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Brigham Quades Enkelin Annie sagt stets, was sie denkt, und tut immer, was sie will. Was sie in beträchtliche Schwierigkeiten bringt, als sie ihre beste Freundin besucht. Denn Phaedra ist die Schwester Prinz Rafaels und an seinem Hof herrscht ein steifes Regiment. Und so gerät vom ersten Tag an alles, was Annie beginnt, zur Katastrophe. Rafael weiß schon bald nicht mehr, was er mit dieser schrecklichen Amerikanerin anfangen soll. Sie der Prügelstrafe unterwerfen? Eine verlockende Möglichkeit, aber eine, die er natürlich nicht ernsthaft in Erwägung zieht. Sie küssen, bis sie endlichen ihren frechen Mund hält? Eine noch verlockendere Möglichkeit, und eine, die es verdient, sehr, sehr ernsthaft in Betracht gezogen zu werden ...
Die leidenschaftlich-romantische Trilogie um die Familie Quade von der Bestsellerautorin Linda Lael Miller:
Band 1: Verzaubert von deinen Augen
Band 2: Goldene Sonne, die dich verbrennt
Band 3: Süße Annie, wildes Herz
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Seitenzahl: 487
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Über dieses Buch
Titel
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Über die Autorin
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Impressum
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Brigham Quades Enkelin Annie sagt stets, was sie denkt, und tut immer, was sie will. Was sie in beträchtliche Schwierigkeiten bringt, als sie ihre beste Freundin besucht. Denn Phaedra ist die Schwester Prinz Rafaels und an seinem Hof herrscht ein steifes Regiment. Und so gerät vom ersten Tag an alles, was Annie beginnt, zur Katastrophe. Rafael weiß schon bald nicht mehr, was er mit dieser schrecklichen Amerikanerin anfangen soll. Sie der Prügelstrafe unterwerfen? Eine verlockende Möglichkeit, aber eine, die er natürlich nicht ernsthaft in Erwägung zieht. Sie küssen, bis sie endlichen ihren frechen Mund hält? Eine noch verlockendere Möglichkeit, und eine, die es verdient, sehr, sehr ernsthaft in Betracht gezogen zu werden ...
Linda Lael Miller
Süße Annie, wildes Herz
Aus dem amerikanischen Englisch von Katharina Braun
St. James Keep, Bavia, 1895
»Was zum Teufel macht sie bloß dort oben?«, fragte Rafael St. James, Prinz von Bavia, und beugte sich aus seinem Fenster, so weit er konnte, ohne gleich kopfüber in den Burggraben zu stürzen.
Ein leichter Nieselregen fiel an jenem düsteren Abend im späten Mai, aber Rafael sah dennoch alles viel zu klar. Annie Trevarren, ein behändes, barfüßiges Wesen in Rehlederhosen und einem weiten Hemd, das aus seiner eigenen Garderobe hätte stammen können, umklammerte das Gesicht eines Wasserspeiers auf dem zerfallenden Wehrgang des Südturms.
Es versetzte Rafael einen Stich, als er sie dort sah, eine schmerzhafte Empfindung, die aus etwas anderem herrührte als der bloßen Sorge um ihre Sicherheit.
Neben ihm rang Phaedra, seine achtzehnjährige Schwester, bestürzt die Hände. »Annie wollte einen guten Ausblick auf den See«, erklärte sie, als sei dies Grund genug, Leib und Leben zu riskieren. »Sei nicht böse, Rafael, sie kann nichts für ihre wagemutige Natur – Abenteuerlust liegt bei den Trevarrens in der Familie ...«
Rafael verfluchte Miss Annie Trevarren und ihre »wagemutige Natur«, als er sich vom Fenster abwandte und durch den Raum auf die Tür zuhastete, die noch offen stand nach Phaedras überstürztem Eintritt. So schnell es ihre weiten Röcke erlaubten, eilte die Prinzessin ihrem Bruder nach und folgte ihm durch die Halle zu einer Treppe im südlichsten Teil des Burgfrieds.
»Annie ist oft sehr impulsiv – aber später bereut sie es und entschuldigt sich für ihre Irrtümer, und in anderer Beziehung kann sie ungeheuer praktisch sein ...«
Rafael ignorierte die atemlosen Beteuerungen seiner Schwester und lief, so schnell er konnte, in Gedanken schon bei Annie. Halt durch, du kleine Närrin! Halt dich gut fest, bis ich bei dir bin!
Sein Leibwächter und Jugendfreund, Edmund Barrett, erreichte die Treppe im gleichen Augenblick wie der Prinz. Dem entsetzten Ausdruck nach zu urteilen, den Barretts sonst eher undurchdringliches Gesicht zur Schau trug, war auch er über Miss Trevarrens kritische Lage informiert oder hatte sie vielleicht sogar selbst auf dem Wehrgang entdeckt.
»Überlasst das mir, Hoheit ...«, begann er und benutzte, wie immer in kritischen Situationen, die formelle Anrede, die dem Prinzen gebührte.
Rafael schüttelte den Kopf und stürmte an Barrett vorbei die Wendeltreppe hinauf. Er war noch immer Herr auf St. James Keep, wie dürftig seine Herrschaft über den Rest des Landes auch sein mochte, und deshalb verantwortlich für die Sicherheit jener, die sich innerhalb der alten Mauern seiner Burg befanden – ganz zu schweigen davon, dass die Eltern des jungen Mädchens, Patrick und Charlotte Trevarren, zu seinen geschätzten Freunden gehörten. Was sollte er ihnen sagen, falls Annie stürzte – dass sie noch vier andere Töchter hatten und deshalb um ihre älteste nicht zu trauern brauchten? Dieser Wildfang war Gast in seinem Haus, und es war seine Aufgabe, auf sie aufzupassen.
Die Tür am Ende der Wendeltreppe war offen, und Rafael trat vorsichtig über die Schwelle. Annie stand mehrere Meter entfernt von ihm auf der anderen Seite einer Kluft im Wehrgang und klammerte sich mit beiden Armen an einen Wasserspeier. Ihr rotblondes Haar fiel ihr offen auf den Rücken und kräuselte sich in der feuchten Luft.
»Hab’ keine Angst, Annie!«, rief Phaedra ihr zu. »Rafael wird dich retten.«
»Sei still und bleib zurück«, befahl dieser, während er besorgt den Zustand des Wehrgangs abschätzte. Der Regen, der nach Staub roch, kühlte seine Haut. Zu Annie sagte er: »Bewegen Sie sich nicht!«
Anscheinend hatte das Schweizer Internat für Höhere Töchter in St. Apasia, wo Annie und Phaedra die letzten Jahre verbracht hatten, um Manieren und Disziplin zu lernen, wenigstens zu einem kleinen Teil seinen Zweck erreicht. Selbst in dieser kritischen Lage – und kritisch war sie, denn das Mädchen stand auf losen Steinen – lächelte Annie tapfer und nickte, obwohl sie leichenblass war und zitterte.
»Bestimmt nicht«, versicherte sie erstaunlich gleichmütig.
Rafael gestattete sich einen Blick nach unten. Der gepflasterte Boden des Hofs schien in der Dämmerung zu verschwimmen, und eine Gruppe von Zuschauern hatte sich versammelt und erhellte mit Fackeln die zunehmende Dunkelheit. Der Prinz schloss für einen Moment die Augen, schickte ein stummes Gebet zu dem Gott, der ihn schon vor langer Zeit im Stich gelassen hatte, und trat vorsichtig auf die Brüstung.
Einige der Steine lösten sich unter seinen Füßen, und er presste sich an die moosbedeckte Wand und holte einen tiefen Atemzug. Falls die Kleine das Glück hat, diesen Wahnsinn zu überleben, schwor er sich, bringe ich sie eigenhändig um!
»Seid vorsichtig«, riet Annie, als sei er derjenige, der gerettet werden müsste.
Rafael spürte, wie ihm das Blut in den Nacken schoss und in die Wangen, als er sich ihr sehr langsam und sehr vorsichtig näherte. »Ich hatte nicht vor, hier einen Handstand aufzuführen, Miss Trevarren«, entgegnete er nüchtern, denn es war weder der geeignete Moment noch der geeignete Ort, um die Beherrschung zu verlieren. Wenn beide das Glück hatten, zu überleben, würde er sich diesen Luxus später noch leisten können.
Sobald ich sie drinnen habe, schwor er sich, wird sie eine Strafpredigt von mir hören, die sie nie vergessen wird. Und danach warf er sie vielleicht in ein Verlies oder hängte sie an den Daumen auf ...
Diese Gedanken gaben ihm die Kraft, Annie zu erreichen und einen Arm um ihre Taille zu schlingen. »Also gut, Miss Trevarren«, sagte er mit einer Ruhe, die er nicht empfand, »Sie können das Mauerwerk jetzt loslassen. Wir werden zurückgehen – sehr langsam und ohne schnelle Bewegungen natürlich, weil wir sonst beide unten auf dem Hof enden. Ist das klar?«
Er spürte, wie sie sich versteifte. »Glaubt mir, Hoheit«, sagte sie kühl, »Ihr habt Euch deutlich genug ausgedrückt.«
Rafael riskierte einen Schritt, hielt den Atem an und stieß ihn erst wieder aus, als er sah, dass der Mauervorsprung hielt. Indem er etwas murmelte, das sogar für ihn jeden Sinn entbehrte, setzte er zu einem zweiten Schritt an. Mauerwerk bröckelte und stürzte lautlos in die Tiefe; der Regen war stärker geworden, durchnässte Annies Kleider und ihr Haar, löschte die Fackeln unten im Hof und ließ den moosbedeckten schmalen Wehrgang nun auch noch glitschig werden.
Ein rascher Blick auf Annie verriet Rafael, dass sie die Tränen zurückhielt, und das rührte ihn irgendwie. Miss Trevarren mochte närrisch und unvorsichtig sein, aber er bewunderte ihren Mut und ihre Tapferkeit.
»Es wird schon gut gehen«, sagte er um einiges sanfter als zuvor.
Annie stand wie er mit dem Rücken dicht an die Wand gedrängt und hielt einen Arm ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten. Sie befanden sich jetzt schon viel näher an der Tür. »Ich dachte nur gerade an mein neues gelbes Kleid«, erwiderte sie ganz ernsthaft. »Es wäre eine Schande, wenn ich es nie tragen könnte.«
Einen winzigen Moment lang war Rafael versucht, sie über den Mauerrand zu schubsen und die Sache zu beenden, ein für alle Mal. »Das ist meine geringste Sorge«, erwiderte er knapp. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Barrett in der Tür stand und ein zusammengerolltes Seil in der Hand hielt.
»Aber nur, weil Ihr kein gelbes Kleid besitzt«, versetzte Annie in einem Ton, der sogar eine solch alberne Bemerkung vernünftig klingen ließ.
Rafael fühlte einen Muskel an seiner rechten Wange zucken. Das Seil wurde ihm zugeworfen, und er fing mit der freien Hand das eine Ende auf, wobei er fast das Gleichgewicht verloren hätte. »Gelb war nie meine Farbe«, antwortete er trocken. »Hier. Wir werden das Seil um Ihre Taille binden. Falls Sie stürzen, wenn Sie die Kluft im Wehrgang überschreiten, was gut möglich ist, geraten Sie bitte nicht in Panik. Barrett ist durchaus in der Lage, Ihr Gewicht zu halten und Sie in Sicherheit zu ziehen.«
Annies Augen weiteten sich, und zum ersten Mal fiel Rafael auf, dass sie von einem sehr intensiven Blau waren, so dunkel fast wie Tinte. »Und Ihr, Hoheit?«
Er erlaubte sich einen tiefen Seufzer. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn er stürzte; es würde den Rebellen die Mühe ersparen, ihn gefangen zu nehmen, zu verurteilen und zu hängen, ganz zu schweigen davon, dass es seine Untertanen vor einem langen, kostspieligen Bürgerkrieg verschonen würde ...
Während er das Seil um Annies Taille schlang und verknotete, erwiderte er: »Ja, Miss Trevarren – was ist mit mir?«
»Fertig?«, rief Barrett in der zunehmenden Dunkelheit.
»Ja«, antwortete Rafael mit einem Blick auf Annies regennasses Gesicht, und im nächsten Augenblick, bevor er zu lange darüber nachdenken konnte, manövrierte er sie um sich herum.
Sie schrie auf, als ein Stück des Wehrgangs nachgab und sie abstürzte. Heftig schwankend und mit beiden Händen an das Seil geklammert, blieb sie hoch über dem Hof hängen, wie ein menschliches Pendel fast.
Rafael stockte der Atem vor Entsetzen. Sein eigener Halt gab nach; er spürte, dass die uralten Steine unter den Sohlen seiner Stiefel langsam, aber unaufhaltsam nachgaben. Erschreckende Bilder huschten an seinem inneren Auge vorbei: Er sah das Seil reißen, das Mädchen in die Tiefe stürzen und auf dem harten Pflaster des Hofs aufschlagen ...
Danach wurden die Bilder noch konfuser: Er stand wieder im Palast in Morovia, seine geliebte Georgiana an seiner Seite, um die lange Schlange von Gästen zu begrüßen, und durchlebte die Ereignisse jener Nacht vor achtzehn Monaten auf schmerzliche Weise von Neuem. Sein Vater, der letzte Prinz von Bavia, war damals erst einige Wochen tot gewesen und Rafael nach zwölf Jahren Exil in England eben erst ins Land zurückgekehrt ...
Der Fremde näherte sich Rafael, dem neuen und noch unbekannten Herrscher, und zog, bevor ihn jemand daran hindern konnte, eine Pistole aus der Tasche seines Fracks, die er auf die Brust des Prinzen richtete.
Georgiana musste gesehen haben, was geschah, denn sie trat genau im falschen Augenblick dazwischen und fing die Kugel, die für ihren Mann bestimmt gewesen war, mit ihrem Körper auf.
Rafael glaubte, den Schuss wieder zu hören, und schloss für einen Moment die Augen, um die schrecklichen Bilder zu verdrängen. Dann, als er sich wieder in der Gewalt hatte, schaute er gerade noch rechtzeitig zum Fenster auf, um mitanzusehen, wie Barrett Annie hineinzog.
Eine solch überwältigende Erleichterung erfasste Rafael, dass seine Knie nachgaben und er erneut über die Vorteile eines raschen Tods nachdachte. Falls es ein Leben nach dem Tode gab, würde er vielleicht Georgiana wiedersehen und Barretts Vater ... Noch mehr Mauerwerk bröckelte ab und stürzte in die Tiefe; Rafael presste sich mit aller Kraft an die Wand und grub die Finger tief in die Mauerritzen.
»Sie ist jetzt sicher, Sir«, rief Barrett über das Prasseln des Regens und den aufkommenden Sturm. »Aufgepasst – hier kommt das Seil!«
Es entrollte sich wieder vor ihm, und Rafael ergriff es mit beiden Händen und klammerte sich mit einer Verzweiflung daran, die seine vorherigen Todesfantasien Lügen strafte. Das letzte Stück Wehrgang brach unter ihm zusammen, als er das Seil um seine Taille knotete, und der raue Hanf riss seine Hände auf, als er mit dem Seil in die Tiefe glitt.
Geblendet vom Regen, prallte er hart gegen die Burgmauer und konzentrierte seine gesamte Energie, sein ganzes Sein darauf, sich festzuhalten. Barrett zog ihn hinauf, entnervend langsam, während Rafael am Seil baumelte und sich die Hände wund scheuerte, um nicht den Griff zu lockern.
Dann, endlich, spürte er Hände, ein halbes Dutzend, die ihn an Armen, Handgelenken und am Stoff seines Rocks ergriffen. Sie zogen ihn hinein – Barrett, einer seiner Leutnants, und Lucian, Rafaels jüngerer Halbbruder.
Eine ganze Weile blieb Rafael auf der Brüstung hocken, bis auf die Haut durchnässt und wund, mit blutenden Händen und klopfendem Herzen und einem Atem, der wie Feuer in seinen Lungen brannte.
Barrett jedoch zog ihn ganz unzeremoniell auf die Beine. »Alles in Ordnung?«, fragte er mit aufrichtiger Besorgnis, denn die Zuneigung, die sie verband, war alt und ging sehr tief.
Rafael stieß ein ersticktes Lachen aus und schwankte. Als er sprach, klang es heiser wie ein Fauchen.
»Wo ist sie?«
Annie hatte auf der obersten Stufe der Wendeltreppe des Turms gewartet, zitternd vor Kälte und vor Schock, und den Himmel angefleht, Rafael zu retten. Sollte sie ihn etwa all diese Jahre geliebt haben, wenn auch bisher nur aus der Ferne, um letztendlich der Anlass seines Todes zu sein?
Beim Klang seiner Stimme jedoch, die tief und bedrohlich wie ein sommerliches Gewitter klang, versteiften sie und ihre Freundin Phaedra sich erschrocken.
Die Prinzessin ergriff Annies Hand. »Schnell!«, zischte sie und zog ihre Freundin die ausgetretenen Stufen zum Gang hinunter. »Falls Rafael uns jetzt erwischt, ist nicht auszudenken, wozu er fähig ist!«
Annie malte sich einige der Möglichkeiten aus, und das brachte die Kraft in ihre Knie zurück; ungehindert von langen Röcken wie ihre Freundin Phaedra, stürzte sie an ihr vorbei über den Gang. In ihrer Aufregung stolperte sie jedoch über einen Teppichrand und stürzte.
Bevor sie sich wieder erheben konnte, fühlte sie sich von zwei harten Männerhänden hochgezogen und schaute auf in das wütende Gesicht des Prinzen.
»Rafael ...«, rief Phaedra flehend und ergriff den Arm ihres Bruders.
Er entzog sich ihr brüsk und richtete seinen kalten Blick auf Annie. Ohne ihn von ihr abzuwenden, sagte er zu dem Soldaten neben sich: »Bring Miss Trevarren in ihr Zimmer und verschließ die Tür! Ich werde mich morgen früh mit ihr beschäftigen. Im Moment traue ich es mir nicht zu.«
Annie war durchnässt, verfroren und voller Reue, aber seine Worte lösten Entrüstung in ihr aus, und sein Ton verletzte sie. »Warum kettet Ihr mich nicht einfach an die Wand eines Verlieses und lasst es damit gut sein?«, erkundigte sie sich mit Würde.
»Ein reizender Vorschlag«, versetzte Rafael bissig. »Glauben Sie nicht, ich hätte ihn nicht bereits erwogen. Haben Sie noch mehr solche Ideen, Miss Trevarren? Noch drastischere, hoffe ich?«
Sie ließ einen Moment den Kopf hängen, weil ihr bewusst war, dass Frechheit sie jetzt nicht weiterbrachte, doch dann erwiderte sie Rafaels kalten Blick und fragte sich, was sie je in ihm gesehen hatte – obwohl ihr selbst in diesem entwürdigenden Augenblick klar war, was. Er war stark, sah fantastisch aus und war gut, und sie vermochte nicht einmal an ihn zu denken, ohne einen Stich im Herzen zu verspüren und ein sehr viel weniger prosaisches Gefühl woanders ...
»Nein«, gab sie zu. »Das ist alles, was mir dazu einfällt.«
Erst jetzt gab der Prinz ihren Arm frei. Mr. Barrett begann weiterzugehen, gefolgt von Lucian, der sich mehrmals nach ihr umsah. Doch Rafael blieb, ragte auf dem düsteren Korridor vor Annie auf wie ein Gespenst.
Phaedra, als treue Freundin, die sie war, blieb ebenfalls.
»Bilden Sie sich nicht ein, dass ich diesen Zwischenfall vergessen werde, Miss Trevarren«, sagte Rafael und beugte sich vor, bis seine aristokratische Nase fast Annies kecke, sommersprossenbedeckte Nase berührte. »Aber wir werden, wie ich bereits sagte, die Angelegenheit morgen früh besprechen.«
Der Prinz hatte beabsichtigt, Annie einzuschüchtern, und das war ihm auch gelungen, aber sie war zu stolz, es sich ihm gegenüber anmerken zu lassen. Sie straffte die Schultern, hob das Kinn und weigerte sich, den Blick zu senken.
Rafael schüttelte den dunklen Kopf, murmelte etwas, das zum Glück für alle unverständlich blieb, und ging mit raschem Schritt davon.
Phaedra schob ihren Arm unter Annies und flüsterte bestürzt: »Hast du den Verstand verloren?«
Annie wusste nicht, ob ihre Freundin sich auf die Episode auf dem Wehrgang bezog oder auf den kurzen Wortwechsel mit Rafael. Sie war zutiefst betrübt, ließ jetzt, wo der Prinz nicht mehr anwesend war, die Schultern hängen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, so viel aufs Spiel zu setzen für einen lächerlichen Ausblick auf die Landschaft?
Die beiden Mädchen waren schon auf dem Weg zu ihren Schlafgemächern im westlichen Teil der Burg, bevor Annie antwortete. »Ich weiß selbst nicht, was mich manchmal überkommt«, gestand sie kläglich. »Ich komme auf Ideen – wie das unwiderstehliche Bedürfnis, plötzlich irgendwo hinaufzuklettern. Anfangs erschien mir der Gedanke noch ganz harmlos, wirklich, und der See war auch wunderschön, blau wie Lapislazuli, sogar im aufkommenden Regen.« Annie hielt inne, um zu niesen, und Phaedra murmelte etwas und beschleunigte ihren Schritt, was auch Annie zu schnellerem Gehen zwang. »Bäume, Regenrinnen, die Takelage meines Vaters Schiffs ...«, fuhr der ungezogene Hausgast fort, »ich habe sie alle schon bestiegen. Es gibt Momente, Phaedra, in denen ich die Welt einfach aus einer anderen Perspektive sehen muss!«
Annie war neun Jahre alt gewesen, als sie beschlossen hatte, sich ihre Umgebung vom Ausguck der Enchantress anzusehen, was ihr die ersten und einzigen Prügel ihres Lebens eingetragen hatte, nachdem ihr Vater sie aus der Takelage befreit hatte. Selbst ihre Mutter Charlotte, die sie sonst in allem unterstützte, hatte keine Einwände erhoben, was bedeutete, dass es tatsächlich eine Riesendummheit gewesen sein musste. Annie war jedoch zu stolz, um Phaedra diese Erfahrung anzuvertrauen.
Die Prinzessin, die selbst ein rechter Wildfang war, schüttelte in überlegener Weise ihren Kopf. »Was soll nur aus dir werden, Annie?«, fragte sie. »Sieh dich an – du kleidest dich wie ein Junge und kletterst aus Fenstern wie ein Affe! Wie willst du jemals einen Mann finden und heiraten, wenn du dich aufführst wie eine Wilde?«
Zu Annies unendlicher Erleichterung hatten sie inzwischen ihre Zimmertür erreicht. Sie sehnte sich nach trockenen Kleidern, einem Feuer, um sich aufzuwärmen, und einem Gläschen Sherry – wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Doch ihr Verlangen, einer Strafpredigt zu entgehen, wie sie sie von den Nonnen in St. Apasia unzählige Male hatte erdulden müssen, war sogar noch größer.
So stützte sie nun die Hände in die Hüften und erwiderte Phaedras verstörten Blick.
»Es gibt noch andere Dinge im Leben, als einen Mann zu finden und zu heiraten«, erklärte Annie, obwohl sie in diesem Moment kein einziges dieser Dinge hätte nennen können. Denn was gab es schon anderes zu tun, als zu heiraten, wenn man eine Frau war? Im Übrigen dachte sie an nichts anderes mehr, seit sie Rafael zum ersten Mal erblickt hatte. Er hatte damals ihre Eltern an der Französischen Riviera besucht, als Annie erst zwölf gewesen war, und ihr ganzes Leben verändert.
»So? Was denn zum Beispiel?«, fragte Phaedra herausfordernd. Sie und Annie waren eine knappe Woche zuvor nach Bavia gekommen, nach ihrem Schulabschluss in der Schweiz, um Phaedras Trauung auszurichten. Es sollte eine richtige Märchenhochzeit werden, wie sie einer Prinzessin auch gebührte, und so war es nur natürlich, dass Phaedra, die mit ihren eigenen Hochzeitsplänen beschäftigt war, eine Befürworterin ehelichen Glücks war.
Annie nieste wieder, genau im passenden Augenblick, um Phaedras Frage auszuweichen. »Mir ist kalt«, sagte sie, floh in ihr Zimmer und schloss die Tür. Zum Glück brannte im Kamin noch ein Feuer, sodass es angenehm warm im Raum war.
Als sie sicher war, dass Phaedra ihr nicht folgen würde, zog Annie ihre nassen Kleider und ihre Unterwäsche aus. Ihre Arme und Beine waren zerkratzt und wund, aber als sie sich erinnerte, wie Rafaels Hände geblutet hatten, verging ihr Anfall von Selbstmitleid sehr rasch.
Zitternd vor Kälte nahm sie ein Handtuch, rieb sich trocken und zog ein Nachthemd an. Sie war gerade damit fertig, als ein leises Klopfen an der Tür ertönte.
In Erwartung einer Magd mit Brandy, der ihr jetzt sehr willkommen gewesen wäre, ganz im Gegensatz zu einer vorwurfsvollen Phaedra, rief Annie: »Herein!«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als Rafael über die Schwelle trat. Seine Kleider – die gleichen, die er bei ihrer Rettung getragen hatte, waren durchnässt wie sein dunkles Haar, das aussah, als ob er etliche Male mit den Fingern hindurchgefahren wäre, seit sie sich auf dem Gang getrennt hatten. An den Handflächen klebte getrocknetes Blut, seine Handrücken waren sichtbar angeschwollen.
Das Feuer tauchte ihn in ein unheimliches Flackern; er sah jetzt eher wie der Teufel persönlich aus als wie der regierende Fürst eines kleinen, dem Untergang geweihten Landes.
Sie spürte seinen Blick auf sich, was eine seltsame, aber angenehme Wärme in ihr auslöste, und dabei kam ihr zu Bewusstsein, dass der Feuerschein den dünnen Stoff ihres Nachthemds durchdrang und die Umrisse ihres Körpers freigab. Rasch trat sie vom Kamin zurück und suchte Zuflucht hinter einem hohen Stuhl.
Das Schweigen dehnte sich aus.
Schließlich ertrug Annie die spannungsgeladene Stille nicht mehr. »Falls Ihr gekommen seid, um mich ins Verlies zu bringen«, sagte sie mit zitternder Stimme, »dann seid gewarnt – ich bin entschlossen, mich zu wehren.«
Rafael St. James starrte sie zuerst nur betroffen an, doch dann, ganz plötzlich, lachte er. Es war ein ungeheuer männliches Lachen, tief, weich und berauschend, und erweckte Gefühle in Annie, die köstlich und zur gleichen Zeit erschreckend waren.
Sie schaute sich nach einem besseren Zufluchtsort als dem hochlehnigen Stuhl um, fand jedoch keinen und hielt die Stellung. »Ich finde, Ihr solltet gehen«, sagte sie mit höflichem Trotz.
Rafaels Belustigung hatte sich von lautem Lachen in ein dämonisches Lächeln verwandelt; mit hochgezogener Braue musterte er Annie ausgiebig, bevor er antwortete: »Sie haben recht, ich sollte gehen«, gab er zu. »Aber da ich Hausherr dieser Burg bin und Regent dieses gottverlassenen Landes, kann ich gehen, wann ich will und wohin ich will.«
Annie schluckte, um sich die Bemerkung zu verbeißen, dass er im Begriff war, abgesetzt zu werden. Es wäre grausam und respektlos gewesen, und im Übrigen schuldete sie Rafael St. James einen gewissen Dank dafür, dass er sie gerettet hatte. Sie empfand brennende Verzweiflung, so gut wie Angst, wenn sie ihn ansah, denn sie hatte ihn so geliebt und schon so lange, dass diese Liebe ihr zur zweiten Natur geworden war. Falls er tatsächlich von den Rebellen gestürzt und hingerichtet wurde, würde auch sie sterben, denn sein Tod würde ihr das Herz brechen.
»Danke«, sagte sie. »Dass Ihr mich gerettet habt, meine ich.«
Der Prinz schaute auf seine Hände und schien zum ersten Mal zu sehen, wie wund und blutverschmiert sie waren. Als er aufschaute und Annie wieder ansah, sprach Misstrauen aus seinen grauen Augen.
Er neigte majestätisch den Kopf. »Gern geschehen, Miss Trevarren«, erwiderte er. »Aber falls Sie noch einmal auf einen solch dummen Einfall kommen, solange Sie sich unter meinem Dach befinden, schwöre ich bei jedem Stein in dieser Burg, dass ich Sie persönlich als Fischköder auf das erste Schiff trage, das an der Küste anlegt.«
Annie errötete. Das war nicht die Art von Schwur, den sie sich in den vergangenen sechs Jahren von Rafael erträumt hatte. »Mein Vater wäre sehr verärgert. Er würde Euch auspeitschen für eine derartige Kränkung.«
»Ich bin bereit, das Risiko einzugehen, Miss Trevarren.« Sein Blick blieb fest und schwankte nicht, aber er holte tief Atem und ließ ihn seufzend wieder aus. »Es geht Ihnen also gut? Sie brauchen keinen Arzt?«
»Nein«, erwiderte sie und empfand ein überwältigendes Schuldbewusstsein bei dem Gedanken an den Schmerz, den sie Rafael in dieser Nacht verursacht hatte, und an die Gefahr, in die er sich für sie begeben hatte. Vor allem jetzt, wo er zu ihr gekommen war, um sich zu vergewissern, dass sie keine Verletzungen erlitten hatte. »Aber ich glaube, Ihr braucht einen Arzt.«
»Ja«, sagte er mit einem müden Blick auf seine Hände. »Ich werde sie verbinden lassen. Gute Nacht, Miss Trevarren.« Er wandte sich zum Gehen.
»Rafael?«
Er blieb stehen und wartete, drehte sich jedoch nicht zu ihr um.
»Es tut mir leid.«
Endlich schaute er sie an; seine grauen Augen blitzten vor neu erwachtem Ärger. »Ja«, sagte er, »und morgen wird es Ihnen noch viel mehr leidtun.«
Zehn Minuten nach seiner Begegnung mit Miss Trevarren, in der Ungestörtheit seines Arbeitszimmers, zuckte Rafael zusammen und stieß einen Fluch aus, als Barrett Whisky über seine wunden Hände goss. Der Prinz saß in einem Lehnstuhl beim Feuer, sein Freund, Leibwächter und Ratgeber stand neben ihm.
Da sie praktisch zusammen aufgewachsen waren – Barretts Vater war Wildhüter des Landguts in Northumberland gewesen, auf dem Rafael aufgezogen worden war – standen sie sich näher als die meisten Brüder. Nachdem der letzte Prinz von Bavia bei einem Duell den Tod gefunden hatte – William St. James war ein trinkwütiger Tyrann gewesen, von seiner Familie ebenso verachtet wie von seinen Untertanen – war Rafael heimgerufen worden, um die Regierung zu übernehmen. Barrett, ein ausgebildeter und erfahrener Soldat, hatte ihn begleitet.
»Das hat man davon, wenn man Jungfern aus Gefahr errettet«, bemerkte Barrett mit einem schwachen Lächeln, während er Rafaels Wunden reinigte. »Aber du warst ja immer schon galanter, als dir guttut. Eines Tages wird es dein Ende sein.«
»Was hätte ich denn sonst tun sollen?«, entgegnete Rafael gereizt. »Hätte ich ein Mädchen, das kaum dem Schulalter entwachsen ist und zudem die Tochter lieber Freunde, draußen auf dem Wehrgang stehen und in den Tod stürzen lassen?«
»Du hättest mich Miss Trevarren holen lassen können«, gab Barrett zu bedenken.
»Das ist nicht deine Aufgabe.«
»Meine Aufgabe ist, dich zu beschützen.«
»Das hast du ja getan, als du mir das Seil zuwarfst und mich hineinzogst«, erwiderte Rafael trocken. »Vielen Dank übrigens.«
Wieder lächelte Barrett und begann, Rafaels Hand zu verbinden. »Sie ist ein mutiger kleiner Racker, deine amerikanische Miss.«
Rafael reagierte gereizt, und es verstärkte seinen Ärger noch, dass es ihn überhaupt kümmerte, was andere Männer von Annie Trevarren dachten, gut oder schlecht. Selbst Barrett, sein treuester Gefährte, würde auf der Hut sein müssen. »Es liegt in der Familie«, sagte er ruhig. »Du müsstest ihre Eltern kennen, um es zu verstehen.«
Nachdem er seine Arbeit beendet hatte, ging Barrett zum Likörschrank und schenkte zwei Gläser Brandy ein. Das erste reichte er Rafael, der es dankbar an die Lippen hob und einen tiefen Schluck nahm.
Barrett behielt seine Gedanken und Ansichten im Allgemeinen für sich, weil er wusste, dass es Rafael so lieber war, aber an diesem Abend war der Engländer ganz ungewöhnlich redselig. »Es ist gefährlich hier«, bemerkte er, bevor er sein eigenes Glas an die Lippen hob. »Offen gestanden bin ich überrascht, dass du deiner Schwester gestattet hast, nach Bavia zurückzukehren angesichts der schwierigen politischen Lage hier.«
Rafael stieß einen weiteren Seufzer aus und schloss die Augen. Seine Hände, seine Knie und seine rechte Schulter pochten; er war nicht in der Stimmung, sich mit Fragen zu beschäftigen, auf die er selbst noch keine Antwort fand.
»Dann fragst du dich sicher auch, warum ich Phaedra erlaubt habe, einen Gast mitzubringen. Du wirst sehr neugierig auf deine alten Tage, Barrett.«
Sein Freund schmunzelte, denn wie Rafael selbst war er erst Anfang dreißig. Beide Männer hatten ihre Mütter schon in früher Kindheit verloren, und John Barrett, Edmunds Vater, hatte sich des jungen Verbannten sehr liebevoll angenommen und ihn reiten, angeln, jagen und kämpfen gelehrt, nicht anders, als wenn der Junge sein eigener Sohn gewesen wäre. Und wie oft hatte Rafael gewünscht, es wäre so!
»Einige würden mich sogar als vorwitzig bezeichnen«, gab Barrett nach kurzem Schweigen schmunzelnd zu.
»Ja«, bestätigte Rafael. »Aber immerhin hast du mehrmals dein eigenes Leben in Gefahr gebracht, um meins zu retten, und das gibt dir wohl das Recht, zu fragen.« Er trank einen Schluck Brandy, bevor er weitersprach. »Seit siebenhundert Jahren legen die Frauen unserer Familie ihr Ehegelübde in unserer eigenen Kapelle ab, die sich innerhalb der Mauern dieser Burg befindet«, erklärte er und erinnerte sich schmerzlich an seine eigene Hochzeit mit seiner geliebten englischen Rose, seiner Georgiana, die wegen der Abneigung zwischen Rafael und seinem Vater in London stattgefunden hatte.
Er verdrängte die Erinnerung und den Schmerz, der sie begleitete. »Ich kann Phaedra nicht diese Tradition verweigern, ob hier Gefahr herrscht oder nicht. Und was Annie – Miss Trevarren – betrifft, so ist sie gekommen, um der Prinzessin bei den Hochzeitsvorbereitungen beizustehen. Außerdem ist diese junge Dame aus sehr kühnem Holz geschnitzt, wie du heute Abend wohl selbst gesehen hast.«
Barrett lachte und schüttelte den Kopf, aber eine leichte Besorgnis wich nicht aus seinen braunen Augen. Sein Blick, der sonst immer sehr direkt war, wich Rafaels aus. »Der Bräutigam scheint jedenfalls keine Eile zu haben, hier zu erscheinen.«
Rafael runzelte die Stirn und beugte sich vor, wobei er fast den Brandy auf den kostbaren Perserteppich verschüttete, der einst seiner verstorbenen Mutter gehört hatte. Er war einer der wenigen Wertgegenstände, die der Prinz nach seiner Rückkehr nach Bavia vor zwei Jahren behalten hatte, nachdem er in Jahrhunderten angehäufte Schätze aus Plünderungen und Raubzügen an das Volksvermögen zurückerstattet hatte. Obwohl es längst nicht überall bekannt war, lebten die Angehörigen der Familie der St. James heute von ihrem eigenen, privaten Vermögen.
Rafael vergaß jedoch nie, dass seine Bemühungen zu spät gekommen waren, für ihn und höchstwahrscheinlich auch für Bavia.
»Was siehst du mich so an?«, fragte Barrett, eine Spur gereizt, als er sah, dass Rafael ihn prüfend musterte.
»Du hast gerade eine sehr merkwürdige Feststellung gemacht, scheint mir. Was interessiert es dich, ob der zukünftige Gemahl der Prinzessin morgen erscheint, nächsten Monat oder einen Tag nach der Auferstehung?«
Barretts Nacken rötete sich, ein Phänomen, das Rafael seit ihrer Kindheit nicht mehr bei ihm wahrgenommen hatte. Er schien zuerst etwas sagen zu wollen, stürzte dann jedoch den Rest seines Brandys hinunter, um die Worte zu ertränken, bevor sie über seine Lippen kommen konnten.
Rafaels Nacken war steif vor Anspannung; er hätte sich am liebsten in einem dunklen Zimmer hingelegt und geschlafen, bis alles vorüber war – Phaedras Hochzeit, die drohende Revolution, der endgültige Zusammenbruch einer Familie, wie eigennützig sie auch gewesen sein mochte, die seit sieben Jahrhunderten diese kleine europäische Nation regierte. Rafael sehnte sich nach Frieden, und doch wusste er, dass er vermutlich nicht mehr lange genug auf dieser Welt sein würde, um ihn zu erleben.
Seufzend lehnte er sich zurück und schloss für einen Moment die Augen.
»Du hast dich in die Prinzessin verliebt«, sagte er. »Wann ist es geschehen? Letztes Jahr, als sie in den Sommerferien zu Hause war?«
Barrett schwieg sehr lange. Als er endlich sprach, lag ein trotziger, herausfordernder Ton in seiner Stimme. »Ja.«
»Du weißt natürlich, dass es hoffnungslos ist. Phaedras Heirat mit Chandler Haslett wurde schon wenige Tage nach ihrer Taufe arrangiert. Er ist ein entfernter Cousin.« Rafael öffnete die Augen, schaute Barrett an und bemühte sich, sein Mitgefühl für ihn zu verschleiern. »Sie ist eine Frage der Ehre, diese Ehe. Das Abkommen kann nicht rückgängig gemacht werden. Nicht einmal dir zuliebe, mein Freund.«
»Sie liebt ihn nicht.« Die ruhige Überzeugung, mit der Barrett sprach, beunruhigte Rafael.
»Das ist nicht wichtig«, erwiderte er. »Arrangierte Ehen werden nur selten, wenn überhaupt, aus Liebe geschlossen. Es ist mehr eine Frage von Rang und politischen Verbindungen.«
Barrett verzichtete auf Widerspruch, weil er das Gewicht derartiger Traditionen so gut wie jeder andere kannte, und es war klar für ihn, dass das Thema damit abgeschlossen war. Er nickte und ging zu den massiven Doppeltüren. »Ich werde heute Nacht eine Wache vor deiner Tür aufstellen, wie jeden Abend.«
»Gut«, erwiderte Rafael, stand auf und betrachtete stirnrunzelnd die dicken Verbände an seinen Händen. Wie zum Teufel sollte er damit etwas tun? »Lass auch Miss Trevarrens Zimmer bewachen. Wer weiß, ob sie heute Nacht nicht wieder den Drang verspürt, auf Türme und Wehrgänge zu klettern.«
Barrett lächelte, obwohl seine Augen ernst blieben. »Wie du wünschst«, sagte er und ging hinaus.
Rafael begann sofort die Verbände von seinen Händen abzureißen und warf sie dann ins Feuer. Als er die Finger spreizte, verzog er das Gesicht angesichts des Schmerzes, der ihn durchzuckte, aber er überwand ihn und schenkte sich einen zweiten Brandy ein, um über das Problem ›Annie Trevarren‹ nachzudenken.
Der Prinz lächelte. Er konnte sie unmöglich in eins der Verliese sperren – Patrick Trevarren würde ihn dafür tatsächlich auspeitschen, und das mit vollem Recht. Doch trotz allem hatte er ihr angedroht, dass ihre närrische Episode nicht ohne Folgen bleiben würde, und er beabsichtigte, sein Wort zu halten. Denn so viel zumindest schuldete er sich nach dieser aufregenden Nacht.
Annie raffte den Saum ihres langen Nachthemds, um die vier Stufen zu ihrem Himmelbett hinaufzusteigen, und schlüpfte unter die warmen Decken. Dort, unter den flackernden Schatten, die das Feuer an die Zimmerdecke warf, überdachte sie die Ereignisse des Abends.
Ihr Ausflug auf den baufälligen Wehrgang war in der Tat töricht gewesen, aber natürlich hatte sie nicht geahnt, wie gefährlich das Abenteuer für sie werden konnte. Sie hatte nur einen ungehinderten Blick auf den Kristallsee genießen wollen, der hinter der Burg in einem dichten Wald verborgen lag, und das war nur vom Südturm aus möglich gewesen. Da dieser jedoch kein Fenster besaß, war sie kurz entschlossen auf den Wehrgang hinausgeklettert, und erst als sie umkehrte, war ihr klar geworden, in welcher Gefahr sie sich befand. Aus lauter Panik hatte sie sich an einen steinernen Wasserspeier geklammert und sich dort festgehalten, bis Rafael kam und sie rettete.
Im Bett jetzt und in Sicherheit fand Annie die Erinnerung daran sehr aufregend. In gewisser Weise war es ungemein romantisch, gerettet zu werden – vor allen Dingen von Rafael St. James.
Seufzend drehte sie sich auf die Seite und schaute zur Tür hinüber, wo er heute Abend gestanden hatte, mit wunden Händen, regenfeuchtem Haar und zerfetzten, nassen Kleidern. Sie liebte Rafael schon seit ihrer Kindheit, doch heute Nacht, als er in ihr Zimmer gekommen war, hatte sie ganz neue und sehr verwirrende Gefühle in Bezug auf ihn durchlebt.
Sie schloss die Augen, doch hinter ihren Lidern konnte sie den Prinzen noch immer sehen, so wie er vorher dagestanden hatte, einen Ausdruck belustigten Zorns auf seinen Zügen.
Annie erschauerte. Er hatte geschworen, sie zu bestrafen, und sie hegte nicht den geringsten Zweifel daran, dass es ihm ernst gemeint gewesen war. Die Frage war nur, was konnte er schon tun? Sie befanden sich schließlich nicht mehr im Mittelalter – er konnte sie unmöglich in die Eiserne Jungfrau stecken, sie auf dem Scheiterhaufen verbrennen, sie an die Zigeuner verkaufen oder sie in irgendein Kloster verbannen.
Im Übrigen war sie zu Gast auf St. James, und ihr etwas anderes als die gebotene Höflichkeit zu erweisen, wäre undenkbar gewesen.
Zumindest für die meisten Männer, dachte Annie, was ihre Zuversicht von Neuem schwinden ließ, denn der Prinz von Bavia war nicht wie die meisten Männer. Obwohl Annie wenig von der Politik dieses kleinen Lands verstand, wusste sie, dass die Bauern Rafael für grausam hielten und ihn fürchteten, wie sie früher seinen Vater und dessen Vater gefürchtet hatten.
Ruhelos drehte Annie sich wieder auf die andere Seite, doch Rafaels Bild verfolgte sie, drängte sich in ihre Gedanken und in ihre Träume und verhinderte, dass sie Schlaf fand in jener Nacht.
Am folgenden Morgen saß Rafael an seinem gewohnten Platz am Kopf des Tischs im großen Speisesaal, als Annie hereinschwebte – in einem strahlend gelben Kleid, ihr rotblondes Haar zu einem ordentlichen Kranz geflochten.
Rafaels Ärger hatte inzwischen ein wenig nachgelassen, und so gern er etwas anderes empfunden hätte, vermochte er doch nicht zu übersehen, dass Miss Trevarren ein ganz entzückendes kleines Ding war.
Der Prinz verbarg sein Lächeln und biss in eine Scheibe Brot, froh, dass bisher niemand anderer zum Frühstück hinuntergekommen war. Für einige Minuten zumindest würde diese unterhaltsame, aufreizende junge Frau ausschließlich ihm gehören, um sie anzusehen, zu beobachten und sich über sie zu wundern. Der verblüffende Wechsel in seinen Gefühlen entging ihm nicht; Rafael kannte sich sehr gut und vermutete bereits, dass Annie – vorausgesetzt, er gab ihr die Gelegenheit – ihn dazu bringen könnte, sich aufzuführen wie ein Narr.
Sein Lächeln, das zaghaft genug gewesen war, begann nun ganz zu schwinden. Seit Georgianas Tod war er innerlich wie betäubt gewesen; doch nun überfluteten ihn wieder Emotionen, und er hatte Einfälle und Wünsche, die fast ausnahmslos schmerzhaft waren. Er biss in das harte, fade Brot, kaute und schluckte. Als Annie sich einen Teller am Büfett gefüllt hatte und sich zu ihm umwandte, trug er längst wieder eine Miene königlicher Indifferenz zur Schau.
Sie zögerte nur einen winzigen Moment lang, dann kam sie resolut zum Tisch.
Rafael stand auf, mehr aus Gewohnheit als aus Respekt, und blieb stehen, während sie zu seiner Linken Platz nahm.
»Guten Morgen«, sagte sie, und obwohl sie ihn nicht anschaute, straffte sie die Schultern und schob das Kinn vor.
Gott, sie war aber auch ein keckes kleines Ding; Rafael bewunderte Mut mehr als jeden anderen Charakterzug, mit Ausnahme von Ehrgefühl, und gleich danach weibliche Schönheit.
»Guten Morgen«, erwiderte er und setzte sich.
Annie aß ein Stückchen Speck und schob mit der Gabel lustlos ihre Eier auf dem Teller herum, bevor sie sich zwang, aufzusehen und Rafaels Blick zu erwidern.
»Werdet Ihr mich fortschicken?«, fragte sie errötend. »Wegen gestern Nacht, meine ich?«
Tatsächlich hatte Rafael sein voreiliges Dekret bereits vergessen. Der Brandy in der Nacht zuvor hatte seinen Zweck erfüllt; der Prinz hatte gut geschlafen, und seine Hände, wenn auch noch etwas wund, begannen bereits zu verheilen. Sein schlimmstes Unbehagen in diesem Augenblick war ein gar nicht so nobles Ziehen tief in seinen Lenden.
Rafael lehnte sich zurück und runzelte die Stirn. Er hätte Annie jetzt durchaus sagen können, der Zwischenfall sei vergessen, aber etwas in ihm, etwas ungeheuer Mächtiges, hinderte ihn daran, ihr so leichtfertig zu verzeihen. Ihr Temperament und ihre Anfälle von Trotz amüsierten ihn, und das wollte er so lange wie möglich auskosten, da es sonst sehr wenig Amüsantes in seinem Leben gab.
»Ja«, sagte er schließlich in strengem Ton, straffte die Schultern und betrachtete Miss Trevarren aus schmalen Augen. »Sie werden heute den ganzen Tag in meiner Nähe bleiben, für den Fall, dass Sie wieder in Versuchung kommen sollten, auf irgendetwas hinaufzuklettern und sich Ihren dreisten kleinen Hals zu brechen.«
Wie kommst du bloß dazu, so etwas zu sagen?, fragte Rafael sich, kaum dass die Worte über seine Lippen waren. Jetzt würde die Kleine ihm den ganzen Tag im Weg sein, und er würde nichts oder nur sehr wenig schaffen.
Als ob das wichtig wäre, dachte er spöttisch. Sein Vater und alle St. James’, die vor ihm regierten, hatten das Land heruntergewirtschaftet und in den Ruin getrieben. Es war nicht mehr zu retten, nichts hätte die Konsequenzen noch aufhalten können, obwohl Rafael noch immer viele Stunden mit dem Versuch verbrachte und es schon tat, seit er aus England in sein Heimatland zurückgekehrt war. Denn obwohl er wusste, dass es ein sinnloses Unterfangen war, konnte er sich nicht dazu überwinden, aufzugeben.
Annies Wangen röteten sich, und ihre blauen Augen blitzten von einem Gefühl, das sowohl Auflehnung wie auch Triumph bedeuten konnte. Rafael hätte nicht sagen können, was es war, und es interessierte ihn auch nicht besonders.
»Das dürfte ungemein langweilig sein, für uns beide«, bemerkte sie mit einem nachlässigen kleinen Schulterzucken und einem Seufzer. Doch ihrer zur Schau gestellten Gleichgültigkeit zum Trotz mied sie noch immer seinen Blick.
Rafael hoffte, dass seine Belustigung nicht zu offensichtlich war, denn er spürte ihren Stolz und bewunderte sie dafür. »Die meisten meiner Gäste klettern auch nicht auf baufällige Wehrgänge, um sich die Landschaft anzusehen«, gab er zu bedenken und nutzte seinen Vorteil, als er ihr Unbehagen sah. »Falls Ihr Vater gestern Nacht hier gewesen wäre«, erklärte er, »hätten Sie sich jetzt mit noch viel ärgeren Schwierigkeiten abzufinden.«
Annie wandte rasch den Kopf ab, und Rafael hätte am liebsten laut gelacht, aber er beherrschte sich natürlich. Als sie ihn wieder ansah, funkelten ihre Augen vor unterdrücktem Zorn, doch bevor sie sich eine scharfe Erwiderung ausdenken konnte, betrat sein jüngerer Halbbruder, Lucian, den großen Saal.
Lucian sah Rafael ähnlich, aber er war kleiner, zierlicher und besaß sehr zarte, aristokratische Gesichtszüge. Da er trotz seiner zierlichen Statur in hervorragender körperlicher Verfassung war, stellte er einen ernst zu nehmenden Fechtpartner dar, doch abgesehen davon war er ziemlich nutzlos. Die Brüder waren praktisch Fremde, da Lucian in einem anderen Teil Englands und bei anderen Pflegeeltern als Rafael aufgewachsen war, und sie hatten kaum Gemeinsamkeiten. Meistens ignorierte Rafael seinen Bruder, obwohl es auch Momente gab, in denen Lucian sich in Schwierigkeiten brachte, aus denen ihn dann entweder Edmund Barrett oder Rafael befreien mussten.
Trotz der langen Zeit fern von zu Hause, die ihm dazu hätte dienen müssen, erwachsener zu werden, war der jüngere St. James in vielen Dingen ebenso verwöhnt wie Phaedra, die in Bavia gelebt hatte, verhätschelt und behütet von einer Schar von Kinderschwestern, Gouvernanten und Mägden, bis sie alt genug gewesen war, das Schweizer Internat zu besuchen.
An jenem Morgen, als Lucian seinen Teller füllte und dann zum Tisch kam, glaubte Rafael, ein fast raubtierhaftes Funkeln in den Augen seines Bruders wahrzunehmen. Eine leise Gereiztheit erfasste ihn – was nichts Neues war, wenn es um diesen Stümper ging –, als er sah, wie Lucian Annie anlächelte wie ein junger Kavalier. Rafael nahm sich vor, ihn später zurechtzuweisen, wenn nötig anhand von Drohungen, denn das Mädchen wäre sicherer auf dem zerbröckelnden Wehrgang, als wenn sie Lucians geübtem Charme erlegen wäre.
Lucian, der seinen Bruder vollkommen ignorierte, nickte Annie zu, als er sich ihr gegenüber hinsetzte. »Ich freue mich, dass Ihnen gestern nacht nichts zugestoßen ist, Miss Trevarren. Tatsächlich sind Sie so schön wie eh und je – vielleicht sogar noch schöner, aus lauter Freude, überlebt zu haben.«
Rafaels Ärger nahm zu bei diesen Worten und verdoppelte sich, als Annie, die kleine Närrin, Lucian ein strahlendes Lächeln schenkte. »Danke«, sagte sie geziert.
Der Prinz legte seine Serviette beiseite, und sein Stuhl verursachte ein schabendes Geräusch auf dem Steinboden, als er ihn zurückschob. »Kommen Sie, Miss Trevarren«, sagte er knapp. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, hier herumzusitzen und Ihnen beim Essen zuzuschauen.«
Zu Rafaels Entzücken errötete Annie vom Ausschnitt ihres Spitzenmieders bis zu den Haarwurzeln. Bewusst langsam und widerstrebend schob sie ihren Teller zurück, obwohl sie bisher kaum Interesse für ihr Essen bewiesen hatte, und stand auf.
»Bitte entschuldigen Sie mich«, sagte sie zu Lucian, in einem leisen, vertraulichen Ton, der Rafael aus der Konversation auszuschließen schien. »Der Prinz hat befohlen, dass ich heute den ganzen Tag in seiner Nähe bleiben muss.«
Lucians Ärger verriet sich klar in seinem Blick; Rafael schaute emotionslos zu, wie sein Bruder seinen Zorn hinunterschluckte. »Was soll das heißen?«, fragte er mit kalter Höflichkeit. Als Rafael nichts erwiderte, fügte er hinzu: »Ich verlange eine Erklärung!«
Rafael seufzte. »Tatsächlich? Wie schade, dass du keine erhalten wirst.« Mit diesen Worten nahm er Annies Arm und schob sie zur Tür, so schnell, dass sie sich beeilen musste, um mit ihm Schritt zu halten.
Lucian folgte ihnen nicht, aber Rafael spürte seinen Blick auf seinem Rücken. Er hasst mich, dachte er ohne großes Bedauern. Die Entfremdung zwischen ihm und Lucian bedrückte ihn manchmal, aber er hatte gelernt, damit zu leben.
Annie versuchte gar nicht erst, sich ihm zu entziehen – sie verfügte über geradezu königliche Würde –, aber sie presste die Lippen zusammen und schwieg. Rafael hatte den Eindruck, dass sie ihren dramatischen Abgang vielleicht sogar ein bisschen auskostete. Sie war ihm ein Rätsel, das stand fest, und seine eigenen Reaktionen auf sie waren es auch.
Rafael wünschte plötzlich, sie nach einer kurzen Strafpredigt entlassen zu haben, anstatt sich den ganzen Tag mit ihr zu belasten. Aber dazu war es jetzt zu spät.
Zwei seiner Kabinettsminister warteten bereits, als sie den großen Saal betraten, von dem aus Rafael seine unführbaren Regierungsgeschäfte führte.
Hier entzog Annie ihm ihren Arm und schwebte majestätisch zum Kamin hinüber; ihr gelbes Kleid schimmernd wie ein warmer Sonnenstrahl in dem ansonsten düsteren Raum. Dort raffte sie in einer anmutigen Geste ihre weiten Röcke, ließ sich auf einem steifen, hochlehnigen Stuhl nieder und faltete die Hände.
Die älteren Herren schienen verblüfft, eine Frau im Ratssaal vorzufinden, aber keiner von ihnen erhob Einwände. Stattdessen nahmen sie ihre Plätze vor Rafaels mächtigem Schreibtisch ein, einem der ältesten und wertvollsten Möbelstücke in der Burg, und taten so, als ob Annie nicht vorhanden wäre.
Rafael räusperte sich und strich sich mit steifer, wunder Hand über sein Haar. Es geschieht dir recht – dafür, dass du dich wie ein idiotischer Despot verhalten hast, dachte er. Er hatte wichtige Angelegenheiten zu regeln, und Annie stellte eine beträchtliche Ablenkung für ihn dar ...
»Welche Neuigkeiten bringt ihr aus Morovia?«, fragte er die Besucher, seine Stimme eine Spur lauter als gewöhnlich und ein bisschen schroffer auch.
Morovia, die Landeshauptstadt, lag am Mittelmeer wie die Burg von St. James, und es war nur ein kurzer Ritt bis in die Stadt. Doch obwohl sich dort der Palast befand und der formelle Sitz der Bavianer Regierung, suchte Rafael die von hohen Mauern umgebene Stadt nur selten auf; sie enthielt zu viele schmerzliche, aber auch bittersüße Erinnerungen für ihn.
»Im Moment herrscht Ruhe«, sagte von Freidling, der Gesandte aus Bavias nördlicher Provinz. Sein Blick glitt dabei zu Annie, die in kühlem Schweigen auf der anderen Seite des Raums an ihrem Platz saß, und kehrte dann zu Rafael zurück.
Rafael war nicht beruhigt von den Nachrichten, die von Freidling überbrachte. Es hatte auch »Ruhe« in der Stadt geherrscht, kurz bevor Georgiana erschossen worden war. »Keine Gewalttätigkeiten also?«, fragte er in einem Ton, der deutlich sein Misstrauen verriet.
Von Freidling und Butterfield wechselten einen Blick.
»Es hat einen Zwischenfall in Miss Covingtons Residenz gegeben, Euer Hoheit«, gestand Butterfield äußerst widerstrebend. Auch er warf jetzt einen verstohlenen Blick auf Annie.
Rafael beugte sich erschrocken vor, kalte Angst breitete sich in seinem Magen aus. Felicia Covington war seine Geliebte gewesen im Jahr nach Georgianas Tod, und obwohl ihr Verhältnis sich längst in reine Freundschaft verwandelt hatte, empfand er noch sehr viel für sie. Falls Felicia etwas zustieß, würde sein Gewissen ihm für den Rest seines Lebens keine Ruhe mehr lassen.
»Was für eine Art von Zwischenfall?«, fragte er mühsam beherrscht.
Von Freidling bewegte sich unbehaglich auf seinem Stuhl. »Rebellen versuchten einzubrechen. Mr. Barretts Männer konnten sie jedoch vertreiben, und Miss Covington ist nichts zugestoßen.«
Rafael war nicht beruhigt. Wenn er bessere Maßnahmen getroffen hätte, um Georgiana zu schützen, wäre sie jetzt noch am Leben. »Ich möchte, dass sie sofort hierhergebracht wird! Unter bewaffneter Eskorte selbstverständlich.«
Keiner der beiden Männer erhob Einspruch, aber aus dem Augenwinkel sah Rafael, wie Annie sich gespannt auf ihrem Stuhl vorbeugte. Sämtliche Anzeichen würdevoller Auflehnung waren aus ihrem Gesicht verschwunden, ersetzt von einem misstrauischen, nachdenklichen Ausdruck.
Und Rafael kam zu einer Einsicht, die ihn sehr beunruhigte.
Annie war bestürzt über das, was sie in Rafaels Gesicht sah und in seiner Stimme hörte, als er und die Besucher über die mysteriöse Miss Covington sprachen. Es war nicht zu übersehen, wie wichtig diese Frau dem Prinzen war, schon gar nicht nach seinem ausdrücklichen Befehl, sie auf die Burg zu bringen.
Miss Covington war zweifellos sehr schön und kultiviert, und der Nachdruck, mit dem Rafael gesprochen hatte, bewies, dass eine enge und vermutlich auch intime Bindung zwischen ihnen bestand.
Annie hätte am liebsten geweint bei der Entdeckung, obwohl sie wusste, dass die Neuigkeiten sie eigentlich nicht überraschen dürften. Es war vollkommen normal für einen Mann wie Rafael, mindestens eine Geliebte zu haben, es war ein Brauch, der in den Oberklassen üblich war. Mehrere der Freunde ihres Vaters hielten sich Mätressen; Charlotte Trevarren dagegen hatte ihrem Mann einen langsamen und qualvollen Tod versprochen, falls er je den Fehler begehen sollte, sein Ehegelübde zu brechen. Anscheinend hatte er sich ihre Worte zu Herzen genommen, denn soweit Annie sagen konnte, war die Leidenschaft, die ihre Eltern miteinander verband, stürmisch wie eh und je.
Um ihre bedrückte Miene zu verbergen, falls Rafael in ihre Richtung schaute, stand Annie auf und kehrte ihm den Rücken zu, während sie so tat, als betrachtete sie den Raum. Die Wände waren kahl und wiesen nichts von den Gemälden, Wandteppichen und goldgerahmten Spiegeln auf, die üblich für solche Säle waren, und obwohl der Raum sehr groß war, standen auch fast keine Möbel darin. Das Einzige, was im Überfluss vorhanden schien, waren Bücher, sehr alte, mit brüchigen Rücken, und andere, die noch sehr neu aussahen.
Während Annie vor dem bleigefassten Fenster stand und in den sonnigen Garten hinausschaute, kämpfte sie gegen das plötzliche und absolut lächerliche Bedürfnis an, zu weinen, der Gefühle wegen, die Rafael dieser Miss Covington entgegenzubringen schien. Sie, Annie, war eine Närrin gewesen, sich in ihn zu verlieben, und naiv, zu glauben, dass ein so vitaler Mann wie er sich keine Geliebte hielt.
Dabei war es keineswegs so, als ob Annie erwartet hätte, während ihres Besuchs in Bavia von Rafael als Frau akzeptiert zu werden. Nein, für ihn war sie nichts als die lästige Schulfreundin seiner Schwester, die älteste der ungebärdigen Trevarrentöchter, und dies natürlich erst recht nach ihrer nächtlichen Eskapade auf dem Wehrgang. Im Nachhinein betrachtet, erschien ihr diese Episode jetzt nicht nur töricht, sondern sogar auf elende, jammervolle Weise kindisch.
Annie dachte an Johanna von Orléans, die sie bewunderte, und bemühte sich, stark zu sein. Sie hatte immer gewusst, dass ihre Liebe zu Rafael keine Erwiderung finden würde, und hatte sich längst auf ein Leben als alte Jungfer eingestellt. Alles, was sie sich von diesem kurzen Besuch in St. James erhoffte, war eine Sammlung schöner Erinnerungen, die ihr die einsamen Jahre, die vor ihr lagen, erleichtern sollten.
Warum tat es dann so weh, zu erfahren, dass Rafael eine gewisse Miss Covington liebte?
Annie war sehr erleichtert, als die Besprechung endete und die beiden Abgesandten gingen. Vielleicht würde Rafael nun seine Entscheidung, den ganzen Tag in seiner Nähe bleiben zu müssen, rückgängig machen und sie gehen lassen. Im Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als allein zu sein, am liebsten in einem der Gärten, um dort ihre Emotionen unter Kontrolle bringen und sich zu beruhigen.
Als sie Rafaels Blick auf sich spürte, drehte sie sich zu ihm um, obwohl sie das eigentlich nicht wollte.
»Annie ...«, begann er rau, um sich dann mit den Fingern durch das Haar zu streichen und den Kopf zu schütteln wie in Antwort auf eine stumme, innere Frage hin. »Lucian und ich hatten uns zum Fechten verabredet ...«
Annies berühmtes Temperament wallte plötzlich wieder auf. »Dann«, sagte sie nach einem tiefen Atemzug, »habe ich vielleicht das Vergnügen, mitanzusehen, wie Ihr von kaltem Stahl durchbohrt werdet!«
Rafael lachte, und die Spannung wich ein wenig. »Mag sein«, gab er zu, nahm wieder ihren Arm und führte sie aus dem kahlen Saal. »In der Zwischenzeit jedoch wollen wir sehen, ob Sie sich benehmen können.«
»Ihr beurteilt mich zu streng, Hoheit«, sagte Annie gereizt, während sie sich beeilte, um mit ihm Schritt zu halten. »Ich habe schließlich nur einen Fehler gemacht, während Ihr so tut, als hätte ich ein ganzes Leben voller Untugenden hinter mir!«
Rafael zog eine dunkle Braue hoch und bedachte Annie mit einem knappen Lächeln. »Phaedra hat mir oft aus St. Apasia geschrieben«, bemerkte er. »Meistens natürlich nur, um mich um Geld zu bitten, aber sie hat mir auch von Ihnen geschrieben, sehr liebevoll zwar, aber mit der Bemerkung, dass Sie der Schrecken aller Nonnen in diesem altehrwürdigen Institut waren.«
Annie hoffte, dass die Hitze in ihren Wangen sich nicht auf ihrer Haut abmalte. Wenn sie Phaedra wiedersah, würde sie ihr einiges zu sagen haben über Freundschaft und Vertrauen. Denn schließlich war Annie in ihren eigenen Briefen an ihre Familie niemals so treulos gewesen, auch nur ein einziges der zahllosen Missgeschicke der Prinzessin zu erwähnen!
Rafael und Annie stiegen die breite Treppe hinunter und durchquerten schweigend die große Eingangshalle. Erst als sie den Hof erreichten, wo Lucian bereits mit zwei Floretts wartete, sprach Rafael wieder.
»Setzen Sie sich«, wies er Annie an, »und rühren Sie sich nicht vom Fleck, bis ich Ihnen die Erlaubnis dazu gebe.«
»Also wirklich, Rafael«, protestierte Lucian, bevor Annie etwas erwidern konnte. »Findest du nicht, dass du ein bisschen zu streng mit ihr bist? Eines Tages werden die Bauern dich wegen deiner Tyrannei auf die Guillotine schleppen, genau wie damals den armen Ludwig von Frankreich.«
Rafael zog seinen grünen Samtrock aus, unter dem er ein weites Baumwollhemd trug, wie Annies Vater sie bevorzugte. Das Lächeln, das er seinem Bruder zuwarf, war alles andere als freundlich. »Es ist mein Vorrecht, streng zu sein«, erklärte er. »Denn immerhin bin ich der Prinz von Bavia. Und was aus mir wird, braucht glücklicherweise nicht deine Sorge zu sein.«
Annie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Lucian ließ ihr keine Gelegenheit dazu.
Er warf eins der Florette seinem Bruder zu, der es geschickt auffing und mit einer raschen Handbewegung durch die Luft wirbelte.
»Könnte es eine größere Freude für das Volk geben, als wenn sein Prinz sich selbst ins Grab bringt, um dort zu verrotten?«, spottete Lucian mit einer angedeuteten Verbeugung. »Aber wer bliebe dann noch übrig, um unser einst so schönes Land zu trauern?«
Rafael erwiderte nichts, aber Annie sah einen Muskel an seinem Kinn zucken.
Danach begaben sich die Fechter in eine ihnen ureigene Welt, zu der sie keinen Zugang hatte, an einen gewalttätigen, trügerischen Ort, wo Gesetze herrschten, die nur die beiden Männer kannten. Wahrscheinlich hätte sie sich jetzt unbemerkt entfernen können, doch eine grimmige Faszination und ein bittersüßer Schmerz in ihrem Herzen fesselten sie an die marmorne Bank.
Das erste Klirren der Florette löste eine Gänsehaut auf Annies Rücken aus, und sie hielt den Atem an, als der Zweikampf von Minute zu Minute wilder wurde. Funken sprühten von den dünnen Klingen, und sogar die Luft schien geladen mit der Spannung, doch der Kampf ging unermüdlich weiter und fand kein Ende.
Zuerst schien ein Bruder die Oberhand zu haben, dann der andere. Trotz seiner zierlichen Statur kämpfte Lucian tapfer, parierte, stieß und drängte Rafael zurück, bis die Gartenmauer keinen weiteren Rückzug gestattete.
Es war offensichtlich, dass mehr als normale Rivalität zwischen den beiden Kämpfern herrschte, und das verblüffte Annie ebenso sehr, wie es sie erschreckte. Ihre Onkel im fernen Staate Washington, die alle Sägewerksbesitzer waren, trugen ständig irgendwelche Prügeleien untereinander aus – es war eine Art Familiensport –, aber die Kämpfe waren immer gutmütiger Natur, begleitet von deftigen Beleidigungen und viel Gelächter. Und Annies eigene Schwestern, Gabriella, Melissande, Elisabeth und Christina, waren ebenfalls alle viel jünger als sie selbst, aber sie liebte sie von Herzen, obwohl sie sie mit ihren Neckereien manchmal sehr verärgerten, und doch bezweifelte sie nicht, dass sie sterben würde, um sie zu beschützen, sollte es einmal nötig sein.
Rafael und Lucian hingegen hassten sich, das war offensichtlich.
Das Gefecht setzte sich, wie Annie schien, eine kleine Ewigkeit lang fort, und erst dann machte Rafael einen Ausfall, und Lucians Florett flog klappernd auf die Steine des kleinen Wegs, der durch den Garten führte.
Der Prinz keuchte schwer, sein Hemd war feucht vor Schweiß, als er beobachtete, wie Lucian mit scharlachrotem Gesicht seine Waffe aufhob.
Die reinste Mordlust stand in Lucians Blick, als er sich, das Florett in der Hand, aufrichtete und Rafael ansah. Ein eigenartiger Austausch fand zwischen den beiden Brüdern statt, obwohl keiner von beiden sich bewegte oder sprach; es war etwas so Unfassbares und auf seine Weise ebenso Gewalttätiges, wie es ihr Kampf gewesen war.
»Ein andermal vielleicht, Lucian«, sagte Rafael, und Annie glaubte, einen leisen Schmerz aus seiner Stimme herauszuhören.
Lucian zögerte und schien etwas sagen zu wollen, doch dann wandte er sich nur abrupt ab und verließ den Hof.
Annie schaute Rafael an, froh, dass die Begegnung vorüber war, und erstaunt, dass beide Männer unversehrt daraus hervorgegangen waren.
»Ich würde jetzt gern gehen«, erklärte sie.
Rafael schien zunächst überrascht, dass sie noch immer auf der Bank saß, doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, erwiderte er so entschieden, dass Annie keinen weiteren Widerspruch mehr wagte. »Sie bleiben hier.«
Mit zitternden Knien stand sie auf. »Eure Hände, Hoheit«, sagte sie. »Ihr habt sie wieder verletzt.« Rasch ging sie auf ihn zu und nahm seine linke Hand in ihre. In der rechten hielt er noch immer das Florett.
»Ihr blutet«, wisperte sie, während sie die verletzte Hand betrachtete.
Als sie den Blick zu ihm erhob, nahm sie eine zornige Verwundbarkeit in seinen Augen wahr und vermutete, dass er ihr gern seine Hand entzogen hätte, aber wusste, dass er dazu nicht imstande war. Es war für beide eine Überraschung, als er einen Finger unter ihr Kinn legte, den Kopf senkte und sie küsste.
Zu Anfang war es nichts als ein zaghafter Versuch, und Rafaels Lippen streiften Annies nur. Doch dann, ganz plötzlich, wurde die Liebkosung intensiver. Ein süßes Feuer durchzuckte Annie und löschte jegliches Bewusstsein in ihr aus – für alles andere außer Rafaels warmem Mund auf ihrem.
Der kurze, stürmische Kuss hatte Annie für immer verändert; das wusste sie selbst jetzt schon in diesem Augenblick.
Endlich zog Rafael sich von ihr zurück und stieß einen unterdrückten Fluch aus. »Es tut mir leid, Annie«, sagte er, wandte sich brüsk ab und ließ sie stehen.
Ihre Gefangenschaft war beendet, und doch hatte sie gerade erst begonnen. Ihr ganzer Körper zitterte noch unter der Wirkung von Rafaels Kuss; seine Worte hallten in ihren Ohren wider: Es tut mir leid, Annie ...
Als sie wieder imstande war, sich zu bewegen, schlug sie eine Hand vor den Mund, um ihr Schluchzen zu ersticken, und floh in den Garten. Überall blühten Rosen und verströmten ihren Duft, aber Annie bezog weder daraus Freude noch aus der Schönheit der Blüten. Rafael hatte alles verschlimmert mit seinem Kuss, hatte Gefühle in ihr erweckt, die sie sich niemals hätte träumen lassen, und ihr einen Vorgeschmack davon gegeben, was es bedeuten würde, ein Leben ohne ihn zu verbringen.
Es war eine Aussicht, die sie, so unerschrocken sie auch war, nicht ertragen konnte.
Niedergeschlagen ließ sie sich in das weiche, duftende Gras sinken und weinte. Als ihre Tränen verbraucht waren und ein heftiger Schluckauf sie schüttelte, spürte sie plötzlich Hände auf ihren Schultern und schaute auf in Lucians Gesicht.