Sunshine Ranch, Band 6 - Ein Fall für Ayla - Luzie Bosch - E-Book

Sunshine Ranch, Band 6 - Ein Fall für Ayla E-Book

Luzie Bosch

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Beschreibung

Was ist nur mit Lucky los? Der neue Hengst ist furchtbar scheu und lässt niemand außer Ayla in seine Nähe. Vor allem vor der Ranchbesitzerin Sue hat Lucky große Angst. Als er Sue angreift, soll er eingeschläfert werden. Das muss verhindert werden!

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Seitenzahl: 183

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2015 Ravensburger Verlag GmbHUmschlaggestaltung: Maria Seidel unter Verwendung eines Fotos von Thinkstockphoto/Ciaran GriffinAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47670-1www.ravensburger.de

Lucky

„Da seid ihr ja endlich!“ Juliana erwartete Ayla und Hannah schon am Tor, als die beiden auf die Sunshine Ranch zuradelten. Sie hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen.

„Wieso endlich?“ Ayla sprang neben Juliana vom Fahrrad. „Es ist gerade mal halb zehn.“

Aber Juliana beachtete sie gar nicht. Sie drehte sich um und rannte zum Stall. „Das müsst ihr euch ansehen!“, rief sie ihnen über die Schulter zu. „Macht schnell!“

„Was hat sie denn?“, fragte Hannah und schaute Ayla schulterzuckend an. „Sie ist ja vollkommen aus dem Häuschen.“

„Keine Ahnung. Vielleicht sind Nike über Nacht Flügel gewachsen.“

Aber als sie in den Stall kamen, war Juliana nicht bei ihrer Stute. Sie stand ganz hinten vor der Box, die für gewöhnlich leer war. Außer heute.

„Ein neues Pferd?“ Ayla beschleunigte ihre Schritte und übersah dabei einen Zinkeimer am Rand der Stallgasse. Sie trat dagegen und warf ihn um, sodass er scheppernd über den Boden rollte. Sues nervöser Colorado Ranger Dakota warf sofort den Kopf nach oben und wieherte entsetzt. Auch die anderen Pferde schnaubten erschrocken.

„Sei doch still, spinnst du?“, zischte Juliana.

„Sorry, war doch keine Absicht“, murmelte Ayla. Dann schnappte sie nach Luft.

„Ach, du Schande“, flüsterte Hannah.

Der hellbraun gescheckte Hengst, der sich panisch in den hintersten Winkel der Box drängte, sah mitleiderregend aus. Sein magerer Körper war von Narben und Wunden übersät. Ein langer, eitriger Riss zog sich quer über die Kruppe, auf den Flanken zeichneten sich schlecht verheilte Schnitte und Schwellungen ab und auch der Hals war mit entzündeten Wunden bedeckt.

„Wo kommt der denn her?“, fragte Hannah leise.

„Keine Ahnung. Ich bin gerade erst angekommen. Ich wollte Nike auf die Weide bringen, um die Box sauber zu machen, da hab ich ihn gesehen.“

„Ob er Sue gehört? Hat sie in letzter Zeit irgendwas davon gesagt, dass sie ein neues Pferd kaufen wollte?“

„Nicht dass ich wüsste“, sagte Juliana.

„Was ist es denn für eine Rasse?“, fragte Ayla. Ihre Stimme klang heiser. Das malträtierte Pferd tat ihr unsäglich leid.

„Sieht aus wie ein Paint Horse“, erklärte hinter ihnen eine Männerstimme. Stefan Müller, der Verwalter der Sunshine Ranch und Sues Freund, war in den Stall getreten, ohne dass die Freundinnen ihn bemerkt hatten. „Sue hat schon lange davon geträumt, eines zu kaufen.“

Paint Horses, das wusste Ayla, nannte man American Quarter Horses mit gescheckter Fellzeichnung. Der neue Hengst in der Box war sehr groß für ein Westernpferd und viel zu mager. Seine Beine und der Rücken waren hellbraun, Bauch und Flanken waren weiß gefleckt. Auch der Hals und der Kopf waren weiß.

Stefan streckte behutsam seine Hand aus. „Na, mein Freund?“, murmelte er. „Willkommen auf Sunshine.“

Der Hengst fuhr so erschrocken zusammen, als hätte Stefan direkt vor ihm mit einer Peitsche geknallt. Er drängte sich eng an die Rückwand des Verschlages. Stefan zog die Finger wieder zurück.

„Der ist vollkommen verängstigt. Vielleicht hat er schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht.“

„Daran kann’s nicht liegen“, meinte Juliana. „Bei mir hat er vorhin genauso reagiert.“

„Kein Wunder“, sagte Ayla. „So, wie der aussieht. Woher hat Sue ihn denn?“

„Keine Ahnung. Sie hat mich gestern Abend angerufen und erklärt, dass sie eine Überraschung für mich hat. Ich wusste zwar schon länger, dass sie Kontakt zu einem neuen Händler hat und ein Westernpferd von ihm kaufen wollte, aber …“ Er zuckte mit den Schultern.

„Wo steckt Sue denn überhaupt?“

„Sie ist in der Stadt, um noch einige Formalitäten zu klären. Und auf dem Rückweg holt sie Doktor Knopfler ab.“ Doktor Knopfler war der Tierarzt der Sunshine Ranch.

„Der wird richtig wütend werden“, vermutete Juliana. „Ich kapiere nicht, wie ein Pferdehändler so ein Tier kaufen und wieder verkaufen kann. Man sieht doch auf den ersten Blick, dass es gequält wurde.“

„Die Typen, die das gemacht haben, sollte man …“, begann Hannah, aber Stefan unterbrach sie.

„Sue wird den früheren Besitzer anzeigen, darauf kannst du Gift nehmen. Aber vermutlich kam es ihr zuerst einmal darauf an, den Hengst in Sicherheit zu bringen.“ Er schüttelte den Kopf. „Möchte bloß wissen, was sie für ihn bezahlt hat.“

„Wie kannst du denn jetzt an Geld denken?“, fragte Ayla empört. „Sue hat ganz Recht, sie musste ihn retten. Koste es, was es wolle.“

Stefan seufzte. Als Verwalter musste er den wirtschaftlichen Erfolg der Sunshine Ranch im Auge behalten. Das war keine leichte Aufgabe, wenn man für eine Frau wie Sue Mirador arbeitete. Denn wenn die Ranchbesitzerin ein krankes oder misshandeltes Tier sah, dann wollte sie ihm um jeden Preis helfen.

Die Amerikanerin hatte die Sunshine Ranch vor einigen Jahren gekauft und nach ihren Vorstellungen umgebaut. Inzwischen war der Hof zu einem kleinen Tierparadies geworden. Neben zwölf Pferden lebten hier der Esel Fritz, die Hängebauchschweine Horst und Klothilde, die Ziege Ilka und zahllose Gänse, Enten und Hühner. Und ständig kamen neue dazu. „Wenn das so weitergeht, müssen wir bald anbauen“, hatte Stefan erst neulich gesagt, als Sue mit einem Käfig voller zerrupfter Hühner, die sie aus einer Legebatterie gerettet hatte, auf den Hof gefahren war.

„Seht ihr die kleinen Wunden da?“ Ayla lehnte sich über die Absperrung und zeigte mit dem Finger auf die kreisförmigen Narben und Entzündungen am Hals des Westernpferdes. „Das sieht aus, als ob jemand seine Zigaretten auf ihm ausgedrückt hätte.“

Zu ihrer Überraschung hob das Pferd den Kopf und sah sie an. Es hatte blaue Augen, tief, hell und klar wie Wasser. Die Augen schienen ihr etwas Wichtiges sagen zu wollen, aber was immer es war, Ayla konnte es nicht verstehen.

„Komm doch her“, flüsterte sie, obwohl sie genau wusste, dass das Pferd viel zu große Angst hatte, um sich ihr zu nähern. „Hier bei uns bist du in Sicherheit, keiner kann dir mehr was tun.“

Der Hengst wirkte so, als ob er über ihre Worte nachdächte. Dann machte er zögernd einen winzigen Schritt auf sie zu. „Ja, du bist ein Lieber.“ Ayla streckte ihm die flache Hand entgegen.

„Ich glaub’s ja nicht“, wisperte Juliana neben ihr. „Er kommt wirklich.“

Die Nüstern des Pferdes blähten sich, schnuppernd streckte es den Kopf nach vorn. Seine Nase strich sanft über Aylas Hand. „Warte mal.“ Mit der Linken kramte sie eine Karotte aus ihrer Jackentasche und legte sie in die offene Hand. „Die ist für dich.“

Ein kurzes Zögern, dann griffen die samtenen Pferdelippen nach der Möhre. Die Kiefern malmten. In der Nachbarbox reckte Aylas Pflegepferd Saphir den Hals und schnaubte eifersüchtig. Als Ayla ihn nicht beachtete, wieherte er missbilligend und wandte sich beleidigt ab.

„Fein.“ Ayla kraulte das neue Pferd zwischen den Ohren und tätschelte seinen Hals.

„Er scheint dich zu mögen“, meinte Juliana.

Ayla lachte leise. „Wahrscheinlich merkt er, dass wir es gut mit ihm meinen.“

Draußen schlug eine Autotür zu. Erschrocken fuhr das Paint Horse zusammen und tänzelte wieder zurück zur Wand. Als nun die beiden Farmhunde Washington und Heinrich in den Stall stürmten, begann es nervös zu trappeln. Schwanzwedelnd und bellend kamen die Hunde auf Stefan und die Mädchen zugerannt.

„Hierher, Washington! Heinrich!“ Das war Sues Stimme. Die Ranchbesitzerin tauchte in der Stalltür auf.

„Oh, hi! Was macht ihr denn alle hier? Das ist ja ein richtiger Auflauf.“

„Wir schauen uns deine neueste Errungenschaft an.“ Stefan ging zu Sue und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Hast du Knopfler mitgebracht?“

„Yes. Er holt nur noch seine Tasche aus dem Wagen. So, how is Lucky?“

„Lucky?“, fragte Ayla. „So heißt er?“

Sue nickte. „Nicht sehr treffend, oder?“

„Der Glückliche? Das ist der totale Hohn“, stimmte Hannah ihr zu.

„Und woher hast du ihn?“, fragte Juliana.

Aber bevor Sue etwas erwidern konnte, trat Doktor Knopfler in den Stall. „Wo ist denn unser Patient?“, erkundigte er sich.

„In der letzten Box“, sagte Sue und deutete ans Ende der Stallgasse.

„Das ist schlecht.“

„Warum?“

„Zu wenig Licht. Ich kann in der Box kaum was sehen. Vielleicht können wir Lucky nach draußen bringen, da kann ich ihn viel besser untersuchen.“

Stefan pfiff leise durch die Zähne. „Das wird schwierig. Der Bursche lässt sich von niemandem anfassen.“

„Von mir schon“, warf Ayla ein. „Bitte, Sue, darf ich ihn auf den Hof führen?“

„You? I don’t know. Ich nehm ihn lieber selbst …“

„Ayla scheint wirklich einen besonderen Draht zu Lucky zu haben“, sagte Stefan. „Lass sie es doch mal versuchen.“

„Okay. Aber sei um Gottes Willen vorsichtig.“

K.o. in der ersten Runde

Lucky wollte seine Box nicht verlassen. Als Ayla ihn am Halfter packte, stemmte er seine Füße in den Boden und senkte störrisch den Kopf wie die Ziege Ilka, wenn man sie abends in den Stall bringen wollte.

Aber nachdem Ayla ihn eine Weile lang gestreichelt und sanft auf ihn eingeredet hatte, entspannte er sich ein wenig. Sie gab den anderen mit dem Kopf ein Zeichen, aus der Stallgasse zu verschwinden. „Lasst mich mit ihm allein“, sagte sie. „Ich schaff das schon. Aber wenn ihr alle hier rumsteht, kommt er nie raus.“

Nach kurzem Zögern nickte Sue. „Also gut.“

„Auf geht’s, Lucky“, flüsterte Ayla, als die anderen weg waren. „Dir passiert nichts.“ Sie hielt das Halfter ganz eng an seinem Kopf, sodass er sie neben sich spürte. Und es funktionierte. Langsam, Schritt für Schritt, ließ sich der Hengst aus dem Stall in den Hof führen.

„Wow“, meinte Hannah beeindruckt, als Ayla den Hengst am Sattelplatz anband. „Dass er so schnell mitkommen würde, hätte ich nie gedacht.“

„Well done“, jubelte Sue. „Thanks, Ayla, I’m really impressed.“

Ayla strahlte vor Stolz. Aber im selben Moment wieherte Lucky schrill auf und begann, ängstlich mit den Hufen zu scharren. Dabei hatte sich keiner bewegt und auch Doktor Knopfler hatte noch keine Anstalten gemacht, sich ihm zu nähern.

„Kannst du noch mal versuchen, ihn zu beruhigen?“, bat der Tierarzt Ayla.

Sie trat neben das Paint Horse und legte ihren Kopf an seinen Hals. „Ganz ruhig, alles in Ordnung“, flüsterte sie und spürte, wie sein Körper sich entspannte.

„Ich bleib am besten hier stehen“, meinte sie. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Im Gegenteil“, meinte Doktor Knopfler, während er bereits die Flanke des Pferdes untersuchte. „Das machst du hervorragend.“ Behutsam fuhr er mit dem Finger über eine Schwellung.

„Die offenen Stellen müssen gereinigt werden. Das wird ihm nicht gefallen. Ich denke, das sparen wir uns am besten bis zum Schluss auf.“

Er schob sich die Bügel seines Stethoskops in die Ohren. Lucky blieb ganz ruhig stehen, während er ihn abhörte. Doktor Knopfler untersuchte seine Augen, die Ohren und die Zähne. „Abgesehen von den Verletzungen scheint alles so weit in Ordnung zu sein. Ich werde Lucky aber vorsichtshalber noch Blut abnehmen. Und impfen muss ich ihn natürlich auch noch.“

„O weh“, flüsterte Hannah atemlos, als Knopfler die Spritze aufzog. „Ob er sich das einfach so gefallen lässt?“

„Die Spritze spürt er gar nicht“, beruhigte Knopfler sie, während er die Kanüle schon in Luckys Hals einführte. Und wirklich zuckte Lucky mit keiner Wimper.

„Braver Junge.“ Knopfler gab Lucky ein Stück trockenes Brot zur Belohnung. „So, jetzt musst du noch mal ganz tapfer sein.“ Er nickte Ayla zu. „Ich werde nun die offenen Wunden reinigen und desinfizieren. Das brennt ein bisschen. Kann sein, dass ihm das Angst macht. Im schlimmsten Fall müssen wir die Prozedur abbrechen und ihn betäuben.“

„Nein“, sagte Ayla. „Lucky packt das schon. Ich bleibe bei ihm.“

„Das ist viel zu gefährlich, Ayla“, protestierte Sue. „Ich halte Lucky. Wenn er ausschlägt und dich verletzt …“

Aber Knopfler hob die Hand und unterbrach sie. „Lass mal, Sue. Im Moment klappt es hervorragend mit Ayla. Und sobald ich merke, dass Lucky unruhig wird, höre ich auf.“

Sue wollte widersprechen, als Stefan jedoch beruhigend seinen Arm auf ihre Schulter legte, nickte sie zögernd. Knopfler begann, die offenen Verletzungen mit einer Pinzette zu reinigen; danach desinfizierte er sie und deckte die größeren Wunden mit sterilen Verbänden ab. Das Verbandszeug wurde mit Kampferlösung eingesprüht, damit Lucky es nicht sofort wieder abriss.

Lucky ließ die unangenehme Prozedur geduldig über sich ergehen. Ein paarmal schüttelte er unwillig die Mähne, aber als Ayla seinen Hals tätschelte, beruhigte er sich wieder.

„Das hast du super gemacht, Ayla“, erklärte Knopfler, nachdem er das Desinfektionsspray und Verbandszeug wieder in seiner Tasche verstaut hatte. „Vielen Dank. Wenn du mit Abi und Studium fertig bist, kannst du sofort als Tierärztin in meiner Praxis anfangen.“

„Woher wissen Sie, dass ich Tierärztin werden will?“, fragte Ayla. Von diesem Traum hatte sie noch nicht einmal ihrer besten Freundin Juliana etwas erzählt.

„Das merkt man doch sofort“, sagte Knopfler. „Du wirst eine großartige Kollegin werden, da bin ich mir ganz sicher.“

Ayla wurde rot. „So ein Quatsch“, wehrte sie verlegen ab.

Inzwischen war auch der Rest der Pferdemädchen auf der Ranch eingetroffen. Sina, Tori und Myriam besuchten zusammen mit Ayla, Juliana und Hannah die Klasse 8a des Friederike-Fliedner-Gymnasiums. Zumindest vormittags. Am Nachmittag trafen sie sich immer auf der Sunshine Ranch. Und am Wochenende kamen sie sogar gleich nach dem Frühstück auf die Ranch und blieben bis zum Abend. Jede von ihnen hatte ein Pflegepferd, für das sie allein verantwortlich war, das sie ausritt, fütterte und pflegte.

„Ich verstehe dich nicht“, sagte Aylas Mutter immer wieder. „Ständig hängst du auf dieser Ranch rum. Dir bleibt doch überhaupt keine Freizeit mehr.“

Aber was hätte sie mit dieser ‚Freizeit‘ auch anfangen sollen? Die Sunshine Ranch war Aylas Leben. Hier waren ihre Freunde, hier fühlte sie sich wohl. Mit neun Jahren hatte sie angefangen zu reiten, und ein halbes Jahr später hatte Sue ihr Saphir anvertraut, einen Freiberger Wallach. Seither war Ayla für Saphir verantwortlich. Wenn sie in den Sommerferien mit ihrer Familie in die Türkei fuhr, musste eine ihrer Freundinnen sie vertreten. Dann zählte Ayla in der Türkei die Tage, bis der blöde Urlaub endlich wieder zu Ende war und sie zurück auf die Ranch konnte.

Keine Pferde, kein Reiten, keine Sunshine Ranch mehr – das war wirklich eine Horrorvorstellung.

Manchmal träumte Ayla davon, dass Sue die Ranch verkaufen wollte, und wachte schweißgebadet auf.

„Soll ich Lucky jetzt wieder in den Stall bringen?“, fragte sie, als Doktor Knopfler seine Tasche in Sues Wagen verstaute.

„No“, sagte Sue. „Ich denke, ich werde ihn noch ein bisschen bewegen, damit er sich an mich gewöhnt.“

„Du willst ihn reiten?“, fragte Stefan entgeistert.

„Nonsense. Ich werde einen kleinen Spaziergang mit ihm machen. Einmal zur Koppel und wieder zurück.“

„Soll ich nicht lieber …?“, begann Ayla, aber Sue unterbrach sie.

„Danke, Ayla. You’ve done a great job. Aber ich möchte Lucky ein bisschen besser kennenlernen.“

Ayla zögerte. Es gefiel ihr gar nicht, dass es jetzt Sue war, die Luckys Halfter losband. Und Lucky gefiel es auch nicht, das spürte sie ganz deutlich. Sein Körper versteifte sich, als Sue neben ihn trat und leise und beruhigend auf ihn einredete.

„Don’t worry“, hörte Ayla sie flüstern. „You’ll love it on Sunshine.“

Normalerweise waren alle Tiere verrückt nach Sue. Die aggressivsten Kampfhunde wurden brav und zahm, wenn sie sie streichelte, selbst ein verstörtes Pferd wie der Colorado Ranger Dakota, der sonst jeden Reiter abwarf, duldete Sue auf seinem Rücken. Sogar die Hühner kamen gackernd angelaufen, wenn sie über den Hof ging. Die Tiere spürten, dass Sue sie liebte.

Aber Lucky war eine Ausnahme, das merkte Ayla ganz genau. Lucky hatte Angst vor Sue, viel mehr Angst als vor Stefan oder Knopfler oder den anderen Mädchen.

Sue hatte ein so feines Gespür für Tiere, es konnte ihr nicht entgangen sein, dass Lucky auf ihre Gegenwart besonders nervös reagierte. Vielleicht bestand sie ja gerade deshalb darauf, ihn spazieren zu führen. Sie nahm Ayla das Halfter aus der Hand.

„Come on, old boy“, sagte sie aufmunternd. „Let’s have a look around …“ Weiter kam sie nicht.

Lucky warf den Kopf nach oben und wieherte so schrill, dass Ayla erschrocken aufschrie. Plötzlich war Knopfler hinter ihr und riss sie an den Schultern von Lucky weg.

„Sue!“, rief Stefan. „Ich glaube, du solltest …“

Aber Sue hörte ihn gar nicht. „Everybody leave the yard!“, rief sie laut über die Schulter. „Runter vom Hof mit euch! Ich will mit Lucky allein sein.“

„Das ist keine gute Idee“, warnte Stefan.

„Shut up!“, zischte Sue. „Ich weiß genau, was ich tue!“ Über die Schulter warf sie ihm einen drohenden Blick zu. Das war ein Fehler. In dem Moment, in dem sie sich von Lucky abwandte, bäumte er sich auf.

„Calm down!“ Sue versuchte, ihn am Halfter nach unten zu ziehen, um die Kontrolle über ihn zu gewinnen, aber es war zu spät.

Lucky beruhigte sich nicht. Er vollführte eine Drehung auf der Hinterhand und wirbelte mit den Vorderbeinen durch die Luft.

„Achtung!“, schrien Stefan und Knopfler gleichzeitig.

Im selben Moment traf einer der Pferdehufe Sue an der Schläfe. Ayla hörte einen Knall und einen lauten Schrei. Aber es war nicht Sue, die geschrien hatte, sondern eines der Mädchen, vielleicht war es sogar Ayla selbst gewesen.

Sue taumelte, ließ die Arme fallen und ging zu Boden.

Schlechte Nachrichten

Auf dem Hof war die Hölle los. Luckys Vorderhufe knallten neben Sues leblosem Körper zu Boden, dann bäumte er sich von Neuem auf. Er tänzelte auf Sue zu, seine Hufe berührten fast ihre langen roten Locken, die ihren Kopf umflossen wie Blut. Noch einen Schritt näher, noch ein paar Zentimeter weiter, und er würde sie zu Tode trampeln. Washington begann, wie von Sinnen zu bellen, und wollte zu Sue. Auch Heinrich begann, nervös zu fiepen. Glücklicherweise reagierten Tori und Sina blitzschnell. „Aus, Washington!“ Sie packten die beiden Hunde am Halsband, zerrten sie zur Scheune und sperrten sie ein. Washingtons Gebell war jetzt nur noch gedämpft zu hören, es klang umso wütender. Doch das Hundegebell steigerte Luckys Panik noch weiter. Seine Hufe flogen, seine helle Mähne umwehte den weißen Kopf, der Schweif peitschte durch die Luft. Das durchdringende Wiehern klang wie ein Hilferuf.

Knopfler hielt Ayla immer noch an den Schultern fest, aber nun riss sie sich los. Bevor er wieder nach ihr greifen konnte, hatte sie einen Schritt auf Lucky zugemacht. Wie vorhin im Stall streckte sie ihre Hand aus. „Lucky“, sagte sie ruhig und so leise, dass er es über seinem Wiehern und Stampfen gar nicht hätte hören können. „Komm zu mir, Lucky.“

Er tänzelte ein paar Schritte rückwärts. Hatte er sie überhaupt bemerkt? Immerhin bewegte er sich nun von Sue weg. Und auf Ayla zu. Langsam senkten sich die Vorderhufe zu Boden.

„Lucky“, sagte Ayla noch einmal. Ihre Hand war immer noch ausgestreckt, die Handfläche zeigte nach oben. Lucky schnaubte und schüttelte den Kopf, als würde er aus einer Trance erwachen.

Ayla trat langsam neben ihn und griff nach seinem Halfter. Plötzlich war es ganz still auf dem Hof. Sogar Washingtons Gebell schien leiser geworden zu sein. Ayla machte einen Schritt in Richtung Stall. Noch einen. Sie erwartete, dass Lucky sich weigern würde, aber er folgte ihr ohne Zögern.

„Ich bringe dich jetzt zurück in die Box“, sagte Ayla ruhig.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Stefan zu Sue stürzte. Knopfler hatte sein Handy aus der Tasche gezogen und rief den Notarzt.

Nachdem der Krankenwagen Sue abgeholt hatte, trafen Viktor und Stefans Sohn Hannes auf der Ranch ein. Ein paar Minuten später radelten auch Myriams Freund Tom und Fabian, der Sohn von Doktor Knopfler, auf den Hof. Die vier Jungen waren fassungslos, als sie hörten, was geschehen war.

„Vielleicht sah es ja schlimmer aus, als es in Wirklichkeit war“, meinte Viktor zweifelnd.

„Dann hätte sich Stefan doch schon längst bei uns gemeldet“, wandte Sina ein und begann zu weinen. Ihr Freund Viktor legte seinen Arm um ihre Schulter. Die anderen starrten mit düsteren Gesichtern zu Boden und schwiegen. Wenn die Sunshine Ranch dichtmacht, dreh ich durch, dachte Ayla, und schämte sich im gleichen Augenblick dafür, dass sie in so einer Situation nur an sich dachte.

Hannes erhob sich als Erster. „Das hat doch keinen Sinn“, erklärte er. „Wenn wir hier mit langen Gesichtern rumsitzen, hilft das Sue auch nicht. Kommt, Leute, wir bringen die Pferde auf die Weide. Und dann wird der Stall ausgemistet.“

„Was machen wir mit Lucky?“, fragte Ayla.

„Der bleibt natürlich im Stall“, sagte Hannah. „Also, ich fass ihn bestimmt nicht an. Und außerdem – wir wissen ja gar nicht, wie er auf die anderen Pferde reagiert.“

Aus traurigen blauen Augen sah Lucky zu, wie ein Pferd nach dem anderen aus seiner Box geführt wurde. Als der Stall leer war, ließ er resigniert den Kopf sinken. Die zehn Freunde fegten die nasse Streu aus den Verschlägen, karrten Mist nach draußen und verteilten danach frische Einstreu in den Boxen. Sie arbeiteten schweigend, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Ayla hatte sich Saphirs Box vorgenommen, die neben Luckys Verschlag lag. Bevor sie ihre volle Schubkarre nach draußen schob, beugte sie sich über die Abtrennung und streichelte Lucky zwischen den Ohren. Er schnaubte leise.

„Sag mal, spinnst du, Ayla?“, fragte Tori ungläubig. „Hast du schon vergessen, was er mit Sue gemacht hat? Also, ich würd den nicht auch noch streicheln.“

„Das war ein Unfall“, protestierte Ayla.

„Na hör mal“, meinte Myriam. „Lucky hat bestimmt eine Menge schreckliche Dinge mitgemacht. Aber Tori hat Recht, ich würde mich auch von ihm fernhalten. Dieses Pferd ist gemeingefährlich.“

Nachdem sämtliche Tiergehege sauber und die Schweine, die Ziege und die Hühner gefüttert waren, setzten sie sich vor dem Stall in die Sonne und warteten darauf, dass sich Stefan meldete. Keiner von ihnen hatte Lust auszureiten. Zu ihren Füßen lagen Washington und Heinrich. Der riesige Neufundländer Washington winselte leise. Er trauerte um Sue, als wäre sie gestorben. Und der zottelige Heinrich, der Stefan gehörte, spürte ebenfalls, dass etwas nicht stimmte. Die beiden Hunde hatten das Futter, das Sina ihnen hingestellt hatte, nicht einmal angerührt. Das war noch nie vorgekommen.

Am Nachmittag klingelte endlich Hannes’ Handy. Es war Stefan. „Sue liegt auf der Intensivstation“, teilte Hannes den anderen mit, nachdem er aufgelegt hatte. „Im Moment kann man über ihren Zustand nur wenig sagen. Die Untersuchungen laufen noch.“

„Ist sie bei Bewusstsein?“, fragte Juliana.

„Sie haben sie in ein künstliches Koma versetzt“, sagte Hannes.