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Im Hochsommer, wenn Touristen die Insel bevölkern, kann niemand ein Verbrechen gebrauchen. Das hält Hinnerk Hinnerkson vom Sylter Tageblatt jedoch nicht davon ab, einen Artikel über das angebliche Verschwinden eines Kollegen aus Flensburg zu veröffentlichen, der auf Sylt über »Umweltthemen« recherchieren wollte - Genaueres weiß niemand zu sagen. Als im Haus des Vermissten eingebrochen und dessen Großmutter schwer verletzt wird, wächst der Druck auf Kriminalkommissar Ed Koch und sein Team von der Westerländer Polizei. Schwebt der Journalist tatsächlich in Gefahr? War er einer brisanten Story auf der Spur? Auch privat steht Ed vor neuen Herausforderungen: Seit seine Tochter bei ihm eingezogen ist, gerät er ständig in Streit mit seiner Ex-Frau, und auch die Trennung von seiner ehemaligen Vorgesetzten Elsa macht Ed zu schaffen. Zu allem Überfluss wird ihm eine Untersuchung seines letzten Falls, einer Serie von Brandstiftungen, angekündigt. Hat Ed bei seinen Ermittlungen einen Fehler gemacht? Und dann wird im Siel am Rantumbecken eine Leiche gefunden …
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Seitenzahl: 297
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Max Ziegler
Sylter Sandflut
Der zweite Fall für Ed Koch
Kriminalroman
Kampa
Wir treiben durch Landschaften ohne Karten.
Wir streben auf Höhen, ohne ihre Weite zu erkennen. Ermessen die Ebenen so wenig wie die Abgründe der Täler. In der Endlosigkeit des Meeres fehlen uns die Maßstäbe.
Wir tasten voran.
Von Wellenkamm zu Wellenkamm.
Von Erinnerung zu Erinnerung.
Wir halten fragend inne.
Verwundert.
Verängstigt.
Verloren.
Mühsam haben wir über die Jahre die Koordinaten unseres Lebens erlernt. Haben gelernt, ihnen zu vertrauen. Doch führen uns unsere Koordinaten in die Irre? Verwirren wir uns selbst?
Abgrundtief schwappt die Verwunderung über uns hinweg, erschreckt uns die tödliche Erkenntnis: Statt fest über den bekannten Territorien zu verharren, verschieben sich die Koordinaten der Landschaften, so wie wir selbst, doch unabhängig von uns.
Nichts bietet uns Halt.
Nicht einmal das Himmelszelt. Wir suchen in der Endlosigkeit des wogenden Meers einen geheimen Sinn, von dem wir nicht wissen, ob es ihn überhaupt gibt.
Auf so vielen Ebenen schwankt unsere Gewissheit wie das Meer.
Im Äußeren.
Im Inneren.
Die Koordinaten verschieben sich gegeneinander wie in einer Kreuzsee.
Ein Strudel reißt uns tief hinab. Wir drohen darin unterzugehen, gleiten in eine fremde Sphäre hinüber. Spät, fast schon im letzten Dämmer unseres Lebens, schimmert glücklich die Erkenntnis auf, dass wir verloren waren.
Von Anbeginn an.
Was hätten wir anders machen können, fragen wir uns, und wissen doch längst, dass wir uns damit in den Netzen der falschen Fragen verheddern. Wir hören die Möwen kreischen und suchen das Lied der Nachtigall.
Wir tauchen unter den ermüdeten Landschaften unserer Erinnerungen hindurch. Unter dem eisigen Ozean unsere Erwartungen.
Ängstlich klammern wir uns bis zuletzt an die Hoffnung, dass unsere Kraft und unser Atem ausreichen mögen, dass wir wieder auftauchen. Dass uns Rettung zuteilwird. In letzter Minute. Irgendwann. Irgendwo. Um zurückzukehren in fremdvertrauten Landschaften, die uns vor altneue Rätsel stellen.
Der Duft von Salz und Meer lag in der Luft. Es roch nach getrocknetem Holz, nach Arnikawiesen und blühenden Heckenrosen. Über Sylt schwebte der Duft des Sommers. Eduard, der von allen nur Ed genannt wurde, hielt seine Augen geschlossen. Rot leuchtende Punkte tanzten vor seinen Lidern und wechselten sich mit dunkelblauen Feldern ab. Dazwischen sprenkelte etwas Violett, etwas Gelb und ein wenig Grün. Zufrieden gab sich Ed diesem Meer aus Farbe hin. Er spürte die mediterran anmutende Wärme des gemächlich ausgleitenden Tages. Seine Wangen und Schultern, von denen er zuvor gar nicht bemerkt hatte, wie sehr er sie verkrampft hatte, entspannten sich.
Alles fühlte sich wohlig an, gelockert.
Völlig losgelöst.
Ed öffnete die Augen, und was sich ihm darbot, erschien ihm noch großartiger als dieses kleine Capriccio der Farben. Über ihm breitete sich der Sylter Himmel aus.
Er überlegte, wie er diesen Sommertag ausklingen lassen sollte. Natürlich könnte er einfach weiter hier oben im gläsernen Ausguck im Haus seines Freundes Rob sitzen bleiben. Rob, der seit einigen Wochen auf der Suche nach seiner Frau durch Kanada streifte und dessen Haus er während dieser Zeit hütete. Er könnte einfach weiter in den hohen Himmel schauen, dessen Blau nach und nach dunkler werden würde, bis die kurze Sommernacht aufzog und mit ihr die leuchtenden Sterne.
Er könnte sich ein Glas Wein holen. Vielleicht den gut gekühlten Muscadet von der Loire, der im Kühlschrank auf ihn wartete. Vermutlich würde er dann irgendwann sanft wegdösen. Oder er würde anfangen, von Elsa zu träumen. Von der schönen, zärtlichen Elsa, die er immer heftiger begehrte, je weiter sie sich von ihm entfernt hatte.
Zu Beginn des Frühjahrs hatte Elsa ihn auf der Insel zurückgelassen und war nach Pula gezogen. Offiziell, weil sie dort die Position der neuen stellvertretenden Polizeichefin angetreten hatte. Es gehörte aber auch zur Wahrheit dazu, zur ganzen Wahrheit und zu nichts als der Wahrheit, dass Elsa nach dem aufreibenden Fall im letzten Winter, bei dem Clara, die schwangere Freundin von Eds Sohn Lasse, tödlich verunglückt war, eine räumliche Distanz zu ihm hatte schaffen wollen – auch wenn Ed bis heute nicht verstand, was ihren abrupten Rückzug verursacht hatte.
In den Wochen nach Claras Tod war Ed nachdenklicher geworden. Die Ereignisse um Biike hatten ihn tief getroffen. Claras Unfall erschien ihm so ungerecht. Immer öfter grübelte Ed darüber nach, wie es sich mit dem Leben verhielt und mit der Gerechtigkeit. Es gab Tage, an denen er nur schwer Halt fand. Da erwies sich der Boden unter seinen Füßen als ebenso glitschig wie das Watt bei ablaufendem Wasser.
Umso dankbarer war Ed für das Sommerwetter der letzten Tage, das ihn von solchen Gedanken ablenkte. Seiner Sehnsucht nach Elsa tat das jedoch keinen Abbruch. Sie schwelte auch bei fast dreißig Grad und strahlender Sonne weiter. Er verzehrte sich nach ihren schönen braunen Augen, nach ihren klugen Gedanken und ihrem verschmitzten Lächeln. Immerhin hatten sie nach Elsas Flucht von der Insel, wie Ed für sich selbst ihren Abschied bezeichnete, ab und an miteinander telefoniert. Es waren tastende Gespräche. Sachlich berichteten sie einander von ihrem Alltag und umschifften ihre Gefühle. Während Elsa sprach, lauschte Ed den Momenten der gemeinsamen Zärtlichkeit nach.
Ach Elsa, seufzte Ed in sich hinein.
Hoch am Himmel umtanzten sich zwei kreischende Möwen und zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Energisch schob Ed die Gedanken an Elsa beiseite. Er könnte auch in F. Scott Fitzgeralds Großem Gatsby weiterlesen, der neben ihm auf dem Boden wartete. Oder er könnte mit seinem Sohn Lasse telefonieren, der sich nach seinem Abitur im Frühsommer nun in Hamburg auf sein Jurastudium vorbereitete.
Ausgerechnet Jura, dachte Ed.
Eher hätte er erwartet, dass Lasse Literatur studieren würde oder vielleicht Journalismus. Lasse, der Leser, der Georg Büchner zitierte und Max Frisch. Der mit Leidenschaft den Deutsch-Leistungskurs besucht hatte. Doch eigentlich war es im Moment ganz egal, für welches Fach sich Lasse entschied. Hauptsache, er machte etwas, das ihm gefiel, statt sich nach Claras Tod ins Bodenlose fallen zu lassen. Was Lasse vor allem brauchte, war Zeit. Zeit, um den Verlust von Clara zu verarbeiten und einen Weg zurück zu sich und in ein Leben ohne seine Freundin zu finden. Ed hatte gestaunt, wie schnell Lasse in den Wochen nach ihrem Tod im vergangenen Winter wieder in einen Rhythmus gefunden hatte. Doch Ed wusste aus seiner beruflichen Erfahrung, dass die Erlebnisse gleichwohl in Lasse weiterarbeiteten, auch wenn er sich kaum etwas anmerken ließ. Die Wunden, die der Verlust gerissen hatte, schmerzten gewiss entsetzlich. Deshalb hatte Ed Lasse im Gegensatz zu Mara auch unterstützt, als der sich gleich nach dem Abitur nach Thailand aufmachen wollte. Seitdem hatte Ed anhand der gelegentlichen Posts seines Sohnes mitverfolgt, wo er sich gerade aufhielt. Umso überraschter war Ed gewesen, als Lasse plötzlich seine Reise abgebrochen und sich dafür entschieden hatte, sich auf ein Jurastudium in Hamburg vorzubereiten.
»Ich will mich auf die Suche nach der Gerechtigkeit begeben«, hatte Lasse seinem erstaunten Vater erklärt, als er nach seiner Rückkehr für ein paar Tage auf Sylt vorbeischaute.
Ed entschied sich gegen den Muscadet und das langsame Vergrübeln des Sommertages. Er schlüpfte in Sporthose, T-Shirt und Joggingschuhe und schnappte sich sein Fahrrad, das im Windfang stand.
Auf geht’s, spornte er sich an.
Vorbei an dem roten neogotischen Backsteinkasten seines Polizeireviers gegenüber dem Westerländer Bahnhof fuhr er auf der Keitumer Chaussee in Richtung Tinnum. Jetzt bloß nicht in Richtung »Downtown« Westerland oder zur Strandpromenade. Dort tobte auf dem alljährlichen Winzerfest das süffige Gelage der Sommergäste. Die Köpfe und Nasen glühend rot von zu viel Sonne und zu viel Riesling, schunkelte man in immer ausgelassenerer Stimmung. Was Pfälzer Wein, Riesling von der Mosel und die Westerländer Kurpromenade Jahr für Jahr miteinander verbandelte, hatte sich Ed noch nie erschlossen.
Hinter dem Stadtzentrum beruhigte sich der Verkehr. Die lange Schlange aus schwarzen SUVs aller Marken, aus alten Porsche Cabrios und noch älteren VW-Käfern, durchsetzt von einzelnen Bentleys und sonnenuntergangsroten Ferraris, dünnte aus. Deren Besitzer saßen jetzt vermutlich auf den Terrassen ihrer Reetdachhäuser in Keitum, Kampen oder List, knabberten Garnelen und löschten sie mit Champagner oder einem Aperol Spritz ab. Oder man tummelte sich bis nach Sonnenuntergang in einer der Sylter Strandbars.
In Tinnum nahm Ed die Brücke über die Bahngleise, die Sylt über den Hindenburgdamm mit dem Festland verband. Von der hohen Brücke aus bot sich freie Sicht auf die Hochhäuser des »neuen« Westerländer Kurzentrums, die von der tief stehenden Sonne mit einer Gloriole umglänzt wurden. Sylt und seine stetig steigende Zahl an Sommergästen, das war eine Geschichte für sich. Etliche touristische Moden waren seit dem Bau des Kurzentrums in den 1970er Jahren über die Insel hinweggefegt wie Herbststürme. Gebaut wurde immer noch. Allerdings schon lange nicht mehr so hoch. Stattdessen lieber exklusiv. So schwindelerregend hoch wie das Kurzentrum waren dafür die Immobilienpreise gestiegen. Wehmütig dachte Ed an die Debatten zurück, die er im vergangenen Winter mit Lotte und Lasse am Abendbrottisch geführt hatte. Darüber, warum sich viele gebürtige Sylter das Leben auf der eigenen Insel nicht mehr leisten konnten.
Ed atmete tief durch.
Wie lang her ihm das erschien. Und wie nahe es ihm zugleich noch ging.
Mit kräftigen Tritten in die Pedale passierte er den vorgeschichtlichen Ringwall der Tinnum-Burg und fuhr querfeldein weiter in Richtung Rantumbecken. Schon von Weitem waren die gierigen Silbermöwen zu sehen, die den Recyclinghof umschwärmten, immer auf der Suche nach einem schnellen Happen, den sie sich zwischen all dem Müll erhofften. Hierher kamen die Abfallberge der Sylter und ihrer Gäste, um weiter ans Festland transportiert zu werden. Ein Sylter Zwischenlager sozusagen. Im warmen Licht des Sommerabends schimmerten selbst die Stahlcontainer, Sortierhallen und Backsteinbüros idyllisch in orange-roten Farbtönen. Ed schloss sein Fahrrad neben einem anderen Rad am Zaun beim Haupteingang des Recyclinghofs an.
Rechts oder links um das Rantumbecken?
Ed entschied sich dafür, zuerst in Richtung der Gebäude der Sylt Quelle zu laufen. Dann würde er auf dem Rückweg ungestört den Sonnenball beobachten können, der hinter der Dünenkette versank, sofern er nicht von einem Dunstschleier über dem Meer verhüllt wurde. Zudem konnte er so gleich zu Beginn seiner Laufrunde das abendliche Gewusel auf dem Campingplatz hinter sich lassen. Eigentlich lief er am liebsten direkt von zu Hause aus los. Doch jetzt im Sommer waren ihm dort die meisten Wege einfach zu voll. Fahrradfahrer, Spaziergänger, Jogger und E-Biker lieferten sich mit ihren unterschiedlichen Vorstellungen von angemessener Geschwindigkeit auf den schmalen Kieswegen ein wildes Gedränge, gelegentliche Unfälle mit Platzwunden und sogar Knochenbrüchen inklusive.
Jetzt im Hochsommer und mitten in den Schulferien war die Insel völlig überlaufen. Doch hinter diesen Menschenmassen glomm ihre einzigartige Schönheit weiter.
Ed lief schräg den Deich hoch, der das Rantumbecken einfasste, und startete seine Jogging-App. Rechter Hand dämmerte das kleine Wäldchen mit der Eidumer Vogelkoje. Links davon erstreckte sich die weite Fläche des Beckens. Gleich am Deich stand ein Meer aus Schilfrohr, zwischen dem über die Jahrzehnte einzelne Baumgruppen gewachsen waren. Erst dahinter begann das brackige Wasser des künstlichen Wasserbeckens, das die Nazis in den 1930er Jahren für ihre Wasserflugzeuge angelegt hatten. Damals wurde die Insel Sylt zur militärischen Festung ausgebaut. Inzwischen landeten im Rantumbecken schon lange keine Flugzeuge mehr, sondern Enten, Lach- und Silbermöwe, Gänse und Knutts. Es war ein einziges Vogelparadies. Ed erinnerte sich, wie immer mehr militärische Bauten verschwanden, die in seiner Kindheit noch das Bild auf Sylt geprägt hatten. Ganze Landstriche waren inzwischen renaturiert oder in Golfplätze umgewandelt worden. Die dunklen Kapitel der Inselgeschichte verschwanden nach und nach unter Heckenrosen und Strandhafer.
Vor dem Campingplatz wurde es lauter. Ed klappte eines der Tore auf, die dazu dienten, die Schafe auf ihrem Deichabschnitt zu halten, und setzte seine Runde in Richtung der Sylt Quelle fort. Aus dem baulich wenig gelungenen Touristendörfchen zwischen Campingplatz und Sylt Quelle dröhnte Kindergekreisch, während aus der Lagerhalle der Quelle rhythmische Bässe bommerten. Jeden Sommer spielten dort Bands auf. Mit Lotte und Lasse hatte er hier schon manche Konzerte besucht.
Je weiter sich Ed vom Hafen und den hämmernden Bässen entfernte, desto lockerer wurden seine Schritte, desto freier schwebten seine Gedanken. Nur vereinzelt kamen ihm Radfahrer entgegen. So wie er genossen auch sie die abendliche Ruhe und Weite. Sie grüßten mit einem freundlichen »Moin«. Nach und nach begann sich der Horizont am Festland einzufärben. Weiße Windräder, Giganten am Deich, ragten daraus empor und sendeten ihre rot blinkenden Warnlichter aus.
Ob die Zugvögel, die im Rantumbecken rasteten, diese Signale zu deuten wussten?
Still und weit lag das Watt vor ihm.
In den unregelmäßigen, feuchten Rillen, die Gezeiten und Wind in sein schlickiges Grau geschrieben hatten, schillerten die abendlichen Farben. Ein zartes Rosa, ein lichtes Blau, ein spätes Orange. Ruhig atmete Ed durch die Nase ein, nahm die seidige Sylter Sommerluft wahr, der die Hitze des Tages langsam gewichen war. Er roch den Duft des Wassers und des Seetangs. Am alten Siel, wo sich der Weg nach Keitum, Tinnum und Westerland gabelte, hielt er kurz inne. Er hatte Schweiß auf der Stirn, und ein Wohlgefühl durchflutete ihn. Auf der restlichen Runde hatte er das Rantumbecken fast für sich allein. Nur einen einzelnen Spaziergänger passierte er noch, der seine Abendrunde mit schnellen Schritten zügig zu Ende bringen wollte. Ed lief mit erhöhtem Tempo an ihm vorbei in Richtung Dikjen Deel.
Zurück am Recyclinghof stoppte er die Zeit in seiner App. Trotz des Schlussspurts fiel sie nur mäßig aus. Doch das war ihm egal. Durch die Sommerluft zu laufen war purer Genuss gewesen. Zwei Anrufe waren eingegangen. Mara hatte ihm auf die Sprachbox gesprochen.
Das hatte Zeit, beschloss er. Wichtiger war ihm zu erfahren, was Lotte wollte, die seit letzter Woche »vorübergehend« bei ihm eingezogen war. Ed hatte kurz telefonisch bei Rob nachgefragt, ob es ihn stören würde, wenn auch seine Tochter in seinem Haus wohnte. Doch der Freund hatte nur gelacht und gerne zugestimmt.
»Besser, das Haus ist von euch belebt, während ich weg bin, als dass es leer steht und ausgeräumt wird.«
Lotte ging nach dem zweiten Klingeln ran.
»Wo bist du?«, fragte sie.
»Joggen, ums Rantumbecken.«
»Ich wollte wissen, wann du kommst. Ich habe ein Risotto gekocht.«
»Köstlich, vielen Dank!« Ed war begeistert. »Ich setze mich aufs Rad und bin fix die zwei bei dir, springe unter die Dusche, und dann können wir essen.«
»Fein, bis gleich«, antwortete Lotte.
Ed löste das Schloss seines Rades.
Der kleine Parkplatz hatte sich bis auf ein letztes Auto geleert. Dafür stand das andere Fahrrad noch wie zuvor am Zaun.
Da dreht jemand eine ganz entspannte Runde ums Becken, dachte er. Möglicherweise gehörte es ja dem Spaziergänger, den er überholt hatte.
Noch bevor er die Straße nach Westerland erreichte, hatte er das andere Rad bereits wieder vergessen.
Zu Ostern hatte Lotte ihren zweiten Versuch gestartet, Vegetarierin zu werden. Selbst den Fisch, den sie bis dahin so geliebt hatte und ohne den sich Ed seine eigene Ernährung weder vorstellen konnte noch wollte, hatte sie von ihrem Speiseplan gestrichen. Immerhin durfte sich Ed unter ihrem kritischen Blick gelegentlich noch einen Fisch braten, den er sich aus der Fischhandlung Rose in Westerland mitbrachte. Andererseits verstand es Lotte, schmackhafte vegetarische Gerichte zuzubereiten, und so gab es nun häufiger nussig schmeckende Quinoa, die Ed als Beilage schätzte, oder diverse Currys mit Reis.
Lotte hatte bereits den Tisch im Wohnzimmer gedeckt, von dem man auf das handtuchgroße Stück Garten hinter dem Haus schauen konnte, und wartete auf ihren Vater, während sie auf ihr Handy schaute. Frisch geduscht füllte Ed einen Krug mit kaltem Leitungswasser und schnitt eine Limone in Viertel hinein, öffnete den Muscadet und setzte sich zu seiner Tochter, die Robs Arbeitszimmer bezogen hatte.
»Vorübergehend«, wie sie nachdrücklich betonte.
Ed hatte nicht weiter nachgefragt.
Er vermutete, dass der Mutter-Tochter-Konflikt eskaliert war und den Ausschlag für den Wunsch nach einem vorübergehenden Wohnortwechsel gegeben hatte. Idealer Zeitpunkt für solch einen Krach zwischen Mutter und Tochter waren seiner Erfahrung nach die Samstagvormittage. Zwischen Ausschlafen und Wochenendputz, Schularbeiten, Einkaufen und Sich-lieber-mit-Freundinnen-treffen-Wollen, kochte die Konfliktlage schnell hoch. Verschärfend kam hinzu, dass sich an Samstagen nicht der Alltagsrhythmus dämpfend zwischen die unterschiedlichen Vorstellungen von Mutter und Tochter schob.
Doch all das waren nur Scheingefechte, vermutete Ed.
Dahinter verbarg sich seiner Meinung nach, dass Lotte ihren Bruder vermisste und dass auch bei ihr Claras Tod Schmerzen hinterlassen hatte. Die Fragen nach Sinn und Unsinn des Lebens, nach Gerechtigkeit und der Rolle Gottes stellte sich mit existenzieller Wucht. Für Lotte war seit Claras Beerdigung geklärt, dass Gott tot war. Eine Erkenntnis, die andere vor ihr formuliert hatten. Doch Lotte war auf sehr unmittelbare Weise zu dieser Einsicht gelangt.
Trotz ihrer entschiedenen Abkehr von der Religion hatte sich Lotte den Bemühungen von Pastorin Krüger gegenüber offen gezeigt, die sie durch die Wochen nach Claras Tod begleitete. Geduldig hörte die Pfarrerin der Trauer und der Wut des Mädchens zu. Lotte mochte die Pfarrerin aus der Wenningstedter Friesenkapelle. Und sie mochte deren Sohn Boy. Selbst wenn Lotte die Gespräche nicht zurück in den Glauben führen würden, war es Pastorin Krüger wichtig, für sie da zu sein. Eine Hilfe, die Lotte leichter von einer Außenstehenden annehmen konnte als von Mara oder Ed.
Auch dieses Mal war der Streit zwischen Lotte und Mara wegen einer Nichtigkeit hochgekocht. Seitdem Mara mit Fiete zusammenlebte und Ed mehr oder weniger aus ihrem gemeinsamen Haus gedrängt hatte, bestand sie in jedem Gespräch immer nachdrücklich auf ihrer Meinung. Fiete, ein Kollege von Mara, unterstützte sie darin, sodass sich Lotte zunehmend alleingelassen und unverstanden fühlte.
Ed konnte wie Lotte nichts mit Fiete anfangen. Allerdings gestand er sich ein, dass sein Urteil keineswegs objektiv war. Mit seinem Umzug in Robs Haus hatte er das alles hinter sich gelassen. Vorübergehend zumindest, bis Rob aus Kanada wiederkommen würde. Die meisten Dinge im Leben erwiesen sich als ziemlich kompliziert, sobald man begann, sie näher zu betrachten, fand Ed. Umso schöner war es, solche unkomplizierten Sommerabende zu erleben, an denen die Sorgen in den Hintergrund traten.
Großzügig streute Lotte ihm zusätzlichen Käse über sein Risotto. Dazu gab es frisch gemahlenen Pfeffer aus der Mühle wie in einem der Sylter Sternerestaurants.
»Risotto mit Queller und grünem Spargel«, verkündete sie stolz.
Schon der erste Bissen schmolz auf Eds Zunge dahin. Er schmeckte den salzigen Queller, das frische Aroma des bissfesten Spargels, den guten Schlag Butter und den geriebenen Parmigiano, die nun in dem warmen Risotto zu einer duftigen Masse verschmolzen.
»Köstlich«, bedankte sich Ed bei seiner Tochter.
Insgeheim dachte er: Möge Lotte noch lange brauchen, ehe sie sich von der vegetarischen zur veganen Ernährung vorrobbte. Das war keine ganz fernliegende Überlegung. Schließlich hatten etliche ihrer Mitschüler und Freundinnen sich zur Rettung von Welt und Klima aus tiefer ökologischer Überzeugung dem veganen Trend angeschlossen. Für Ed vermochte ein aus Mandeln gefertigter geriebener Käseersatz zur Not irgendwie den Parmesan zu ersetzen, zu einer mit großen Meersalzkörnern versetzten französischen Butter konnte er sich allerdings beim besten Willen keine schmackhafte vegane Alternative vorstellen.
Doch heute kam es nicht zur Neuauflage der Ernährungsdiskussionen der letzten Wochen, die meistens in Grundsatzerörterungen ausuferten über die Rettung der Welt allgemein (Lotte) und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie die Welt funktionierte (Ed). Dem Engagement seiner Tochter versuchte Ed mit einem inneren Dämpfen der eigenen Position zu begegnen, was ihm allerdings nicht immer gelang. Gegenseitig schickten sie sich über die sozialen Medien stets die neusten Studien und Videos, um die jeweils eigene Meinung zu unter- mauern.
»Paps?«, fragte Lotte, nachdem Ed den Tisch ab- und die Spülmaschine eingeräumt hatte.
»Was gibt’s?«
»Meinst du, es wäre schlimm, wenn ich nicht nur so kurz vorübergehend hier einziehen würde, sondern etwas länger …«, Lotte zögerte, »… also ich meine, länger vorübergehend?«
Ed zog die Augenbrauen hoch.
»Was meint denn …«, doch er konnte den Satz nicht zu Ende bringen, weil Lotte ihm ins Wort fiel und zugleich genervt die Augen verdrehte.
»Sie findet, dass ich in meinem alten Zimmer wohnen sollte. Und zwar bei ihr und Fiete und nicht bei dir. Sie meint, du bist so oft weg, hast unregelmäßige Arbeitszeiten, und ohnehin wäre deine Arbeit so gefährlich.«
»Aha«, antwortete Ed ratlos. Deshalb war also vermutlich die Nachricht von Mara auf seiner Sprachbox.
»Elsa meint allerdings«, fuhr Lotte fort »dass ich bei dir ziemlich gut aufgehoben wär.«
»Elsa?«, fragte Ed überrascht.
»Ja, sie hat mich neulich angeappt.«
»Und was hat sie sonst noch geschrieben?«, fragte Ed nach.
»Daaad«, Lotte rollte mit den Augen, »das musst du schon selbst mit ihr bereden.«
Ed nickte. Ja, Lotte hatte recht. Das musste er wohl selbst erledigen. Und zwar möglichst bald.
»Also«, kehrte er zu ihrer Frage zurück. »Von mir aus kannst du gerne so lange hier wohnen, wie du möchtest und es mit mir aushältst. Rob hat bestimmt nichts dagegen. Was deine Mutter betrifft …« Ed zögerte. »Ich werde mit ihr sprechen.«
»Danke, Paps. Bester Paps der Welt. Die weltbeste und allervernünftigste Tochter geht dann jetzt mal schlafen. Noches«, rief sie ihm übermütig zu.
»Schlaf schön.«
Ed grinste. Er fühlte sich vollkommen um den Finger gewickelt und genoss es auch noch.
Mit einem zweiten Glas Muscadet, das er nur zur Hälfte füllte, zog er sich wieder unter das Glasdach im Obergeschoss zurück. Mittlerweile hatte sich ein prächtiger Sternenhimmel über der Insel ausgebreitet. Die Lichtpunkte der Satelliten rasten mit den Sternschnuppen um die Wette. Ed wählte aus Pflichtgefühl Maras Nummer, doch sie ging nicht ans Telefon. Ed war es recht. Er verzichtete darauf, ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Stattdessen wählte er die Nummer von Rob. In Kanada musste es jetzt früher Nachmittag sein. Zuletzt war sein Freund in Vancouver unterwegs gewesen, völlig begeistert von der Stadt am Meer. Dort hatte er eine schöne schwarz-weiße Fotoserie geschossen. Auf den Bildern durchdrangen sich Landschaft und Architektur. Doch auch Rob war offenbar beschäftigt und hob nicht ab. Daraufhin beschloss Ed, dass es wohl auch für ihn Zeit wäre, schlafen zu gehen.
Er schaute ein letztes Mal in seine E-Mails und in den Messengerdienst.
Ein leiser Stich fuhr ihm durchs Herz.
Keine Nachricht von Elsa.
Der Duft der blühenden Heckenrosen umschmeichelte den Morgen. Doch an die Stelle des blauen Himmels vom vergangenen Abend war ein mehliges Wolkengrau getreten. Drückend lastete es auf der Insel. Davon unbeeindruckt zogen die Silbermöwen kreischend ihre Bahnen.
Kopfschmerzwetter, dachte Ed.
Vorsichtshalber steckte er sich eine Aspirin ein. Er kannte diese Witterung nur allzu gut. Und er mochte sie nicht sonderlich.
Lotte stand schon am Herd, als er in die Küche kam. Sie schnippelte dünne Bananenscheiben in die Butter, die in einem kleinen Topf gurgelte.
»Wird das ein Porridge?«, fragte er.
Die Mischung aus Butter und Banane duftete verführerisch.
»Möchtest du auch etwas abhaben? Dann nehme ich einfach mehr Haferflocken.«
»Ich koste nur mal einen Löffel von dir.«
»Logo. Das Rezept ist übrigens von Lisa. Du weißt? Aus dem Wellhørn?«
Ed wusste. Während der Sommerferien hatte Lotte im Wellhørn in der Strandstraße einen Ferienjob angenommen. Ein Seitenwechsel für seine Tochter. Sonst traf sie sich dort mit ihren Freundinnen aus der Uwe-Lornsen-Schule auf einen Flat White und ein Mandelhörnchen. Auch Ed schaute gerne in dem kleinen Café vorbei, das keine fünf Minuten zu Fuß vom Polizeirevier entfernt lag.
Nach dem gemeinsamen Frühstück mit Lotte brach Ed mit dem Rad zur Arbeit auf. Vor der Bäckerei hatte sich eine kleine Schlange von Frühstückshungrigen gebildet. Ansonsten herrschte noch gähnende Leere. Die meisten Urlaubsgäste schliefen bis tief in den Tag hinein. Zumal bei trübem Wetter würden sich die Straßen erst langsam füllen. Einzig Familien mit kleinen Kindern machten sich unbeeindruckt von den Wolken mit Buddeleimer und Schippe auf den Weg zum Strand. Gegen Mittag, wenn es dort voller wurde, würden sie als Erste wieder zu den Ferienquartieren aufbrechen, um die Kinder zum Mittagsschlaf zu betten.
Ed schloss sein Fahrrad neben der Wache an. Vorsichtshalber verwendete er zwei Schlösser. Dann lief er am Bahnhof vorbei, wo gerade ein Regionalzug angekommen war. Für neue Sommergäste und Tagestouristen war es noch zu früh am Tag. Um diese Uhrzeit trafen vor allem Handwerker ein, die täglich vom Festland auf die Insel pendelten. Einige waren schon in Keitum von kleinen Lastwagen und Pick-ups aufgesammelt worden, die sie zu den Baustellen auf der Insel brachten. Andere warteten jetzt in Westerland auf den Bus, um entweder in den Süden nach Rantum und Hörnum weiterzufahren oder in den Norden nach List. Eine Gruppe junger Frauen lief plaudernd und lachend vor Ed her in Richtung Westerländer Innenstadt. Ed folgte ihnen ein Stück und bog dann in die Strandstraße ab. Im Wellhørn wollte er für sich und seine Kollegen frischen Kaffee besorgen. Cappuccino mit extra viel Schaum für Muri und Friedericke, die neu in ihr Team gekommen war. Einen laktosefreien Flat White für Max.
Gegenüber dem Wellhørn entdeckte Ed sein Spiegelbild im Schaufenster einer Boutique. Es wirkte, als würde er zwischen Poloshirts und Hosen in der Auslage stehen, vermischt mit der Reflexion des Wellhørn, wo Lisa, die das Café mit ganzer Leidenschaft betrieb, gerade frische Croissants auf der Theke anrichtete. In der Spiegelung verdichtete sich der Moment. Ed erinnerte sich an eine Reise, die er kurz nach dem Schulabschluss zusammen mit Freunden unternommen hatte. Übermüdet und hungrig waren sie damals in einer spanischen Hafenstadt eingetroffen. Auf der Suche nach einem Quartier und einem billigen Restaurant betraten sie ein stylisches Café, dessen Wände vollkommen verglast waren. Bis in die Endlosigkeit hinein hatte sich Eds Spiegelbild fortgesetzt. Immer kleiner, immer blasser, immer unschärfer war es geworden. Irgendwo zwischen Gegenwart und Vergangenheit verlor es sich in der Tiefe des Raums. Im Sommer danach hatte er Mara kennengelernt.
Meine Güte, war das lange her, dachte er.
Gerade als er das Wellhørn betreten wollte, klingelte Eds Telefon.
»Amt Landschaft Sylt, Liegenschaftsmanagement. Mein Name ist Ruppert«, meldete sich eine Frauenstimme.
Ed stutzte.
»Spreche ich mit Herrn Koch? Kriminalkommissar Eduard Koch?«
»Ja, bitte, was kann ich für Sie tun?«
»Nichts«, antwortete Frau Ruppert. »Aber vielleicht kann ich etwas für Sie tun, Herr Koch. Sie haben die Anfrage für eine Wohnung eingereicht?«
Ed erinnerte sich. Nachdem sich der Kladderadatsch mit Mara hochgeschaukelt hatte und die Stimmung im gemeinsamen Haus zunehmend unerträglich geworden war, hatte er sich um eine der raren städtischen Wohnungen beworben.
»Richtig«, antwortete er und entfernte sich ein paar Schritt vom Eingang zum Wellhørn.
»Wir hätten da kurzfristig eine freie Wohnung in Hörnum im Angebot. Zwei Zimmer, Souterrain, sechzig Quadratmeter.«
Souterrain? Sechzig Quadratmeter? In Hörnum?
»Die Besichtigung ist heute um achtzehn Uhr. Aber bitte beeilen Sie sich anschließend mit Ihrer Entscheidung, Herr Koch. Die Warteliste mit Interessenten ist sehr lang.«
»Ich habe gerade nichts zu schreiben dabei. Wären Sie so nett, mir die Adresse per Mail zu senden?«
»Schon passiert, Herr Koch«, antwortete Frau Ruppert beflissen.
»Vielen Dank.«
Ed räusperte sich.
»Hörnum, ja? Hätten Sie eventuell auch etwas, das dichter bei Westerland läge, im Angebot?«
Wehmütig ploppte in Ed die Erinnerung an den gestrigen Abend in Robs Haus auf. Der gläserne Ausguck, der Blick in den Himmel, das Leuchten der Sterne. Natürlich, das alles war nur auf Zeit, war nur von Rob geliehen – aber es gegen ein dunkles Souterrain in Hörnum eintauschen?
»Tut mir leid, leider nein. Die Nachfrage nach kommunalen Wohnungen auf der Insel ist riesig und das Angebot knapp bemessen, wie Sie wissen. Also heute um achtzehn Uhr in Hörnum, die Adresse haben Sie.«
Hörnum also. Am südlichen Ende der Insel, zwischen Gästen im Golf-Luxusresort, bröselndem Fünfziger-Jahre-Schick, einstigen Offiziersheimen und Butterfahrten. Das hieß jeden Tag knapp zwanzig Kilometer mit dem Rad nach Westerland und zurück. Im Sommer klang das sogar verlockend. Aber im Herbst und Winter? Bei stürmischem Gegenwind und eisigem Dauerregen? Das musste man wollen. Ed wollte nicht. So viel war sicher.
Kaum hatte Ed die Kaffees bei Lisa bestellt, da klingelte sein Telefon erneut.
Er zog ein genervtes Gesicht, machte der Barista ein Zeichen, dass er gleich wiederkommen würde, und trat vor das Café. Es war nicht noch einmal Frau Ruppert vom Liegenschaftsmanagement, die ihm überraschend ein erfreuliches Wohnangebot in Tinnum, Keitum oder Wenningstedt unterbreiten wollte. Dieses Mal war es Mara. Und Mara kochte.
»Wir müssen reden, Eduard«, schnaufte sie ins Telefon, hörbar bemüht, ihre Stimme im Zaum zu halten.
»Gerne«, antwortete Ed betont ruhig, mit einem Lächeln im Tonfall.
Aus Erfahrung wusste er, dass ihm jetzt nur eines half: Die Ruhe zu bewahren und sich unter dem Sturm wegzuducken, der gleich über ihn hereinbrechen würde.
»Was denkst du dir eigentlich dabei, Lotte aus ihrer vertrauten Umgebung herauszureißen?«, polterte sie los.
»Ich …«, setzte Ed an, um ihr zu erklären, dass er sich gar nichts dabei dachte, da er Lotte nirgendwo herausgerissen hatte. Lotte hatte sich selbst entschieden, bei Fiete und Mara aus- und vorübergehend bei ihm einzuziehen. Auch wenn dieses »vorrübergehend« nun wohl etwas länger andauern würde. Doch Mara war so erbost, dass sie ihn nicht aussprechen ließ.
»Es ist absolut unverantwortlich, was du da machst. Lotte hat diesen fürchterlichen Verlust durchlitten. Lasse ist gerade erst ausgezogen. Was das Kind jetzt braucht, ist Stabilität. Sie braucht klare Familienverhältnisse und Sicherheit. Alles Sachen, die du ihr nicht bieten kannst mit deinem gefährlichen Job und deinen ungeregelten Arbeitszeiten. Von deinem losen Lebenswandel ganz zu schweigen.«
Zischend atmete Ed ein.
Das hatte gesessen.
Mara wusste, wie sie ihn treffen konnte. Dafür kannten sie sich lange und gut genug.
»Du brauchst gar nicht so affektiert einzuatmen, Eduard«, fuhr sie ihn an, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, etwas zu erwidern. »Außerdem hast du ja nicht einmal eine richtige Wohnung. Sobald Robert wieder da ist, stehst du auf der Straße. Du willst ja wohl nicht wieder bei Fiete und mir einziehen. Fiete ist übrigens genau meiner Meinung. Wir erwarten von dir, dass du Lotte umgehend in ihre vertraute Umgebung zurückbringst. Alles andere werten wir als Kindesentzug.«
Ed schluckte. Das ging zu weit.
Mara wollte es auf die Spitze treiben. Aber wozu? Was war ihr Ziel? Ging es ihr nur darum, ihm wehzutun?
»Mach dir klar, welche Konsequenzen das für dich als Staatsdiener nach sich ziehen würde. Das wirst du sicher nicht wollen, so dienstbeflissen, wie du immer tust. Wir erwarten, dass Lotte umgehend wieder bei uns einzieht«, dozierte sie und schob eine kunstvolle Pause ein. »Andernfalls musst du die Konsequenzen für dein Handeln tragen.«
Auch darauf konnte Ed nicht antworten, denn Mara legte einfach auf.
Das war kein Gespräch gewesen, sondern ein wütender Monolog, eine unverhohlene Drohung.
Wo kommt Maras Wut eigentlich her?, fragte sich Ed.
Wieso konnte sie Lottes Umzug nicht entspannter sehen? Als eine jugendliche Laune? Bei dieser Stimmung würde Lotte ganz bestimmt nicht wieder bei Mara und Fiete einziehen wollen.
Ed steckte sein Handy wieder ein. Dieser Tag verspricht ja wirklich grandios zu werden, dachte er ironisch.
Das Grau des Himmels legte sich auf seine Laune.
»Alles o.k., Paps?«, fragte Lotte, die gerade von ihrem Rad sprang, um es im rückwärtigen Lagerraum des Cafés unterzustellen. »Du siehst etwas schlappi aus. Vielleicht hättest du dir doch ein bisschen mehr vom Porridge nehmen sollen.«
»Vielleicht«, antwortete Ed.
Kurz überlegte er, ob er seiner Tochter vom Telefonat mit ihrer Mutter erzählen sollte. Ach was. Das hatte Zeit. Später war immer noch früh genug. Gegen ihren Willen würde Ed Lotte ohnehin nirgendwo hinschicken. Weder zurück zu Mara und Fiete noch in ein schulisches Auslandsjahr, was Mara unbedingt gewollt hatte.
Lotte wollte aber nicht.
Sie wollte auf Sylt bleiben. Bei ihrer Familie. Bei ihren Freundinnen. Ohnehin wusste Lotte ziemlich genau, was sie wollte und was gut für sie war. Wieder bei Mara und Fiete einzuziehen gehörte jedenfalls nicht dazu. Keine guten Aussichten für Ed. Wenn Lotte bei ihm wohnen blieb, würde er weiterhin Maras geballten Zorn abbekommen.
Ed ging zurück ins Café, bezahlte die Getränke und machte sich auf den Weg zum Revier, als sein Telefon ein drittes Mal an diesem Morgen schellte. In dem kleinen Park gegenüber dem imposanten alten Kursaal stellte er das Papptablett mit den Kaffeebechern auf einer Bank ab.
»Moin, Ed.«
»Moin, Hinnerk, was kann ich für dich tun? Schon so früh bei der Recherche?«, antwortete Ed.
Dass sich der Redakteur der Lokalzeitung bei ihm meldete, war nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich war nur die frühe Uhrzeit.
»Schön, dass du rangehst, Ed.«
»Für dich doch immer«, frotzelte Ed.
»Ich habe ein Problem.«
»Aha, und worum geht’s?«
Hinnerks Stimme klang anders als sonst, befand Ed. Angespannt, unsicher.
»Mein Kollege Fred, der derzeit bei mir wohnt, ist verschwunden.«
»Wie, verschwunden?«
»Er ist über Nacht nicht zurückgekommen.«
»Ja, und?«
»Ich habe ein mulmiges Gefühl.«
Ed war irritiert. Ein Kollege, der nicht nach Hause kam und um den sich Hinnerk deshalb Sorgen machte, als handelte es sich um seinen Sohn? Das klang merkwürdig.
»Und wer ist Fred? Und warum sollte er über Nacht nicht irgendwo anders bleiben? Entschuldige, Hinnerk, aber ich verstehe gerade nicht, was du von mir möchtest.«
»Ich weiß, das klingt seltsam für dich. Aber ich mache mir Sorgen. Fred ist extrem zuverlässig. Ein wahrer Musterknabe. Wenn ihm etwas dazwischengekommen oder passiert wäre, dann hätte er mich mit Sicherheit benachrichtigt. Das ist einfach …«, Hinnerk zögerte, »… nicht seine Art«, beendete er den Satz.
»Und was soll ich jetzt deiner Meinung nach machen?«
Hinnerk dachte einen Moment nach, eher er antwortete.
»Ehrlich gestanden habe ich keine Ahnung«, sagte er leise. »Ich mache mir nur ernsthaft Sorgen.«
Ed schaute auf seine Uhr.
»Pass auf, Hinnerk, ich gehe kurz ins Büro, schau nach, was dort zu erledigen ist, und komme anschließend zu dir in die Redaktion. Dann kannst du mir ganz in Ruhe erzählen, worauf dein mulmiges Gefühl gründet und was eigentlich los ist.«
»Danke«, antwortete Hinnerk. Er klang erleichtert.
Im Revier hatte sich trotz der frühen Stunde bereits der Alltag eingerichtet. Eine verärgerte Touristin zeigte den Diebstahl ihres Fahrrads an. Es würde für heute nicht das einzige verschwundene Fahrrad bleiben. Seit ein paar Wochen machten sich einige Jugendliche auf der Insel einen Spaß daraus, den Touristen für eine Spritztour ihre Räder zu entwenden. Später ließen sie die Fahrräder einfach irgendwo liegen. Irgendwann wurden die rostenden Drahtesel dann von der Müllabfuhr aufgesammelt.
Friedericke Möllers nahm die Angaben der Urlauberin auf.
»Wo hatten Sie das Fahrrad abgestellt?«
»Direkt vor unserer Haustür. Es war an den Friesenwall angelehnt. So wie immer.«
»Und wann wurde es gestohlen?«
»Gestern Mittag bin ich noch damit gefahren. Ob es abends noch da war …« Die Frau dachte nach. »Ich weiß es nicht mehr mit Bestimmtheit. Ich habe nicht darauf geachtet.«
»Wie teuer war das Rad denn? Haben Sie vielleicht noch eine Quittung?«
»Nee, Quittung is nich. Das war letztlich nur eine alte Schrottschese. Die hat vielleicht mal hundertfünfzig Mark gekostet. Ich weiß es nicht mehr. Uralt jedenfalls. Aber es ist einfach so ärgerlich. Wer klaut denn so ein Rad? Nun muss ich alles laufen. Das ist doch blöd.«
»Geklaut wird auf Sylt alles, was nicht niet- und nagelfest ist«, erklärte ihr Friedericke und schaute die Dame mitleidig an. »Und sie hatten das Rad natürlich angeschlossen …«
Irgendwie schien sie die Antwort schon zu ahnen.
»Selbstverständlich nicht. Ich meine, das war ein altes Fahrrad. Das klaut doch niemand mehr. Damit kann doch keiner wirklich was anfangen.«
Die Polizistin schwieg. Was auch hätte sie erwidern sollen? Das Fahrrad war schließlich doch geklaut worden.
Kurz darauf empörte sich ein Mann Mitte dreißig darüber, dass sein online bestelltes neues Handy nicht angekommen war.
»Die Verpackung war leer. Nur der Umschlag war da. Kein Handy. Nicht mal ein Lieferschein. Die Zustellerin hat noch gesagt, sie habe sich gewundert, dass die Verpackung so leicht und flach sei.«
Dieses Mal war es an Muri, die Anzeige aufzunehmen.
»Sie haben die Verpackung gleich geöffnet? Im Beisein der Zustellerin?«
»Aber ja. Das hat ja nichts gewogen, das Päckchen.« Der Mann stutzte. »Sie hat noch gesagt, dass sie das eben bei einem anderen Kunden auch schon hatte. Leere Verpackung.«
»Seltsam«, bestätigte Muri.
»Seltsam? Scheiße ist das!«, pöbelte der Mann los.
Die Masche mit dem verschwundenen Handy war nichts Neues. Ebenso wenig wie geklaute Fahrräder.
»Haben Sie sich schon mit dem Händler in Verbindung gesetzt, bei dem Sie das Gerät bestellt haben?«, fragte Muri betont ruhig.
Der Mann schüttelte den Kopf. Der Gedanke war ihm offenbar nicht gekommen.
»Ich nehme jetzt erst einmal Ihre Anzeige auf. Könnten Sie übrigens auch selbst online machen. Anschließend rate ich Ihnen, sich schnellstmöglich mit Ihrem Händler in Verbindung zu setzen und den Sachverhalt zu schildern.«
Vermutlich würde der Kunde klaglos ein neues Handy