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Mit den im September 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDGs) der Agenda 2030 wurden erstmals soziale und ökologische Nachhaltigkeitsziele systematisch verknüpft. Bei den sozialen Nachhaltigkeitszielen wurden ebenfalls erstmals auch die Industrieländer zum Adressaten und nicht ausschließlich die sogenannten Entwicklungsländer. Inwieweit verändern sich jedoch soziale und vor allem sozialpolitische Modernisierungsziele im Kontext der Nachhaltigkeitsperspektive? Lässt sich überhaupt von Sozialer Nachhaltigkeit sprechen und wenn ja, was ist damit genau gemeint? Genügen die unter dem Begriff sozial-ökologische Forschung und Politik formulierten Fragestellungen den komplexen Anforderungen der SDG und eines Programms zur Sozialen Nachhaltigkeit? Da hier berechtigte Zweifel bestehen, beauftragte das IASS im Sommer 2016 das ISÖ mit einer Studie zu >Soziale Nachhaltigkeit. Konzept und OperationalisierungSoziale Nachhaltigkeit. Auf dem Weg zur Internalisierungsgesellschaft< im oekom Verlag erschien. Das gemeinsam von IASS und ISÖ am 2. November 2017 in Potsdam veranstaltete Symposium lotete anlässlich der Studie und ihrer Buchveröffentlichung die wissenschaftlichen und politischen Perspektiven des Konzepts Soziale Nachhaltigkeit aus. Diese Veröffentlichung enthält die zur Vorbereitung des Symposiums erstellten Beiträge.
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Seitenzahl: 285
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Beiträge für das „Symposium: Soziale Nachhaltigkeit“ am 2.11.2017, Potsdam (IASS)
Mit Beiträgen von Ortwin Renn / Michael Opielka / Birgit Pfau-Effinger / Anita Engels / Beate Littig / Sophie Peter / Daniela Setton / Anna Henkel / Stephan Lorenz / Felix Ekardt / Susan Thieme / Wolfgang Strengmann-Kuhn / Christoph Brüssel
Herausgegeben von Michael Opielka und Ortwin Renn Redaktion: Sophie Peter, Olga Sazonova
Siegburg, November 2017
Die Vorträge des Symposiums werden in überarbeiteter Form im Jahr 2018 als Buch im oekom-Verlag, München erscheinen.
ISÖ - Institut für Sozialökologie gemeinnützige GmbH
Ringstraße 8, 53721 Siegburg
Tel.: +49 (0) 2241 1457073, Fax: +49 (0) 2241 1457039, E-Mail: [email protected], Web: www.isoe.org
Coverabbildung: ISÖ
Weitere Informationen zum Symposium sowie die Videos der Vorträge finden sie auf der Homepage des ISÖ – Institut für Sozialökologie gGmbH:
http://www.isoe.org/institut/veranstaltungen/symposium-soziale-nachhaltigkeit-2-11-2017-potsdam/
Vorwort
Die soziale Komponente der Nachhaltigkeit
Ortwin Renn
Soziale Nachhaltigkeit und Internalisierungsgesellschaft
Michael Opielka
Das Konzept der „Sozialen Nachhaltigkeit“ in der Wohlfahrtsstaatsforschung
Birgit Pfau-Effinger
Zur Messbarkeit Sozialer Nachhaltigkeit am Beispiel der Klimaforschung
Anita Engels
Soziale Indikatoren in der Energieforschung
Beate Littig, Irina Zielinska
Soziale Nachhaltigkeit im Vergleich von ökologischer und konventioneller Landwirtschaft
Michael Opielka, Sophie Peter
Das Soziale Nachhaltigkeitsbarometer der Energiewende 2017
Daniela Setton, Ira Matuschke, Ortwin Renn
Transdisziplinarität in der Nachhaltigkeitsforschung
Anna Henkel
Kritische Reflexion Sozialer Nachhaltigkeit
Stephan Lorenz
Menschenrechte und Nachhaltigkeit
Felix Ekardt
Non-social Science Perspectives in Research on social Sustainability
Susan Thieme
Politische Verwendung von Sozialer Nachhaltigkeit und SDG
Wolfgang Strengmann-Kuhn
Die Rolle der privaten Wirtschaft bei der Umsetzung der SDGs
Christoph Brüssel
Autorinnen und Autoren
Übersicht
Symposium 2.11.2017
Einladung und Programm
Mit den im September 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDGs) der Agenda 2030 wurden erstmals soziale und ökologische Nachhaltigkeitsziele systematisch verknüpft. Bei den sozialen Nachhaltigkeitszielen wurden ebenfalls erstmals auch die Industrieländer zum Adressaten und nicht ausschließlich die sogenannten Entwicklungsländer, wie noch bei der Vor-Agenda, den Milleniums-Entwicklungszielen der Agenda 2015.
Inwieweit verändern sich jedoch soziale und vor allem sozialpolitische Modernisierungsziele im Kontext der Nachhaltigkeitsperspektive? Lässt sich überhaupt von „Sozialer Nachhaltigkeit“ sprechen und wenn ja, was ist damit genau gemeint? Genügen die unter dem Begriff „sozialökologische“ Forschung und Politik formulierten Fragestellungen den komplexen Anforderungen der SDG und eines Programms zur Sozialen Nachhaltigkeit?
Da hier berechtigte Zweifel bestehen, beauftragte das IASS im Sommer 2016 das ISÖ mit einer Studie zu „Soziale Nachhaltigkeit. Konzept und Operationalisierung“, die im Frühjahr 2017 unter dem Titel „Soziale Nachhaltigkeit. Auf dem Weg zur Internalisierungsgesellschaft“ im oekom Verlag erschien.
Das gemeinsam von IASS und ISÖ am 2. November 2017 in Potsdam veranstaltete Symposium sollte anlässlich der Studie und ihrer Buchveröffentlichung die wissenschaftlichen und politischen Perspektiven des Konzepts Soziale Nachhaltigkeit ausloten. Verhandelt wurden insbesondere folgende Fragestellungen, sowohl in deutscher, europäischer und international vergleichender Perspektive:
Was ist der Forschungsstand zum Verhältnis von Wohlfahrtsregime und Umweltregime? Sind wechselseitige Steigerungen zu beobachten? Welche Rolle spielen dabei welche Normative?
Wie lassen sich Aspekte der Sozialen Nachhaltigkeit empirisch messen? Welche Indikatoren sind hier angemessen und wie lassen sich die Ergebnisse interpretieren?
Welche Bedeutung kommt außersozialwissenschaftlichen Perspektiven in der Forschung zu Sozialer Nachhaltigkeit zu? Inwieweit kann der Fokus Soziale Nachhaltigkeit einen Beitrag zu vertiefter Transdisziplinarität in der Nachhaltigkeitsforschung leisten?
Welche politischen Verwendungszusammenhänge des Konzepts Soziale Nachhaltigkeit lassen sich beobachten? Kann das Konzept einen Beitrag zur Entwicklung einer neuen gesellschaftspolitischen Arena auf der Grundlage von SDG und Menschenrechten leisten?
Dieser Band diente in einer ersten Fassung der Vorbereitung des Symposiums und präsentiert Texte der dort Vortragenden, die sich mit dem Thema Soziale Nachhaltigkeit auf verschiedenen Ebenen beschäftigen. Die Vorträge des Symposiums werden in überarbeiteter Form im Frühjahr 2018 als Buch im oekom-Verlag, München erscheinen.
Ob es sich bei „Soziale Nachhaltigkeit“ um ein Konzept, ein neues Paradigma oder, eingeschränkter, um eine Fragestellung handelt, war Gegenstand des Symposiums. Wir sind uns sicher, dass zumindest die Fragestellung außerordentlich dringlich ist. Eine menschengemachte Lösung des menschengemachten Klimawandels erfordert eine Vielzahl von sozialen Innovationen.
Michael Opielka und Ortwin Renn
„Man könnte bilanzieren: Seit Rio (1992) ist nichts so nachhaltig wie das Reden und Schreiben über nachhaltige Entwicklung‹ oder ›Sustainable Development‹ (SD) und gleichzeitig nichts so aussichtslos wie der Versuch, den Begriff konsensfähig und allgemeinverbindlich zu definieren“ (Judes 1997, S. 1). Mit diesen bitteren Worten beginnt eine kritische Analyse in der Zeitschrift »Politische Ökologie« über die Nachhaltigkeitsdebatte in Deutschland. Wird der inflationäre Gebrauch des Wortes »Nachhaltigkeit« dazu führen, dass wir nur noch mit einer Worthülse alles, was edel, hilfreich und gut erscheint, unter einen Begriff fassen wollen?
Weltweit herrscht Übereinstimmung darüber, dass Nachhaltigkeit ein normatives Leitbild zur Verwirklichung einer intergenerationalen Gerechtigkeit darstellt (vgl. Knaus/Renn 1998, S. 29ff.). Wie dieses Postulat aber konkret umgesetzt werden soll, darüber besteht keineswegs Einigkeit. Denn das, was künftigen Generationen als Erbe hinterlassen werden soll und muss, hängt maßgeblich von der individuellen und kollektiven Bewertung des Erbes ab. Vielfach wird als Erbschaft nur die Menge der natürlichen Ressourcen verstanden, die, von den heutigen Menschen genutzt, folgenden Generationen nicht mehr vollständig zur Verfügung stünden. Darüber wird leicht vergessen, dass zur Erbschaft auch die wirtschaftlichen Errungenschaften einer Volkswirtschaft gehören, die mithilfe von Kapital, Arbeit und Natureinsatz geschaffen worden sind. Auch die sozialen Institutionen, wie demokratische Willensbildung, Formen der friedlichen und gerechten Konfliktbearbeitung, Schaffung und Ausbau des Wissens sowie Manifestationen des kulturellen Selbstverständnisses und der soziokulturellen Identität, sind ebenfalls wichtige Elemente des kulturellen Erbes. Die einseitige Fokussierung auf natürliche Ressourcen ist deshalb zu eng (vgl. Daschkeit 2006; Opielka 2016).
Damit Nachhaltigkeit nicht nur eine Leerformel wird, ist es sinnvoll, Nachhaltigkeit unter normativen (Was wollen wir!) und funktionalen (Was können wir?) Gesichtspunkten zu fassen (vgl. Renn et al. 2007). Das Konzept der normativ-funktionalen Nachhaltigkeit umfasst drei zentrale Komponenten: zum Ersten die Sicherstellung ökologischer Funktionen für kommende Generationen (Kontinuität), zum Zweiten die Durchsetzung von Gerechtigkeitsnormen zwischen und innerhalb der Generationen und zum Dritten den dauerhaften Erhalt der individuellen Lebensqualität im Sinne einer zeitübergreifenden, effizienten und vor allem fairen Verteilung. Es geht nicht um Stillstand oder um Konservierung, sondern um Wandel und Dynamik in einem Rahmen, der humane Lebensbedingungen für alle Menschen auf Dauer sicherstellt. Die Bedingungen für eine an diesen drei Zielen ausgerichtete nachhaltige Entwicklung lassen sich im Wesentlichen aus den Funktionen der verschiedenen Umwelten für den Menschen ableiten.
Im Rahmen der
natürlichen Umwelt
geht es zunächst um die Erhaltung der lebensbedingenden Faktoren wie Luft und Wasser. Zum Zweiten geht es um Risikobegrenzung bei menschlichen Eingriffen, die gesundheitliche, ökologische oder klimatologische Auswirkungen haben. Zum Dritten geht es um die Nutzung der Umwelt als Reservoir für Rohstoffe und Abfallbecken
(sinks).
Ziel ist hier, die Nutzungsmöglichkeiten der natürlichen Ressourcen über die Zeit hinweg aufrechtzuerhalten. Dazu können Verbesserungen der Nutzungseffizienz (mehr Dienstleistung pro Einheit Naturressourcen) und die Substitution von knappen durch weniger knappe Ressourcen beitragen. Schließlich geht es auch um kulturelle und ästhetische Werte, die mit bestimmten Naturphänomenen verbunden werden.
Im Rahmen der
Wirtschaftsordnung
geht es um die Aufrechterhaltung und Organisation einer existenz- und lebensqualitätssichernden Produktion und Reproduktion. Das oberste Ziel ist hier die Schaffung einer Wirtschaftsordnung, die mit den begrenzten Ressourcen dieser Welt effizient umzugehen versteht. Darunter sind weiterhin zu nennen: ausreichende und effiziente Versorgung der Menschen mit den Gütern, die zur Aufrechterhaltung eines humanen Lebens notwendig sind. Solche Güter können privater und öffentlicher Natur sein. Zum Zweiten geht es darum, die über die Grundbedürfnisse hinausgehenden Güter und Dienstleistungen so anzubieten, dass ihre möglichen externen Kosten für Umwelt und andere Personen minimiert sowie im Preis reflektiert werden. Schließlich muss Innovationsfähigkeit sichergestellt sein, da ohne einen Wandel der Produktionsprozesse die Begrenztheit der Ressourcen zwangsläufig zu einer Belastung künftiger Generationen führt. Das Vorhandensein und die Sicherung eines flexiblen Ordnungsrahmens auf der einen Seite sowie ein ausreichendes Know-How im Sinne von Kapital und Humanressourcen auf der anderen Seite sind dazu unabdingbar.
Im
sozialen und kulturellen Bereich
geht es vor allem um die Wahrung der menschlichen Identität im Rahmen von Gemeinschaften und der Gesellschaft. Auch in Zukunft müssen Menschen Gelegenheit haben, tragfähige Beziehungen auf der Basis wechselseitigen Vertrauens aufzubauen, sich selbst als Teil einer sinnstiftenden Kultur zu verstehen und im Rahmen von Ordnungssystemen Orientierungssicherheit zu finden sowie institutionelle Möglichkeiten für eine friedliche Lösung von Konflikten vorzufinden. Zu den Funktionen von Sozialsystemen gehören Motivation durch gerechte Verteilungsschlüssel, Solidarität mit anderen Menschen, kulturelle Identitätsbildung und Sinnstiftung sowie die Sicherstellung von verhaltensregulierenden Normen und Gesetzen. Vor allem geht es um die institutionelle Absicherung von Grundbedürfnissen, die für die Entfaltung der Menschen konstitutiv sind.
Der Beitrag zum Symposium „Soziale Nachhaltigkeit“ baut auf diesem normativ-funktionalem Verständnis von Nachhaltigkeit auf und thematisiert vor allem die dritte Komponente, die als soziale und kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit verstanden werden kann. Es baut auf den Ausführungen von Michael Opielka zu den institutionellen Bedingungen der Nachhaltigkeit auf und thematisiert vor allem die Leistungen in Bezug auf Gerechtigkeit und Identitätsbildung.
Mit den im September 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDGs) der Agenda 2030 wurden erstmals soziale und ökologische Nachhaltigkeitsziele systematisch verknüpft.1 Bei den sozialen Nachhaltigkeitszielen wurden auch die Industrieländer zum Adressaten und nicht ausschließlich die sogenannten Entwicklungsländer, wie noch bei der Vor-Agenda, den Milleniums-Entwicklungszielen der Agenda 2015. Inwieweit verändern sich jedoch soziale und vor allem sozialpolitische Modernisierungsziele im Kontext der Nachhaltigkeitsperspektive? Lässt sich überhaupt von „Sozialer Nachhaltigkeit“ sprechen und wenn ja, was ist damit genau gemeint? Genügen die unter dem Begriff „sozialökologische“ Forschung und Politik formulierten Fragestellungen den komplexen Anforderungen der SDG und eines Programm Sozialer Nachhaltigkeit? Hier bestehen aus soziologischer Sicht doch erhebliche Zweifel, denn die moderne Gesellschaft erscheint in diesen Diskursen eigentümlich reduziert: der Wohlfahrtsstaat kommt nicht vor.2
In den Diskursen zu ökologischer Transformation und Nachhaltigkeit wird der Wohlfahrtsstaat als zentrale Regulierungsform moderner Gesellschaften neben der kapitalistisch verfassten Marktwirtschaft fast durchweg als Thema gemieden (z.B. WBGU 2016). Eine „Soziologie der Nachhaltigkeit“ (Engels 2017) sollte sich dieser Vermeidungsstrategie nicht anschließen. Für die Soziologie ist nicht erst seit Max Weber die Sozialpolitik von hervorragender Bedeutung. Nach Weber hat Sozialpolitik ihren Ausgangspunkt in der Kritik von Prozessen und Resultaten formaler Rationalisierung, prototypisch im modernen Kapitalismus. Diese Kritik mündet in ethischen Forderungen nach korrigierenden Interventionen und wird damit Gegenstand einer Institutionalisierung, deren Rationalitätskriterium die Befriedigung individueller Bedarfe ist (Weber 1988). Sozialpolitik wurde zum dominanten Regulativ moderner, vor allem demokratisch verfasster Gesellschaften (Opielka 2008). Mit der nun offensichtlichen Gesellschaftsrelevanz des Konflikts um Nachhaltigkeit und der Etablierung von Umweltpolitik stellen sich aus soziologischer Sicht daher neue Fragen:3
Was ist der Forschungsstand zum Verhältnis von Wohlfahrtsregime und Umweltregime? Sind wechselseitige Steigerungen zu beobachten? Welche Rolle spielen dabei welche Normative?
Welche Bedeutung kommt außersozialwissenschaftlichen Perspektiven in der Forschung zu Sozialer Nachhaltigkeit zu? Inwieweit kann der Fokus Soziale Nachhaltigkeit einen Beitrag zu vertiefter Transdisziplinarität in der Nachhaltigkeitsforschung leisten?
Welche politischen Verwendungszusammenhänge des Konzepts Soziale Nachhaltigkeit lassen sich beobachten? Kann das Konzept einen Beitrag zur Entwicklung einer neuen gesellschaftspolitischen Arena auf der Grundlage von SDG und Menschenrechten leisten?
Wie lassen sich Aspekte der Sozialen Nachhaltigkeit empirisch messen? Welche Indikatoren sind hier angemessen und wie lassen sich die Ergebnisse interpretieren?
Diese Fragen einer soziologischen Forschungsagenda Soziale Nachhaltigkeit werden im Folgenden diskutiert, wenngleich einige nur sehr knapp. Zunächst wird gefragt, ob der konzeptionelle, erkenntnistheoretische Rahmen des zeitgenössischen Nachhaltigkeitsdiskurses möglicherweise ganz systematisch eine ernsthafte Beschäftigung mit Sozialpolitik verhindert hat. Mithilfe einer Unterscheidung Sozialer Nachhaltigkeit in vier Konzeptionen und vier Themendimensionen soll das Begriffsfeld erschlossen und deutlich werden, warum Sozialpolitik im Nachhaltigkeitsdiskurs und in den Überlegungen zu einer Postwachstumsgesellschaft mitgedacht werden muss.
Eine der Prämissen ist, dass der Wohlfahrtsstaat selbst keineswegs nur (über das Argument der Arbeitsplatzsicherung) ein Wunschtreiber für (auch) stoffliches Wirtschaftswachstum ist, sondern zugleich ein Organisator für systemische Nachhaltigkeit sein kann, wenn seine Binnenlogik auf Soziale Nachhaltigkeit ausgerichtet wird. Die Diskurse zu Nachhaltigkeit und Sozialpolitik haben eine zentrale Gemeinsamkeit: ihren Fokus auf den Wert der Gerechtigkeit.
Eine weitere Gemeinsamkeit ist innerhalb der Spannung zwischen Externalisierung und Internalisierung von Problemen der Fokus auf letztere: Sowohl Sozialpolitik wie Nachhaltigkeit wollen vorhandene Konflikte nicht auf – zudem möglichst schwache – Dritte externalisieren, sondern innerhalb der jeweils verantwortlichen Systeme lösen.
Die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 21. Oktober 2015, kurz vor dem Pariser Klimagipfel, angenommene Resolution „Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development” (UN 2015) hat mit den „Sustainable Development Goals” (SDG) eine Strategie skizziert, die genau das leisten könnte: einerseits die systematische Verknüpfung von Klima und Wohlfahrt, von Umwelt- und Sozialpolitik, andererseits die anwendungsorientierte Differenzierung in ein komplexes Set von Unterzielen und die Bestimmung relevanter Indikatoren für eine zeitliche Einhaltung. 11 der 17 Ziele der SDG-Strategie „Agenda 2030“ sind sozialpolitische Ziele, wenn Sozialpolitik im weiten Sinne der modernen Wohlfahrtsstaats- und –regimetheorie verstanden wird: „Keine Armut“ (SDG 1), „Kein Hunger“ (SDG 2), „Gesundheit und Wohlbefinden“ (SDG 3), „Hochwertige Bildung“ (SDG 4), „Geschlechtergleichheit“ (SDG 5), „Bezahlbare Energie“ (SDG 7)4, „Menschenwürdige Arbeit“ (SDG 8)5, „Weniger Ungleichheiten“ (SDG 10), „Nachhaltige Städte und Gemeinden“ (SDG 11), „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ (SDG 16) und selbst „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“ (SDG 17)6.
Klimawandel und Kapitalismus sind verbreitete, globale Phänomene. Doch sie unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht markant, vordergründig historisch: Der Klimawandel erscheint seit den 1970er-Jahren auf der politischen Agenda, der Kapitalismus seit den 1840er-Jahren. Die ökologische Frage als Gattungsfrage beschäftigt die Menschheit nun bald 50 Jahre, die soziale Frage als Klassenfrage seit gut 170 Jahren. Was sehr lange währt, deutet auf Stabilität, Bedeutung für gesellschaftliche Akteure und auf Institutionalisierung hin. Vielen erscheint die ökologische Frage noch immer herbeigeredet, der Klimawandel eine Konstruktion. Ähnlich hielten und halten auch viele die soziale Frage für längst gelöst, den Kapitalismus für siegreich.
Die meisten sehen aber in beiden Fragen hohe Relevanz, ahnen auch einen Zusammenhang, doch „klar“ ist er nicht. Das hat mit dem zweiten, gravierenden Unterschied zwischen Klimawandel und Kapitalismus zu tun: Sie unterscheiden sich auch analytisch.
Das seit den 1990er-Jahren zirkulierende, sogenannte „Dreieck der Nachhaltigkeit“ wirkt auf den ersten Blick intuitiv überzeugend. Es unterscheidet ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit – je nach Stakeholderinteresse werden drei sich verstärkende oder sich gegenseitig bremsende „Säulen“ konzipiert. So beschreibt 1998 die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt“ Nachhaltigkeit zum ersten Mal als dauerhaft zukunftsfähige Entwicklung der ökonomischen, ökologischen und sozialen Dimension menschlicher Existenz (Deutscher Bundestag 1998). Diese „drei Säulen“ der Nachhaltigkeit stehen, so heißt es seitdem häufig und zugleich kontrovers7, miteinander in Wechselwirkung und bedürften langfristig einer ausgewogenen Koordination.
Das Dreisäulen- oder Dreiecksmodell der Nachhaltigkeit hat eine bislang wenig beachtete Parallele zum in der Nachhaltigkeitsdebatte ebenfalls präsenten Modell der drei Prozesse „Effizienz-Konsistenz-Suffizienz“, das auf unternehmerische Nachhaltigkeitsstrategien abzielt (Schaltegger u.a. 2003, S. 25), sinnvollerweise aber für alle stoffbezogenen Nachhaltigkeitsstrategien gelten kann. Joseph Huber hatte schon in den 1990er-Jahren „Konsistenz vor Effizienz vor Suffizienz“ und eine „Gesamtstrategie der abgestuften Präferenzen“ gefordert. Man müsse „zuerst und vor allem versuchen, die ökologische Angepasstheit der Stoffströme durch veränderte Stoffstromqualitäten zu verbessern (Konsistenz), um dann, auch aus ökonomischen Gründen, die Ressourcenproduktivität dieser Stoffströme optimal zu steigern (Effizienz), und wo beide Arten von Änderungen in ihrem Zusammenwirken an Grenzen geraten, da müssen wir uns eben zufrieden geben (Suffizienz).“8
Die Parallele zwischen Dreisäulen- und Dreiprozessmodell der Nachhaltigkeit könnte folgende sein: ökologische Nachhaltigkeit und Konsistenz, ökonomische Nachhaltigkeit und Effizienz, soziale Nachhaltigkeit und Suffizienz. Doch der Stolperstein ist unübersehbar. Ein Verständnis von Sozialer Nachhaltigkeit, das sich bislang vor allem auf Ungleichheit und Gerechtigkeit bezieht, hat wenig mit Suffizienz zu tun. Andererseits öffnet sich gerade hier die Tür zur Verbindung der Diskurse mit Postwachstum und Sozialer Nachhaltigkeit, wie die Diskussion um eine sozial gerechte Gestaltung der Energiewende in Deutschland zeigt.
Die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit finden sich als einigendes Deutungsmuster in zahlreichen Texten seit der UN-Konferenz von Rio de Janeiro 1992 (United Nations Conference on Environment and Development, UNCED), deren Abschlusserklärung ein solches Dreieck jedoch nicht beinhaltet.9 Deutungsmuster sind in der Regel implizit und vorbewusst. Hier ist das eingangs erwähnte analytische Problem im Dreieck eingebaut: In einer kapitalistisch verfassten Weltwirtschaft meint wirtschaftliche Nachhaltigkeit, dass die Funktionsimperative des Wirtschaftssystems nicht gefährdet werden dürfen. Ihre Protagonisten im Nachhaltigkeitsdiskurs sind Arbeitgeber, Unternehmerverbände, Wirtschaftsflügel. Soziale Nachhaltigkeit meint die andere Seite im Antagonismus der Klassen: Hier positionieren sich weltweit Gewerkschaften und NGOs, die sich der Repräsentanz der Kapitallosen und der Ausgeschlossenen verpflichten. Wenn also, wie in praktisch allen relevanten Nachhaltigkeitsdiskursen, eine Homöostase dieses Dreiecks beschworen wird, dann wird der Klassenantagonismus in die Figur der Nachhaltigkeit eingebaut und gleichzeitig in einen zweiten Antagonismus gespannt, nämlich zur „reinen“ ökologischen Frage. Damit beruht das Dreieck der Nachhaltigkeit auf einem doppelten Widerspruch: zuerst zwischen sozialer und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit (Klassenantagonismus) und dann auch noch zwischen diesem Spannungsverhältnis und der ökologischen Nachhaltigkeit im engeren Sinn. Antagonismen oder Ambivalenzen neigen dazu, die Akteure zu lähmen. Eine doppelte Ambivalenz im Drei-Säulen-Konzept der Nachhaltigkeit birgt damit verschärftes Stillstandsrisiko. Am Beispiel der Klimapolitik lässt sich das gut demonstrieren: Gewerkschaften und Regionalpolitiker kämpfen Seite an Seite mit Energiekonzernen für ein Weiterbestehen der fossilen Energieerzeugung durch Braunkohle und gegen Dekarbonisierung. Stephan Lessenich hat das Verwirrungspotenzial der Spätmoderne auf den nachhaltigkeitsrelevanten Begriff der „Externalisierungsgesellschaft“ gebracht. In dieser leben die Leute „nach absoluten Maßstäben (…) über den Verhältnissen anderer“10. Klimawandel und Kapitalismus verschmelzen im sozialen Wegschauen. Eine babylonische Verwirrung aus Volkskapitalismus und Volksklimawandel scheint sämtliche Akteure irrelevant zu machen, die dann auch nicht zur Verantwortung gezogen werden. Der Klimawandel im Kapitalismus wird zu einem wunderlichen Narrativ, einer Kulturfigur, die nur als „Ressource der Imagination“ (Hulme 2014, S. 333) noch politisch nutzbar werden kann. Ist der Wandel von der Logik der Externalisierung in eine Logik der Internalisierung, des Sich-ehrlich-Machens überhaupt denkbar, ein Pfad in Richtung „Internalisierungsgesellschaft“ erkennbar?
Hier kann ein Dokument helfen, sowohl das Konzept Sozialer Nachhaltigkeit zu schärfen als auch die Möglichkeiten und Grenzen politischer Klimaschutzmaßnahmen näher zu bestimmen. Es handelt sich um ein Diskussionspapier der „Commission for Social Development“ des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen (kurz: ECOSOC11) mit dem Titel „Emerging Issues: The Social Drivers of Sustainable Development“ (UN ECOSOC 2014). Dessen Argumentationsschwerpunkt liegt zunächst auf dem organisierten Klassenkompromiss, der sich an der dominanten Wertschätzung von Erwerbsarbeit ausrichtet. Dies entspricht dem Grundimpuls von ECOSOC, der sich in der Dreifach-Konstruktion der UN-Unterorganisation ILO noch zuspitzt (Regierungen-Gewerkschaften-Arbeitgeber). Seit den 1980er-Jahren haben nun nach Auffassung des ECOSOC drei politische Diskurse die alte Lohnarbeitszentrierung aufgeweicht:
Der Diskurs um
Frauenarbeit
seit den 1980er-Jahren, der zum einen zeigt, dass gleiche Zahlung für gleiche Leistung ebenso wenig durchgesetzt ist wie eine sichtbare Bewertung der Familien- bzw. Hausarbeit.
Die Wahrnehmung und Anerkennung der
informellen Ökonomie
seit den 1990er-Jahren – durch die Selbstartikulation des Globalen Südens und die Relevanzbeobachtung der Subsistenzökonomie; die Diskussion über eine Erweiterung des BIP um nicht-monetäre Wohlfahrtsleistungen gehört ebenfalls hierher.
Schließlich seit den 2000er-Jahren aufgrund der Beobachtung von „jobless growth“ und im Anschluss an die Finanzkrise eine Infragestellung von
Wirtschaftswachstum
an sich, dessen ökologische Folgen zunächst eine geringe Rolle spielten.
Das Dreieck der Nachhaltigkeit („the three pillars of sustainable development“) wird zu Beginn des Papiers in spezifischer Formulierung aufgerufen: „sustainable development, enabled by the integration of economic growth, social justice and environmental stewardship“. Die drei Dimensionen sollen gleichrangiger (“more equal”) behandelt werden als bisher. Warum? Die Antwort ist einfach: „Indeed, the interpretation of sustainable development has tended to focus on environmental sustainability while neglecting the social dimension.“ Was aber ist diese “social dimension”? Könnte sie mehr oder etwas anderes sein als “social justice”, als der Fokus auf Ungleichheit und deren Behebung? Das ECOSOC-Dokument deutet das an. Als „social drivers for sustainable development“ wird eine bemerkenswerte Reihe von Handlungsfeldern angeführt und kombiniert. Von der Förderung der informellen Ökonomie über eine universalistische Sozialpolitik einschließlich eines Grundeinkommens („transformative social policy“), eine „grüne Ökonomie“, über Partizipation und Empowerment, bis hin zu einer generell sozialen und solidarischen Ökonomie; eine Treiberliste, die noch vor wenigen Jahren im gewerkschaftsbezogenen Kontext undenkbar gewesen wäre.
Vor dem Hintergrund dieser Diskursentwicklung wird der nächste Schritt auf eine Verallgemeinerung von Sozialer Nachhaltigkeit in der internationalen Politik hin nachvollziehbar, wie er mit den SDGs im Jahr 2015 gelang. ECOSOC wurde mit der Überwachung und seine Statistik-Kommission mit der Indikatoren-Entwicklung beauftragt (Opielka 2017, S. 87ff.).
Es erscheint hilfreich, den bislang diffusen Begriff Soziale Nachhaltigkeit klarer zu definieren und ihn seiner Begrenzung auf linke Kapital(ismus)kritik zu entziehen (ohne darauf zu verzichten). Er sollte insbesondere nicht mehr auf den ökonomischen Kontext reduziert werden.12 Ratsam wäre darüber hinaus eine sozialwissenschaftlich integrative, zunächst soziologische, im Weiteren transdisziplinäre Perspektive, die vor allem auch an die politische Steuerung (Governance) anschlussfähig ist. Diese Anschlussfähigkeit bietet das in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung verwendete Konzept des „Welfare Regime“, das vor allem durch die Arbeiten von Gøsta Esping-Andersen bekannt wurde.13 In jüngster Zeit wurde es auch auf seine Anwendbarkeit in der Umwelt- bzw. Nachhaltigkeitspolitik überprüft.14 Im ersten Differenzierungsschritt werden die regimetheoretischen Überlegungen daher noch zurückhaltend eingesetzt.
Eine diskursanalytische Betrachtung15 erlaubt die Unterscheidung von vier16 Konzeptionen Sozialer Nachhaltigkeit:
Ein skeptisches Verständnis von Sozialer Nachhaltigkeit als Nachhaltigkeit ökonomischer Funktionalitäten. Hier geht es um Generationengerechtigkeit, beispielsweise in der Verteilung der Finanzierungslasten der Rentenversicherung zwischen Jung und Alt, finanzpolitisch um die Begrenzung von Staatsschulden („schwarze Null“), aber auch um die Verhinderung einer wachsenden Nachfrage nach öffentlichen Investitionen in die Förderung von Nachhaltigkeit über die Aufnahme neuer Schulden. Soziale Nachhaltigkeit wird in diesem liberalen Politikbzw. Regimetyp skeptisch, vielfach mit Abneigung und negativ konzipiert, als positives Konzept ist es in diesen Diskursen kaum zu finden.
Ein enges Verständnis von Sozialer Nachhaltigkeit als „Soziale Umverteilung“: Hier wird „das Soziale“ als eine von „drei Säulen“ der Nachhaltigkeit konzipiert, als Konfliktreduktion und Umverteilung, antagonistisch zur (eher wirtschaftsliberal gedeuteten) ökonomischen Nachhaltigkeit und als Begleitung der ökologischen Nachhaltigkeit, die im Zentrum dieser Konzeption steht.17 In dieser Perspektive wird eher von sozialdemokratisch-sozialistischer Politik bzw. einem solchen Regime ausgegangen und damit von der Genese der dritten „sozialen“ Säule als gewerkschaftlich-linkem, politischem Programm gegen eine Dominanz der „wirtschaftlichen“ (Kapital-)Säule. Das diskursive Verständnis von „sozial“ entspricht damit der heutigen Verwendung von „sozial“ im Sinne einer vertikalen Verteilungsgerechtigkeit.18 Das enge Verständnis Sozialer Nachhaltigkeit korrespondiert mit Konzepten einer „ökologischen Modernisierung“.
Ein internales Verständnis von Sozialer Nachhaltigkeit als Nachhaltigkeit des Sozialen: Diese Konzeption hat mit Ökologie und dem heute üblichen Konzept von Nachhaltigkeit (Sustainability) zunächst wenig zu tun. Sie bezieht sich primär auf das Soziale selbst, auf den Erhalt und die Reproduktion der gemeinschaftlichen Kernsysteme einer Gesellschaft. Dieses Verständnis kommt einem konservativen Politik- bzw. Regimeprinzip nahe, wie ihn beispielsweise die ordoliberale Freiburger Schule der Ökonomie vertrat und hat hier viele Berührungspunkte mit dem „skeptischen“ Konzept Sozialer Nachhaltigkeit: Es geht um eine nachhaltige Vermögenskultur, beispielsweise durch die Förderung von Familienunternehmen oder vermehrte Stiftungsgründungen oder um „good governance“, um die langfristige Stabilität von Institutionen. Die Brücke zur Verantwortung gegenüber Natur und Umwelt schlägt diese Konzeption über die Gemeingüter, die sogenannten „Commons“. Luft, Artenvielfalt, Wasser und Naturschönheiten sind durch Egoismen und Kurzzeitdenken bedroht, der Blick auf das Gemeinschaftliche in einer konkreten kleineren Gesellschaft bis hin zur Weltgesellschaft schließt die ganze Ökologie des Sozialen ein, von der Natur bis zum geistigen Welterbe.19 In diesen eher konservativen Diskursen wird mit dem Begriff der „Sozialen Nachhaltigkeit“ versucht, eine Transformation von Institutionen oder Umverteilungsprozesse zu vermeiden und stattdessen, ohne die Gesellschaft zu verändern, institutions-immanent, eben internal, die Natur zu schützen.20
Schließlich findet sich auch ein weites Verständnis Sozialer Nachhaltigkeit, in dem das „Soziale“, dem englischen Sprachgebrauch folgend, eher als das „Gesellschaftliche“ verstanden wird: Soziale Nachhaltigkeit wird hier als gesellschaftliches Projekt, als Transformationsprojekt konzipiert. In dieser Arena werden Diskussionen über die Postwachstumsgesellschaft, über „Green Growth“ und „Degrowth“ geführt. Soziale Nachhaltigkeit wird im garantistischen Politik- bzw. Regimetyp als Dachkonzept für die Nachhaltigkeitsdiskussion entwickelt. Der Begriff „Garantismus“ bedarf einer Erläuterung: Die klassischen Politiklegitimationen liberal/sozialistisch/ konservativ - also Mitte/Links/Rechts - wurden in den letzten Jahrzehnten durch eine globale Agenda sozialer Grundrechte herausgefordert, die sich nicht umstandslos dieser Trias unterordnen lässt. Es gibt starke Argumente dafür, dass Demokratien eine evolutionäre Dynamik hin zu sozialen Grundrechten entfalten, die durch geeignete Politikstrukturen (v. a. direkte Demokratie) gestützt werden. Der Regimetyp „Garantismus“ trägt dieser Dynamik Rechnung. Die im Wesentlichen menschenrechtliche Fundierung des garantistischen Regimetyps (Opielka 2008) markiert ein starkes Verständnis Sozialer Nachhaltigkeit, den Gegenpol zum skeptischen, liberalen Verständnis. Das Tableau der Sustainable Development Goals (SDG) und das Votum für einen „holistischen“21 Politikwechsel seitens der UN stehen für ein weites Verständnis Sozialer Nachhaltigkeit.
In Abbildung 1 werden die vier Konzeptionen Sozialer Nachhaltigkeit in die systematische Darstellung der Wohlfahrtsregime eingefügt. Damit ist ausdrücklich noch keine Analyse umweltpolitischer Regime verbunden. Eine solche, formal der Analyse von Wohlfahrtsregimen vergleichbar, liegt noch nicht vor.
Typen des Wohlfahrtsregimes
Liberal
sozialdemokratisch
konservativ
garantistisch
Steuerung / Governance:
Markt
Staat
Familie/Gemeinschaft
Menschen-/Grundrechte
zentral
marginal
marginal
mittel-hoch
marginal
zentral
marginal
mittel
marginal
subsidiär
zentral
marginal
mittel
subsidiär
mittel
zentral
Dominante Form sozialstaatlicher Solidarität
Individualistisch
lohnarbeits--zentriert
kommunitaristischetatistisch
Bürgerstatus, universalistisch
Vollbeschäftigungsgarantie
Schwach
stark
mittel
mittel
Dominante Form der sozialstaatlichen Steuerung
Markt
Staat
Moral
Ethik
Konzeptionen Sozialer Nachhaltigkeit
skeptisch
eng
internal
weit
Empirische Beispiele in der Sozialpolitik
USA
Schweden
Deutschland, Italien
Schweiz („weicher G.“)
Quelle: Opielka 2008, S. 35, um „Konzeptionen Sozialer Nachhaltigkeit“ erweitert
Abbildung 1: Typen des Wohlfahrtsregime und Konzeptionen Sozialer Nachhaltigkeit
Alle vier Konzeptionen Sozialer Nachhaltigkeit beinhalten wesentliche und zukunftsfähige Gesichtspunkte. So politisch-normativ sie auch konstruiert sind, sie sind zugleich analytische Konzeptionen zur Untersuchung der Steuerungsleistungen sozialer Systeme.22 Das skeptische (liberale) Verständnis will institutionelle Änderungen meiden und setzt im Wesentlichen auf technologische Lösungen des Nachhaltigkeitsproblems. Das enge Verständnis legt den Fokus auf jene sozioökonomische Konfliktlage, die Thomas Piketty als Prozess weltweiter Dominanz von Kapitalrenditen über Arbeitnehmereinkommen auslegte (Piketty 2014). Sie inszeniert sich in den Diskussionen um Energiepreise oder Braunkohleabbau, wonach Klimaschutzmaßnahmen sozial ungleich wirken und vorhandene Benachteiligungen zu verschärfen drohen. Das internale Verständnis wiederum zählt schwerpunktmäßig auf gemeinschaftliche Gestaltungsoptionen, auf ein „Transformationsdesign“ (Sommer/Welzer 2014), auf mentale Veränderungen (Verhalten, Konsum) und technische Innovationen (Zimmer 2015), institutionelle Veränderungen sind diesem politisch eher konservativen Verständnis weniger recht.23 Das weite (garantistische) Verständnis Sozialer Nachhaltigkeit schließlich könnte insgesamt zu einem Leitbild des Nachhaltigkeitsdiskurses werden. Indem es das Soziale, das Gesellschaftliche und Institutionelle einer Transformation zu einer nachhaltigeren Gesellschaft betont, ohne sich damit zu begnügen, wird deutlich gemacht, dass eine primär technologische oder ökonomische Strategie den systemischen Charakter der sozial-ökologischen Problemstellung verfehlt.
Ein weites Verständnis Sozialer Nachhaltigkeit zielt auf eine umfassende Reorganisation von Politik, wie sie im 20. Jahrhundert mit der Idee des Wohlfahrtsstaates und der Etablierung verschiedener Formen eines „Wohlfahrtsregimes“ weltweit erfolgreich gelang.24 Es bleibt zu hoffen, dass es der Nachhaltigkeitsbewegung, wie zuvor der Arbeiterbewegung, gelingt, neue Institutionen zu fordern und zu fördern, die den sozialen Ausgleichsimpuls des Sozialstaats systematisch zu einer Art „Öko-Wohlfahrtsregime“ weiterentwickeln.
Eine Nachhaltigkeitsbewegung benötigt Transformationsnarrative. Psychische Veränderungen erfordern symbolische Repräsentanzen des Ungedachten, des „Noch-Nicht“ (Bohleber 2014). Das gilt auch für soziale Veränderungen. Michael Braungart, der Erfinder des „Cradleto-Cradle“-Prinzips, kritisiert den Nachhaltigkeitsdiskurs, denn Nachhaltigkeit sei nicht genug, viel wichtiger sei Qualität (Braungart/McDonough 2014). Den Menschen als Naturschädling zu betrachten, nähre zugleich Resignation und Zynismus. Die Tätigkeit des Menschen, seine Sozialität, soll und kann der Welt nützen. Erst durch den Menschen wird die Welt für den Menschen zu einem guten Ort. Die Natur allein, der romantische Traum von einem naturidentischen Leben, wäre ein Alptraum.
Worum geht es thematisch, wenn von einem weiten Verständnis Sozialer Nachhaltigkeit die Rede ist? Ändert sich die Wahrnehmung von Problemen und, mehr noch, lassen sich durch diese Perspektive analytische Überlegungen für die Forschung entwickeln? Im Folgenden sollen vier systemische Entwicklungsstufen, vier Emergenzniveaus25 Sozialer Nachhaltigkeit skizziert werden:
Auf der ersten Ebene geht es um das Faktische, um die ökosoziale Frage oder Problem-anzeige – es ist die Ebene der Differenzialdiagnostik. Hier finden wir eine Vielzahl von Themen aus der sozialökologischen Forschung (SÖF)26, aus der breiten internationalen Diskussion um Transition und Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft.27 Diese wird erweitert um die Forschung zu Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsregime. Hierzu gehören auch die Entwicklung der SDG-Indikatoren und ihr Monitoring. In zeitlicher Hinsicht ist diese Ebene auch das Terrain der empirischen Zukunftsforschung, die mit Megatrend-Analysen, Szenarien, Roadmaps und Stakeholderpartizipation die materiale Grundlage für alle Transformationsreflexionen legt.28 Die Ebene des Faktischen ist nicht nur selbst durch politisch-kulturelle Diskurse problematisch, die eine „post-faktische“ Welt behaupten oder befürchten. Deren konstruktivistisches Programm bestreitet die Objektivität der Wirklichkeit und selbst die kommunikative Konsensbildung über empirische Tatsachen, insbesondere dann, wenn es sich um zukünftige Tatsachen handelt. Die sozialökologische Forschung befeuert den Zweifel am „Faktischen“, das sich von Fakten überzeugt gibt, die nicht gewiss sind. Ein Beispiel für diesen Alarmismus ist der Band „Zwei Grad mehr in Deutschland. Wie der Klimawandel unseren Alltag verändern wird. Das Szenario 2040“ (Gerstengarbe/Welzer 2013): Ernsthaft bemühen sich die physikalischen Klimaexperten des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) um Simulationsmodelle und deren regionale Auswirkungen: „Die Städte in Bayern, Thüringen, Sachsen, im Saarland und dem südlichen Baden-Württemberg sind durch eine Erwärmung um mehr als 1,5 ° C besonders stark betroffen.“ (Grossmann-Clarke/Schubert 2013, S. 192ff.) Aber was bedeutet diese Projektion für die Gesellschaft, vor allem, wenn im Absatz davor berichtet wird, dass bereits jetzt die Städte im Westen Deutschlands eine „um zwei bis vier Grad höhere Jahresmitteltemperatur“ haben als der Bundesdurchschnitt? Aus diesen Tatsachenerwartungen lassen sich nicht nur keine klaren Anhaltspunkte für Extremwetterereignisse ableiten – eine Aufgabe für Meteorologen –, sondern auch kaum Befürchtungen einer merklichen Zunahme von beispielsweise Hitzetoten. Fakten sind mit ihrer Bewertung, Evaluation und Einordnung untrennbar verknüpft. Eine ganzheitliche Forschung zu Sozialer Nachhaltigkeit erfordert Seriosität und Kompetenz, die zumindest der sozialwissenschaftliche Teil jener Alarmschrift vermissen ließ.29
Die zweite Ebene steht für das Politische: Themen sind hier die Anwendungs- und Transferorientierung, Reallabore, Translationalität (anwendungsorientierte Grundlagenforschung). In demokratischen Kulturen gehören dazu Partizipation und Diskursivität, bis hin zu Citizen Science. Anwendungsorientierung wird nicht verschmäht, sondern gelobt, aus ganz grundsätzlichen politischen Gründen, denn jedes Gemeinwesen ist politisch. Ähnlich wie in den kulturwissenschaftlich geprägten „Postcolonial Studies“ geht es um eine Wahrnehmung der Stimmen aus dem „Off“ und ihre repräsentative Einbeziehung in dominante Diskurse, um ihre diskursive Inklusion (Lessenich 2015, 2016). Generell fordert ein Forschungsprogramm Sozialer Nachhaltigkeit auf dem Level des Politischen Wertereflexivität: Kein strategisches Interesse rechtfertigt sich ohne Argumente, die seine normative Dimension offenlegen.
Auf der dritten Ebene finden wir das Organisatorische der „scientific community“: Die Themen der „Sozialen Nachhaltigkeit“ sind hier Interdisziplinarität sowie vor allem (und zugleich am schwierigsten umzusetzen) Transdisziplinarität und Neodisziplinarität. Das Miteinander der disziplinär organisierten Wissenschaft (Interdisziplinarität) genügt bei komplexen Problemfeldern nicht, hier sollen sich die Disziplinen auch erkenntnistheoretisch und strategisch näher kommen (Transdisziplinarität). Und wenn das nicht reicht, so entstehen neue Disziplinen (Neodisziplinarität), wie früher die Soziale Arbeit, die Kommunikationswissenschaften oder die Informationswissenschaften. Auf der Suche nach einer transdisziplinären Forschung für Nachhaltigkeit entstehen deshalb immer weitere neue Disziplinen (Sustainability Sciences).
Die vierte Ebene einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sozialer Nachhaltigkeit zielt auf das Epistemische, auf die Möglichkeitsbedingungen für komplexes, holistisches und systemisches Denken. Themen sind hier die Spannung zwischen Evolution und Emergenz, also Entwicklung und Sprung, die große Frage nach den Bedingungen wissenschaftlicher Paradigmenwechsel.
Die hier skizzierten Themen finden sich auch in neueren Texten zur „transformativen Wissenschaft“30, wenngleich meist in anderer oder ohne analytische Systematisierung. Die Repräsentanz von Wirklichkeit in der Wissenschaft ist mehrdimensional und kann auf jeder Ebene zu Konflikten führen. Geboten sind Heuristiken zu ihrer Unterscheidung, vor allem dann, wenn Wissenschaft zur Zukunftsgestaltung beitragen will und in sozialen Konflikten unvermeidlich Partei ergreift. Der Präsident der DFG, Peter Strohschneider, kritisierte heftig das Konzept der „Transformativen Wissenschaft“ als Entdifferenzierung komplexer Wirklichkeit. Eine „Große Transformation“, im Sinne des hier vertretenen weiten Konzepts Sozialer Nachhaltigkeit, sei moralisch überladen und trage zugleich zur Depolitisierung bei, weil nun alles dem expertengetriebenen Nachhaltigkeitsziel unterworfen werde. Armin Grunwald beruhigte, verglich die Entstehung der transformativen Nachhaltigkeitsforschung mit der Genese der Technikwissenschaften, sah Parallelen und zudem keinen Wunsch umzustürzen, sondern eine organisatorische Chance zur Erweiterung des wissenschaftlichen Blicks.31 Ähnlich erkennt auch der Wissenschaftsrat in einem Positionspapier die Notwendigkeit an, „große gesellschaftliche Herausforderungen“ zu adressieren, worunter von wissenschaftspolitischen Akteuren vor allem der Klimawandel, die globale Erwärmung und saubere Energie verstanden würden (Wissenschaftsrat 2015, S. 15). Der Fokus Soziale Nachhaltigkeit erlaubt eine zusätzliche, beruhigende und aufmunternde Parallele: Vermutlich erfüllen die transformative Nachhaltigkeitswissenschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts eine ähnliche Funktion wie die Sozialwissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nicht nur die Soziologie begriff sich damals als Medium der Sozialreform und Antwort auf die soziale Frage als Klassenfrage (Kaufmann 2014). Das Ergebnis war der Wohlfahrtsstaat. Ein gutes Jahrhundert später wird die ökosoziale Frage, wenn es gut geht, mit einem globalen „Öko-Wohlfahrtsregime“ beantwortet.
Zum Abschluss dieser Überlegungen, die sich einer soziologisch fundierten Begriffsbildung widmen und in der These gipfeln, dass nur ein „weites“ Verständnis Sozialer Nachhaltigkeit den gesellschaftlichen Herausforderungen angemessen begegnet, soll noch ein kurzer Blick auf alternative Begriffskonzeptionen geworfen werden. Armin Grunwalds Buch Nachhaltigkeit verstehen, das diese Arbeit an Begriff und Bedeutung nachhaltiger Entwicklung dokumentiert und diskutiert hat, erleichtert und beschleunigt diesen Blick (Grunwald 2016). Dabei erscheinen zwei Bedeutungslinien hilfreich, auch zur Verortung der eigenen Position. Zum einen die Unterscheidung von „starker“ und „schwacher“ Nachhaltigkeit, zum anderen die Unterscheidung „integrativer“ und „starker“ Nachhaltigkeit.
Unter „starker“ Nachhaltigkeit wird ein Ansatz32 verstanden, der nicht von einer wechsel-seitigen Ersetzbarkeit von Ressourcen und Kapital ausgeht. Demgegenüber vertreten die Ansätze „schwacher“ Nachhaltigkeit genau diese Substituierbarkeit – Technik kann beispielsweise Natur ersetzen (Grunwald 2016, S. 121ff.). Während die Ansätze schwacher Nachhaltigkeit vor allem in der neoklassischen Ökonomie vertreten sind, sind es eher Philosophen, die sich, an Prinzipien orientiert, auf Rechtfertigungsdiskurse einlassen, und deren starke Nachhaltigkeitsannahmen auch nicht durch Operationalisierungsfragen getrübt werden.
Der Konflikt zwischen „schwachen“ und „starken“ Ansätzen im Nachhaltigkeitsdiskurs lässt sich mit der oben erläuterten Vierertypologie dechiffrieren: Schwache Ansätze entsprechen dem eher skeptischen Verständnis sozialer Nachhaltigkeit. Wer auf Markt und Wirtschaft fokussiert ist, der muss schon aus erkenntnistheoretischen Gründen davon überzeugt sein, dass sich im Grunde alle sozialen Phänomene auf Markt- und damit auf Austauschrelationen reduzieren lassen. Starke Ansätze finden wir bei den drei anderen Konzepten Sozialer Nachhaltigkeit – je nachdem, welche politischen Zusatzannahmen (eher sozialistisch, konservativ oder garantistisch) vorherrschen.
Bemerkenswerter und theoretisch anspruchsvoller ist das „integrative“ Konzept nach-haltiger Entwicklung, das Grunwald selbst bevorzugt. Es besteht aus drei inhaltlichen Elementen: intra- und intergenerative Gerechtigkeit, globale Orientierung und anthropozentrischer Ansatz.33 Alle drei Elemente sind für die vorliegende Konzeption relevant, auch wenn hier mit der Regime-Theorie ein anderer, nämlich historisch-systematischer Zugang gewählt wird: Der hier vertretene Ansatz der Wohlfahrtsregime-Theorie konstituiert sich sowohl steuerungs- wie gerechtigkeitstheoretisch.