Surrealismus und Dadaismus -  - E-Book

Surrealismus und Dadaismus E-Book

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Beschreibung

"Provokative Destruktion, der Weg nach innen und Verschärfung der Problematik einer Vermittlung von Kunst und Leben“ beschreibt zusammengefasst den Inhalt dieser Dokumentation. In über 70 Bild-Beispielen und Kurzbiografien der vorgestellten Maler, wie Hans Arp, Pablo Picasso, Max Ernst oder Ernst Fuchs, behandeln die Autoren diese revolutionierende Kunstrichtung.

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BILDKUNST

SURREALISMUSund DADAISMUS

 

Marianne Oesterreicher-Mollwo

 

 

 

 

TABLET ART

Inhalt

Cover

Titel

Bildkunst des 20. Jahrhunderts

Farbtafeln und Bildinterpretationen

Die Zeitsituation

Dadaismus: tabula rasa oder: wie weit trägt der absolute Un-Sinn?

Surrealismus: der Versuch einer kreativen Vermittlung von reiner Subjektivität und allgemeinem Bewusstsein

Ziele und Methoden

Surrealismus und Wort

Surrealismus und Kommunismus

Surrealismus und Bild

Die Folgen auf der internationalen Kunstszene bis heute

Irritation und Faszination – die Reaktion des Betrachters

Literaturhinweise

Kurzbiografien der vorgestellten Maler

Impressum

Autorin und Verlag danken den Museen und Galerien für die Unterstützung bei der Herstellung dieses Bandes.

Bildkunst des 20. Jahrhunderts

mit 74 Farbtafeln der Maler

Arp

Ernst

Morandi

Blume

Fini

Oelze

Brauer

Fuchs

Picabia

Carrà

Hausmann

Picasso

Chagall

Hausner

Pollock

Chirico, de

Hutter

Ray

Dali

Lam

Schwitters

Delvaux

Lehmden

Tanguy

Dominguez

Magritte

Tanning

Dubuffet

Masson

Toyen

Duchamp

Matta

Wols

Ende

Miró

Zimmermann

Farbtafeln und Bildinterpretationen

„Statt weiß zu bellen schneit es schwarz Kleine kommen des Weges daher sie wissen nicht ob sie kleine Tiere oder eine Liliputlandschaft sind die Irrländer irren von einer Irredenta zur anderen die Köche liegen keusch geringelt am Boden gackernde Kerne.“

Diese knapp formulierten Zeilen aus der „Irrländer-Konfiguration“ Arps enthalten den ganzen fabulierenden Rätselhumor ihres Autors, der sich selten bei überflüssigen Schnörkeln, seien sie sprachlicher oder bildnerischer Natur aufhielt. Mit einfachen Mitteln gelingen ihm Arrangements, die zwischen Formen oder Wörtern skurrile unterschwellige Beziehungen herstellen oder aufdecken.

Der Elsässer Hans (oder Jean) Arp war einer der anregendsten und originellsten Künstler der Moderne. Über seine Bekanntschaft mit Kandinsky stand er eine Zeitlang in Kontakt mit dem Blauen Reiter. Im Ersten Weltkrieg entzog er sich der Einberufung zum deutschen Militär durch schauspielerische Tricks, in denen er so weit ging, vor Psychiatern den Debilen zu spielen. – 1916 gründete er zusammen mit Hugo Ball, Tristan Tzara, Marcel Janco und Richard Huelsenbeck das „Cabaret Voltaire“, dessen künstlerische Hauptfigur er war. Zwischen 1926 und 1930 war er Mitglied der Pariser Surrealisten-Gruppe.

Arps Kunst gehört gleichermaßen dem Dadaismus, der Konkreten Kunst und dem Surrealismus an, behauptet jedoch zugleich gegenüber diesen Kunstrichtungen eine durchaus eigenständige Position. – Sein gesamtes Oeuvre, in dem Plastik, Malerei und Lyrik gleichberechtigt nebeneinander stehen, ist Ausdruck seiner Grundüberzeugung, dass Kunst und Natur keine grundsätzlichen Gegensätze sind, dass vielmehr der Künstler ihre gegenseitige Durchdringung anschaulich zu machen habe. Er vergleicht die Kunst mit einer Frucht, die aus dem Künstler herauswachsen müsse. Entsprechend finden wir in seinen Malereien, seinen Reliefs und seinen Skulpturen vorwiegend Rückgriffe auf „gewachsene“ und organische Formen: Wolken, Berge, Meere, Früchte, Tiere, Menschen. Marcel Janco nannte Arp den „Dichter eines wahren und sinnlichen Mystizismus“ und sein Werk „ein Werk der Engel und des Zufalls“. Der Zufall und das Experiment spielten bei ihm eine wesentliche Rolle, so übernahm er beispielsweise die Formationen von Papierschnitzeln, die er wahllos auf den Boden warf, in seine Arbeiten, die zugleich jedoch stets der Ausdruck eines strengen Formwillens sind. – Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte Arp zu internationaler Anerkennung, 1954 erhielt er den großen Skulpturpreis der Biennale von Venedig.

Unser Beispiel ist in jeder Hinsicht typisch für Arp: die Entscheidung für einfache, amöbenartige aber klar gegliederte Formen und ein humorvoll-behutsamer Umgang mit den einzelnen Elementen. Blatt- und Pilzartiges, Rüsselhaftes und flatternd bewegtes Menschliches tritt hier so leicht und unverkrampft vereinigt vor uns hin, als sei es geradewegs dem ewig schaffenden Urschlamm entsprungen.

1 Hans Arp Die Tänzerin, 1917 Öl/Lwd., 121 x 109 cm Paris, Privatbesitz

Francis Picabia war sein Leben lang eine provokative, nie mit dem Erreichten lange zufriedene, wechselvolle Persönlichkeit, die nicht schulebildend, sondern hauptsächlich als Anreger wirksam wurde. Arp nannte ihn einen „Columbus der Kunst“, der „ohne Kompass“ segelt. Er arbeitete nach dem Grundsatz „ein Künstler sollte stets nur für sich selbst schaffen, ohne sich um die Wirkung seines Schaffens auf die Kunsthändler, Kritiker und Bewunderer zu kümmern … Ihn erfüllt das wundersame Rätsel des eigenen Ich, er lebt in einer lichtvollen, niemals völlig befriedigten, jeden Tag neuen Introspektion.“

2 Francis Picabia Maschine schnell drehen, um 1916 – 1918 Gouache auf Pappe, 49 x 32 cm Sammlung Mr and Mrs F. Shore

Er war der Sohn eines kubanischen Vaters, wurde in Paris geboren, wechselte aber ständig Wohnsitz und Freunde; anfänglich versuchte er sich im Impressionismus, malte dann eine Zeitlang kubistisch, 1909 bereits entstand sein Gemälde „Caoutchouc“, das als eines der ersten Zeugnisse einer nicht-figurativen Malerei gilt (das berühmte abstrakte Aquarell Kandinskys stammt aus dem Jahre 1910). Seine Gemälde um 1912 sind deutlich vom italienischen Futurismus beeinflusst. – 1915 trifft er in New York mit Marcel Duchamp zusammen und gründet mit diesem die dortige Dada-Gruppe. Er leistete sich ähnliche, gegen die gängige Auffassung von „Kunst“ gerichtete, provokative Akte wie Duchamp; so setzte er beispielsweise seinen Namen unter einen Tintenklecks und nannte das Ganze „Heilige Jungfrau“. Insgesamt jedoch blieb er spielerischer als Duchamp und gelangte daher auch nicht wie dieser an extreme Endpunkte seiner künstlerischen Entwicklung.

Die Jahre von 1915 bis 1919, in denen zahlreiche „ironische Maschinen“ ähnlich den hier abgebildeten entstanden, gelten als Picabias „mechanische Periode“. Picabia feiert die Maschine hier nicht mit dem ernstgemeinten Enthusiasmus der Futuristen, er verwendet ihr Abbild vielmehr, um damit ironisch distanzierte Aussagen zu machen. Mit ihren rhythmischen Bewegungsabläufen, ihren sich einander nähernden und wieder voneinander entfernenden Funktionselementen, wird die Maschine für Picabia zum Symbol der erotischen und sexuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau.

Picabia dachte viel über Liebe und Tod nach und fand dafür, vor allem literarisch, durchaus auch zartere Bilder. In einem „Der kalte Blick“ betitelten Text schreibt er einmal „Nach unserem Tode sollte man uns in eine Kugel tun, diese Kugel müsste aus verschiedenfarbigem Holz sein … Man würde uns in ihr auf den Friedhof rollen, und die damit beauftragten Totengräber würden durchsichtige Handschuhe anhaben, um die Liebenden an Zärtlichkeiten zu erinnern.“

3 Francis Picabia Liebesparade, 1917 Öl auf Pappe, 73 x 96 cm Chicago, Sammlung Morton G. Neumann

4 Marcel Duchamp Apolinère enameied, 1916–1917 Karton und bemaltes Reklameschild für Sapolin Emaille, 24,5 x 33,9 cm Philadelphia, Museum of Art Sammlung Louise and Walter Arensberg

Marcel Duchamp, der aus einer künstlerisch hochbegabten Familie stammte – drei seiner Geschwister waren bekannte Künstler – war eine der radikalsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der modernen Kunstentwicklung. Sein Einfluss lässt sich deutlich bis in die Kunstproduktion unserer Tage verfolgen.

Wie viele Maler hatte er zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Paris mit impressionistischen Landschaften und Porträts begonnen; später beschäftigten ihn Probleme des Kubismus und Futurismus. 1912 entstand die zweite Fassung des berühmten Gemäldes „Akt, eine Treppe hinuntersteigend“, in dem Duchamp die Phasen eines Bewegungsablaufs mit rhythmisch wiederkehrenden formalen Elementen sichtbar macht. Das Bild löste auf der „Armory Show“ in New York 1913 einen Skandal aus und wurde von den empörten Zuschauern fast zerstört. – Während jedoch der Eindruck dieser „Provokation“ noch vorwiegend auf das hinter der europäischen Kunstentwicklung nachhinkende Bewusstsein des New Yorker Publikums zurückgehen mag, war der Kunstskandal, den die Ausstellung von Duchamps erstem „Ready-Made“, dem auf einen Hocker montierten Rad eines Fahrrads auslöste, bewusst intendiert (vgl. Einleitung).

„Ready-Mades“ im Bereich der zweiten Dimension sind auch die beiden auf dieser Seite gezeigten Beispiele. Duchamp bediente sich gerne bereits vorgefertigter Objekte, Reproduktionen etc., die er, einem „Einfall“ entsprechend, nur leicht veränderte; er wollte damit gezielt die traditionelle Auffassung von der Genialität des maltechnischen Könnens und der Einmaligkeit des künstlerischen Produktes ad absurdum führen. „Apolinere enameied“ war ursprünglich die Reklame einer Farbenfirma (Sapolin Enamel), Duchamp veränderte den Wortlaut durch Tilgung und Hinzufügung neuer Buchstaben, so wurde SAPOLIN zu APOLINÈRE, ENAMEL zu ENAMELED. Es entstanden dadurch neue Buchstabenkombinationen, die mehrere Interpretationen erlauben: das erste Wort bezieht sich offensichtlich auf den Dichter Apollinaire; das zweite Wort bedeutet zunächst einmal: mit Lackfarben bemalt; spricht man es französisch aus, legt die Klanggestalt sowohl die Wendung „un homme laid“ (ein hässlicher Mann) wie das Wort „un hommelet“ (ein Männchen) nahe. So gesehen handelt es sich um eine sehr zweideutige Hommage an Apollinaire. Das ein Bettgestell bemalende Mädchen kann im übrigen auch als Anspielung auf den malerischen Akt des „Kunstmalers“ gesehen werden, der – nüchtern, mit Duchamps Augen betrachtet – auch nichts anderes ist, als das Auftragen von Farbe.

L.H.O.O.Q. (auch auszusprechen als Look!) oder „Mona Lisa mit Schnurrbart“ war eine billige Farbreproduktion, die Duchamp mit wenigen Strichen veränderte; Picabia nahm sie als Titelseite in seine Zeitschrift „391“ auf. Es kommt bei dieser künstlerischen Geste weniger auf den keineswegs originellen Einfall an, ein weibliches Gesicht durch einen Schnurrbart männlich zu verfremden, als vielmehr auf den Entschluss, diese Entweihung ausgerechnet an einem der heiligsten Objekte des bürgerlichen Museumsbetriebes vorzunehmen. Die geheimnisvolle Formel L.H.O.O.Q. wurde übrigens auch von Picabia mehrfach auf seinen Gemälden und Manifesten der Zeit um 1920 verwendet.

Die „Ready-Mades“, die vielen als ein Endprodukt der Kunst überhaupt erschienen waren, waren Duchamps vorletztes Wort zur Kunst. Er beteiligte sich noch an verschiedenen surrealistischen Ausstellungen mit „Objekten“, so z. B. 1921 mit einem Vogelkäfig, der mit würfelzuckerartig gesägten kleinen Marmorquadern gefüllt war, in denen ein Thermometer steckte. Titel: „Why not sneeze?“

Duchamps bedeutendstes letztes Wort zur Kunst war jedoch das in den Jahren 1915 bis 23 gemalte sogenannte „Große Glas“, mit vollem Titel „La Mariée mise à nu par ses célibataires“. In dieses Werk gingen im Laufe seines jahrelangen Entstehungsprozesses so viele bildnerische (Überlegungen ein, dass es zahlreicher Buchseiten bedürfte, um das Werk selbst nebst allen Vorarbeiten, die in einer gesonderten Mappe erschienen, erschöpfend beschreiben zu können. Duchamp selbst stellte bereits einen zehnseitigen Text zu dem Werk her. Wir beschränken uns hier auf einige Äußerungen Bretons, der der Ansicht war: „Ich behaupte, daß man zur Erkenntnis des objektiv gültigen Werkes von ‚La Mariée mise à nu‘ unbedingt im Besitze eines Ariadne-Fadens sein muß.“ In seinem Aufsatz „Marcel Duchamp, das Leuchtfeuer La Mariée“ (1934) schreibt Breton: „Eigentlich haben wir es hier mit einer mechanischen und zynischen Interpretation des Liebesphänomens zu tun: der Übergang der Frau von der Jungfräulichkeit zur Nicht-Jungfräulichkeit wird Thema einer durchaus unsentimentalen Spekulation – man könnte meinen, sie stamme von einem außermenschlichen Wesen, das bemüht ist, sich dieses Geschehen vorzustellen.“ Die Form im oberen Teil des Bildes mit den drei „Luftklappen“ repräsentiert die „weibliche Gehenkte“, die zylindrischen Formen darunter sind „neun männische Abdruckformen oder Erosmaschinen oder Junggesellenmaschinen“. Weiterhin wird als „bemerkenswert“ hervorgehoben, dass „die Schokoladenreibe – deren Bajonett als Unterstützung für die Schere dient –, trotz des verhältnismäßig auffallenden Platzes, den sie im Glas einnimmt, vor allem dazu bestimmt ist, die Junggesellen konkret zu bezeichnen, und das unter Anwendung des grundlegenden Spruches der Selbstbestimmung: der Junggeselle reibt seine Schokolade selbst“.

5 Marcel Duchamp L.H.O.O.Q. (oder Mona Lisa mit Schnurrbart) Reproduktion von Leonardos Mona Lisa; Bart und Schnurrbart von Duchamp mit Bleistift hinzugefügt, 19,7 x 12,4 cm New York, Sammlung Mary Sisler

6 Marcel Duchamp La mariée mise à nu par ses célibataires, même (Die Neuvermählte, von ihren Junggesellen entkleidet), genannt „Das große Glas“, 1915–23 Öl, Lack, Bleipapier, Bleidraht, zerbrochene Glasscheiben, 227,5 x 175,5 cm Philadelphia, Museum of Art, Nachlass Katherine S. Dreier

Der technisch sehr vielseitige Man Ray gehörte zu jenen Künstlern, denen es gelang, von der dadaistischen zur surrealistischen Szene überzuwechseln. – Er hatte ein Architektur- und Ingenieurstudium abgebrochen, um Malerei zu studieren. Nach anfänglichen fauvistischen und kubistischen Versuchen zeigte sein Malstil zunehmend eine Schematisierung kubistischer Formen in Richtung Abstraktion. 1915 befreundete er sieh mit Marcel Duchamp und begann, Kontakte mit den Dadaisten aufzunehmen. Sein bekanntestes Werk aus jener Zeit ist das aus großen farbigen Flächen und schwingenden Verbindungslinien zusammengesetzte Gemälde „Die Seiltänzerin und ihr Schatten“ (1916). 1917 gründete er zusammen mit Marcel Duchamp und Francis Picabia die New Yorker Dadaisten-Gruppe. Ausdruck seiner dadaistischen Intentionen jener Zeit sind neben den Gemälden auch Collagen sowie die an Duchamps „Ready-Mades“ orientierten Objekte; eines der bekanntesten ist das „Geschenk“ von 1921: Ein Bügeleisen, dessen Fläche ganz mit Stacheln besetzt ist. 1929, als eine dadaistische Ausstellung in der Galerie Six stattfindet, kommt Man Ray nach Paris, bleibt dort und gibt bald die Malerei auf, um sich ganz der Fotografie zu widmen. Die Surrealisten interessierten sich vor allem für seine sogenannten „Rayographien, die er dadurch erzeugte, dass er Gegenstände (z. B. Flaschen, Gläser etc.) auf Fotopapier legte, das Ganze belichtete und entwickelte (vgl. Abb. Einleitung). Breton sprach, mit Bezug auf Man Ray, sogar einmal von der Fotografie als einer „Kunst, die reicher an Überraschungen ist als die Malerei.“

Das zur Zeit der Gründung der New Yorker Dada-Gruppe entstandene, „Dada“ betitelte Gemälde ist auf den ersten Blick nichts als ein abstraktes Bild. Erst bei näherem Hinsehen werden anthropomorphe Formen deutlich und diesen entsprechend ein gewisser, leicht komisch auffahrender Gostus von vier „Armen“. Das an Paul Klee erinnernde, in der rechten oberen Bildecke hereinspazierende Strichmännchen spricht ebenso wie der in der linken unteren Bildecke „zufällig“ verteilte Farbauftrag allen Forderungen nach harmonischer Ausgewogenheit des Bildes Hohn. Das „Männchen“ tritt mit seinen vervielfachten fühlerartigen Gliedmaßen wie ein interessiert-aufsässiges Insekt an die Zentral-„Figur“ heran und erzeugt so den Eindruck einer Begegnung von heterogenen Elementen. Warum das Bild „Dada“ heißt? Es könnte auch „Blabia“ oder gar nicht heißen. „Dada“ will hier sagen: da ist etwas, das könnt ihr nicht gleich einordnen, das ist nicht abstrakt, nicht figurativ – und doch ist es „etwas“, eben „Dada“. Die Frage, was „Dada“ sei, galt im übrigen als undadaistisch; man pflegte darauf etwa zu antworten; „Was ist Dada? Eine Kunst? Eine Philosophie? Eine Feuerversicherung? Oder Staatsreligion? Ist Dada wirkliche Energie? Oder ist es gar nichts, das heißt alles?“

7 Man Ray Dada, 1916–17 Öl auf Pappe, 62 x 46 cm Privatsammlung

8 Raoul Hausmann Tatlin at home, 1920 Fotomontage und Gouache, 45 x 30 cm Berlin, Sammlung Hannah Höch

Der ehemalige Züricher Dadaist Hans Richter schreibt rückblickend auf vergangene Zeiten in seinem Buch „Dada“: „Hausmann versuchte alles. Seine Verwandlungsfähigkeit war unerschöpflich und trug stets eine untergründige Note von Humor, einen phantastischen Galgen- oder Hass-Humor, einen „Humour noir“, wie Breton ihn nennt. So war er einen Tag Fotomonteur, den nächsten Maler, den dritten Pamphletist, den vierten Modeschöpfer, den fünften Verleger und Dichter, den sechsten Optophonetiker und den siebten … ruhte er sich mit seiner Hannah aus“ (gemeint ist die Künstlerin Hannah Höch).

Raoul Hausmann war neben Johannes Baader, George Grosz, John Heartfield, Hannah Höch, Walter Mehring u. a. Mitglied der Berliner Dada-Gruppe. Die Berliner Dadaisten waren die ersten, die Fotos, vor allem aktuellen Inhaltes, zerstückelten und die Fragmente zu neuen, komplexen bildlichen Aussagen über die Realität zusammensetzten. Als eigentlichen „Erfinder“ dieses Verfahrens der Fotomontage bezeichnete sich Raoul Hausmann (John Heartfield und George Grosz bestritten dies allerdings mit Hinweis auf ihre je eigenen Arbeiten).

Hausmann nannte sich selbst „Dadasoph“; er war einer der aktivsten Wortführer der Berliner Dada-Bewegung, von 1919–1920 gab er die Zeitschrift „Der Dada“ heraus, danach war er zeitweilig Mitarbeiter der von Sophie Taeuber-Arp geleiteten Zeitschrift „Plastique“. 1927 machte er die Erfindung seiner „optophonetischen Konstruktion“, die ihm erlaubte, farbige Formen in Musik zu transformieren und umgekehrt. Sie geht zurück auf Hausmanns „optophonetische Gedichte“, zufällige Lautkompositionen, die, in unkonventioneller Typographie gedruckt, als „Sprachhandlungen“ in enger Bindung an den Atemgestus rezitiert werden sollten.

Unser Beispiel „Tatlin at home“ gehört zu den frühen Fotomontagen Hausmanns. Im Gegensatz zu den häufig auf eine Aussage konzentrierten, plakativen, politischen Fotocollagen John Heartfields, ist hier eine Vielfalt mehr oder weniger deutlicher Anspielungen zusammengetragen, die weniger Information als „Atmosphäre“ vermittelt: ein Mann, der das Innere seiner Taschen nach außen kehrt, Maschinenteile, ein Propeller und andere Flugzeugteile, die infolge des Rahmens als „Bild im Bild“ erscheinen, eine Landkarte, säuberlich durchnummerierte organische Formen in einem Glas: der seelische Innenraum eines Technikers.

Für die konstruktivistische Maschinenkunst, die sogenannte „Ingenieurkunst“ Wadimir Tatlins begeisterten sich alle Berliner Dadas. Hausmann schuf mit seiner Fotomontage eine leicht satirisch gefärbte Hommage an den naturwissenschaftlich denkenden Menschen der Neuzeit, der das steuernde Moment (Steuerrad) seiner Handlungen im eigenen Kopf trägt.

Richard Huelsenbeclc, ein Dadaist der ersten Stunde, mochte Schwitters nicht, er hielt ihn für spießig. In seinem Aufsatz „Dada und Existenzialismus“ beschreibt er missbilligend eine Szene der Begegnung mit ihm: „Als ich nach Hannover kam …, besuchte ich Schwitters in seinem Haus in der Waldhauserstraße. Es war kurz vor Weihnachten und der Baum stand schon geschmückt im Wohnzimmer. Frau Schwitters badete ihren Sohn in einer riesigen, altmodischen Badewanne. Wir, die wir die Militärbaracke, den leeren Raum für den geeignetsten Aufenthalt hielten, konnten nicht aufhören, uns über Schwitters lustig zu machen. Hier war für uns der deutsche Wald und eine Bank mit eingeschnitzten Herzen.“ Ein anderer ehemaliger Dadaist, Hans Richter, bringt Schwitters mehr Bewunderung entgegen. Zwar räumt auch er ein: „Und dabei war er doch ein richtiger Spießer, eher geizig als freigiebig.“ Andererseits jedoch hebt er hervor: „Sein Humor und Witz waren einfach Teil der Freiheit, die er als Mensch und Künstler besaß“. Seine „Kunst und sein Leben waren ein lebendiges Epos. Es passierte unaufhörlich etwas Dramatisches. Die Kämpfe um Troja können nicht abwechslungsreicher gewesen sein, als ein Tag in Schwitters Leben. Wenn er nicht dichtete, klebte er Collagen, wenn er nicht klebte, baute er an seiner Säule, wusch seine Füße im gleichen Wasser wie seine Meerschweinchen, wärmte den Kleistertopf im Bett, fütterte die Schildkröte in der selten benutzten Badewanne, deklamierte, zeichnete, druckte, zerschnitt Zeitschriften, empfing Freunde, verlegte „MERZ“, schrieb Briefe, liebte … und zwischen all diesem vergaß er nie, wo er ging und stand. Weggeworfenes aufzuheben und in seinen Taschen zu verstauen“ (Hans Richter, Dada). Unsere beiden Beispiele sind Ergebnisse seiner sensiblen Abfallpoesie, die aus zufällig gefundenen Elementen Formen entstehen ließ, die nun gar nicht mehr zufällig wirken: mit lasierendem, stellenweise deckendem Farbauftrag, erreicht Schwitters eine nuancenreiche Durchdringung der einzelnen Formelemente, die stellenweise noch futuristische Anklänge aufweist. Die Schriftfragmente des „Sternenbildes“ bergen – ob beabsichtigt oder nicht – außerdem auch einigen politischen Zündstoff.

Das „Haarnabelbild“ trägt auf der Rückseite die Aufschrift: MERZ IST NICHT DADA. Das Wort MERZ (zufälliges Fragment aus dem Wort COMMERZBANK) bezeichnet neben der Methode der künstlerischen Verwertung von Zivilisationsabfall ganz allgemein Schwitters’ gleichsam persönlichen Dadaismus, der viel intimer, privater, unprovokativer war als der „offizielle“ Dadaismus.

9 Kurt Schwitters Sternenbild, Merzbild 25A, 1920 Montage, Collage, öl auf Karton, 104,5 x 79 cm Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen

10 Kurt Schwitters Das Haarnabelbild, 1920 Collage, 89 X 71 cm London, Lord’s Gallery

„Damit ein Kunstwerk wahrhaft unsterblich ist, muß es ganz die Grenzen des Menschlichen verlassen: der gesunde Menschenverstand und das logische Denken sind fehl am Platze, auf diese Weise nähert es sich dem Traum und dem geistigen Zustand des Kindes.

Das wirklich tiefgründige Werk muß vom Künstler aus den entlegensten Tiefen seines Wesens emporgehoben werden: dorthin gelangt kein Rauschen eines Flusses, kein Lied eines Vogels, kein Rascheln der Blätter.

Besonders kommt es darauf an, die Kunst von allem zu befreien, was sie an schon Gekanntem enthält, alle Gegenstände, alles Gedachte, alle Symbole müssen beiseite geschoben werden …“ (Giorgio de Chirico, zitiert bei André Breton „Der Surrealismus und die Malerei“, 1928).

Chirico schrieb diese Sätze 1913, also bevor noch irgend jemand an den Surrealismus dachte. Umso erstaunlicher ist die Entschiedenheit, mit der hier bereits surrealistisches Gedankengut und surrealistische Forderungen ausgesprochen werden; bemerkenswert erscheint uns vor allem die Wendung: „Alle Symbole müssen beiseite geschoben werden“; war es doch vor Aufkommen des Surrealismus in der Kunst ganz üblich, thematische Übergriffe über die sinnliche Realität mit einem auf das Symbolische gerichteten Ausdruckswillen zu motivieren. Erst der Surrealismus forderte dann, die aus dem Unbewussten strömenden Inhalte nicht gleich symbolisch deutend festzulegen, sondern in ihrer ganzen befremdenden Präsenz zunächst als „das Wunderbare“ selbst sprechen zu lassen.

Von keiner Erscheinung in der bildenden Kunst wurden die Surrealisten so sehr wie von Chiricos Werk beeinflusst. – Giorgio de Chirico, der als Begründer der sogenannten „Pittura metafisica“ (metaphysische Malerei) gilt, ist der Sohn eines in Griechenland als Ingenieur arbeitenden Italieners. Zu seinen Kindheitseindrücken gehören daher das griechische Licht, griechische Mythen, die griechische Klassik. Nach dem Tode des Vaters ging Chirico nach München, besuchte dort die Akademie der Bildenden Künste und begann sich nebenbei für Philosophie, vor allem Schopenhauer und Nietzsche, zu interessieren; daneben setzte er sich mit den symbolisch-mythischen Darstellungen Böcklins und dem traumhaft-phantastischen Werk Max Klingers auseinander.

11 Giorgio de Chirico Piazza d’ltalia, 1912 Öl/Lwd., 47 X 57 cm Mailand, Sammlung Emilio Jesi

12 Giorgio de Chirico Die beunruhigenden Musen, um 1916 Gouache auf Papier, 94 x 62 cm München, Staatsgalerie moderner Kunst