SYLTKRIMI Regengrab - Krinke Rehberg - E-Book

SYLTKRIMI Regengrab E-Book

Krinke Rehberg

0,0
4,49 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Die im Dunklen sieht man doch Hauptkommissarin Bente Brodersen ermittelt mit friesischer Sturheit auf Deutschlands nördlichster Insel. Am Bahnhof von Westerland stirbt eine Klimaaktivistin unter mysteriösen, ungeklärten Umständen. Die Obduktionsergebnisse lassen Hauptkommissarin Bente Brodersen verzweifeln. Als zwei Kollegen lebensgefährlich an ähnlichen Symptomen erkranken wie die Klimaaktivistin, beginnt für Bente und ihr Team ein Wettlauf gegen die Zeit. Erst eine ehemalige Lehrerin der jungen Frau bringt die Kommissarin auf eine Spur, doch nichts an diesem Fall passt wirklich zusammen. Bente greift nach einem letzten Strohhalm. Die raue See, der frische Wind und die endlosen Dünen machen SYLT zum idealen Schauplatz der spannenden Küstenkrimis. Jeder Teil der Syltkrimiserie ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© 2023 KRINKE REHBERG
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
Epilog
Leseprobe
Prolog
1
DANKE

KRINKE REHBERG

Regengrab

© 2023 KRINKE REHBERG

Alle Rechte an Cover/Logo/Text/Idee vorbehalten.

Imprint: Independently published

Covergestaltung: MOTTOM

depositphotos@missisya – depositphotos@EN-design – epositphotos@NwewAfrica – istockphoto@travellinglight

Autorenservice at Tomkins – Krinke Rehberg, Am Wald 39, 24229 Strande

Dieser Kriminalroman ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und/oder realen Handlungen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Sabine

Sie ist alles in oin!

ACH JA: NIEMAND IST PERFEKT!

Daher bitte ich, eventuelle Rechtschreibfehla zu entschuldigen ...; )

»Die im Dunklen sieht man doch.«

1

Kein Lüftchen wehte an diesem warmen Frühlingstag über die Insel. Sylt war ausgebucht, Ostern lag in der zweiten Aprilhälfte und viele Familien genossen das sommerliche Urlaubswetter am Strand. Spiegelglatt präsentierte sich die Nordsee und lud zum Baden ein. Alle Strandkörbe waren belegt und in den Restaurants an der Promenade gab es keinen freien Tisch.

Die Kinder plantschten im flachen Uferbereich, Sandburgen wurden gebaut und mit Muscheln verziert. Zahlreiche Bikinis und Badehosen waren noch schnell in den Westerländer Geschäften gekauft worden, um den unverhofft hochsommerlichen Tag mit einem Sonnenbad genießen zu können. Die Idylle trügte.

Plötzlich gellten Schreie über den Strand. Wie eine La-Ola-Welle breitete sich die Panik kreisförmig aus. Badegäste sprangen kreischend von ihren Laken auf, Eltern brachten ihre Kinder in Sicherheit.

Eine junge Frau schritt hocherhobenen Hauptes durch die Menge. Von ihren langen, schwarzen Haaren tropfte Blut. Sie trug nichts als ein weißes Hemd, über und über von Blutspritzern bedeckt. Mit ihren ausgestreckten Händen umklammerte sie ein blutiges Messer. Wie in Trance wandelte sie über Badehandtücher und stieg über Spielsachen und Taschen hinweg. Zu ihren Füßen verfärbte sich der Sand blutrot, ihre Lippen waren blass und bläulich, als wäre sie extremer Kälte ausgesetzt gewesen. Ihr Blick war starr auf den Horizont gerichtet.

Offensichtlich nahm sie die Menschen um sich herum nicht wahr.

Dutzende Handykameras waren auf sie gerichtet. Noch bevor Polizei und Rettungskräfte eintrafen, waren diese Videos im Netz hochgeladen worden. Nach wenigen Stunden betrugen die Klicks dieser Videos unter dem Hashtag #BloodyLucy mehrere hunderttausend.

2

Bente nutzte ihre Mittagspause für einen ausgedehnten Strandspaziergang mit Ulrike, ihrer Labradorhündin.

Amüsiert verfolgte sie den Kampf zwischen der aufgeregten Hündin und einer wehrhaften Strandkrabbe, die sich seitwärts Richtung Wasser bewegte und ihre Scheren als Waffe einsetzte. Ulrike umkreiste kläffend ihren Gegner, stieß einige Male mit der Pfote gegen den Panzer und jaulte schließlich frustriert auf, als die Krabbe das Wasser erreichte und sich in den Boden eingrub.

»Dummes Mädchen«, murmelte Bente lächelnd vor sich hin, warf einen Stock ins Wasser und sah zu, wie Ulrike mit großen Sprüngen hinterherrannte. Nach wenigen Sekunden stand die Hündin triefend nass vor ihr, legte den Stock ab und setzte sich erwartungsvoll in einem Meter Entfernung in den Sand. Dieses Spiels wurde sie nie müde. Bente tat ihr den Gefallen und warf immer wieder den Stock, bis ihr Handy in einer der Taschen ihrer Cargohose vibrierte. Auf dem Display sah sie die Nummer der Dienststelle. »Ich hab Mittagspause«, sagte sie lapidar.

»Am Strand vor Westerland läuft eine blutüberströmte Frau mit einem Messer herum!«, entgegnete Heike. Sie war die Jüngste in ihrem vierköpfigen Team und im Laufe der letzten Jahre zu einer Freundin geworden.

Bente schirmte die Augen mit der Hand ab. In einiger Entfernung, Höhe Beach-House, erkannte sie einen Menschenauflauf am Strand. »Ist jemand verletzt?«

»Keine Ahnung, die Meldung kam gerade rein, wir sind auch schon auf dem Weg, bis gleich«, erwiderte die junge Kommissarin.

»Okay.« Bente versenkte das Handy in der Hosentasche, pfiff Ulrike heran und sprintete los. Der Sand war fest und die Strecke betrug keine dreihundert Meter. Obwohl sie Rückenwind hatte, musste sie bereits nach der Hälfte das Tempo drosseln. Stöhnend fiel sie in einen Dauerlauf und zwang sich die letzten fünfzig Meter zu einem Endspurt. Keuchend befahl sie Ulrike: »Platz!«, bevor sie mit rasendem Puls bei dem Rettungswagen ankam, der vor zwei Minuten mit Blaulicht und Sirene an ihr vorbeigeprescht war. Zwei Sanitäter brachten eine blutüberströmte, junge Frau zu den offenstehenden Hecktüren des Wagens. Daneben erkannte sie Heike. Völlig aus der Puste beugte Bente sich vor, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und atmete tief ein und aus.

Heike berichtete: »Keiner hat gesehen, wo sie herkam, sie stand plötzlich am Strand, blutüberströmt und ein Messer in der Hand.«

»Haben wir ... Meldung über ... einen Vorfall, ... Messerverletzung?«, presste Bente zwischen den Atemzügen hervor.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Heike besorgt.

»Keine Kondition ..., muss das Alter sein.«

»Hansen ist alt, aber du...« Heike hob eine Augenbraue. »Du bist mittelalt.«

Bente streckte sich und entgegnete pikiert: »Mittelalt? Wie tröstlich.«

Heike nickte. »Jedenfalls haben wir bis jetzt nichts, was auf eine Messerattacke hindeutet.«

»Wer ist sie?«

»Wissen wir noch nicht, sie trägt nichts bei sich.«

Bentes Puls beruhigte sich langsam. Sie beobachtete die Rettungssanitäter, die die Frau nach Verletzungen absuchten. Sie war auffällig geschminkt, blutrote Tränen verzierten ihre Wangen, die Augen schwarz umrandet, die Finger- und Fußnägel rot lackiert. Ein viel zu großes Herrenhemd, die Ärmel bis zum Ellenbogen hochgekrempelt, war das einzige Kleidungsstück, das sie trug. Ein Sanitäter legte ihr eine Decke um die Schultern.

Bente konzentrierte sich auf das ausdruckslose Gesicht der jungen Frau. Sie schien stark traumatisiert, ihre Augen starrten emotionslos zum Wasser. Plötzlich verzogen sich ihre Lippen für eine Sekunde zu einem diabolischen Grinsen.

Erschrocken zuckte Bente zusammen. Bedeutete diese Mimik, dass sich irgendwo ein übel zugerichtetes Opfer befand? Oder konnte all das Blut von der Frau stammen?

Sie trat zeitgleich mit der eingetroffenen Notärztin an den Rettungswagen und raunte ihr zu: »Wir wissen nicht, ob die Frau eine andere Person lebensgefährlich verletzt hat. Wir sind also in Zeitdruck.«

Die Ärztin warf einen prüfenden Blick in den Rettungswagen zu ihrer Patientin, die auf der Liege lag und von den Sanitätern an einen Tropf gelegt wurde. »Ich denke nicht, dass sie ansprechbar ist«, flüsterte sie schulterzuckend und stieg in den Wagen.

Bente wartete ungeduldig, bis die Ärztin sich nach weniger als einer Minute zu ihr drehte. »Es gibt keine verletzte Person!«

Bente starrte die Ärztin mit der runden Nickelbrille verwundert an.

»Das ist kein Blut!«, erklärte sie.

»Äh, was, bitte? Wieso hat das keiner festgestellt?«

»Weil das meine Aufgabe ist und ich gerade erst angekommen bin«, konterte die Ärztin. »Die Hilfs- und Einsatzkräfte sind für die Durchführung des Notfallplans verantwortlich. Sie haben die Erstversorgung der Frau übernommen, meine Aufgabe ist die ärztliche Diagnose und die lautet: keine Verletzten, weil kein Blut.«

»Und was ist es dann?«, fragte Bente irritiert.

»Filmblut«, kam die prompte Antwort. Die Ärztin wandte sich an die Sanitäter, die sich ratlos ansahen: »Ihr könnt den Tropf abnehmen, ich gebe ihr ein Benzodiazepin.«

Bente wusste, dass es sich dabei um ein Beruhigungsmittel handelte und sah wieder zu der jungen Frau, die sich plötzlich aufsetzte und lauthals lachte.

Alle Umstehenden dachten an eine spontane Schockreaktion, bis die Frau aufsprang, das kunstblutdurchtränkte Hemd von ihrem Körper riss und es in hohem Bogen aus dem Rettungswagen warf. Splitterfasernackt stellte sie sich in die Tür und rief: »Willkommen in Lucys kleiner Horrorshow!« Sie nahm eine Siegerpose ein und drehte sich zu allen Seiten.

Für eine Sekunde herrschte ungläubiges Schweigen, dann brach ein Tumult aus.

Wie durch Watte hörte Bente die Empörung der Strandbesucher.

»Die tickt doch nicht richtig!«

»Wie krank ist das denn?«

»Die gehört in `ne Gummizelle!«

Sie starrte die junge Frau an und sah die fanatische Begeisterung in ihrem Gesicht. Lachend stellte sie sich immer wieder in Pose, Dutzende Handys und die Kamera eines Pressefotografs waren auf sie gerichtet.

»Folgt mir auf TikTok, Insta und Twitter«, rief sie und formte mit den Händen ein Herz in Richtung ihres Publikums. »Nicht vergessen: Bloody Lucy!« Ihre Stimme klang kraftvoll und erreichte auch diejenigen, die gebührend Abstand hielten.

»Das war alles nur Fake?«, fragte Heike fassungslos.

Bente nickte, trat auf die junge Frau namens Lucy zu und verpasste ihr eine schallende Ohrfeige.

3

Vier Wochen später

Bente hatte sich nach dem Vorfall am Strand zurückgezogen. Sie hatte in Eriks Wohnung eine Tasche mit Klamotten gepackt und war in ihr Apartment gegangen. Seit fast einem Jahr war sie nur auf Stippvisite dort gewesen, um Post zu holen oder zu lüften. Erik und sie hatten keinen Streit, aber Bente brauchte den räumlichen Abstand.

Das mediale Gewitter, das nach der Ohrfeige über sie hereingebrochen war, hatte sie erschüttert.

Die zwanzigjährige Luisa Kleistmann, alias BloodyLucy, hatte sich mit provokanten Aktionen eine Fangemeinde im Internet aufgebaut. Spätestens mit der Aktion am Strand vor Westerland hatte sie das Ziel erreicht, ein Social-Media-Star zu sein. Zwei Millionen Follower bescherten ihr lukrative Werbeverträge, von den Einnahmen würde sie die Kosten für den Rettungseinsatz zahlen müssen, aber laut Heike könne sie die Summe aus der Portokasse entnehmen.

Die Ohrfeige war unwiderrufbar im Internet verewigt und hatte zu hunderttausenden Klicks geführt. Selbst die Fernsehnachrichten hatten davon berichtet, was wiederum Follower für BloodyLucy generiert hatte.

Drei Tage nach der Aktion war ein Disziplinarverfahren gegen Bente eröffnet worden, das Urteil stand noch aus. Ihre spontane Empörung über die detaillierte Planung und verantwortungslose Ausführung der Aktion hatte sich schnell gelegt. Geblieben war die Wut auf sich selbst. Sie hatte die Kontrolle verloren und wusste, dass die Ursache tiefer lag. Es war an der Zeit, sich Gedanken über die Zukunft zu machen, sowohl beruflich als auch privat.

Der Zuspruch, den sie ungefragt von der älteren Generation bekommen hatte, interessierte sie nicht. Viele fanden die Ohrfeige mehr als gerechtfertigt für die Panik, die Luisa Kleistmann verbreitet hatte.

Auch das Verständnis von Erik und ihren Kollegen tröstete sie nicht über ihre eigene Unzulänglichkeit hinweg. Sie hatte einen Fehler begangen und würde die Konsequenzen tragen. In den Medien war die Ohrfeige als ernüchterndes Beispiel der in Deutschland weit verbreiteten und unberechenbaren Polizeigewalt tituliert worden. Die Follower von BloodyLucy hatten weniger sachliche Kommentare formuliert, die auf Heikes unermüdliches Einwirken von den Serverbetreibern gelöscht werden mussten.

Für Bente bedeutete das Disziplinarverfahren auf jeden Fall eine Zäsur. Im schlimmsten Fall würde sie unehrenhaft entlassen, im besten Fall um eine Gehaltsklasse zurückgestuft und für mindestens fünf Jahre nicht befördert werden.

Nach dem Vorfall hatten Reporter das Polizeirevier belagert, in der Hoffnung, ein exklusives Interview mit ihr machen zu können. Allen Kollegen wurde strengstens untersagt, eine persönliche Stellungnahme abzugeben. Nur langsam hatte sich das mediale Interesse gelegt.

Bente war nach Kiel für eine Aussage vorgeladen worden. Sie hatte sich auf Anraten ihres Vorgängers, Kriminalhauptkommissar a. D. Tammo Hansen, einen Anwalt genommen. Hansen war nach über 40 Jahren im Polizeidienst in Rente gegangen und hatte die Dienststellenleitung der Kripo Sylt an Bente abgegeben. Seine Erfahrung war ihr in vielen Fällen eine hilfreiche Unterstützung gewesen und sie waren nach einigen Anlaufschwierigkeiten Freunde geworden. »Es wird nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird«, hatte er gebrummt.

Bentes achtundzwanzigjährige Tochter Anka, die in Hamburg studierte, hatte sofort angerufen, als sie die Videos im Netz gesehen hatte. »Unglücklich gelaufen«, war ihr Kommentar gewesen. Seitdem hatten sie häufig telefoniert und Bente war überrascht gewesen, wie gut Anka sie kannte. »Dieses Gör hat dir ein Ventil präsentiert, um deinen Frust abzulassen, aber es hat nicht geholfen, oder? Du hast den Schlamassel und der Frust ist immer noch da!«

Auch Erik hatte sich dahingehend geäußert und akzeptierte klaglos ihren Rückzug in die eigenen vier Wände. Er war ihr Fels in der Brandung, seine Liebe gab ihr das Gefühl von Sicherheit, unabhängig von ihrem Dienstgrad. Häufig meldete sich ihr schlechtes Gewissen, ihn gerade in dieser schwierigen Zeit zurückzuweisen, aber er hatte ihr versichert, es sei wichtig für ihre Beziehung, dass sie sich sortiere. Und dass er für sie da sei. Immer.

Das LKA in Kiel hatte aufgrund des medialen Interesses das Disziplinarverfahren zurückgestellt, was nur einen Aufschub bedeutete und bei Bente für weitere Frustration sorgte. Sie wollte eine Entscheidung, um ihr Leben ordnen zu können.

An diesem Morgen, vier Wochen nach der Aktion am Strand, stand sie um 5:30 Uhr auf und ging für eine Dreiviertel Stunde mit Ulrike joggen. Das tägliche Fitnessprogramm zeigte Wirkung. Ihre Kondition hatte sich deutlich gebessert und mittlerweile waren sogar die Muskeln wieder sichtbar. Sie hatte sich gehen lassen, war bequem und faul geworden, aber damit war jetzt Schluss! Zufrieden mit den sieben Kilometern in fünfundvierzig Minuten erreichte sie das Büro. Die Unterbringung der Sylter Polizei in einem Containerbau in der Stephanstraße dauerte seit ihrer Ankunft vor drei Jahren an, eine Rückkehr in das sanierte Gebäude am Kirchenweg war schon mehrfach verschoben worden, da die Kosten für die Sanierung das genehmigte Budget überschritten.

Bente schaltete die Kaffeemaschine ein, füllte Ulrikes Hundenapf mit Wasser, fuhr den Rechner hoch und ging duschen. Zehn Minuten später setzte sie sich mit einem dampfenden Kaffeebecher an ihren Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm. Wie viele Follower würde BloodyLucy mittlerweile haben? Ihre Finger schwebten über der Enter-Taste. »Ach, Shit!«, stöhnte sie laut auf und klatschte die Handfläche auf den Tisch neben der Tastatur.

»Frau Kommissarin?«

Sie sah auf und lächelte erfreut. »Herr Polizeiobermeister.«

»Wenn Sie mit ach, Shit auf mein Erscheinen reagieren, überdenke ich meine Einladung zum Pizzaessen lieber nochmal«, lachte Erik und schloss die Tür hinter sich.

»Oh, bitte nicht, ich nehme jede Bestrafung in Kauf, nur keinen Pizzaentzug«, flehte sie.

Er warf einen Blick in die Teeküche. »Noch keiner da?«

Bente nickte und spürte ein Kribbeln im Bauch. Im nächsten Moment lag sie in seinen Armen und erwiderte den Kuss leidenschaftlich.

Ulrike hob den Kopf und schlug mit der Rute begeistert auf den Boden.

Schließlich umfassten Eriks Hände Bentes Hüfte und er schob sie grinsend auf Armeslänge von sich. »Eindeutig hungrig, aber ich weiß nicht, ob Pizza da hilft«, murmelte er ratlos.

Lange Zeit war es für Bente ein absolutes No-Go gewesen, eine Beziehung mit einem Kollegen zu führen. Sie hatte ihre Erfahrungen gemacht und war nicht gewillt gewesen, den Fehler zu wiederholen.

Es hatte mehrere Monate gedauert, bis sie sich ihre Gefühle für Erik eingestanden hatte, und noch einmal ein halbes Jahr, bis sie ihre Beziehung nicht mehr verheimlicht hatte. Er war der Mann, der ihr nicht nur Liebe, sondern auch Respekt und Verständnis entgegenbrachte. Außerdem teilten sie die Sucht nach Pizza.

»Wolltest du nur hallo sagen?«

Er schüttelte den Kopf und wurde ernst. »Drüben auf der Wache ist ein Mann, mit dem du dich unterhalten solltest.«

Bente hob fragend eine Augenbraue.

»Er ist aus Belarus und will einen Mord melden.«

»Bitte? Worauf wartest du? Bring ihn her!«, rief Bente genervt und riss die Tür auf.

»Schon gut, ich hab nur zwei freundliche Sätze sagen wollen, wenn wir uns schon so wenig sehen.«

»Aber doch nicht, wenn es um Mord ..., wir sind im Dienst, Erik!«

Er ging zurück in die Wache. Bente dachte kurz darüber nach, ob sie zu heftig reagiert hatte, verwarf den Gedanken aber.

Erik kam mit einem Mann Mitte vierzig zurück. »Das ist Kommissarin Brodersen«, sagte er, wies mit der Hand auf Bente und ging wieder.

Sie stand auf und bot dem Mann einen Stuhl an. Ein strenger Geruch ging von ihm aus. Seine Kleidung war für das Baugewerbe typisch, mit Resten von Zement und Farbe verschmutzt.

»Danke.« Er stellte eine große, blaue Plastiktragetasche von IKEA neben den Stuhl und nahm Platz. Skeptisch sah er sich um. Eine Polizeiwache war offensichtlich kein Ort, an dem er sich wohl fühlte.

»Wie heißen Sie?«

»Ich Taras Melnik aus Minsk.«

Bente bemerkte seine Unsicherheit und warf ihm einen beruhigenden Blick zu.

»Ist wegen Bohdan«, fuhr er in gebrochenem Deutsch fort. »Er tot.«

»Wer ist Bohdan?«

»Bohdan Pavlenko, er sein berühmt Reporter in Belarus«, erwiderte er. »Er tot, Mörder!«, sagte er mit Nachdruck und zog seinen Zeigefinger quer über die Kehle.

»Wer hat ihn ermordet und wo befindet sich die Leiche?«, fragte Bente und sah prompt die Überforderung in der Mimik des Mannes. Er musste sich auf jedes einzelne Wort konzentrieren und hob entschuldigend die Schultern.

»Wo ist Bohdan jetzt?«, fragte sie langsam und deutlich.

»Tot.«

Bente nickte. »Wo ist seine Leiche, sein Körper?«

Er strich mit den Fingern durch seinen Vollbart und schüttelte den Kopf. »Ich nicht wissen.«

Sie stand auf und zeigte auf ihren Kaffeebecher. »Kaffee?«

Er nickte heftig und als Bente ihm einen gefüllten Becher reichte, trank er den heißen Kaffee mit gierigen Schlucken.

»Wer hat Bohdan Pavlenko ermordet?«

Melik deutete mit dem Finger nach oben.

Bente ahmte die Bewegung nach. »Jemand von da oben? Meinen Sie Gott?«

Er grinste und schüttelte den Kopf. »Nicht Gott, Leute Geld, viel Geld«, erklärte er und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, die internationale Geste für Geld.

»Wo ist die Leiche von Bohdan Pavlenko?«, versuchte sie es noch einmal und zeigte auf die Karte von Sylt, die an der Wand im Büro hing.

»Boden von Haus.«

»Können Sie mich dorthin bringen?«

Erschrocken riss er die Augen auf. »Niemand wissen, ich bei Polizei«, rief er, fuhr erneut mit dem Finger quer über seine Kehle und tippte sich an die Brust.

»Wer bedroht Sie?«, hakte Bente nach.

Wieder deutete er nach oben.

Es half nichts, sie brauchte einen Dolmetscher! Sie überlegte, ob ein Kollege von der Wache russisch sprach, aber ihr fiel niemand ein. Erik würde es wissen! Sie griff zum Hörer und rief ihn an. Melnik verfolgte jede ihrer Bewegungen und rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her.

»Haben Sie einen Pass?«, fragte Bente, während sie wartete, dass Erik abnahm.

Melnik schüttelte den Kopf und sah zu Boden.

»Einen Ausweis?«, versuchte sie es weiter.

»Nix Papiere«, murmelte der Mann.

Sie legte das Handy beiseite und wollte nicht warten, bis Erik zurückrief. »Kein Problem, ich hole einen Dolmetscher, warten Sie kurz, ich bin sofort zurück«, sagte sie und rannte hinüber zur Wache.

Als sie keine zwei Minuten später zurückkam, war Taras Melnik verschwunden. Nur ein paar abgebröckelte Zementreste auf dem Stuhl zeugten von seiner Anwesenheit.

»Na, super!«, stöhnte Bente und sah vorwurfsvoll zu Ulrike, die unter dem Schreibtisch schlief. »Hättest du ihn nicht aufhalten können?«

4

»Sie ist wieder da!« Mit diesen Worten begrüßte Heike ihre Chefin, als sie eine halbe Stunde später die Dienststelle betrat.

»Wer?« Bente sah vom Schreibtisch auf und war noch in Gedanken bei dem Mann aus Belarus, der von einem Mord gesprochen hatte. Sie hatte das Internet nach dem Namen Bohdan Pavlenko durchforstet, aber nur einige russische Seiten gefunden, die auch mit Google-Übersetzer nicht schlüssig zu lesen waren.

»Na, BloodyLucy! Hast du es noch nicht gehört?«

Bente wirbelte zu Heike herum, die gerade in die Teeküche gehen wollte, um sich einen Kaffee zu holen. »Hat die nicht Inselverbot?«

»Moin, soweit ich weiß, war das im Gespräch. Keine Ahnung, ob das Rathaus das Verbot tatsächlich erteilt hat«, beantwortete Klemme die Frage, die er beim Hereinkommen gehört hatte.

»Moin, dann ruf das Rathaus an und frag nach. Wenn das versäumt wurde, muss es sofort nachgeholt werden, damit sie gar nicht erst nach Sylt kommt.« Bente wollte nicht Gefahr laufen, auf Luisa Kleistmann zu treffen, solange das Disziplinarverfahren noch lief. »Wo bleibt Timme?«, wandte sie sich an Heike, die die Frage stumm und achselzuckend an Klemme weitergab.

»Keine Ahnung, unsere Frauen sind bis heute im Wellnesshotel, gestern Abend haben wir mit den Kindern angegrillt, aber er ist früh nach Hause«, erklärte er stirnrunzelnd.

Klemme und Timme waren nicht nur Kollegen, sondern auch privat befreundet. Sie hatten Kinder im gleichen Alter und wohnten nicht weit voneinander entfernt. Bente wusste, dass auch die Ehefrauen befreundet waren und sich gegenseitig unterstützten, wenn es um die Betreuung der Kinder ging. Es war noch nie vorgekommen, dass Timme sich verspätete.

»Vor einer halben Stunde war ein Mann aus Belarus hier, um einen Mord zu melden«, sagte sie und erzählte von der seltsamen Begegnung mit dem Bauarbeiter aus Belarus. Sie ärgerte sich, dass sie ihn unbeaufsichtigt im Büro hatte warten lassen, aber letztendlich war er freiwillig gekommen und sie hätte ihn nicht festhalten können. Dass er sich sang- und klanglos aus dem Staub machen würde, hatte sie nicht vorhergesehen.

»Sorry«, rief Timme, als er zehn Minuten zu spät ins Büro stürmte. Dann sah er Klemme und stutzte. »Warst du etwa pünktlich?«

Klemme nickte mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

»Meine Kinder haben über Nacht eine Totalamnesie bekommen«, wandte Timme sich an Bente. »Vom Zähneputzen, Bürsten, Waschen und Anziehen bis hin zum Kauen und Trinken haben sie alles vergessen! Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, aber bei Iris klappt das jeden Tag ohne Diskussionen«, seufzte er abgrundtief. Er schüttelte den Kopf, warf seine Jacke über die Lehne und ließ sich erschöpft auf den quietschenden Schreibtischstuhl fallen.

»Tröste dich, das wird noch schlimmer, wenn sie in die Pubertät kommen«, feixte Bente. Timmes zwei Töchter waren im Grundschulalter und sie beneidete ihn nicht. Ankas Verhältnis zu ihr war erst in den letzten Jahren wieder besser geworden, sie hatte sich mit dem Erwachsenwerden vollständig von ihr distanziert. Bente wischte die Erinnerung beiseite und fasste den Besuch des Belarussen für den Nachzögling zusammen.

Timme tippte den Namen des Reporters in den Computer. »Bohdan Pavlenko«, murmelte er und las konzentriert auf dem Monitor.

»Ich hab nur Seiten auf Russisch im Netz gefunden«, erklärte Bente ihm.

»Er ist ein freier Journalist und in seinem Land ziemlich populär.«

»Du kannst Russisch?«, fragte sie verblüfft und auch Klemme und Heike war die Überraschung anzusehen.

»Ich war als Austauschschüler ein halbes Jahr in St. Petersburg, ist lange her«, nickte Timme.

»Das wusste ich gar nicht, Towarischtsch«, frotzelte Klemme mit übertrieben russischem Dialekt und schlug seinem Kollegen auf die Schulter.

»Mein Russisch ist zwar etwas eingerostet, aber ich verstehe den groben Kontext.« Timme zeigte auf den Monitor.

Bente rief sich die seltsame Begegnung von vorhin nochmal ins Gedächtnis. »Melnik meinte, die Leiche läge auf dem Boden, konnte mir aber nicht sagen, wo auf der Insel, geschweige denn, in welchem Haus.«

»Nach deiner Beschreibung könnte er einer der Schwarzarbeiter sein, die hier auf dem Bau zu Hungerlöhnen arbeiten«, äußerte Klemme seinen Verdacht, während er am Telefon wartete, dass er im Rathaus verbunden wurde.

»War auch mein erster Gedanke, aber die melden sich nicht freiwillig bei der Polizei, egal was um sie herum passiert. Er hatte Angst, ob vor dem ominösen Mörder oder vor uns, weiß ich nicht.«

»Wenn es zutrifft, dass er als Schwarzarbeiter illegal in Deutschland ist, dann muss es ihn eine enorme Überwindung gekostet haben, zur Polizei zu gehen.« Heike setzte sich auf die Kante ihres Schreibtisches und nippte an ihrem heißen Kaffee.

»Ich glaube, er hatte vor beidem Angst, deswegen ist er auch wieder gegangen.« Bente war nicht überzeugt. Irgendetwas störte sie an der Geschichte.

»Der Zoll führt doch regelmäßig Kontrollen durch, um Schwarzarbeit zu bekämpfen, oder?«, fragte Heike.

Klemme sah sie kopfschüttelnd an. »Theoretisch ja.«

»Wieso theoretisch?«

»Weil hier auf der Insel Leute mit Geld und Einfluss wohnen, die werden nicht einfach so kontrolliert!«

»Stopp! Klemme, das will ich nicht gehört haben!«, fuhr Bente dazwischen. »Du kannst nicht pauschal alle Leute mit Geld und Einfluss in einen Topf werfen, schwarze Schafe gibt´s überall.« Sie kannte die Berichte und Skandale, wusste aber auch, dass Schwarzarbeit in jeder Einkommensklasse weit verbreitet war. Lukas, ein Mitbewohner von Anka, hatte Tischler gelernt und war an den Wochenenden ausgebucht mit Auftragsarbeiten für Leute, die die Mehrwertsteuer sparen wollten. Er wurde bar bezahlt und finanzierte sich damit sein Studium. »Ich will keine Verallgemeinerungen, das führt zu nichts und ist populistisch, Klemme!«

»Sorry, Chefin, aber wenn du dir die Statistik ansiehst, dann ...« Er ließ den Satz unvollendet und hob vielsagend die Schultern.

---ENDE DER LESEPROBE---