Suter, Business Class II - Martin Suter - E-Book

Suter, Business Class II E-Book

Martin Suter

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Beschreibung

Die Welt teilt sich in die, die überholen, und die, die überholt werden. Wer möchte da nicht auf der richtigen Spur sein. Was es dabei zu beachten gilt, erfährt man in großer Spannbreite in den neuen Geschichten über eine stressgeplagte Zunft.

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Seitenzahl: 171

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Martin Suter

Business Class

Neue Geschichtenaus der Weltdes Managements

Die Erstausgabe erschien 2002 im Diogenes Verlag

Sämtliche Kolumnen wurden unter denselben Titeln zuerst veröffentlicht

in der Weltwoche, Zürich, im Zeitraum September 1999 bis April 2001

Covermotiv: Foto von Francisco Cruz

Copyright © INCOLOR AG/Superstock

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23457 2

ISBN E-Book 978 3 257 60625 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Die Idee  [7]

Ein Opfer der Willkür  [10]

Höhener und das Drogenproblem  [13]

Neerachers Geheimnis  [16]

Kündigs Martyrium  [19]

Biologisch-chemischer Schlagabtausch  [22]

Wie überlebe ich den Wandel?  [25]

Bernasconis Durchbruch  [28]

Das Partnerproblem  [31]

Zurbrügg im Weihnachtszauber  [34]

Nachts im Chalet Nevada  [37]

Der Mensch im Mittelpunkt  [40]

König Strickler  [43]

Ziegler denkt das Undenkbare  [46]

Die Kunst, Schaad zu spielen  [49]

Liebhart an der Basis  [52]

Das Referat Breitmaier  [55]

Diethelms Traumkarriere  [58]

Häberle inkognito  [61]

Ein wichtiger Anruf (I)  [64]

Ein wichtiger Anruf (II)  [67]

Les hommes d’affaires  [70]

Eine private Restrukturierung (I)  [73]

Eine private Restrukturierung (II)  [76]

Eine private Restrukturierung (III)  [78]

Eine private Restrukturierung (IV)  [81]

Pech für Rathgeb  [84]

Märchys Appetithemmer  [87]

Wacker privat  [90]

Effizienzsteigerung durch Internet-Banking  [93]

Lobsigers Schicksalsabend (I)  [96]

Lobsigers Schicksalsabend (II)  [99]

Lobsigers Schicksalsabend (III)  [102]

Nie mehr Prosecco  [105]

Felbers werden integriert  [108]

Die Herren Knutti, Seibler und Hendrix  [111]

Geiser ist nicht neidisch  [114]

Schreiber in der ›Weissen Rose‹ (I)  [117]

[6] Schreiber in der ›Weissen Rose‹ (II)  [120]

Die Schublade des Schreckens  [123]

Ein Mann sucht Trost  [126]

Führungskraft Dössegger  [129]

Wie sag ich es Anita  [132]

Herders weiche Qualifikationen (I)  [135]

Herders weiche Qualifikationen (II)  [138]

Buchmann die Meinung gesagt  [140]

Die Kursrelevanz des Bürstenkopfs  [143]

Ein Bereichsverschmelzungs-gau  [146]

Was Vonberg passiert ist  [149]

Topfner und Wedlinger  [152]

Die kürzeste Verbindung (I)  [155]

Die kürzeste Verbindung (II)  [158]

Die kürzeste Verbindung (III)  [161]

Boglers Dilemma  [164]

Das Schöne an der ›Rose‹  [167]

Ein Lehrstück der Personalberatung  [170]

Irnigers Halloween  [173]

Felberger rettet die gerwag  [176]

Die alten Tage des ›Grand‹  [179]

Der richtige Moment  [182]

Bitte, bitte nicht stören  [185]

Unter Gleichen  [188]

Die letzte Männerdomäne  [191]

Weihnachten ignorieren  [194]

Fern der Heimat  [198]

Unter Nichtrauchern  [201]

Ein philosophischer Showdown  [204]

Perlers Sonntagmorgen  [207]

Werdbühlers Autorität  [210]

Buchser himself  [213]

Der kleine Wetterfrosch (I)  [216]

Der kleine Wetterfrosch (II)  [219]

Der kleine Wetterfrosch (III)  [222]

Die Untergrabung der Autorität  [225]

Déformation professionnelle  [228]

[7] Die Idee

»Ich weiß nicht, was die Leute haben«, sagt Scheibler wie meistens, wenn er aus der Dusche kommt, »das ist doch ein wunderbares Produkt.« Er meint das Hair-and-Body-Gel BOTH, von dem dreißig Packungen auf dem Badezimmerschrank stehen und ein paar Schachteln im Keller. Einen der teuersten Flops in der an teuren Flops reichen Geschichte seines Arbeitgebers.

Seine Frau Marianne massiert mit einstudierten Bewegungen ihre Tagescreme ins Gesicht. Anstatt wie immer mit »keine Ahnung« zu antworten, sagt sie: »Vielleicht liegt es am Namen.«

»Der Name ist das Konzept«, erklärt Scheibler. »BOTH im Doppelsinn von Hair AND Body und Man AND Woman.«

»Dann liegt es eben am Konzept«, stellt Marianne fest.

Weil ihr Scheiblers beleidigtes Schweigen beim Frühstück auf die Nerven geht, nimmt sie das Thema noch einmal auf. »Wenn es nicht am Produkt liegt, dann muß es ja am Namen und am Konzept liegen. Lanciert es doch einfach unter anderem Namen neu.«

Noch als er im Treppenhaus auf den Lift wartet, schüttelt Scheibler den Kopf.

»Das klingt jetzt vielleicht blöd«, sagt er später bei einer [8] Produktbesprechung mit Trachsel, seinem Chef, »aber warum versuchen wir keinen Relaunch von BOTH. Unter neuem Namen und Konzept.«

Die Art, wie ihn Trachsel anschaut, läßt ihn sagen: »Nur für den Papierkorb.«

Bei einem informellen Tour d’horizon mit seinem Vorgesetzten Kaeslin sagt Trachsel vorsichtig: »Manchmal denke ich, unter einem anderen Namen und mit einem neuen Konzept wäre ein Relaunch von BOTH vielleicht gar keine so abwegige Idee. Ich meine, nach allem, was wir in die Produktentwicklung gesteckt haben.«

Kaeslin läßt den Gedanken einwirken. Dann sagt er: »Relaunches unter anderem Namen sind immer problematisch, aber wenn die Randbedingungen stimmen…«

Bei einem strategischen Mittagessen mit dem CEO Schweighauser erklärt Kaeslin außer Traktanden: »Ich hatte da kürzlich eine Idee, über die wir vielleicht ein paar Worte verlieren könnten: Falls die Randbedingungen stimmen, würde ich einem Relaunch von BOTH unter neuem Namen und Konzept eine akzeptable Chance geben.«

Am gleichen Abend vor dem Einschlafen fragt Schweighauser seine Frau Trudi: »Was hältst du von meiner Idee, BOTH unter anderem Namen neu zu lancieren?«

Trudi läßt die Zeitschrift aufs Deckbett sinken. »BOTH? Ist das das Duschgel, das nach Dorfcoiffeur riecht?«

Am nächsten Tag findet Schweighauser eine Gelegenheit, zu Kaeslin nebenbei zu bemerken: »Ihre Schnapsidee vom BOTH-Relaunch schlagen Sie sich bitte aus dem Kopf.«

»Das habe ich Trachsel auch gesagt, die Idee stammt von [9] ihm«, antwortet Kaeslin. Zu Trachsel sagt er kurz darauf: »Verschonen Sie mich in Zukunft mit Ideen wie dem BOTH-Relaunch.«

»Scheiblers Idee«, präzisiert Trachsel.

»Was ist los?« erkundigt sich Marianne beim Abendessen, »warum redest du nicht mit mir?«

»Das fragst DU mich?« bellt Scheibler.

[10] Ein Opfer der Willkür

Frenkel sitzt an seinem Schreibtisch und studiert die Hände, die vor ihm auf der Schreibunterlage liegen. Dem Ehering und der Armbanduhr nach zu schließen handelt es sich um seine eigenen. Aber um ganz sicherzugehen, müßte er die Energie aufbringen, sie zu bewegen.

Vor einer halben Stunde oder so hat ihn Neuhaus in sein Büro zitiert und gefragt: »Haben Sie in letzter Zeit über Ihre Zukunft nachgedacht?« Und als er mit der Antwort etwas zögerte, hinzugefügt: »Ich nämlich schon.«

Das hätte eine gute Nachricht sein können, wenn Neuhaus dazu ein anderes Gesicht gemacht hätte. In der Regionaldirektion gab es eine Vakanz zu besetzen, und Frenkel hatte sich recht gute Chancen ausgerechnet. Er war gerade gestern mit Lotti wieder einmal die ganze Kandidatenliste durchgegangen, bis nur noch er übriggeblieben war.

Aber Neuhaus hat das falsche Gesicht dazu gemacht. Seither sitzt Frenkel da und versucht sich zu erinnern, wie die Befehle lauten, mit denen das Hirn die Hände bewegt.

Er hat Leute gekannt, die rausgeschmissen worden waren. Nicht die, die er selbst rausgeschmissen hat. Leute auf seinem Level. Leute in Positionen, die sie für gefestigt hielten. Alle waren sie ihm schlagartig fremd geworden. So fremd wie diese zwei Hände vor ihm.

[11] Nicht daß er sie gemieden hätte. Er hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Er hatte ihnen auf die Schulter geklopft und gesagt: »Wenn ich etwas für dich tun kann…« Aber der Grundstock an Gemeinsamkeiten hatte sich auf einen Schlag erschöpft. Die Kluft zwischen den Erfolgreichen und den Scheiternden hatte sich aufgetan.

Er fragt sich, ob auch ungerechtfertigte Kündigungen bei ihm diese Reaktion ausgelöst hatten. Aber so sehr er sich anstrengt, er kann sich nicht an eine ungerechtfertigte Kündigung erinnern. Nicht an eine wirklich ungerechtfertigte. Es gab ein paar Härtefälle, das schon. Aber bereits auf den zweiten Blick waren sie alle nachvollziehbar geworden. Und bei noch näherer Betrachtung geradezu zwingend. Das Mitleid für den Gekündigten war bald von der Bewunderung für den Durchblick des Kündigenden überlagert worden.

Frenkel beobachtet, wie sich die rechte Hand zur Faust schließt, einmal heftig auf die Tischplatte schlägt und sich dann wieder flach auf den Tisch legt, wie eine Katze, die gestreichelt werden will.

Er, Frenkel, rausgeschmissen. Er kann sich an keinen einzigen vergleichbaren Akt der Willkür erinnern. In seiner ganzen Karriere nicht. Objektiv. Er, Frenkel, ist der einzige Fall einer auch auf den zweiten und dritten Blick ungerechtfertigten Kündigung, der ihm je zu Ohren gekommen ist. Angenommen, er wäre nicht Frenkel, sondern zum Beispiel Rossier oder Schärli, und er würde hören, daß man Frenkel gefeuert hat, er würde es nicht glauben. Er würde zu Neuhaus gehen und ihn fragen, ob er von allen guten Geistern verlassen sei.

[12] Dieser Gedanke gibt ihm die Kraft, seine Hände wieder zu bewegen. Er stemmt sich aus dem Stuhl und geht in den Gang.

[13] Höhener und das Drogenproblem

Zuerst denkt Höhener, es sei ein Rest Schokolade, der da heruntergefallen ist, als er den Garderobenspiegel geraderückt. Aber was hat ein in Silberpapier eingewickelter Schokoladenrest hinter dem Garderobenspiegel zu suchen?

Die Schokolade, die Kurt Höhener aus dem Silberpapier schält, läßt sich nach Farbe und Konsistenz keiner ihm bekannten Marke zuordnen. Er riecht daran und gelangt zur Überzeugung, daß es sich um etwas anderes handeln muß. Aber um was?

Es ist vor sieben, Paula und Reto schlafen noch. Höhener läßt das Silberpapier in die Tasche gleiten und nimmt sich vor, der Sache später auf den Grund zu gehen.

Im Büro, als er den Schlüsselbund aus der Hosentasche nehmen will, um die Schreibtischschublade aufzuschließen, kommt ihm das undefinierbare Ding wieder in die Hände. Er wickelt es aus und läßt es auf dem Silberpapier neben dem ledernen Rahmen mit dem Foto von Paula, Reto und ihm selbst liegen. Erst als am Nachmittag ein junger Sachbearbeiter während des Qualifikationsgesprächs auf das Silberpapier schielt, kommt es ihm wieder in den Sinn.

»Haben Sie eine Ahnung, was das sein könnte?« erkundigt sich Höhener.

[14] Der Sachbearbeiter greift nach dem Stück und riecht daran. »Roter Libanon, wenn Sie mich fragen.«

Höhener gibt sich noch zwei, drei Blößen, bis sich herausstellt, daß es sich nach Meinung des Sachbearbeiters um Haschisch handelt. Er korrigiert die Qualifikation des Mannes herunter. Dessen Sachkenntnisse geben ihm zu denken.

Auch wenn Höhener kein Drogenfachmann ist, naiv ist er nicht. Als Vater eines Sechzehnjährigen darf er vor dem Drogenproblem die Augen nicht verschließen. Aber ein Schock ist es trotzdem. Ausgerechnet Reto, um den er sich bis heute nur die Sorge gemacht hat, er sei etwas zu angepaßt.

Es ist nicht nur der Tatbestand, der ihm zu schaffen macht, sondern auch die Frage, wie er ihn Paula beibringt. Sie gehört nicht zu den Frauen, die den Tatsachen ins Auge sehen. Die Drogenfrage hat in ihren pädagogischen Diskussionen bisher keine Rolle gespielt. Höhener hatte der sexuellen Aufklärung Priorität eingeräumt. Und die Aufgabe, soviel konnte er für sich in Anspruch nehmen, zur beidseitigen Zufriedenheit von Mann zu Mann gelöst.

Aber diesmal muß er Paula involvieren. Es handelt sich um eine generelle Erziehungspanne und fällt somit in ihr Gebiet. Sie wird es schwernehmen und sich als persönliches Versagen vorwerfen. Und ganz kann er sie, wenn er ehrlich ist, von diesem Vorwurf nicht befreien.

Höhener wartet, bis Reto sich in die Junge Kirche verabschiedet hat, schenkt Paula und sich ein Glas Dôle ein und sagt: »Paula, du mußt jetzt ganz tapfer sein: Ich habe [15] Drogen im Haus gefunden. Unser Sohn Reto konsumiert Haschisch.«

Paula schaut auf das Silberpapier, das ihr Mann aufs Rauchtischchen gelegt hat. »Reto?« lächelt sie. »Reto kifft nicht, Kurt.«

Höhener schüttelt milde den Kopf. »Mütter, Paula, Mütter. Sie kennen ihre Kinder nicht.«

[16] Neerachers Geheimnis

Keine zehn Minuten zu Fuß vom Hauptsitz der Global Bank liegt das ›Rössli‹. Acht Tische, Stammtisch inbegriffen, eine Küche, die schon für drei zu eng ist, und eine Lüftung, die bei jeder Inspektion beanstandet wird.

Kurz vor zwölf füllt sich das Lokal bis auf den letzten Platz, um halb zwei sind nur noch ein paar Überhocker an ihrem Kaffee Luz. Sobald die gegangen sind, geht die Serviertochter in die Zimmerstunde. Die Wirtin macht für zwei Stunden Durchzug, um das Gemisch aus Rauchschwaden und Küchengerüchen zu vertreiben.

Ab fünf kommen die ersten zum Feierabendschoppen. Handwerker, Beamte, Büroangestellte, nach halb sieben kommen noch ein paar Verkäuferinnen des nahen Supermarktes dazu, gegen acht beginnt sich das Lokal zu leeren. Ab und zu verirren sich ein paar Touristen ins ›Rössli‹, manchmal ißt ein Stammgast in Begleitung seiner Frau à la carte, fast immer läuft an ein, zwei Tischen ein Kartenspiel. Es ist selten später als zehn, wenn die Serviertochter die Stühle auf den Tisch stellt und den Boden naß aufnimmt.

Das ›Rössli‹ ist nicht gerade das typische Stammlokal für einen Mann wie Neeracher. Und trotzdem vergeht kaum ein Werktag, an dem er nicht auftaucht. Immer in [17] Anzug und weißem Hemd und jeden Tag mit einer anderen Fliege. Unter den Stammgästen wird vermutet, daß der Mann dreißig bis vierzig Fliegen besitzt. Lily, die Serviertochter, hat einmal Buch geführt, aber irgendwann den Überblick verloren.

Die Anzahl Fliegen in seinem Besitz ist nicht die einzige persönliche Angabe, über die man im ›Rössli‹ auf Spekulationen angewiesen ist. Auch über Neerachers Beruf weiß man nichts Genaues. Nur, daß er in der Global Bank arbeitet, und zwar – soviel hat er einmal bei einem Fondue durchblicken lassen – in der obersten Etage. Was das bedeutet, ist allen klar, seit Lily sich vor Jahren in der Global Bank nach dem Wert ihres Goldvrenelis erkundigte. Sie studierte den Stockwerkplan, und da stand: 5. Stock Direktion.

So rasch sich das herumgesprochen hat, so wenig Aufhebens wird davon gemacht. Wenn ein Bankdirektor im ›Rössli‹ inkognito verkehren will, soll das dem ›Rössli‹ recht sein. Schon möglich, daß Neeracher von den Stammgästen respektvoller behandelt und von Lily aufmerksamer bedient wird. Aber er will keine Sonderbehandlung. Er nimmt meistens das Menü eins, trinkt zwei Bier oder einen Dreier Beaujolais und läßt ein kleines Trinkgeld zurück.

Direktor Neeracher ist einer wie du und ich. Und diese sympathische Bescheidenheit hat ihn zum Stolz des ›Rössli‹ gemacht. Wenn wieder einmal zwei Weltkonzerne fusionieren, ist es am Stammtisch ruhiger als sonst. Jeder nimmt Rücksicht auf Neeracher, dem an solchen Tagen anzusehen ist, wie direkt er in die Globalisierung involviert ist.

[18] Eines Tages will es der Zufall, daß der Heizungsmonteur Galmarini, ein langjähriger ›Rössli‹-Stammgast, von seiner Firma in die Global Bank geschickt wird. Im fünften Stock leckt ein Heizkörper.

Bereits als Galmarini aus dem Lift tritt, sieht er ihn. Er sitzt an einem kleinen Schreibtisch mit einem Schild, auf dem steht: F. Neeracher, Empfang.

[19] Kündigs Martyrium

Kündig hält nicht viel von Anlässen wie diesem. Daß er ihnen doch ab und zu Freizeit opfert, kommt indirekt der Familie zugute, die ja unter seiner Karriere nicht nur leidet. Der Personalmarkt in seiner Branche ist nicht sehr übersichtlich. Wer nicht ab und zu in Erscheinung tritt, wird im entscheidenden Moment übersehen.

Die Sichtbarkeit auf dem Personalmarkt ist der eine Grund, weshalb Kündig mit eng an den Körper gepreßten Ellbogen, einem Glas Rotwein und einem winzigen Schinkengipfeli in diesem überheizten Lokal steht.

Der andere Grund ist die Übersicht über denselben. Einer, der wie Kündig noch gut zwanzig Jahre Karriere vor sich hat, muß in touch bleiben. Und dafür eignet sich das Gedränge solcher Steh-Events hervorragend. Man kann sich an Leute herantreiben lassen, die normalerweise weit außerhalb der eigenen Reichweite liegen. Und profitiert erst noch von deren eingeschränkten Fluchtmöglichkeiten.

Kündig greift jedesmal zu, wenn sich ein Kellner mit Cocktailhäppchen vorbeiquetscht. Cocktailhäppchen erlauben ihm, bei der Wahl der Gesprächspartner das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand zu geben. Er kann durch pantomimisches Kauen jederzeit signalisieren, daß [20] er – so gerne er wollte – aus Gründen der Manierlichkeit gerade nicht sprechen kann.

Kündig schaut sich im Gedränge um und begegnet Knörrs Blick. Beide beißen erschrocken in ihr Häppchen und nicken sich heftig kauend zu. Aber nur in Kündigs Käseküchlein befindet sich ein kleines Stück der Edelstahltrommel einer Hochleistungs-Käseraspel. Es kommt genau ins Zentrum seiner größten Backenzahnamalgamfüllung zu liegen. Als er zubeißt, durchzuckt es ihn, wie wenn er auf ein unisoliertes Stromkabel gebissen hätte. Nur die prekären Platzverhältnisse hindern ihn daran, der Länge nach hinzuschlagen. Aber für einen kaum unterdrückten Aufschrei ist Platz genug.

Und damit erregt er – ausgerechnet – die Aufmerksamkeit von Habegger.

Habegger ist, was die Karriererelevanz für einen wie Kündig anbelangt, ein absolutes Schwergewicht. Noch nie hat ihm Kündig mehr als ein ratloses Nicken entlocken können, wenn er sich bei ähnlichen Anlässen an ihn heranmachen wollte. Und jetzt reagiert er auf Kündigs Aufschrei mit einem fast ebenso lauten Antwortschrei. Und steuert auf ihn zu.

Kündig macht den Fehler, die nahende Ohnmacht mit einem Schluck handwarmem Rotwein abwenden zu wollen. Die Flüssigkeit leitet die Stromschläge aus seiner Plombe in Sekundenbruchteilen zu allen anderen Plomben und über das Gaumensegel ins Hirn und in den Sehnerv. Durch den Tränenfilm sieht er Habegger mit ausgestreckter Hand näher kommen. Kündig versucht die elektrische Plombe mit der Zungenspitze zu isolieren. Die [21] Stelle schmeckt wie Quecksilber. Ein weiterer Stromschlag peitscht durch sein Nervensystem.

Habegger steht jetzt vor ihm. »Verzeihen Sie«, sagt er.

Irgendwie gelingt es Kündig zu antworten: »Aber ich bitte Sie, das ist doch nicht Ihr Fehler.«

Habegger schaut ihn verwundert an. Dann schiebt er sich an ihm vorbei und schüttelt jemandem die Hand, dessen Name im Pochen von Kündigs Plombe untergeht.

[22] Biologisch-chemischer Schlagabtausch

Als Schönle merkt, was Walker vorhat, ist es zu spät. Er sitzt bereits neben ihm auf 5 C in der vollbesetzten Fokker nach Amsterdam. Walker hat den Mund halb geöffnet und die Augen halb geschlossen, als ob er jeden Moment losniesen wollte. »Erkältet?« fragt Schönle. Walker nickt wehleidig.

Drei Tage vor Schönles großem Tag setzt sich Walker mit einer Erkältung doch tatsächlich neben ihn! Das kann nur Absicht sein. Er will verhindern, daß Schönle vor Zihlmann groß rauskommt. Er soll vor Zihlmann stehen, der eigens aus der Zentrale anreist, um seinen Vortrag zu hören, und keinen Ton herausbringen.

»Muß irgendwo Durchzug erwischt haben«, näselt Walker. Pah! Durchzug! Jedes Kind weiß inzwischen, daß »Erkältungen« von Viren übertragene katarrhalische Infekte sind. Viren, die durch Husten, Niesen oder Ausatmen in eng bestuhlten Flugzeugen übertragen werden.

Schönle läßt sich eine Tageszeitung reichen und öffnet sie so, daß sie ihn einigermaßen von Walker abschirmt. Die Maschine hat jetzt ihren Steigflug beendet, und die Geräusche aus Walkers Nasen-Rachen-Raum werden hörbar. Seine Nasenschleimhäute klingen produktiv. Immer wieder schneuzt er sich und stopft das benutzte [23] Papiertaschentuch in die Hosentasche, keine zehn Zentimeter neben Schönle. Der Plan ist durchsichtig: Die direkt durch die Atemwege freigesetzten Viren sollen durch diese im idealen Habitat aus feuchten Taschentüchern gezüchteten unterstützt werden.

Schönle ist überzeugt, daß sich Walker nicht nur absichtlich neben ihn gesetzt hat, sondern daß er auch die »Erkältung« in voller Absicht aufgelesen hat. Er hat wahrscheinlich in öffentlichen Verkehrsmitteln und bei Veranstaltungen die Nähe von niesenden und hustenden Virenträgern gesucht und gezielt deren verbrauchten Sauerstoff inhaliert.

Walker beginnt zu husten. Schönle merkt sofort, daß es sich nicht um den spontanen Husten des »Erkältungspatienten« handelt, sondern um ein forciertes Ausstoßen hochinfektiöser Viren. Der Mann gibt sich nicht damit zufrieden, Schönle für die Dauer des Vortrages außer Gefecht zu setzen. Er will ihn ganz ausschalten. Er sucht die Komplikation. Die Eskalation von der Nasen- und Rachenschleimhaut in die Nebenhöhlen, die Ohren und über die Luftröhre in Bronchien und Lunge. Der Mann zielt auf Nebenhöhlen-, Mittelohr-, Kehlkopf-, Luftröhrenentzündungen und eine Bronchitis, die in einer tödlich verlaufenden Lungenentzündung gipfelt.

Einen Moment erwägt Schönle, den Platz des dicken Mannes, der die Toilette aufgesucht hat, zu besetzen. Aber dieser kommt zurück, bevor er sich durchgerungen hat. So bleibt ihm nichts übrig, als das Erfrischungstüchlein als kombiniertes Atemschutz- und Desinfektionsmittel zu benützen. Er harrt kaum atmend bis Amsterdam aus und [24] deckt sich noch in der Flughafenapotheke mit schwerstem Geschütz ein.

Die Maßnahme erweist sich als Triumph der modernen Pharmakologie: Zwar geschwächt von den Nebenwirkungen der chemischen Kampfstoffe, aber aufrecht tritt Schönle zu seinem Vortrag an.

Zihlmann läßt sich wegen einer schweren Erkältung entschuldigen.

[25] Wie überlebe ich den Wandel?

Jean-Claude Iten ist überzeugt, daß die Anfrage von Leaders auch eingetroffen wäre, wenn er nicht dafür gesorgt hätte, daß die Personalabteilung ihren Mediaplan für Kaderstellen um die Stellenbeilage Leaders erweitert. Dazu ist das, was Iten zum Thema Wandel zu sagen hat, von zu allgemeinem Interesse. Das weiß man spätestens seit der Kadertagung in Bad Ragaz.

Damals hatte er mit seinem Vortrag »Wie überlebe ich den Wandel?« einiges Aufsehen erregt. Das Thema war geschickt gewählt. Die Fusionsgerüchte, die seit einigen Wochen im Umlauf waren, zehrten an den Nerven des Kaders. Die Kernaussage seines Referats war von einer solch frappanten Schlüssigkeit, daß er nachher beim Apéro Mühe hatte, seinen Weißwein nicht zu verschütten, so heftig wurde ihm auf die Schultern geklopft. Seither gilt er intern als DER Change-Management-Spezialist. Daß dieser Ruf früher oder später nach außen dringen mußte, lag für Iten auf der Hand.

Den Text auf 130Zeilen zu kürzen ist kein Problem. Hauptsache, die Kernaussage kommt durch.