.“
„Aber seine Eifersuchtsszenen wurden immer schlimmer“, bestätigte Juliana. „Dieses Gebrüll und der ständige Streit zwischen ihnen waren ja nicht mehr auszuhalten. Also, ich bin froh, dass die Geschichte endlich vorbei ist.“
„Komm schon, Hannah.“ Ayla legte Hannah tröstend den Arm um die Schulter, als wäre sie die Verlassene und nicht Robert. „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Vielleicht lernt Robert aus der Sache und wird endlich ein bisschen cooler. Oder er findet irgendwann eine Frau, die auf solche Szenen steht.“
„Ehrlich gesagt ist mir das ziemlich egal“, meinte Myriam. „Hauptsache, das Liebesdrama ist endlich beendet. Sue war völlig durch den Wind in der letzten Zeit. Hoffentlich kriegt sie sich langsam wieder ein.“
„Das hoffe ich auch“, stimmte Juliana ihr zu. „So geht’s nämlich nicht mehr weiter. Gestern war eine Mutter mit ihrer Tochter hier, sie hatten eigentlich eine Schnupper-Reitstunde vereinbart. Sue hat sie eine geschlagene Stunde lang warten lassen, weil sie den Termin vergessen hat. Als sie dann endlich aufkreuzte, ist die Frau wütend wieder abgedampft.“
„Das ist echt blöd“, meinte Sina.
„Das ist nicht nur blöd, das ist eine Katastrophe“, prophezeite Myriam düster. „Wenn Sue nicht aufpasst, kann sie die Sunshine Ranch in ein paar Wochen dichtmachen.“
„Na, das ist ein bisschen übertrieben“, sagte Tori.
„Meinst du?“ Jetzt zog Myriam ein Zeitungsblatt aus der Tasche und faltete es auf. „Von euch liest wohl keiner die Lokalnachrichten. Mir ist heute Morgen fast der Müslilöffel aus der Hand gefallen, als ich das entdeckt habe.“ Sie hielt den Artikel hoch, sodass ihre Freundinnen ihn sehen konnten.
„Kingsize-Vergnügen“, las Sina vor. „Westernreiten für Groß und Klein.“
„Nächste Woche eröffnet an der Alten Landstraße hinter dem großen Neubaugebiet eine Super-Pferderanch“, erklärte Myriam. „Kingsize Ranch, der Name sagt ja wohl alles.“
„Ach, das ist doch ein alter Hut.“ Sina winkte ab. „Das hatten wir schon mal. Dieser Rudolf und seine McHopp-Reiterranch, wisst ihr noch? Da waren wir auch ganz durch den Wind, weil wir uns solche Sorgen um die Sunshine Ranch gemacht haben. Und dann war das Ganze nichts als heiße Luft. Nach drei Tagen wurde McHopp wieder geschlossen.“
„Das ist überhaupt nicht vergleichbar“, widersprach Myriam. „Dieser McHopp-Typ war ein Hochstapler, ein Betrüger. Wie der mit seinen Pferden umgegangen ist – und überhaupt. Aber bei dieser Kingsize Ranch sehen die Dinge ganz anders aus. Die wird superprofessionell aufgezogen.“
Hannah schluckte. Superprofessionell – das klang nicht gut. Sue liebte ihre Sunshine Ranch aus ganzem Herzen. Aber strategische Planung, Organisation und Verwaltung waren nun wirklich nicht ihre Stärken. Myriam hatte Recht: Das Durcheinander auf der Ranch ging vielen Reitschülern mächtig auf die Nerven.
„Ach was“, meinte Tori abfällig. „Ich würd nicht so viel auf den Artikel geben. Jonas sagt immer, dass die Journalisten gar nicht richtig recherchieren. Die schreiben immer genau das, was ihnen die Geschäftsleute vorgeben. Und hinterher ist alles nur halb so groß und schön und toll, wie sie es dargestellt haben.“ Weil der Vater ihres Freundes Jonas Journalist war, hielt Tori sich neuerdings für eine Expertin in allen Pressefragen.
Aber so leicht war Myriam nicht zu überzeugen. „Es ist ja nicht nur der Zeitungsartikel“, gab sie zu bedenken. „Andreas Petersen, der Besitzer der Kingsize Ranch, ist im gleichen Tennisclub wie mein Vater. Und mein Vater ist ziemlich angetan von ihm. Er findet das Unternehmenskonzept der Kingsize Ranch total faszinierend. Wenn Sue nicht aufpasst, meint er, dann macht Petersen die Sunshine Ranch im Handumdrehen platt.“
„Dein Vater“, sagte Tori gedehnt und verdrehte die Augen.
„Was soll das denn heißen?“, fragte Myriam gereizt.
„Ich will dir ja nicht zu nahetreten. Aber dein Vater hat vielleicht Ahnung von Banken und Versicherungen, doch nicht von Reiterhöfen. Die Sunshine Ranch gibt es schon seit vier Jahren. Und dieser blöde Kingsize-Hof hat noch nicht mal aufgemacht.“
Damit hatte nun wiederum Tori Recht, fand Hannah. „Das klingt vernünftig“, sagte sie. „Warten wir doch erst mal ab.“
Myriam zuckte mit den Schultern. „Na ja“, sagte sie spitz. „Ein bisschen Konkurrenz tut Sue auf jeden Fall ganz gut.“
Dann warf sie den Kopf in den Nacken und ließ die anderen einfach stehen.
„Wo willst du denn hin?“, rief Hannah ihr nach.
„Ich muss Camilla satteln!“, gab Myriam über die Schulter zurück. „Ich hab gleich Reitstunde.“
„Na, hoffentlich denkt Sue dran“, murmelte Tori.
Myriam ist sauer
Tori blickte in die Runde. „Ich treff mich nachher mit Jonas. Wie wär’s vorher noch mit einem kleinen Ausritt?“
Hannah schielte auf ihre Armbanduhr. Gleich halb vier. Eigentlich hatte sie vorgehabt, früh nach Hause zu gehen, um Französisch zu lernen. Ayla und Juliana hatten sich schon verabschiedet, weil sie büffeln wollten. Für morgen war nämlich ein Test angekündigt. Im letzten Halbjahr war Hannah von einer guten Drei auf eine schlechte Vier gerutscht und ihre Eltern hatten nicht ganz Unrecht, wenn sie ihre schlechten Noten auf die Ranch schoben. „Du verbringst einfach zu viel Zeit mit der Reiterei“, schimpfte ihr Vater immer.
Ach was, ein kurzer Ausritt konnte nicht schaden.
„Ich komm mit“, sagte Hannah.
Sina schloss sich ihnen an. Als sie zur Koppel gingen, um ihre Pferde zu holen, kam ihnen Myriam mit der Fuchsstute Camilla entgegen.
„Wir machen einen Ausritt“, erklärte Tori ihr. „Kannst gerne mitkommen, wenn du Lust hast.“
„Ich hab doch gesagt, dass ich gleich Reitunterricht habe.“
„Ich mein ja bloß“, sagte Tori. „Kann ja sein, dass die Stunde ausfällt. Sue ist gerade ziemlich durcheinander.“
„Das würde ich ihr aber nicht empfehlen“, meinte Myriam kühl und führte Camilla in Richtung Roundpen.
„Meine Fresse, wie ist die denn drauf?“, murmelte Tori.
Das fragte Hannah sich allerdings schon länger. Myriam war ihre beste Freundin, aber in letzter Zeit war sie wirklich anstrengend. Vor zwei Wochen war sie fast in Tränen ausgebrochen, weil sie in Mathe statt ihrer üblichen Eins eine Zwei plus geschrieben hatte. „Das macht mir doch den Schnitt total kaputt“, hatte sie gejammert. „Ich will dieses Jahr unbedingt eine 1,0 schaffen.“
„Warum?“, hatte Hannah voller Verwunderung gefragt. „Was für einen Unterschied macht es, ob du einen Durchschnitt von 1,0 hast oder 1,5? Ich bin froh, wenn ich überhaupt versetzt werde.“
„Ich hab mir halt vorgenommen, dass ich dieses Jahr nur Einsen im Zeugnis habe“, hatte Myriam erklärt.
Aber das stimmte nicht, dachte Hannah jetzt. Sie war überzeugt davon, dass es nicht Myriams Ziel war, das beste Zeugnis aller Zeiten zu schaffen. Es war das Ziel ihres Vaters. Herr Frey war ein erfolgreicher Unternehmensberater. „Und die gleiche Zielstrebigkeit erwarte ich auch von meinen Kindern“, hatte er Hannahs Mutter einmal erklärt. „Ich möchte, dass Myriam es in ihrem Leben zu etwas bringt.“
Unter Zielstrebigkeit verstand er beispielsweise, dass Myriam jedes Jahr Klassenbeste wurde. Und Myriam erfüllte seine Erwartungen. Nicht indem sie verbissen büffelte und Tag und Nacht lernte. Das Lernen fiel ihr einfach unglaublich leicht. Sie musste die Französischvokabeln nur einmal kurz durchlesen und beherrschte sie danach im Schlaf. Sie verstand die Matheaufgaben, bevor ihr Lehrer auch nur damit begonnen hatte, sie zu erklären. Sie merkte sich Jahreszahlen und Chemieformeln, Gedichte und Grammatikregeln im Handumdrehen. Sie lief im Sportunterricht Bestzeit, sprang weiter und höher als die anderen und malte im Kunstunterricht die schönsten Bilder.
Zu allem Überfluss war sie auch noch hübsch. Leute, die sie beide nicht kannten, hielten die große, schlanke Myriam immer für Hannahs ältere Schwester. Sie hatten die gleichen dunkelbraunen Haare, aber Myriam wirkte so viel reifer und erwachsener als Hannah mit ihrem runden Gesicht, ihren roten Wangen und der braven Ponyfrisur.
Myriam war schön und klug und ehrgeizig, aber sie war keine Streberin. Oder vielmehr: Bisher war sie keine Streberin gewesen. In den letzten Wochen hatte sich irgendetwas verändert.
„Sie ist ganz versessen darauf, bei diesem großen Westernturnier in Aachen mitzureiten“, erzählte Sina, während sie den Stall betraten. „Die Qualifizierung ist in fünf Wochen. Myriam hat Angst, dass sie sie nicht schafft, wenn ständig die Stunden ausfallen.“
„Natürlich qualifiziert sie sich“, meinte Tori verständnislos. „Die reitet doch supergut. Sie soll zwischendurch lieber mal ein bisschen chillen.“
„Wenn die Stunden ausfallen, bleibt mehr Zeit für Geländeritte. Das ist doch ohnehin viel schöner“, hatte auch Hannah kürzlich zu Myriam gesagt.
„Auf den Ausritten lerne ich aber nichts“, hatte Myriam entgegnet. „Und ich will langsam mal weiterkommen beim Reiten. Es ist schon über ein Jahr her, dass ich mein letztes Turnier geritten bin.“
„Stefan will Sue vorschlagen, dass sie so schnell wie möglich einen Reitlehrer einstellt“, berichtete Sina jetzt. „Das hat er mir gestern erzählt.“
„Hoffentlich ist Sue einverstanden“, meinte Tori. „Sonst wechselt Myriam nämlich nächste Woche zu Kingsize. Wo ihr Vater doch so begeistert von dem Unternehmenskonzept ist.“
Die anderen kicherten, nur Hannah konnte nicht so richtig mitlachen. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Kannte sie ihre beste Freundin überhaupt noch?
Die Mädchen führten die Pferde zum Platz vor dem Stall und holten das Zaumzeug aus der Sattelkammer. Hannahs Pflegepferd Acapulco scharrte freudig mit dem Vorderhuf, als Hannah ihm die Satteldecke überwarf. Acapulco war ein Appaloosa-Wallach, den Sue vor drei Jahren aus einem Frankreichurlaub mit nach Hause gebracht hatte. Sie hatte das Westernpferd auf einem völlig verwahrlosten Bauernhof entdeckt und ihm das Leben gerettet, indem sie ihn seinem Besitzer abgekauft hatte. Hannah erinnerte sich mit Gruseln daran, wie Acapulco damals ausgesehen hatte. Er war so mager gewesen, dass sich sein schwarz gesprenkeltes Fell wie der Bezug eines Regenschirms über die Rippen gespannt hatte. Über ein halbes Jahr hatte Hannah ihn gepflegt, bis er stark genug war, dass sie ihn zum ersten Mal reiten konnte.
Heute sah man dem prachtvollen Wallach nicht mehr an, dass er so lange zwischen Leben und Tod geschwebt hatte. Hannah zog den Sattelgurt fest und klopfte ihm den Hals. „Ich hol noch rasch meinen Helm, dann kann’s losgehen.“
Sie waren gerade aufgestiegen, als Myriam mit Camilla wieder vom Roundpen zurückkam.
„Sue hat dich versetzt“, meinte Tori sofort, als sie ihr Gesicht sah.
„Ich hab so was von genug!“, schimpfte Myriam. „Jetzt fällt der Unterricht zum dritten Mal in Folge aus. Und Sue hält es nicht mal für nötig, mir Bescheid zu geben, dass sie nicht kommt. Was glaubt die eigentlich, wer sie ist?“
„Das ist echt unmöglich“, gab Sina zu. „Aber wart’s ab, in ein paar Wochen ist sie wieder ganz die Alte. Wenn sie erst den Ärger mit Robert überwunden hat …“
„In ein paar Wochen ist es aber zu spät für mein Turnier“, zischte Myriam. „Und ich hab wirklich keine Lust, mir wegen Sues Liebeskummer alle Chancen zu vermasseln.“
„Willst du nicht mit uns ausreiten?“, versuchte Hannah das Thema zu wechseln. „Camilla ist doch schon gesattelt …“
„Nee, danke! Mir ist die Lust vergangen!“
Myriam zerrte Camilla in den Stall, um sie abzusatteln. Die Stute wieherte kläglich. Sie hätte die anderen nur zu gerne begleitet, aber nach ihrer Meinung fragte ja keiner.
Als Hannah, Tori und Sina über eine Stunde später wieder auf den Hof trabten, waren die drei Pferde schweißbedeckt.
„Herrlich“, sagte Sina. „Es geht doch nichts über einen schönen Ausritt. Das hebt die Stimmung.“ Sie verzog das Gesicht. „Da fällt mir ein – ich hab Sue versprochen, heute bei den Hängebauchschweinen auszumisten.“
„Igitt“, meinte Tori.
„Das kannst du laut sagen.“
„Wenn du willst, kann ich Janko für dich fertig machen“, bot Tori an. „Ich hab noch eine halbe Stunde, bis ich mich mit Jonas treffe.“
„Das wär super!“
Hannah schluckte. Wie gut sich Tori und Sina jetzt wieder verstanden, nachdem sie sich fast ein Jahr lang nur noch angegiftet hatten. Vielleicht sollte sie sich mit Myriam auch einmal richtig aussprechen, so wie Tori und Sina das getan hatten.
Als sie die Pferde in ihre Boxen im Stall führten, hievte Myriam gerade den Sattel von Camillas Rücken.
„Was machst du denn noch hier?“, erkundigte sich Hannah überrascht. „Hat Sue dich doch trainiert?“
„Ach die!“ Myriam winkte verächtlich ab. „Nee, Hannes war mit mir im Roundpen.“
„Echt?“ Hannes war Stefan Müllers Sohn, der seit Kurzem ebenfalls auf der Sunshine Ranch ritt. Er ging in die Parallelklasse der Pferdemädchen. Früher hatte Hannah ihn immer übersehen, weil er recht klein und still war. Aber inzwischen hatte sie herausgefunden, dass er total nett war.
„Hannes ist früher Westernturniere geritten, wusstest du das nicht?“, fragte Myriam. „Er war schon beim German-Reining-Turnier dabei und hat den zweiten Platz gemacht.“
„Wow!“ Hannah war beeindruckt. „Davon hat er mir nie was erzählt.“ Natürlich nicht. Hannes war nicht der Typ, der mit seinen Leistungen prahlte. „Aber Reining ist doch gar nicht deine Disziplin.“
Myriam trainierte seit Monaten für den Trail, weil das auch Sues Spezialdisziplin war. Im Gegensatz zum Reining, bei dem es auf spektakuläre Übungen wie Sliding Stops und Spins ankam, ging es beim Trail hauptsächlich um Geschicklichkeitsübungen. Wie die echten Cowboys mussten die Reiter aus dem Sattel heraus Tore öffnen oder ihr Pferd über Holzbrücken und andere Hindernisse bewegen.
„Jetzt schon“, meinte Myriam. „Also zumindest will ich damit anfangen. Es ist gar nicht so schwer zu lernen, sagt Hannes.“
„Trainierst du nun immer mit ihm?“
„Quatsch.“ Myriam schüttelte den Kopf. „Hannes ist doch kein Reitlehrer. Aber er ist auf jeden Fall der Meinung, dass ich Talent habe.“
Sie versetzte Camilla einen zärtlichen Klaps auf die Hinterhand. „So, ich muss los. Wir schreiben schließlich morgen Französisch. Ich sollte noch ein bisschen was dafür tun.“
„Danke, dass du mich daran erinnerst“, stöhnte Hannah. Sie hob den Sattel von Acapulcos Rücken und wuchtete ihn auf die Abtrennung zwischen den Boxen. „Ich hab noch nicht mal angefangen zu lernen.“
„Meld dich, wenn du Hilfe brauchst.“ Myriam war schon in der Stallgasse. „Bis morgen!“
Reiten war schön. Aber das Absatteln, Abzäumen und Trockenreiben der Pferde war nervig. Vor allem, wenn man es so eilig hatte wie Hannah. Inzwischen war es fast fünf. Wenn sie nicht schnellstens nach Hause kam, würden ihre Eltern vor Wut rotieren.
Den Sattel über dem einen Arm, den Korb mit dem Putzzeug im anderen hastete sie aus dem Stall. Am Ausgang wäre sie um ein Haar mit Washington zusammengestoßen, der plötzlich wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte. „Verdammt!“ Hannah ließ den Korb fallen und sprang im letzten Moment zur Seite. Der schwarze Neufundländer wedelte begeistert. Verdammt. Weil er ständig irgendwo im Weg herumstand, hörte er diesen Aufruf so häufig, dass er ihn inzwischen schon für seinen zweiten Vornamen hielt.
„Blöder Köter.“ Hannah legte den Sattel über die Abtrennung neben sich und bückte sich, um die Bürsten, Striegel und Hufkratzer wieder einzusammeln, die sich über den ganzen Boden verteilt hatten.
„Das ist aber nicht sehr nett“, sagte eine vertraute Stimme direkt über ihr.
Hannah fuhr erschrocken hoch und prallte nun wirklich mit Washington zusammen. Sie rutschte aus, hielt sich im letzten Moment an Washingtons buschigem Schwanz. Aber der Hund wich jaulend aus und brachte sie dadurch vollends zu Fall.
„Scheiße“, sagte Hannah und traf den Nagel damit auf den Kopf. Sie saß tatsächlich auf einem frischen Pferdeapfel.
„Sorry“, meinte Hannes betroffen. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Schon gut.“ Sie rappelte sich mühsam hoch. Während Hannes das verstreute Putzzeug wieder in den Korb sammelte, versuchte sie, den Dreck an ihrem Hosenboden an einer Boxenwand abzustreifen. Aber vergeblich, dadurch verteilte sie ihn nur noch besser.