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Auf der Lister Fähre bricht ein Mann zusammen und ruft mit letzter Kraft: Es war Mord! Die Kripo identifiziert ihn als den Staatssekretär des Wirtschaftsministeriums in Kiel. Sehr schnell schaltet sich daraufhin der Staatsschutz ein und Hauptmann Clausen vom BND übernimmt den Fall. Eine zweite Leiche, die in einem Fischernetz gefunden wird, verwickelt Bente und ihr Team in eine komplizierte Ermittlung, die sie an die Grenzen ihrer Zuständigkeit bringen. Können Heikes Verbindungen zu den dänischen Behörden helfen, Licht ins Dunkel zu bringen?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
KRINKE REHBERG
Küstengrab
Dieser Kriminalroman ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und/oder realen Handlungen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Sabine
Sie ist alles in oin!
ACH JA: NIEMAND IST PERFEKT!
Daher bitte ich, eventuelle Rechtschreibfehla zu entschuldigen ...; )
© 2022 KRINKE REHBERG
Alle Rechte an Cover/Logo/Text/Idee vorbehalten
ISBN:
Imprint: Independently published
Covergestaltung: MOTTOM
Autorenservice at Tomkins – Krinke Rehberg, Am Wald 39, 24229 Strande
»Der Lügner kennt zumindest die Wahrheit...«
Er erbrach sich in den Fußraum. Die Schwindelanfälle kamen in immer kürzerem Abstand und das Einatmen fiel ihm schwer. Mit beiden Händen umklammerte er das Lenkrad und sah auf seine weiß hervortretenden Fingerknöchel. Mühsam richtete er sich auf und folgte dem ausgestreckten Arm des Parkeinweisers. Die Reifen des Mercedes rollten über die Metallschwelle an der Pier des Fähranlegers in List. Er erreichte die Parkposition im Bauch der Fähre, die ihn nach Rømø bringen würde. Als er sich leicht nach vorn beugte, um den Knopf für die Zündung zu drücken, ging nicht nur der Motor aus. Auch seine Muskeln versagten ihren Dienst, er spürte den warmen Urin im Schritt. Es war ihm egal, schlimmer war die Atemnot und das schrille Pfeifen in seinen Ohren. Verzweifelt presste er die Hände an den Kopf. Er registrierte die Sturzbäche von Schweiß, die über seinen Körper liefen. Mit letzter Kraft fanden seine Finger die elektrische Verstellung der Rückenlehne. Als er nach hinten sank, spürte er seine Beine nicht mehr. Er schloss die Augen und wartete auf den Tod.
Fünf Minuten später wendete die SyltExpress und kehrte zurück in den Lister Hafen. Die Fährverbindung List – Rømø fiel aus.
Kirkenes - Norwegen
»Ist er da?«, fragte Ragnar Lunde und verbrannte sich die Zunge an seinem heißen Kaffee. Der russische Akzent verriet seine Abstammung, aber in Kirkenes waren Russen allgegenwärtig. Bis zur Grenze waren es nur zehn Kilometer. Die dreitausend Einwohner dieser Stadt im Norden Norwegens beherrschten drei Sprachen. Alle Straßenschilder, Speisekarten und Informationsblätter waren in Norwegisch, Finnisch und Russisch verfasst.
Sven Hagen sah kurz auf und schüttelte den spärlich behaarten Kopf. Dann richtete er den Blick wieder aus dem Fenster des Café Visit, das direkt am Hafenterminal von Kirkenes lag. Die MS Versterålen hatte in den frühen Morgenstunden an der vereisten Pier angelegt. Sven kannte das älteste Schiff der Hurtigruten gut. Mehr als ein Dutzend Mal war er darauf von Kirkenes nach Bergen gefahren. Die Geschichte der norwegischen Postschiffe faszinierte ihn von Kindheit an. Der Name Hurtigruten bedeutete schnelle Route. Die Schiffe fuhren seit dem Jahr 1893 die Orte an der 2700 Kilometer langen Westküste Norwegens an. Bis dahin war der Norden des Landes vom Rest der Welt abgeschnitten gewesen. Die regelmäßige und schnelle Fährverbindung war Kapitän Richard With zu verdanken. Er hatte über Jahre alle Routen und Passagen akribisch im Logbuch festgehalten und als Erster diese Fahrt in den dunklen Wintermonaten unternommen. Damit war der Grundstein für die Postschiffe gelegt worden, und das Leben der Bewohner der Küstenregionen änderte sich. Es konnte Handel betrieben werden, und bislang unbekannte Güter fanden Einzug in den hohen Norden.
Sven seufzte leise auf. Wie oft hatte er sich gewünscht, einer dieser Männer zu sein, die vor einhundert Jahren Fjorde und Schären entdeckt und befahren hatten. Er nippte an seinem Cappuccino und dachte über sein Leben nach. Was war aus seinen Idealen geworden?
Wehmütig sah er auf den blauen Rumpf der MS Versterålen. Er hatte in Hamburg Skandinavistik studiert und große Pläne gehabt. Jetzt war alles anders gekommen und es fiel ihm schwer, sein Spiegelbild zu betrachten. Wo war er falsch abgebogen? Und noch wichtiger: Konnte er zurückgehen und einen anderen Weg einschlagen?
»Wann geht´s los?«, brummte Ragnar.
Sven schreckte jäh zusammen. Er spürte den lauernden Blick des blonden Hünen auf sich ruhen. »Sorry, war grad mit den Gedanken woanders«, grinste er. »Heute Nachmittag.«
»Wer weiß davon?«
»Niemand, Ragnar! Und so soll es auch bleiben!« Sven musste sich entscheiden, ob er bereit war, buchstäblich über Leichen zu gehen. Er registrierte aus dem Augenwinkel, dass Ragnar nervös auf seine Armbanduhr sah. Zum dritten Mal in den letzten fünf Minuten. Sven war schon bei der Begrüßung die goldene Rolex aufgefallen und er fragte sich, ob es eine typisch russische Eigenschaft war, seinen Reichtum zur Schau zu stellen. Ragnars mattgrau lackierter Porsche parkte direkt vorm Eingang des Cafés im absoluten Haltverbot.
Er hatte den russischstämmigen Norweger vor Jahren kennengelernt, als das Projekt ins Leben gerufen worden war. Ragnar Lunde hatte alle Kontakte in die Privatwirtschaft Norwegens und Russlands, die sie benötigten. Zudem hatte er Verbindungen zu den norwegischen Streitkräften. Er kannte all die kleinen Fjorde und Routen, auf denen die Transportschiffe unbemerkt in die Grenzregionen fahren konnten. Die knapp 200 Kilometer lange Landesgrenze wurde von russischer Seite vom FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB, überwacht. Auch wenn es dort unberührte Wälder und Flussläufe gab, so existierte eine 18 Kilometer breite Sperrzone. Die Russen scheuten sich nicht, auf alles zu schießen, was dort kreuchte und fleuchte, Menschen inbegriffen.
Auf den Parkplatz gegenüber fuhr eine dunkle Limousine. Die getönten Scheiben verhinderten einen Blick ins Wageninnere.
»Das ist er.« Svens Stimme war unaufgeregt und nachdenklich.
Kapitän Retzlaff baute sich breitbeinig vor Bente auf. »Die Fährgäste werden ungeduldig! Eine Fahrt ist schon ausgefallen, den nächsten Termin muss ich einhalten, sonst gibt´s Schadenersatzansprüche an die Reederei von den Spediteuren! Da sind Kühllaster dabei, deren Fracht verdirbt!«
»Wir beeilen uns, aber die Spuren müssen gesichert und Zeugen befragt werden, da führt kein Weg dran vorbei!«, erwiderte Bente.
Retzlaff winkte genervt ab. Er ärgerte sich über den Mitarbeiter vom Parkdeck, der sich in den Vordergrund spielte. Er hatte der Polizei berichtet, dass der Mann ihm noch etwas zugeflüstert hatte, bevor er bewusstlos wurde. »Ich brauche eine konkrete Uhrzeit!«, grummelte er. Als Kapitän hatte er die Hoheitsgewalt über das Schiff auf See, aber im Hafen konnte er gegen die Weisungen der Polizei nichts ausrichten. Er bereute seine Entscheidung, die Fahrt nicht fortgesetzt zu haben. Die Dänen waren nicht so stur wie diese Kommissarin.
Bente sah zu dem Mercedes SUV, der von den Mitarbeitern der SpuSi untersucht wurde. Ihr Handy klingelte und auf dem Display erkannte sie die Nummer von Frauke Godhusen. »Moin, Frau Godhusen«, meldete sie sich. Auch wenn sie die neue Rechtsmedizinerin in den letzten drei Monaten schon häufig gesehen hatte, waren sie nicht zum Du übergegangen. Bente mochte die resolute, zierliche Frau und glaubte, dass diese Sympathie auf Gegenseitigkeit beruhte.
»Ob es sich um versuchten Mord handelt, kann ich noch nicht sagen.«
Bente fragte nicht nach, sie wusste, dass Godhusen fortfahren würde.
»Der Patient weist alle Anzeichen eines schweren Verlaufs der Dekompressionskrankheit auf.«
Heike trat zu Bente und hob fragend eine Augenbraue. »Frau Godhusen, ich stelle auf Lautsprecher, Frau Röder hört mit, was genau ist die Dekompressionskrankheit?«
»Ein Taucherunfall?«, rief Heike verwundert.
»Einhundert Punkte, Frau Röder. Ganz offensichtlich ist der Mann zu schnell aufgetaucht.«
Bente rieb sich nachdenklich das Kinn. »Aus Unwissenheit?«
»Das würde ich ausschließen«, korrigierte die Gerichtsmedizinerin. »Taucher gehen mindestens zu zweit in die Tiefe und wissen um die Gefahr, die ein zu schneller Druckabfall birgt.«
»Als der Mitarbeiter der Fähre ihn aus dem Auto zog, hat er ihm etwas zugeflüstert. Es war Mord«, imitierte Bente eine männliche Flüsterstimme. »Welchen Grund könnte es geben, nicht in die Klinik, sondern auf die Fähre zu fahren?«
»Das können Sie ihn fragen, sobald er ansprechbar ist. Ich habe ihn in die Dekompressionskammer vom Therapiezentrum in Kampen bringen lassen.«
»Sowas gibt´s im Therapiezentrum?«, staunte Bente.
Heike nickte. »Hab ich von gehört! Dieses Therapiehotel in den Dünen vor Kampen bietet gutbetuchten Kunden alle möglichen Anwendungen an, auch Sauerstoffbehandlungen in der Druckkammer.«
»Okay, ich muss gestehen, ich habe Angst vorm Tauchen und kenne mich gar nicht aus«, erklärte Bente.
»Wovor genau hast du da Angst? Es ist einfach nur ergreifend, die Unterwasserwelt zu entdecken!«, rief Heike verwundert.
»Vor Haien, die wohnen da nämlich!« Bente dachte an die Urlaube am Roten Meer, die sie mit ihrem Exmann Lutz gemacht hatte. Während er begeistert einen Tauchkurs absolviert hatte, war sie allein über die Bazare gegangen.
»Haie beißen Sie nur, wenn Sie nass sind!«, gab Godhusen trocken von sich.
Bente mochte den Humor der Rechtsmedizinerin. »Bei welchen Krankheiten wird so eine Druckkammer benötigt?«, brachte sie das Thema zurück auf den Fall.
»Es handelt sich um eine hyperbare Sauerstofftherapie. Die Druckkammer führt zu einer erhöhten Sauerstoffbindung an das Hämoglobin. Das hilft bei Vergiftungen, Tinnitus, Wundheilungsstörungen und sogar beim Tumorwachstum«, dozierte Godhusen.
»Okay, aber nichts von dem trifft auf unser Opfer zu, oder?«
»Ja, der Mann hat einfach nur Glück, dass hier auf Sylt eine Kammer ist. Die nächste wäre in Neumünster oder bei der Marine in Eckernförde gewesen. Bis dahin hätte er es nicht geschafft.«
»Ist er ansprechbar?«
»Nein, die Verweildauer in der Kammer richtet sich nach der Schwere der Symptome. Bei ihm würde ich von mindestens einer Woche ausgehen.«
Ein Mitarbeiter der Spurensicherung kam zu Bente und präsentierte ihr einen kleinen Plastikbeutel, in dem ein Fahrzeugschein war. »Der Wagen ist auf Hans Jörg Klinsberg zugelassen.«
»Besorg mir alles zu diesem Klinsberg«, wandte Bente sich an Heike. »Und wenn Sie mit Ihrer Vermutung von mindestens zwei Tauchern recht haben, Frau Godhusen, gibt es einen Zeugen, den wir finden müssen!«
Godhusen murmelte zustimmend und beendete das Telefonat.
Ein Abschleppwagen fuhr rückwärts auf das Parkdeck und Bente eilte zu dem SUV. Sie warf einen Blick in den offen stehenden Kofferraum. Dort lag eine Taucherausrüstung. Sie sah kleine Salzkristalle auf dem Neopren und murmelte leise: »Wovor bist du geflüchtet, Hans Jörg Klinsberg?« In Gedanken versunken, bemerkte sie den Mann hinter sich nicht. Erst ein Räuspern ließ sie herumfahren. Vor ihr stand ein blonder Hüne Mitte dreißig.
»Sie sind Hauptkommissarin Brodersen?« Sein dänischer Akzent war unverkennbar, aber im Gegensatz zu den meisten Leuten, die diese Sprache niedlich fanden, erinnerte sie das scharfe ‚s‘ immer an die Schlangen aus dem Dschungelbuch und Harry Potter. »Ja, und Sie sind?«
»Juul, Birger Juul, Hauptkommissar Polizei Tøndern.« Er zückte eine Dienstmarke.
»Was wollen Sie hier?«, fragte Bente und biss sich sofort auf die Zunge. Das mit der Höflichkeit hatte noch Luft nach oben.
»Der Zwischenfall ereignete sich in dänischen Gewässern, deshalb bin ich mit dem Polizeiboot hergekommen«, erklärte er freundlich.
»Aber sowohl Fähre als auch Opfer sind deutsch!«, erwiderte sie und zog eine Grimasse, die freundlich aussehen sollte. Die Seegrenze zwischen Sylt und Dänemark verlief knapp oberhalb des Lister Ellenbogens. Dieser dänische Kollege hatte natürlich recht, aber sie war nicht gewillt, den Fall an ihn abzugeben.
»Wie gesagt, wir wollen erfahren, was da vorgefallen ist, ich kann aber auch ein offizielles Ansuchen der Polizeidirektion Esbjerg stellen.«
Bente seufzte ergeben. »Gut, Sie können in beratender Funktion an den Ermittlungen teilhaben!«
Juul lächelte entwaffnend. »Deal! Wissen Sie schon, um wen es sich handelt?«
»Im Moment deutet alles auf einen Hans Jörg Klinsberg hin. Er liegt in Kampen in einer Dekompressionskammer und ist nicht ansprechbar.«
»Er lebt also?«
Bente nickte. »Wieso?«
»Weil wir von einer männlichen Leiche ausgingen. Ist wahrscheinlich in der Hektik voreilig geäußert worden.«
»Bis jetzt gehen wir von einem Tauchunfall aus, allerdings hat er dem Fährmitarbeiter gegenüber noch drei Worte gesagt, ehe er das Bewusstsein verlor.«
»Die berühmten drei Worte, ich liebe dich?«, grinste Birger Juul.
Bente sah ihn verwundert an. Machte dieser smarte Polizist einen schlechten Witz? »Klinsberg war offensichtlich auf der Flucht und schwebt in Lebensgefahr. Da sind Scherze nicht angebracht, oder?«, fuhr sie ihn scharf an.
»Undskyldning, Frau Kommissarin. Es war dumm von mir«, murmelte er zerknirscht.
»Unterlassen Sie bitte zukünftig solch respektlose Bemerkungen.« Bente fühlte sich unvermittelt wie eine alte Gouvernante. Der Däne schien sympathisch zu sein und hatte sich entschuldigt, damit musste es gut sein. Sie konzentrierte sich wieder auf den Fall. »Es war Mord, lauteten die drei Worte, dann wurde er bewusstlos«, berichtete sie versöhnlich.
»Das heißt, wir wissen nicht, ob er den Namen des mutmaßlichen Mörders kennt«, überlegte Juul laut.
»Das glaubst du nicht!« Heike trat zu ihnen und starrte auf ihr Handy. »Hans Jörg Klinsberg ist ...« Sie verstummte, als sie den blonden Dänen neben Bente bemerkte.
»Kommissarin Heike Röder«, stellte Bente sie vor und zeigte dann auf den dänischen Kollegen. »Birger Juul, von der ...«
»Polizeikommissariat Tøndern«, unterbrach er Bentes Satz und streckte Heike die Hand entgegen.
Perplex erwiderte sie den kräftigen Händedruck. »Sie sind hier wegen des ...«
Er nickte. »Das Ereignis fand in dänischen Gewässern statt und wir haben ein berechtigtes Interesse an dem Fall.«
»Das heißt, wir ermitteln gemeinsam?« Heike war für Bentes Geschmack zu erfreut über diesen neuen Kollegen.
»Offiziell bin ich nur als Berater dabei. Noch gibt es von unserer Seite keinen Grund, die Zuständigkeit zu prüfen und in die Ermittlungen einzugreifen.«
Bente biss sich auf die Zunge. Dieser dänische Kommissar schoss deutlich übers Ziel hinaus. Allerdings musste sie zugeben, dass sie nicht anders auftreten würde, Kommissare waren von Natur aus Revierpisser, da bildete sie keine Ausnahme. »Also, was wolltest du gerade sagen?«, wandte sie sich an Heike.
»Hans Jörg Klinsberg ist stellvertretender Staatssekretär im schleswig-holsteinischen Wirtschaftsministerium!«
Bente pfiff durch die Zähne. Ihr war sofort bewusst, dass der Bundesnachrichtendienst und das Amt für Verfassungsschutz die Leitung des Falles übernehmen würden. »Dann war´s das für uns! Keine Chance, das übernimmt der Staatsschutz«, brummte sie ärgerlich.
Heike nickte vielsagend. »Wir müssen die sofort in Kenntnis setzen.«
»Ich veranlasse das, sobald ich im Büro bin«, nickte Bente. Sie würde ihren alten Chef Georg Wissner vom LKA in Kiel anrufen. Vielleicht hatte er eine Idee, wie sich die Zusammenarbeit mit dem Staatsschutz-Dezernat erträglich gestalten ließ. Sie würde sich nicht zum Handlanger degradieren lassen! Mühsam beherrschte sie die aufsteigende Wut. Natürlich würden sie und ihr Team den Weisungen der übergeordneten Beamten Folge leisten müssen.
»Damit wird die Sache auch für die dänischen Behörden interessant«, meldete Juul sich zu Wort und sah Heike verschmitzt an. »Wir werden wohl enger als gedacht zusammenarbeiten.«
Bente winkte genervt ab. »Schon vergessen, Herr Juul, Sie sind offiziell als Berater hier, nicht mehr und nicht weniger!«
Kapitän Retzlaff eilte zu ihnen und Bente sah ihm die Verärgerung an. Die RömöExpress dümpelte in der Hafeneinfahrt. Offenbar konnte sie nicht anlegen, solange das Terminal von der SyltExpress blockiert war.
»Sie können jetzt auf der Brücke die Videoaufnahmen vom Verladen und vom Parkdeck ansehen. Folgen Sie mir auf die Brücke!« Retzlaffs Stimme war weder freundlich, noch zeigte er sich kooperationsbereit, aber Bente wusste, dass er lediglich seinen Job ausüben wollte. »Zu Befehl, Käpt´n!«, flüsterte sie Heike zu und zu dritt folgten sie ihm.
Auf dem Monitor, der neben dem Führerstand an der Wand hing, sahen sie die Aufnahmen der Überwachungskameras. Als der Mercedes SUV ins Bild kam, wies Heike den zuständigen Offizier an: »Das ist der Wagen! Ab jetzt bitte in Zeitlupe.«
Gebannt verfolgten sie den Weg des Autos. Es war deutlich zu erkennen, dass der Fahrer sich mehrfach zu allen Seiten umdrehte, solange der Wagen in der Schlange stand.
»Er guckt sich nach einem Verfolger um«, kommentierte Bente die Aufnahme.
»Also war er nicht auf der Flucht vor der Polizei, sondern vor jemand anderem.« Heike stand direkt neben Juul, der sich mehr für sie als für die Bilder auf dem Monitor zu interessieren schien.
Im weiteren Verlauf sahen sie den SUV auf die Parkposition fahren und den Fahrer in Liegeposition abtauchen. Nach zwölf Minuten trat ein Mitarbeiter der Reederei an das Seitenfenster, klopfte und riss schließlich die Fahrertür auf. Sofort rief er über sein Funkgerät Helfer herbei, kurz darauf änderte die Fähre den Kurs.
»Wir haben zwar einen Erste-Hilfe-Koffer an Bord und alle Mitarbeiter müssen regelmäßig Auffrischungskurse belegen, aber als ich ihn sah, wusste ich sofort, dass er in die Druckkammer gehört«, erklärte Retzlaff.
Bente warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Sind Sie Hobbytaucher?«
»Nee, früher bei der Marine war ich bei den Kampfschwimmern, da hab ich reichlich Kameraden gesehen, die zu schnell hochgekommen sind«, brummte er durch seinen Vollbart. »Und der hier ...«, er zeigte mit dem Finger auf den Bildschirm, »... war ziemlich weit unten, so viel ist sicher! Dann kann ich jetzt ablegen?«
Bente sah den Abschleppwagen von der Fähre fahren. »Sobald Sie die Aufnahmen an uns gesendet haben!«
Alle Spuren waren gesichert, der Wagen würde von der KTU auseinandergenommen werden und Klinsberg befand sich in der Druckkammer. Er hatte sein Auto nicht verlassen, also stand der Wiederinbetriebnahme des Fährverkehrs nichts im Wege.
Heikes Handy klingelte. »Klemme, was gibt´s?« Als sie kurz darauf das Telefonat beendete, wiederholte sie die Informationen: »Klinsberg hat ein Schiff hier im Lister Hafen, die Nordica. Laut Hafenmeister ist es um 5:08 Uhr rausgefahren. Er hat drei Personen an Deck gesehen. Das Schiff ist bisher nicht in den Hafen zurückgekehrt.«
»Also muss es zwei Zeugen geben, die uns was über diesen Tauchunfall sagen können, oder?«, fragte Juul mit großen Augen.
Heike strahlte ihn an. »Ja, aber sie sind entweder noch auf See oder haben in einem anderen Hafen festgemacht.«
Bente griff zu ihrem Handy und wählte die Nummer der Dienststelle. »Klemme, alarmiere die Küstenwache und gib alles durch, was wir haben. Heike schickt dir in diesem Moment die neuesten Infos!«
»Wird gemacht, Chefin, gesucht wird die Nordica von Klinsberg, richtig?«
»Ja, und zwei Personen, die sich an Bord des Schiffes befinden oder befanden!« Bente legte auf und sah hinaus auf die graue See. Weiße Schaumflocken wirbelten auf den Wellenkämmen wie Tischtennisbälle umher. Es war windig und kalt. Das Wasser hatte höchstens acht Grad. »Hoffentlich finden wir nicht zwei Leichen«, seufzte sie leise.
In der Dienststelle telefonierte Bente mit Georg Wissner, bevor sie den BND und das Bundesamt für Verfassungsschutz über den Unfall des Staatssekretärs informierte. Das Gespräch verlief wie erwartet.
Der zuständige Kollege Stefan Clausen gab ihr sofort Anweisungen, wie sie weiter zu verfahren hatte. »Ich bin so gut wie auf dem Weg zu Ihnen und erwarte Ihre volle Unterstützung, Hauptkommissarin Brodersen.«
Bente rollte mit den Augen angesichts dieser Standardphrase. »Ja, natürlich, wir haben die Küstenwache alarmiert und lassen nach Klinsbergs Schiff suchen.«
»Da muss ein riesiges Gebiet abgesucht werden ...«, murmelte Clausen, »... und es wird bald dunkel.«
»Es sind zwei Küstenwachschiffe und ein SAR-Hubschrauber im Einsatz«, klärte Bente ihn auf.
»Falls Klinsberg irgendwie von seinem Schiff getrennt wurde, kann die Nordica nicht allzu weit von der Küste entfernt sein.«
Bente gefiel, dass er sofort Schlüsse zog und Theorien aufstellte. »Zumindest nicht zum Zeitpunkt seines Tauchgangs, oder?«
»Genau! Er muss schließlich irgendwie zu seinem Wagen gekommen sein. Die Symptome treten nicht sofort nach Auftauchen auf, aber ganz sicher ist er nicht kilometerweit geschwommen.«
»Die Tauchausrüstung befand sich im Kofferraum seines Wagens. Er könnte bis ans Ufer getaucht sein, um unentdeckt an Land zu gehen.«
»Interessante Theorie, Frau Brodersen.« Bente horchte auf. So wie er mit ihr kommunizierte, schien Clausen ein Teamplayer zu sein.
»Er hat gesagt, es wäre Mord gewesen, richtig?«
»Seine genauen Worte waren, laut Aussage des Fährmitarbeiters: Es war Mord.«
Clausen schwieg einen Moment am anderen Ende der Leitung und murmelte dann leise: »Lässt sich die Taucherkrankheit auch auf anderem Wege herbeiführen?«
»Sie meinen, durch eine Art Vergiftung, Injektion oder etwas Ähnliches?«
»Zum Beispiel.«
»Ich befrage unsere Gerichtsmedizinerin Godhusen dazu«, erwiderte Bente.
»Frauke Godhusen?« Clausens Stimme schnellte zwei Oktaven höher.
»Sie kennen sie?«
»Leider«, antwortete er knapp.
Bente beschloss, nicht nachzufragen, aber seine Antwort ließ darauf schließen, dass die beiden nicht gut miteinander auskommen würden. Letzten Endes wusste sie nichts über Godhusens Vergangenheit. Weshalb auch, sie würde es anders herum auch nicht wollen. Dienst und Privatleben waren zwei Paar Schuhe, nach diesem Grundsatz richtete sie sich seit Jahren. Es hatte lange gedauert, bis sie sich ihre Gefühle für Erik eingestanden hatte. Als Polizeiobermeister der Wache Sylt war er ein Kollege und schied damit als Partner aus. Zumindest hatte sie das geglaubt. Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln in ihr Gesicht. Nie zuvor war sie glücklicher in einer Beziehung gewesen.
»Stellen Sie eine Wache bei Klinsberg ab!«, befahl Clausen.
»Schon geschehen!«
»Gut, dann sehen wir uns morgen Früh bei Ihnen im Büro!«, verabschiedete er sich.
Bente warf einen Blick auf die Uhr. Klemme und Timme waren bereits im Feierabend. Heike saß mit dem dänischen Kollegen an ihrem Schreibtisch. Sie sahen sich die Aufnahmen von der Fähre noch einmal an.
Unter Bentes Tisch hatte sich Ulrike zusammengerollt und wartete geduldig darauf, dass sie mit den Füßen über ihren Rücken schubberte. Das schrille Klingeln des Telefons zerriss die Stille. Sie winkte ab, als Heike aufsprang, und nahm ab. »Shit!«, stöhnte sie nach einigen Sekunden.
Arne Dahlsen, der Kapitän der Kniepsand, dem Zollboot der Küstenwache, war im Bereitschaftsdienst, als er den Befehl erhielt, die Nordica zu suchen. Dahlsen kannte das Schiff gut. Er hatte an einigen Angeltouren mit dem Kutter teilgenommen, bevor der Hobbytaucher Klinsberg das Schiff erworben und kostenintensiv hatte umbauen lassen.
Dahlsen überprüfte seine Monitore und schüttelte ärgerlich den Kopf. Offenbar war das Transpondersystem der Nordica ausgeschaltet. Auf dem Radar sah er alle mittels eines automatischen Identifizierungssystems georteten Schiffe in einem Radius von 50 Seemeilen. Er markierte jedes Einzelne und erhielt umgehend die entsprechenden Schiffsdaten auf dem Monitor. Es handelte sich überwiegend um Fischerboote, die vor Einbruch der Nacht Kurs auf den Heimathafen gesetzt hatten.
Dahlsen wies den Funker an, alle Kapitäne nach einer Sichtung der Nordica zu fragen. Er selbst arbeitete die angezeigten Punkte vom Radarbildschirm ab. Schließlich waren es nur noch zwei unidentifizierte Schiffe, die sich in dem Gebiet aufhielten. Eines davon machte keine Fahrt. Eilig setzte er Kurs auf die Koordinaten dieses Schiffes, zu der Position des anderen schickte er den Seenotrettungskreuzer Minden, der sich in der Nähe befand.
Als die Kniepsand mit 26 Knoten durch die Wellen pflügte, stand Dahlsen mit einem Fernglas auf der Brücke und erkannte die Nordica aus drei Seemeilen Entfernung. Er gab den Befehl, längsseits zu gehen, und rief die Besatzung der Nordica mehrfach über Funk und Megafon. »Jemand an Bord?«, rief er lautstark, als die Schiffe im Päckchen lagen. Es kam keine Antwort. Dahlsen und zwei seiner Offiziere sprangen an Deck. Die starken Suchscheinwerfer des Zollbootes leuchteten alle Ecken aus. Es herrschte eine bedrückende Stille. Der 12 Meter lange ehemalige Kriegsfischkutter schaukelte in den Wellen. Dahlsen kannte die Geschichte dieser robusten Schiffe. Bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg war der Bau vom Reichsministerium in Auftrag gegeben worden. Sie dienten als Vorposten der Kriegsmarine im Zweiten Weltkrieg. Diese Kutter waren mit Fanggeschirr ausgerüstet gewesen und hatten im Krieg leichte Flakgeschützaufbauten getragen. Die meisten dieser Kriegsfischkutter, die offiziell das Kürzel KFK trugen, wurden nach Kriegsende wieder der Fischerei zugeführt. Bis heute waren Dutzende dieser Schiffe im Einsatz. Auf Sylt gab es neben der Nordica einen großen KFK mit 24 Meter Länge, die Gret Palucca. Sie war unter dem Namen Elisabeth bei den Seeschlachten gegen die Briten im Kriegseinsatz gewesen und diente heute als Ausflugsschiff. Täglich fuhr sie von List aus zu den Robbenbänken und ermöglichte den Gästen, Krabben zu fangen und an Bord zu kochen. Die Nordica war laut Schiffsregister im Zweiten Weltkrieg unter dem Namen Simone als Wachboot in den Gewässern vor Helgoland eingesetzt worden. Andere Kutter dieser Baureihe lagen als Fischimbiss oder Restaurantschiff in den Häfen von Eckernförde, Wismar und Büsum.
Dahlsen betrat den Steuerstand der Nordica. Alle Messinstrumente und Monitore waren ausgeschaltet. Der Motorschlüssel steckte. Er stieg die Holzstufen vom Niedergang ins Vorschiff hinunter. Hier lagerten die Taucherausrüstungen. An den Haken war Platz für fünf Taucheranzüge. Drei Haken waren leer. »Niemand an Bord, Käpt´n!«, meldete sein Offizier aus der Achterkajüte.
Dahlsen nickte. »Wie auf einem Geisterschiff«, murmelte er. Was war mit der Crew passiert? Laut Hafenmeister hätten mindestens drei Personen an Bord sein müssen. Kein Skipper verließ sein Schiff auf hoher See freiwillig. Bei Tauchgängen blieb immer einer an Bord. Es musste ein Unglück gegeben haben, aber ihm fiel keine plausible Erklärung ein.
Zurück an Deck sah er prüfend zum Himmel. Keine halbe Stunde bis Einbruch der Dunkelheit. Taucher würden erst morgen Früh mit der Suche beginnen können. »Starten Sie die Maschine! Wir bringen die Nordica nach List«, rief er seinen Kollegen zu und beugte sich über die Reling, um die backbords eingehängte Badeleiter einzuholen. Als er die Spuren am Freibord sah, stieß er einen Fluch aus.
Norwegen
Hammerfest
Die MS Versterålen trug den Namen des allerersten Fährschiffes von Kapitän With und gehörte zur Flotte der Hurtigruten AS. Sie hatte an der Pier in Hammerfest angelegt.
Die Stadt am Fuße des schneebedeckten und zerklüfteten Bergplateaus pulsierte trotz der wenigen Stunden Tageslicht. Die Bewohner waren es gewohnt, bei künstlicher Beleuchtung die Tage zu verbringen. Bürogebäude, Einkaufszentren und Restaurants leuchteten um die Wette. Am Hafen sorgten große Scheinwerfer auf hohen Masten für taghelles Licht. Am Frachtterminal wurde Ladung gelöscht und die Bäuche der Fischerboote leerten sich direkt in die angrenzende Fischfabrik.
Sven Hagen kannte Hammerfest von zahlreichen Besuchen. Die Sonne blieb in diesen Breitengraden vom 20. November bis 22. Januar unter dem Horizont, ähnlich wie im nördlichen Alaska und Sibirien. Nicht umsonst war Hammerfest die erste Stadt Europas, wo 1891 eine elektrische Straßenbeleuchtung installiert wurde.
Sven war auf dem Weg zurück nach Bergen. Seine Kollegen rieten ihm zwar immer, die Flugverbindung zu nutzen, aber er liebte den Zauber der alten Postschiffe. Die wilde Schönheit der Küste ließ sich nur von der Wasserseite bewundern. Schönere Fjorde und Felsen gab es nirgendwo anders auf der Welt. Außerdem hatte er es nicht eilig.
Sein Handy zeigte zwei eingegangene Mails an. Ein Kollege aus dem Büro in Berlin hatte ihm Nachrichtenlinks gesendet. Er las die Berichte und sank niedergeschlagen auf die schmale Pritsche in seiner Kajüte.
Der Tod gehörte für ihn zum Geschäft, aber er fühlte sich bedrohlicher an, wenn er das eigene Umfeld erreichte.
Stefan Clausen fuhr langsam die Waggons des Syltshuttles