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Gregor Papstein ist Vorsitzender am Kriminalgericht Moabit. Er leidet unter der Bescheidenheit seiner Kollegen und den Missständen des Justizbetriebs. Ein neuer Fall mit Betrug und versuchtem Mord aus dem Milieu der Berliner Nachtszene beschäftigt seine Kammer mehrerer Monate. Er wird dabei von seiner selbstbewussten Praktikantin Patty begleitet. Zunehmend gerät Papstein durch Drohungen und dramatische Ereignisse in Bedrängnis. Aufgrund seiner spirituellen Erfahrungen aus vielen Reisen und dem Kontakt zu seiner Heilerin Carin wird sein dogmatisches Glaubensgitternetz in Zweifel gezogen. Als Carin ihm einen Ausweg weisen will, eskaliert die Situation, aus der sich Papstein auf seine Weise zu befreien versucht. Ganz nebenbei überwindet er sein "Leben in Begegnungen".
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Seitenzahl: 461
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Das sind die Weisen,
die durch Irrtum zur Wahrheit reisen,
Die bei dem Irrtum verharren,
das sind die Narren.
Friedrich Rückert (1788-1866)
Für alle Liebenden
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Über den Autor
Weitere Informationen
Dann traf er Carin. Schon bei seinem ersten Kontakt drei Tage zuvor erschien es ihm, einem spirituellen Wesen zu begegnen. Ihr feenhafter Körper war mit textiler Anmutung in feinste Stoffe gehüllt. Changierende Erdfarben schmückten die zarten Gliedmaßen. Die stahlgrauen Augen waren von einem schräg hochgezogenen Hennastrich umrahmt. Der schmale Mund versteckte ihre weißen Zähne. Beim Gehen hob der warme Wind ihre Tücher leicht zur Seite und eröffnete ein anregendes Mosaik. Auch in Anstrengung entglitt ihr nichts Zufälliges. Selbst auf unbequemen Stühlen fand sie die perfekte Lotushaltung. Eine Inkarnation Siddharthas oder eine Elfe aus der unendlichen Geschichte? Gregor Papstein hätte sie stundenlang betrachten können, achtete aber darauf, nicht zum Paparazzi oder Voyeur zu werden. Er wollte die unausgesprochene Distanz nicht verletzen.
Carin beherrschte die Augenkontrolle von Frauen aus dem Orient, wenn sie einem fremden Mann begegnen. Sie erahnte deren Blicke schon in weiter Entfernung und erwiderte sie nur bei wirklichem Eigeninteresse. Papstein hielt diese Frau für unnahbar. Er traute sich keine Ansprache zu, weil sein spezieller Humor kaum ein Echo finden würde. Dann eher auf eine spontane Chance warten. Auf keinen Fall plump oder mit peinlichen Floskeln: „Oh, du isst ja auch mit der Gabel, du trägst ja einen schönen Ring, ich hab zu Hause auch so ein T-Shirt, magst du wie ich italienischen Rotwein?” Man musste dieser Frau zutrauen, in die Luft zu entschweben und zu antworten „Na, auch Albatros?“
Gregor Papstein liebte das semantische Florett. Eine subtil mehrdeutige und ironisierende Sprache, die Weggabelungen und Brücken bauen sollte, aber nicht musste. Der vermeintliche Kern seiner Botschaften blieb oft verschleiert. Wurde seine Sendung gespiegelt, häutete Papstein das Thema gerne mit Metaphern und charmanten Zutaten aus dem Archiv seiner Hirndisko. Sein erster Kontakt sollte bei Carin mindestens einen Augenreflex auslösen oder ein zartes Lächeln. Verzog sie die obere Mundpartie Richtung Nase, war die Poesie zerstört. Ein zweiter Anlauf wäre demütigend. Selbstachtung hat Vorrang. Nur nicht nervig belagern und dann zum Korbsammler werden.
Wider Erwarten war es Carin, die ihn an diesem Tag ansprach. Der Seminar-Guru hatte schon früh angedeutet, dass Carin ihre Seelenpartnerschaft zu Gregor überprüfen sollte. Er habe da so ein Gefühl. Tatsächlich aber war Carin nicht auf der Suche. Das Schicksal würde sie schon mit dem Optimum beglücken, wenn es so weit wäre. Wenn überhaupt, dann wollte sie von einem schönen Mann begleitet werden. Andererseits wollte Carin sich dem Lockruf des Gurus nicht widersetzen. Also nahm sie die Herausforderung an und tarierte ihre Gefühlswelt aus. Ihr subtiler innerer Widerstand gegen Gregor verflüchtigte sich nicht. Gleichzeitig genoss sie es, wenn Gregors Blicke in der Open-Eye-Meditation an ihr klebten. So wich sie ihm seit vier Tagen in der Hoffnung aus, die Dinge würden versanden.
An diesem vierten Tag wartete Carin in der Nähe des Speisesaals auf Papstein, der noch nicht zum Frühstück erschienen war. Mit braunem Strohhut und goldumrandeter Designerbrille saß sie auf einer weißen Mauer in der Sonne. Also sprach sie ihn an, als er mit hellem Leinen-Outfit eintraf.
„Kalimera Gregor!“
Bevor er antworten konnte, offenbarte Carin ohne Umschweife ihr Dilemma, dass sie sich herausgefordert sehe, etwas für sich klären müsse, bei ihr nun mal ein schöner Mann im Fokus sei, sich auch Gurus irren könnten, sie immer nur die Gefundene gewesen sei, und sie jetzt, wo sie alles herausgebracht habe, wieder mit innerer Zufriedenheit mit ihm umgehen könne.
Papstein war irritiert und entzückt zugleich. Für ein Schönheitsideal hatte er sich nie gehalten. Er war berührt, wie intensiv sich diese Astralgestalt mit ihm beschäftigt hatte und keinen Mut aufbringen musste, sich zu offenbaren. Ihn überkam ein Gefühl überfrierender Nässe, die auf glühende Lava trifft, das ihn hilflos machte. Zugleich wurde ihm bewusst, dass es für eine Seelenpartnerin keiner Körperlichkeit bedurfte. Nach einer langen Minute Schweigen brachte er ein „danke“ hervor. Carin umarmte ihn. Es war eine Art Verzeihungsritual, das sie schon verinnerlicht hatte und welches sich Papstein erst erschließen musste.
Tatsächlich zeigte sich die Elfe fortan zugewandt und verstrickte ihn in tiefgründige Gespräche über den Sinn des Lebens, die Einflüsse des Universums und die Kraft der Natur. Auch begleitete sie ihn zum nahen Strand, der sich vor einer langgezogenen Lehmklippe erstreckte. Dort entledigte sie sich ungeniert ihrer Seidentücher und offenbarte ihren hellen Körper, der von zarten Sommersprossen geziert war. Papstein kam sich wie entwaffnet vor. Wollte man unter Erotik auch die Kunst der Verpackung verstehen, so war Carin eine Avantgardistin. Seinen Phantasien war der Boden entzogen. Die Braut war splitternackt und damit bestens geschützt.
Als Carin aus den Wellen stieg, stand die Abendsonne hinter ihr. Die Silhouette ihres Körpers bewegte sich auf Papstein zu. Er lag nur mit seiner Ray-Ban auf einer Bambusmatte und spürte jetzt salzige Tropfen auf dem Bauch.
„Du wirkst verspannt und hast noch sehr viel negative Energie“, erklärte Carin. „Ich könnte dich heilen, aber du müsstest dich darauf einlassen.“
Papstein zog seine Sonnenbrille hoch. „Mach ich, ohne jeden Widerstand“, sprudelte es aus ihm heraus.
„Lass dir Zeit, du wirst sie brauchen“, antwortete Carin und verschwand wieder in den Wellen.
„Oder doch eine Meerjungfrau?“, überlegte Papstein.
Gregor Papstein ahnte noch nicht, dass sein geregeltes Leben schon vier Monate später erneut in eine gewisse Unordnung geraten sollte. Und wieder war es eine Frau, die schicksalhaft seinen Weg kreuzte. Patty hatte aufgeschlagen. Sie betrat mit ihm den engen Aufzug und schob ihren schlanken Körper abgewandt in die Ecke gegenüber. Als Papstein im dritten Stock ausstieg, kam sie zügig hinterher. Fast hätte sie ihn angerempelt, weil er einem Wachtmeister ausweichen musste, der mit einem klobigen Rollwagen die Akten der Strafkammern verteilte.
Patty schaute sich suchend um. Die etwas systemlose Nummerierung der Dienstzimmer machte sie offenbar ratlos. Papstein warf einen kurzen Blick nach hinten. Er beobachtete eine Schüchternheit, als würde die junge Frau einen unbekannten Tempel betreten.
„Sie suchen etwas?“, fragte er.
„Äh, ja … also, nein, äh, es müsste, sollte eigentlich hier im dritten Stock sein“, erwiderte Patty.
„Und was?“
„Na ja, hier soll irgendwo das Zimmer von Richter Papstein sein.”
„Völlig richtig, das bin ich“, antwortete Papstein, der die Verlegenheit der Frau nicht weiter strapazieren wollte.
„Kommen Sie, dort ist mein amtlich zugewiesener Aufenthaltsraum. Sie erkennen ihn an dem Bild an der Tür.“
Die Flure im Kriminalgericht Moabit strahlten einen klaustrophobischen Charme aus. Sie wirkten, als dienten sie der Verlängerung des angeschlossenen Knastes. Während die Treppenaufgänge und der pompöse Große Sitzungssaal noch Repräsentation symbolisierten, hatte man die in langen Korridoren der Nebengebäude versteckten Dienstzimmer der Richter eher klein und schmal gehalten. Die teilweise blassen, verfleckten und seelenlosen Wände beschrieb Papstein oft als unerotisch. Kaum ein Unterschied zu den Fluren einer Irrenheilanstalt oder alten Krankenhäusern. Die hier tätigen Individuen erkannte man zunächst nur an den üblichen Leistenschildern. Mit denen konnte man so praktisch Namen und Funktion des Zimmerinhabers austauschen, wenn mal wieder einer das Weite gesucht hatte, umgezogen, pensioniert oder seiner Sucht erlegen war. Die bauhistorischen Attraktionen des Palastes konnten das muffige Flair des vorletzten Jahrhunderts nicht übertünchen. Für Papstein wäre das ganze Ensemble eine Lebensaufgabe für einen Feng-Shui-Berater.
Er hatte seine Tür markiert. Immer wieder war er in den Katakomben versehentlich daran vorbeigelaufen, um sich dann minutenlang in den Orbit der verschlungenen Gerichtskorridore zu begeben. Dort begegnete er nicht selten verwirrten Kollegen, die mit krummen Buckeln und abgewetzter Kleidung grußlos und mit starrem Blick an ihm vorbeihuschten. Manche wirkten wie blutleere Justizzombies mit Schlafstörungen und Angst vor dem nächsten Zutrag. In der Mittagszeit pressten sie zwischen geschlossenen Lippen hin und wieder ein „Mahlzeit“ heraus. War das eigentlich eine Zeitangabe oder die Aufforderung zur Nahrungsaufnahme? Papstein jedenfalls kannte keine festen Essenszeiten. Er richtete sich ganz nach Stimmung, Anlass oder Appetit. Ansonsten ging er essen, wenn er mal Zeit hatte.
Patty blieb vor Raum 347 stehen, und wartete, bis ihr der Richter die Tür öffnete. Ihr Blick galt dem bunten Bild, kaum größer als eine Postkarte. Buddha mit geschlossenen Augen ganz entspannt unter einem Gingkobaum. Papstein hatte es ausgesucht, seitdem er an östlichen Mythologien, Gebräuchen und Philosophien Gefallen gefunden hatte. Buddhas fröhliche Erscheinung und Weisheit war ihm eindeutig sympathischer, als das gekreuzigte geschundene Leid, das ihn seit seiner Kindheit verfolgte, als er noch Messdiener war. Auf seinen Reisen hatte er die Ruhe und Gelassenheit des Fernen Ostens erlebt. Es gab so viel Anderes außer Jura: Spirituelle Riten, energetische Felder, heilende Systeme. Die Gefangenschaft in einer scheinbaren Juristenkarriere und seine Trägheit hatten bisher verhindert, dass er abtauchen und sich fallen lassen konnte.
Patty nahm auf dem zugewiesenen Stuhl Platz, direkt gegenüber Papsteins Rollsessel.
„Hatten wir einen Termin vereinbart?“, fragte er scheinbar unwissend.
„Wir hatten telefoniert. Ich bin Patty Förster. Sie meinten, ich könnte mal vorbeikommen vor dem Praktikum, also vor nächsten Montag.“
„Ja, Förster steht hier auf meinem Zettel“, bestätigte Papstein.
„Sie dürfen mich gerne Patty nennen. Das machen alle so und mir gefällt das ehrlich gesagt besser“.
Papstein nickte und meinte nur „Okay, wenn das für Sie stimmig ist“.
Praktikum, Praktikum. Immer wieder erhielt Papstein Anfragen von Schülern oder Studenten, die ihre Berufs- oder Pflichtpraktikum ableisten wollten. Die meisten Kollegen blockten solche Anliegen ab. Für unwillige Zwangsverpflichtete hatten sie weder Zeit noch Lust. Diese Anfänger wollten ohne Interesse an der Sache doch nur mit möglichst wenig Aufwand ihre Bescheinigung abholen, ohne dass ihre chilligen Hauptinteressen wie Facebook, Tik-Tok, Instagram und Partys tangiert würden.
Papstein hingegen liebte den Umgang mit der Jugend, deren oft naive Fragen er gerne mit weitschweifigen Exkursen zum Gesamtzusammenhang beantwortete. Ihn interessierten die Biographien dieser Generation, ihre Elternhäuser, die Familien, die Schule, die Freizeitgestaltung, ihre Botschaften, Wünsche und Hoffnungen. Er verstand es zudem als notwendigen Bildungsauftrag, den jungen Menschen schon früh einen Einblick in die verschrobene Welt des Richtens und vor allem die subtile Organisation des Bestrafens zu verschaffen, bevor sie auf die Idee kamen, nach Höchststrafen zu schreien. Mehr als diffuse Erklärungen, weshalb man das Gerichtspraktikum ausgerechnet bei ihm machen wollte, erwartete Papstein nicht. Es machte ihm sogar Spaß, auch eher träge Exemplare an die Materie heranzuführen.
Erst nach zehn Minuten bemerkte Papstein, dass Patty ihren mondänen Leopardenmantel noch anhatte. Er bot ihr den einzigen Haken als Garderobe an und die Praktikantin präsentierte jetzt eine dezente blaue Bluse aus dünnem Stoff, der die Schultern überwiegend freihielt, sodass die Spaghetti-Träger ihres schwarzen Tops sichtbar wurden. Patty bemerkte den unkontrollierten Blick von Papstein und versuchte fortan, ihre Bluse über die Schultern zu ziehen, was aber nur maximal zwanzig Sekunden Erfolg versprach. Danach lagen Schultern und Träger wieder frei und die Sache ging von vorne los.
„Okay, ich habe einen detaillierten Plan zusammengestellt. Sie können ab Montag um neun Uhr beginnen, wenn Sie wollen. Das Praktikum ist Teil der Erwachsenenbildung und ich habe keine Lust, ihre Anwesenheiten zu kontrollieren. Wollen Sie eher tiefer einsteigen oder im Grunde nur einen Stempel für die Teilnahme? Den gibt’s bei mir allerdings nicht.”
Patty machte sofort klar, sie sei an einer umfassenden Ausbildung interessiert und würde gerne viel mitbekommen, Akten studieren, mitdiskutieren. Man solle ihr Aufgaben geben, die sie selbstverständlich erledigen werde. Sie sei schließlich nicht extra für das Praktikum von Köln nach Berlin gekommen, um hier nur abzuhängen.
„Das ist ein hoher Maßstab, den sie da anlegen. Vielleicht schauen Sie sich erst mal ein paar Sachen an und können sich dann nach und nach entscheiden“, bot Papstein an. Er wusste, dass vertieftes Interesse einer Praktikantin auch für ihn zeitaufwändig sein konnte.
Patty zog zum siebten Mal ihre Bluse über die Schulter, kniff hinter ihrer modischen Brille ihre Augen etwas zusammen, als beobachte sie ein fernes Objekt, und warf Papstein in gespielter Verlegenheit einen Blick zu.
„Also, ich weiß nicht… keine Ahnung“, erwiderte sie.
„Keine Ahnung, keine Ahnung!“, spiegelte Papstein. „Wenn Sie wirklich die Absicht haben, ernst genommen zu werden, dann sollten Sie solche spätjugendlichen Floskeln vermeiden. Juristen haben Ahnung zu haben oder jedenfalls zu behaupten. Wer sich keine Ahnung zutraut, ist in der Praxis fehl am Platz. Sie werden doch auch in dem bunten Köln ein Leben gehabt haben, das über Karneval und den dortigen Skandalklub hinausgeht, oder?“
Noch während er die Praktikantin so harsch anging, wurde Papstein bewusst, dass es Teil seines eingeschliffenen Berufsalltags war, möglichst schnelle und präzise Antworten zu erhalten. Patty ahnte es und machte mit ihrer Mimik deutlich, jetzt zum Klartext kommen zu wollen.
„Ja, wirklich, also mal ganz ehrlich. Ich möchte hier viel mitnehmen. Ich kenne meine Kommilitonen und Freundinnen, die in solchen Situationen nur abchillen wollen. Das ist doch keine Einstellung. Ich bin es gewohnt zu arbeiten und finanziere mein Studium selbst mit Jobs in Sushi-Läden oder als Klausuraufsicht. Sie sind mein Ausbilder und sagen mir, was zu tun ist, ist doch klar, oder?“
Papstein war beeindruckt von dieser Haltung und Sushi liebte er über alles. Dann wollte er Patty, die bei der neunten Korrektur angelangt war, mal ernst nehmen. Er druckte zwei Exemplare des Ausbildungsplans aus und reichte eins davon über den Tisch. Während sich Patty nach vorne beugte, zeigten sich Ansätze ihres festen Busens, der in verspielte Spitze gelegt war.
Sie schaute interessiert auf das ausgedruckte Tagesprogramm für drei Wochen Praktikum. Papstein hatte den Anspruch, alles zu bieten, worauf eine junge Studentin neugierig sein konnte. Er wollte Patty nicht nur mit drögen Standards des Landgerichts und langweiligen Sitzungen der Zivilabteilung konfrontieren, wo sich die Kollegen mit Schrottimmobilien, falschen Bankberatungen oder Gewährleistungsrechte bei Flugreisen quälten. Ihm war wichtig, einen bunten Bogen zu kreieren, um neben der Teilnahme an Strafsitzungen einen Überblick über juristische Randthemen zu verschaffen.
„Oje“, seufzte Patty, „am Freitag soll ich in die Gerichtsmedizin. Ist das mit den Leichen und so, also wo die wirklich mit Messern alles aufschneiden?“
Darauf hatte Papstein nur gewartet. Junge Justizkandidatinnen mit der Realität zu schockieren, gehörte zu den klassischen Gemeinheiten von Ausbildern, auch wenn Papstein einen Sektionstisch seit seinem Referendariat nicht mehr gesehen hatte. Nichts war köstlicher, als unerfahrenen Studentinnen zu demonstrieren, welch abenteuerliche und schreckliche Bestandteile so ein Justizcocktail haben konnte.
„Tja, die schneiden wirklich alles auf und holen dann mit der Schöpfkelle alle Sorten von Körperflüssigkeiten raus. Von Gehirn, Lunge, Leber, Niere, Herz werden sushigroße Stücke extrahiert und in Formaldehyd gelegt. Vielleicht denken Sie sich einfach den Reis dazu und alles ist ganz normal.“
„Wow, sehr witzig“, erwiderte Patty selbstbewusst und verzog ihre Mundwinkel, bis ihr roter Lippenstift einen feinen Strich bildete.
„Wenn Ihnen dann doch schlecht werden sollte, wie mir damals, als uns der Pathologe mit einem fröhlichen Pfeifen das Kühlhaus öffnete, um sieben mit einer Cessna im Tegeler Forst abgestürzte Serben zu präsentieren, die wie hundert aufgeplatzte Fleischwürste zu einem undefinierbaren Blutklumpen verschlungen dalagen, ja, dann gibt’s dort auf Wunsch einen guten Mampe-Obstler, halb und halb. Der bringt Sie wieder auf die Beine. Oder trinken Sie gar keinen Alkohol?“
„Ich nehm dann lieber einen Kleinen Feigling“, hielt Patty mit zögerndem Lachen dagegen. Solche Antworten mochte Papstein. Eine erste Reaktion auf Augenhöhe. Darauf konnte man aufbauen.
„Gut, wie Sie sehen, haben Sie dann diese Woche noch Einsätze beim Haftrichter und bei einer Kollegin von der Familienabteilung des Amtsgerichts Köpenick, wo vielleicht eine Hausfraufrau lebenslangen Unterhalt von ihrem Chefchefmann fordert. Dann noch bei der Zwangsversteigerung und einen Mietrechtstermin bei Kollegin Kraus in Charlottenburg. Sie verfügt über die seltene Gabe, Vergleiche herbeizulächeln. Ja, und dann noch einen Tag in einem Anwaltsbüro. Da können Sie eine junge Anwältin beim mühsamen Mandantenfischen begleiten. Und am Ende ein Nachmittag auf der Geschäftsstelle. Am Freitag gebe ich Sie dem forschen Gerichtsvollzieher Schock mit, ein muskulöser durchgebräunter Kerl. Er trägt ein Armband mit dem Spruch Alles muss raus! Da lernen Sie mal, wie unsinnig all diese Zivilprozesse sind, weil bei der Vollstreckung heutzutage nichts mehr einen Kuckuck bekommt.“
„Kuckuck?“
„Ja, Kuckuck! Hausaufgabenzettel!“
Patty studierte den Plan und nickte schwerfällig, als störe sie etwas.
„Okay“, meinte sie dann. „Und was ist eigentlich mit Strafprozess, also so einer richtigen Verhandlung mit Verbrechern? Sie sind doch Vorsitzender einer Strafkammer, da gibt es doch bestimmt interessante Fälle, oder?“
„Ja, auch interessante Fälle gibt es manchmal“, antwortete Papstein. „Aber um so einen Ablauf von A bis Z zu erleben, sollten Sie besser zum Amtsgericht gehen, da haben Sie mehr davon, weil die Sachen in wenigen Stunden erledigt sind. Wir haben übermorgen Auftakt in einem Großverfahren. Das ist zwar schillernd, dauert aber bestimmt ein halbes Jahr, wenn nicht länger, und dann sind Sie ja schon längst wieder weg, erleben keine Plädoyers und kein Urteil, das bringt wenig bis gar nichts.“
„Großverfahren? Ist das etwa die Sache mit den Tänzerinnen?“
Papstein war erstaunt. Diese junge Kölner Studentin hatte doch tatsächlich Ahnung von der Berliner Spezialität, über die im Vorfeld des Prozesses in den städtischen Journalen und der Regenbogenpresse berichtet wurde.
„Sie sind ja bestens im Bilde. Ja, es geht um die Szene in der Potsdamer Straße, so Schmuddelzeug mit billiger Altherrenunterhaltung für viel Kohle. Irgendwelche Loddels, die besoffene Männer übern Tisch ziehen, gerne auch betuchte Chinesen, die noch den Flieger nach Shanghai kriegen müssen. Von der Sache her ganz amüsant, aber juristisch zähes Zeug. Vier Angeklagte mit Anwälten, zum Teil harte Hunde. Ich sehe schon den Auflauf der Gutachter und dass die Sache irgendwie dahindümpelt. Haben Sie an so was etwa Interesse?“
„Unbedingt, das ist doch voll cool“, schoss es aus Patty heraus.
Die Studentin schien es ernst zu meinen. Papstein hatte den Fall bewusst von ihr halten wollen, nicht nur wegen der unabsehbaren Länge, sondern dem halbseidenen Verhandlungsstoff. Nach Lage der Dinge würden allerlei anzügliche und intime Details zur Sprache kommen, vielleicht auch spezielle Sexpraktiken oder gar Perversionen der Großstädter. Wie sollte er mit einer Praktikantin diesen Stoff mit der gebotenen Neutralität besprechen?
„Hmm …“, grummelte Papstein, „wir könnten den Haftrichter weglassen und Sie sind stattdessen bei der Prozesseröffnung am Mittwoch dabei, wenn die Anklage verlesen wird und die Angeklagten sich einlassen können. Das kann lange dauern, aber ich erwarte dann schon, dass Sie bis zum Ende des Tages dabeibleiben, auch wenn sie Ihr Freund permanent ansimsen sollte. Sie brauchen sich also nichts weiter vorzunehmen.”
„Oh, wie dolle!“, frohlockte Patty, während sie ihren Spaghetti zurechtzupfte. „Solche Themen triggern mich, und einen Freund habe ich übrigens nicht mehr, sonst wäre ich ja auch in Köln geblieben.“
„Freunde kommen und gehen, junge Frau. Dann haben Sie jedenfalls vollen Fokus auf das Praktikum“, erwiderte Papstein. „Am besten ist, Sie arbeiten sich schon mal in die Sache ein, um eine Vorstellung von der Dimension zu bekommen. Hier ist die Anklageschrift. Sie haben den ganzen langen Resttag zum Lesen, morgen diskutieren wir darüber und ich kann ihre schlauen Fragen beantworten“.
„Bis morgen lesen?“, fragte Patty beim Anblick der gehefteten 237 Seiten, die ihr Papstein salopp über den Tisch zugeworfen hatte.
„Na gut, ich werde sehen, wie weit ich komme. Ich kann ja Fitness-Center absagen und meine Joggingrunde an der Spree verschieben. Und bis morgen früh sind ja auch noch mehr als 22 Stunden. Das werde ich schaffen, klar, muss ich ja.“
Papstein gab zu verstehen, dass er jetzt langsam an seine eigentliche Arbeit müsse. Eine kolumbianische Kokainschluckerin mit 758,4 Gramm im Bauch wartete auf ihre Verurteilung. Anstatt sich zu mobilisieren, fragte Patty neugierig weiter: Wissen Sie schon, ob die alle schuldig sind? Und was ist mit den K.O.-Tropfen, meinen Sie, die haben so was benutzt?“
„Ach herrje, das klären wir später“, würgte Papstein ab. Das zu erläutern hätte Stunden gekostet und die hatte er nun mal nicht.
„Machen Sie sich ein paar Notizen beim Lesen. Und vielleicht auch ein Schaubild mit allen Beteiligten! Who is who zwischen Pottse und Bülow?“
Patty verstand und schlüpfte in ihren Leoparden. Beim Gehen kniff sie noch einmal ihre Augen leicht zusammen und verabschiedete sich auf ihren High Heals, ohne zu Fauchen. „Ja, dann bis morgen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag Herr Papstein.“
„Hab ich, hab ich, vielen Dank“, entgegnete Papstein hastig, ging zu seinem Schrank, und zog seine in den Jahren verblichene Robe vom Bügel. Die Kolumbianerin aus einfachen Verhältnissen, sieben Kindern ohne Schulgeld, vom Mann verlassen, schwerkranke Mutter und mit allem sonstigem Leid der Welt wartete schon auf die Gnade der deutschen Justiz.
Als die Türverriegelung aufschnappte, schnatterte Nelson seine Begrüßungsmelodie. Seit sieben Jahren kannte er das Ritual. Gleich würde der Hausherr mit einer Hand voll Leckereien vor seinen Eisenstäben erscheinen, fragen Guten Abend Herr Nelson, wie ist die Lage? und er würde antworten Opti! Opti! Sodann würde ihm Trockenobst schnabelgerecht serviert. Während der Fütterung würde sein Herrschen allerlei Geschichten aus dem Alltag seines Käfigs erzählen, den er Gerichtssaal nannte, und von seltsamen Menschen und deren Marotten. Und wie immer würde er die besten Happen bis zum Schluss aufheben.
„Guten Abend Herr Nelson, wie ist die Lage?“, begrüßte Papstein seinen bunten Beo, der auf der Hauptstange seines mächtigen Käfigs mit kurzen Seitenbewegungen hin und her tippelte und die Frage mit einem andauernden „Opti! Opti!“ wie immer zur Zufriedenheit beantwortete. Frucht für Frucht erzählte Papstein von den Marotten der Anderen in seinem Käfig in Moabit. Von den großen und kleinen Zumutungen, den dicken Akten und den Defiziten im Justizgetriebe.
Die Begrüßungszeremonie mit seinem exotischen Vogel wirkte auf Papstein wie Autogenes Training. Spätestens mit der letzten Beere glitt Hektik und Verspannung aus seinem Körper. Schon hatte das Leben wegen des dankbaren Vogels wieder einen tieferen Sinn. Aktives Zuhören mit therapeutischem Schnabelgrunzen.
Papstein hatte Nelson als Asservat ersteigert, nachdem das Tier beim versuchten Schmuggel eines Biologielehrers über Taipeh nach Berlin beschlagnahmt worden war und kein zoologischer Garten den geschwächten Großschnabel aufnehmen wollte. Mit der Zeit wurde die Käfighaltung für Papstein Symbol und Mahnmal, sich der Tragweite verhängter Freiheitsstrafen bewusst zu werden. Seinen Namen hatte der Vogel von dem südafrikanischen Freiheitskämpfer und späteren Präsidenten Nelson Mandela, der auf Robben Island vor Kapstadt lange 27 Jahre als politischer Gefangener in Haft saß. Noch acht Jahre, dann hatte sein Beo bei Mindestvollstreckung lebenslänglich abgesessen. Eine scheißlange Zeit! Mindestens eine Tonne Trockenobst, wie Papstein während einer langweiligen Sitzung mit Scheckbetrügern einmal errechnet hatte.
Von seiner Terrasse aus schaute Papstein gerne über den neuen Park am Gleisdreieck. Die Landschaftsarchitekten hatten ihn mit Inspiration und Respekt vor der Historie angelegt und Elemente des ehemaligen Güterverkehrs einbezogen. Noch bevor Berlin in das Fadenkreuz von Spekulanten und den Kapitalflüchtlingen aus Italien, Griechenland, Russland und sonst woher geraten war, hatte er sich zum Erwerb einer Wohnung entschieden. Nach vielen Versuchen erhielt er den Zuschlag bei einer Zwangsversteigerung. Das lange verschmähte und jetzt wieder hippe Kreuzberg war inzwischen so gut wie ausverkauft, sehr zum Ärger der Altsiedler, die nach und nach von kaufkräftigen Singles vertrieben wurden. In seinen 140 Quadratmetern saniertem Dachgeschoss lag Papstein die Hauptstadt zu Füßen. Gleichzeitig war er dem Himmel über Berlin nah genug, um Phantasien und Sehnsüchten nachzugehen und die Seele baumeln zu lassen, wie er es in der Apothekenumschau wieder einmal gelesen hatte.
Papstein dachte an Patty und ihr forsches Auftreten. Sollte ihr Spiel mit dem Träger auf ihn Eindruck machen oder war das nur die unbedarfte Jugend, befreit von Knigges altbackenem Benimmbuch?
Patty schien ähnlich eifrig und interessiert wie die junge Olga, seine letzte Praktikantin. Sie war Russlanddeutsche, groß gewachsen und hatte leicht asiatisch geschlitzte Augen. Voller Elan stürzte sich Olga in den zwei Wochen an ihre Aufgaben, stellte pausenlos Fragen zu Einzelheiten des Prozesses, hielt alles minutiös auf ihrem dicken karierten Schreibblock fest und ergänzte ihre Niederschriften analog den Besprechungen. Von den Gerichtssälen und anderen Details machte sie Fotos für ihre Mappe und recherchierte die Bauweise des barocken Gebäudes, dem größten Kriminalgericht Europas.
Am Ende der Woche füllte er mit Olga den von der Schule vorgegebenen Bogen aus. Er enthielt standardisierte und für die Ausbildung in der Justiz gänzlich sinnlose Fragen, wie nach den im Betrieb gefertigten Produkten und deren Kosten.
„Was kosten denn eigentlich eine Strafsache, eine Hausdurchsuchung oder eine vorläufige Festnahme?“, fragte Olga. „Und sind Urteil, einstweilige Verfügung und ein Beschluss auch Produkte?“
Papstein riet der verdutzten Olga: „Schreiben Sie, die kosten nichts, aber manchmal die Freiheit!”
Selbst zum richterlichen Eildienst am Wochenende kam Olga freiwillig und pünktlich. Schon nach einer Woche hatte sie den Entschluss gefasst, Jura zu studieren. Mit Olga konnte Papstein in die Welt der Russendisko abtauchen, die sie mit glühenden Episoden schilderte, und sich das fremde Leben nahe Novosibirsk erklären lassen. Dort war sie unter ärmlichen Umständen und fortlaufender Diskriminierung durch russische Clans groß geworden, bevor sie sich mit Großmutter Svenja und ihrem Bruder Pjetr in den unbekannten und verheißungsvollen Westen machte. Ihre Eltern blieben im Bergwerk zurück.
Papstein wusste, weshalb dieser Lebenslauf denjenigen der deutschen Studenten in vielerlei Hinsicht überlegen waren. Olgas Biographie war von Entbehrung, Kontrolle und gezielter Benachteiligung geprägt. Daraus entwickelte sie mehr Neugier, Ehrgeiz und Selbstbewusstsein als viele gepamperte Life-Balancer der übersättigten Republik. Die gesegnete und kinderarme Erbengeneration brauchte im Grunde keinen Finger mehr krumm zu machen. Sie musste einfach nur warten.
Olga verabschiedete sich nach den drei Wochen standesgemäß mit einer Flasche selbstgebrannten russischen Wodkas, den sie in einem der Berliner Russenläden erworben hatte. Dann kleidete sie ihre herzliche Dankbarkeit für die schöne Zeit mit Papstein in viele Worte und schaute ihn dabei großäugig an, als ob sie etwas Finales erwartete, wahrscheinlich einen herzlichen Abschiedskuss. Um Gottes Willen, bloß nicht!, dachte sich Papstein. Am Ende würde ihm die Russenmafia mit einer abgesägten Kalaschnikow auf den Leib rücken, um diese Schande zu sühnen.
Papstein schaute zufrieden entlang der Blickachse. Seine gesamte Etage bestand nur aus drei Räumen. Im Zentrum ein großzügiger offener Atmungsraum, wie Papstein ihn nannte. Kochen, Essen, Wohnen, Relaxen vereint mit dem Ausblick in drei Himmelsrichtungen über bodentiefe Fenster. Dazwischen offen gehaltene Mauerreste und das Ständerwerk des Dachstuhls. Moderne Innenarchitektur im Dialog mit der Gründerzeit.
Nach seiner Trennung von Anna vor zehn Jahren hatte sich Papstein für das Leben in eigenen Räumen entschieden. Er genoss die Zuverlässigkeit der Dinge, wenn er nach Hause kam. Alles lag noch dort, wo es war. Von vielen Gegenständen hatte er sich inzwischen getrennt. Verschlankung war angesagt. Nur noch die notwendigsten Möbel und Utensilien. Manche Besucher meinten, das Apartment sei leer. Auf Regale konnte Papstein verzichten. Bücher, Schallplatten, Klamotten und der aus tausend Anlässen angesammelte Nippes waren in Second-hand-Läden, bei Oxfam oder gleich auf dem Sperrmüll gelandet. Vielleicht war in diesem Augenblick eine Hütte in Mali mit einem Kerzenständer erleuchtet, den ihm Anna zum 35. Geburtstag geschenkt hatte. Oder ein Kind in Kalkutta trug eine dieser selbstgestrickten bunten Mützen aus Naturwolle. Papstein hatte sie vom Stamm der Karen im Goldenen Dreieck erworben.
So fühlte er sich mit den amerikanischen Indogenen verbunden, die zur Aufrechterhaltung ihres Lebens nicht mehr als 70 Sachen besaßen, jeder einzelne Pfeil mitgezählt, während der zivilisierte Mitteleuropäer sich im Durchschnitt mit mindestens 10.000 Eigentümern beschwert, ohne diesen Ballast jemals sinnvoll zu nutzen.
Papstein holte aus seinem silbernen Kühlschrank und aus Schubladen und Gefäßen die Zutaten für ein Bananen-Rosenkohl-Curry, das er sich später zubereiten wollte: 300 Gramm frischen Rosenkohl, zwei gut reife Bio-Bananen, Rosinen, Paranüsse, Cashewkerne, grüner Curry, Salz, Pfeffer, etwas Butter und Sahne.
In einem kleinen goldumrandeten Spiegel über der Kochstelle flackerte sein Gesicht auf. Er hielt kurz inne und betrachtete sich auf DIN A5. Er war älter geworden. Schon längere Zeit waren seine festen Haare grau meliert. Papstein kämmte sie gerne mit nassem Kamm leicht zurück. Er fand das sportlich und irgendwie schick. Deutliche Falten zierten seine Stirn und spannten sich um die grünblauen Augen. Daneben begannen dunkle Pigmente mit der Besiedelung seiner Schläfen, als wären es Zeit-Punkte für das letzte Lebensdrittel. Hoffentlich standen die Dinger wenigstens für Jahre und nicht nur für Monate, Wochen oder gar nur Tage. Immerhin war seine Figur noch vorzeigbar, hatte er keine Rückenprobleme und eine funktionierende Leber.
Papstein verabscheute Diskurse über das Altern und dessen typische Krankheiten ebenso wie zur Begrenztheit des Daseins. Diese wurde ihm schon deutlich, wenn beim Online-Einchecken durch Betätigung des Rollbalkens das Geburtsjahr abgefragt wurde. Sein Jahrgang wurde dann nicht sofort zur Auswahl gestellt. Jedes Jahr musste er länger nach unten scrollen, sozusagen ins Archiv, und bald in die Leichenhalle. Scheißdiskriminierend!
Mit seiner leicht gekrümmten Nase ging Papstein bis kurz vor das Spiegelglas und betrachtete sein Mahnmal, wie er es gerne nannte. Über dem linken Auge hatte sich unter den Brauen eine längliche Narbe eingegraben. Sie stammte aus der Anfangszeit mit Anna, als das Leben nur so da war und Probleme nur Andere hatten. Ein ausgestreckter Daumen hieß noch nicht gefällt mir, sondern war die Hoffnung eines mittellosen Trampers. Die komfortable Option zum Nulltarif kam erst in Verruf, als Eduard Zimmermann in den 80-er Jahren in seinem reißerischen Aktenzeichen XY mehr als ein Dutzend vergewaltigte Mitfahrerinnen tot im Wald präsentierte und später das Auto mit 18 Standard wurde.
Ja, diese Narbe. Der spitze Absatz von Annas Stöckelschuh hatte sich vor bald 25 Jahren über Papsteins Auge gebohrt, als sie beim Rock ’n’ Roll mit einem schwungvollen Sprung über seinen Rücken gleiten wollte. Damit war der Abend bei den Leningrad Cowboys dann auch gelaufen.
Trotz aller Verfallzeichen, an Golfspielen dachte Papstein noch nicht, solange gebildete und bestenfalls auch attraktive Frauen Kontakt zu ihm hielten. Einschränkende feste Beziehungen wollte er nicht mehr unbedingt haben. Fragen nach seiner persönlichen Situation beantwortete er gerne mit der charmanten Umschreibung, er führe ein Leben in Begegnungen.
Papstein legte alle Zutaten geordnet nebeneinander, wie sie alsbald zum Einsatz kommen sollten. Daneben platzierte er auf einem Schneidebrett ein japanisches Santokumesser mit 67 Lagen Damaststahl und einen Kochlöffel aus Olivenholz. Auf die vordere Kochstelle des Gasofens stellte er seine schwedische schmiedeeiserne Pfanne, auf die hintere einen kleinen Edelstahltopf mit Glasdeckel, zu einem Viertel gefüllt mit Wasser. Papstein liebte es, in seiner ausladenden Küche mit professionellem Gerät jede Kleinigkeit vorzubereiten, als stünde die Premiere einer Oper kurz bevor. Alles sollte geduldig auf seinen Einsatz warten. Nebenbei schüttete er etwas Salz in eine Untertasse und zog eine Limettenscheibe über den äußeren Rand eines zylindrischen Cocktailglases, das er in das gestreute Bett drückte, bis sich auf der Außenseite ein dünner Salzrand gebildet hatte. Dann nahm er aus dem Regal den Shaker und füllte ihn aus seiner Hausbar mit 4 cl Tequila, jeweils 2 cl Curacao und Triple Sec und etwas Saft aus einer frisch gepressten Limette. Dazu vier Eiswürfel, die er aus dem Automaten seines Kühlschranks in ein Glas springen ließ. Danach schüttelte er die Mixtur kräftig, um sie anschließend ohne Eiswürfel in den Salzpokal zu gießen, auf dessen Rand er noch eine Limettenscheibe drapierte. „Herrlich, so ein Feierabend!“, rief Papstein in den Raum.
„Herrlich, herrlich“, schrie Nelson zurück.
Mit seinem kühlen Margarita nestete sich Papstein in einen gepolsterten Hängekorb auf der Nordterrasse, der an einem starken Hanfseil pendelte, und schaute über die Silhouette der Stadt. Gerne zählte er seine architektonischen Schäfchen. Er wohnte mitten in der Metropole, nahe den verrosteten und mit altem Graffiti gezierten Yorck-Brücken und nur zehn Minuten zum Bergmann-Kiez, der Fressmeile der örtlichen Bio-Hotwollee. Die Hochhäuser des Potsdamer Platzes strahlten nachts zu ihm, der Reichstag war mit seiner beleuchteten Kuppel noch gut zu erkennen. Die Spitzen des Tempodroms wiesen den Weg zur Ruine des Anhalter Bahnhofs. Kaum dreihundert Meter entfernt ragte ein Rosinenbomber aus der Kulisse des Technikmuseums, der im kalten Krieg die Stadt rund um die Uhr mit Überlebensmitteln versorgt hatte. Später, wenn der Verkehr aus der Gneisenau und vom Mehringdamm nachlassen sollte, konnte er bei optimaler Windrichtung die gedämpften Töne von Saxophon und Trompete aus dem Yorck-Schlösschen an der Ecke hören, einer der letzten naturbelassenen Jazzkneipen. Es war seit Jahrzehnten unverändert und stets prächtig besucht. Papstein betrachtete das Schlösschen zeitweise als sein Wohnzimmer und alle Besucher aus der alten BRD mussten ihn zu einer der legendären Abende der Berlin Blues Jam Session Blue begleiten. Es beruhigte ihn, dass Jazz und Blues in die Stadt zurückgekehrt waren. Die jungen Menschen trafen sich wieder in kleinen Clubs zu Livemusik und tanzten die alten Grooves mit neuen Bewegungen, gerne auch mit Flaschbier in der Hand, gerne auch in Bussen und Bahnen. Auch der Swing der 20-er Jahre war wieder im Trend und versprühte einen Hauch dieser Epoche mit ihren Ballhäusern, Cafés, Partys und Exzessen, die den ersten Weltkrieg vergessen machen sollten.
Papstein knipste seine selbstgebaute Terrassenlampe an und griff sich die Anklage in der Sache Lutchewski und andere, die ihn schon seit Monaten beschäftigte und mit der Patty inzwischen eingeschlafen sein dürfte. In zwei Tagen sollte die Hauptverhandlung beginnen. Er hatte zunächst 17 Termine angesetzt und 43 Zeugen sowie mehrere Sachverständige geladen. Die angeblichen Opfer waren allesamt Männer im besten Alter, die sich spät in eine der Nachtbars der Potsdamer Straße geschlichen und sich sexuelle Anregung oder gar Befriedigung erhofft hatten.
Der Vorwurf lautete auf versuchten Mord in einem Fall und gefährliche Körperverletzung, Betrug und andere Delikte in vielen weiteren Fällen. Angeklagt waren als angebliche Bande neben dem im Hintergrund agierenden Inhaber Natan Lutchewski auch der Geschäftsführer Ritchie Kitzmeier, eine Tänzerin und die Barfrau des Paloma. In der Amüsierbar gab es Getränke zum branchenüblichen Preis, Bier 20, Sekt ab 900 Euro, aber vor allem junge osteuropäische Damen, die ihre halbnackten Körper zu entsprechender Musik mit mäßig aufreizenden Bewegungen um senkrechte Eisenstäbe schlangen oder auf Wunsch für betrunkene Gäste Solotänze auf dem Tisch zelebrierten. Deren Honorar versteckten die geifernden Besteller gerne im knappen Top der Tänzerin. Besonders Bedürftige orderten einen Lap-dance bei Lydia, Sally, Aida oder Antje, dem Silikonwunder. Für diese Performance kam die Tänzerin ins Séparée und setzte sich mit gespreizten Beinen auf die Oberschenkel des Gastes, um ihn sodann mit rhythmischen Bewegungen in Rage zu bringen, teilweise bis zur finalen Entladung, die von geschickteren Tänzerinnen mit handelsüblichen Kleenex-Tüchern aufgefangen wurde. Dieses Spezialangebot war nicht nur gebührenpflichtig, sondern auch eine optimale Rahmenbedingung, um das willige Opfer zur Bestellung der Magnumflasche Champagner für 1.500 Euro zu stimulieren. Die im Hintergrund lauernde Barfrau Dana Bicu hatte diese Pulle schon mal griffbereit. Die Flasche war schon lange geöffnet und mit Rotkäppchen-Sekt gefüllt.
Papstein öffnete auf seinem Handy noch einmal eine E-Mail, die ihn letzte Woche anonym erreicht hatte. Der Text beschränkte sich auf „fyi!” Im Anhang befand sich ein Flyer für die Paloma-Bar mit dem Hinweis Besser ein Tanz mit einem Engel als mit dem Teufel!
Hm, dachte Papstein, war das jetzt eine Wildcard fürs Paloma oder eine Scherzerklärung eines Angebers?
Irgendwie hatte er keine rechte Lust auf das Verfahren. Ihm kam es vor, als solle die Justiz Sittenwächter spielen und über die freiwilligen Handlungen der verbreiteten Spezies homo erectus ein moralisches Neidhammelurteil abgeben. Für die gängigen Vorstellungen verklemmter Zeitgenossen hatte Papstein keine Aktien. Auch Schäbigkeit hat ihren Preis, dachte er, wenn man sie denn zur Selbstverwirklichung braucht. Das prüde Treiben war schließlich behördlich konzessioniert, spülte etwas Geld in die klamme arm aber sexy-Steuerkasse und gehörte zum Stadtbild wie ehemals Bolle oder amerikanische Touristen. Den Beschuldigten wurde allerdings vorgeworfen, schwer betrunkene Gäste regelrecht ausgenommen zu haben, indem sie Rechnungen für tatsächlich nicht georderte Getränke unterschreiben ließen, Scheckkarten mehrfach abbuchten und Geheimnummern ausspähten, um an nahen Geldautomaten die Karte platt zu machen, wie es im Jargon der Betreiber hieß. Klassisch erleichterte man die sexuell angestochenen Herren auch durch einen Griff in die Hosentasche, um die Geldbörse zu zocken.
All das wäre noch kein Grund, die Sache vor Papsteins Schwurgerichtskammer zu bringen. Zentrum der Anklage war aber der Verdacht, bei einigen dieser Machenschaften bewusstseinsverändernde Substanzen in Getränke gemischt zu haben. Für den Geschädigten Schumann sei dies nachgewiesen. Mit diesen K.O.-Tropfen und dem bald darauf einsetzenden Tiefschlaf mit Todesgefahr der betrunkenen Nachtschwärmer habe man dann freie Hand für Manipulationen jeder Art gehabt. Die Staatsanwaltschaft war überzeugt, das bei der Barfrau Dana Bicu gefundene Fläschchen Tafil dulde keine andere Interpretation, obwohl diese den Besitz mit ihren permanenten Schlafstörungen erklärt hatte.
Na ja, wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, dachte Papstein. Die Sache mit dem vermeintlichen Opfer Schumann schien ihm wenig plausibel und eher ein Konstrukt der Anklage, um etwas Dampf auf den Kessel zu geben. So wurde behauptet, Schumann, der Betreiber einer Kartbahn in der Eifel, habe nur aufgrund einer Verabreichung der Tropfen am frühen Morgen in die Notaufnahme der Charité eingeliefert werden müssen, wo ihm kurz vor dem Herzstillstand der Magen ausgepumpt und das Blut fast komplett ausgetauscht worden war. Vor allem wegen dieses Vorwurfs saßen die Verdächtigten seit neun Monaten in Untersuchungshaft in Moabit.
„Komischer Stoff“, murmelte Papstein, ging zurück an den Herd, schaltete die Flamme für den Kochtopf ein und schälte den Rosenkohl, dessen Unterteile er kreuzweise einschlitzte. Nach zehn Minuten Garen fing er das Gemüse mit einem Sieb auf und stellte es beiseite. Er ließ etwas Butter in der Pfanne zerlaufen und gab die Kohlköpfe zum leichten Anbraten dazu, danach Nüsse, Rosinen und unter mehrfachem Wenden Currypulver, Salz und Pfeffer. Nach fünf Minuten wanderten zwei reife geschälte Bananen in groben Stücken dazu. Wenig später schloss Papstein sein Werk mit einem kräftigen Schuss süßer Sahne ab, rührte alles leicht für eine weitere Minute und servierte es auf einem Porzellanteller.
„Lecker!“, lobte sich Papstein.
„Läckä!“, kam zurück.
Als Papstein das letzte Bananenstück in den Mund geschoben hatte, war es dunkel. Das ovale Dach des Sony-Centers leuchtete wie ein Ufo bei der Landung.
Acht Stunden später schob Papstein die Schiebetür seines begehbaren Schranks zur Seite, nahm seinen dunkelgrauen Anzug von der frei hängenden Eisenstange und wählte sein schwarzes Seidenhemd mit einer gestanzten Borde über der Knopfzeile. Besonderer Überlegung bedurfte es dafür nicht. Seine Garderobe bestand fast ausschließlich aus dunklen Stoffen, die unkompliziert zu kombinieren waren. Er war Anhänger eines modischen Minimalismus, der ihm eine spezielle Erkennbarkeit verlieh, zu allen Gelegenheiten passte und stilbildend wirkte. Sein Tagesgefühl entschied dann über die Auswahl der Krawatte, deren Farbspektrum wiederum grenzenlos war. Heute sollte die tiefblaue mit orangenen Karos als Tagesflagge gehisst werden.
„Das ist Frau Patty Förster, unsere neue Praktikantin“, stellte Papstein an diesem Morgen die Studentin vor. „Sie kommt aus Köln und wird uns ein paar Monate begleiten, genau rechtzeitig, um etwas über die Männerwelt der Hauptstadt zu erfahren.“
„Aus Köln?“, schaltete sich Richterin Nitschke ein, „Da wohnt ein Onkel von mir. Eine interessante Stadt und sehr bunt. Für mich allerdings zu bunt. Wissen Sie, immer nur feiern und so, das ist nichts für mich und in meinem Alter geht man auch nicht so gerne zur Fastnacht. Aber Sie bestimmt, so wie Sie aussehen, oder?“
„Also zum Karneval gehe ich schon, wenn Sie den meinen“, antwortete Patty, die von der forschen Ansprache irritiert war.
„Ach ja, mein Name ist übrigens Jennifer Nitschke. Ich bin seit sieben Monaten hier an der Kammer von Herrn Papstein als Richterin tätig und promoviere gerade. Über den Schutz des Eigentums, also die rechtspolitische Frage, weshalb man das Eigentum effektiver vor dem Zugriff von Dritten schützen muss, verstehen Sie?“
„Muss man das?“, fragte Patty und gab mit ihrer skeptischen Miene schon die Antwort.
„Wollen Sie auch mal in die Justiz? Ist ein wirklich toller Job, und man kann sich viele Freiheiten nehmen. Also, wenn ich mal was erledigen muss tagsüber, dann mach ich das eben, und für uns Frauen ist es ja wichtig, unabhängig zu sein, damit wir uns auch um uns selbst und unseren Partner kümmern können.“
Patty griff notgedrungen nach der kühlen Hand, die ihr Nitschke inzwischen hingestreckt hatte und zog ihre nach einem kurzen lauen Händedruck schnell zurück.
„Proberichterin, verehrte Kollegin, Proberichterin“, intervenierte Papstein, um das Gesülze von Nitschke gleich im Ansatz abzuwürgen. „Wir werden erst in etwa drei Jahren sehen, ob sich das Grasen auf der satten Wiese der Justiz für Sie auch gelohnt hat, nicht wahr, Frau Kollegin.”
Nitschke verzog ihr Gesicht und setzte sich wortlos auf einen der drei Stühle an Papsteins Beratungstisch.
„Und das ist der Kollege Dr. Engerling“, fuhr Papstein mit der Vorstellung fort. „Er ist etwa zwei Jahre hier in der Kammer. Wenn Sie etwas über Naherholungsgebiete des Ostens wissen wollen, sind Sie bei ihm genau richtig. Er kann Ihnen auch in allen Einzelheiten erzählen, in welcher europäischen Stadt es momentan die beste Linsensuppe gibt“, zog Papstein die Gewohnheiten Engerlings ins Lächerliche, ohne dass der es bemerkte. „Seinen akademischen Titel hat sich der Herr Beisitzer übrigens mit einer fulminanten Studie über die Voraussetzungen einer qualifizierten Mängelrüge bei gebuchten Reisen ins osteuropäische Ausland erworben.“
„Guten Tag, Frau Förster, ich wünsche Ihnen viele positive Erfahrungen hier am Landgericht“, gab sich Engerling ganz förmlich, weil er kein anderes Format kannte. Dann zog er seine verrutschte Brille von der Nasenspitze nach oben und inspizierte mit den achteinhalb Dioptrien seiner Aschenbechergläser die Praktikantin genauer.
„In Köln war ich mal an einem Wochenende in der Jugendherberge. Ist sehr preiswert und zentral für die Besichtigung der Altstadt.”
„Ja?“, nickte Patty dem verschrobenen Mann mit der braunen Breitcordhose zu, dessen verfleckte Krawatte ihm mit viel zu engem Knoten am Hals hing und deren bunte Musterung zu seinem ausgewaschenen karierten Hemd passte wie Kapern zu Marmelade. Der Strick hätte ohne Qualitätsverlust auch durch eine Fliegenfängerrolle aus den frühen50-er Jahren ersetzt werden können.
„Hier ist noch Platz am Tisch“, bot Papstein an, der inzwischen seine Espressomaschine angeworfen hatte. Aus ihr flossen zwei Portionen Illy zähbraun heraus und verströmten den unverwechselbaren Geruch, der sofort nach Überwindung des Brenners in der italienischen Luft liegt. Papstein stellte die kleinen Tassen auf die Tischplatte neben eine goldene zweiteilige Buddhafigur, in deren Bauch er Zuckerwürfel verwahrte. Dann drückte er die Taste für zwei weitere Portionen.
„Sie trinken doch Espresso, oder“, fragte Papstein die Praktikantin.
„Bestimmt, Kaffee macht doch schön, wie man sieht“, zwitscherte Nitschke dazwischen und hob mit ihren lindgrün lackierten Fingern das Oberteil Buddhas ab.
„Vielen Dank, ja, gerne. Ohne Espresso hätte ich meine Klausuren nie geschafft“, antwortete Patty, und ließ einen Würfel in die Tasse gleiten.
„Ich hoffe, Sie sind morgen früh alle ausgeschlafen“, begann Papstein die Einstimmung auf das Kommende. „Vier stadtbekannte Verteidiger sind am Start, alle aus der Abteilung Blut und Sperma. Natürlich auch Starverteidiger Edgar Phillip, die prächtigste Schöpfung des Herrn seit Michelangelos Davido. Und selbstverständlich Andy Strasser, der Mann für alle Fälle. Es steht zu erwarten, dass für die Schlacht die Moabiter Eröffnung gewählt wird: Besetzungsrüge, weil irgendeine Schöffin nur wegen einer schweren Lungenentzündung freigestellt wurde, Ablehnung aller Berufsrichter, weil sie eventuell eine Meinung haben, Aussetzungsantrag wegen der vorgreiflichen Anrufung des Internationalen Menschengerichtshofs aufgrund unzulässiger Vorverurteilung in der Öffentlichkeit und so weiter.
Die Presse wird vollständig anreisen und ihre Kameras aufbauen, um mal wieder den Einlauf der Roben und eindrucksvolle Bilder von Aktenbergen in alle Welt zu schicken. Ich weiß auch nicht, weshalb die nicht irgendwelches verpixeltes Archivmaterial verwerten, um Geld zu sparen. Also, verehrte Kammer, bitte pünktlich und frisch gewaschen erscheinen und den weißen Schlips oder das adrette Tüchlein umbinden. Herr Dr. Engerling, ist das Loch am Ärmel ihrer Robe jetzt mal gestopft, oder wollen Sie den maroden Zustand der Justiz weiterhin zu Markte tragen, in der Hoffnung, auch nur ein Exponat des Wahlvolks interessiere sich für unsere Arbeitsbedingungen? Diese modernen Digicams sehen alles. Übrigens auch, wenn eine zu üppige Schminke abbröckelt, Frau Kollegin. Und Vorsicht bei Mimik und Gestik und vor allem mit unkontrollierten Sprechakten oder unklaren Gutturallauten. Ein Verteidiger hat letzte Woche eine Schöffin abgelehnt, nur weil die gegähnt hat, um ihre Zahnspange zu richten. Und den schweigenden Angeklagten zu fragen, warum er das alles denn gemacht hat, ist halt auch Banane. Frau Förster, für Sie gilt die Kleiderordnung natürlich nicht, aber bitte kein T-Shirt von ACDC, Rammstein oder den Freien Kameraden Brandenburg. Sie setzen sich am besten in die erste Reihe zur Presse. Da können Sie Ihren Block auflegen und sich Notizen machen, okay? Außerdem gibt‘s bei den Jungs von unseren Stadtgazetten die besten Herrenwitze kostenlos, wenn man ihre Achselnässe übersteht.“
„Na klar, danke, ich setz mich dorthin, wo Sie es wünschen“, antwortete Patty mit samtener Stimme.
Engerling, ganz Sparfuchs, steckte sich einen Zuckerwürfel in den Mund und erhob sich. „Ich würde jetzt mal in mein Zimmer gehen. Ich hab da noch eine Beschwerde eines Querulanten.“
„Ja dann wollen wir das Kränzchen mal auflösen“, entgegnete Papstein und schickte Engerling bei dessen Abgang noch eine Spitze: „Und bitte lassen Sie übermorgen Ihren Wanderführer von der Hohen Tatra auf Ihrem Schreibtisch im Büro. Und die Broschüre über die Schafswanderung mit Wernders Heidschnucken und dem Hirtenhund Votan mit Getränk für fünf Euro ist auch keine geeignete Schreibunterlage für diesen Prozess. Wie gesagt, da sind echte Schießhunde auf den rechten Bänken.“
Nitschke war inzwischen auch aufgestanden und Richtung Tür orientiert. „Sie brauchen da keine Angst zu haben, Herr Papstein. Das Supergloss von Nivea hält sogar in der Sauna, tschüss bis Mo!“
„Tschüss!“, erwiderte Patty im Echo, während Papstein seine linke Hand leicht anhob.
„Ähm … also, Herr Papstein, Sie haben die beiden ja ganz schön in die Schnur, äh, nein, wie sagt man noch mal, ach ja, in den Senkel gestellt, also mit Schminke und Tatra und so“, traute sich Patty, als die Tür endlich zu war. „Immerhin hat Ihre Kollegin doch auch zwei Staatsexamen, und hat man als Richterin nicht auch einen gewissen Ruf?“
„Ach ja, das berühmte Ansehen der Justiz und ihrer Protagonisten“, erwiderte Papstein. „Ja, Sie haben schon recht. Wir Ritter der Gerechtigkeit. Der Richterjob zählt doch tatsächlich noch zu den angesehensten Berufen in der Republik. Diese Außenbetrachtung spiegelte sich ja auch lange Zeit in unserer Eigenwahrnehmung. Was haben wir doch für eine hohe Verantwortung. Und erst diese Entscheidungsmacht, nachdem wir mit dem rechtssuchenden Bürger in Kontakt getreten sind und uns Zeit für Recherche und Reflexion bei der Suche nach einem gerechten Urteil genommen haben. Und diese unglaubliche Flexibilität bei der Arbeitszeit, unkündbar auch noch, herrje! Dafür nehmen wir unser lausiges Einkommen doch glatt in Kauf.“
„Wirklich?“, fragte Patty dazwischen.
„Ja. Und wenn wir mal effizienter arbeiten, wird sofort gespart. Gewinnabschöpfung nennt man das, wie in der Wirtschaft. Also arbeiten wir wieder am Limit. Sie bekommen es ja als Praktikantin nur am Rande mit. Wer seinen Job ernst nimmt, hat genug Abend- und Wochenendarbeit. Was glauben Sie, wie viele Kollegen hier schon wegen der Frustration über den Job im Hamsterrad mit Erschöpfung, Burnout oder Depressionen rumhängen?“
„Hmm … “, murmelte Patty, „das klingt ja ganz nach totaler Berufsverfehlung, oder jedenfalls nach Augen auf bei der Berufswahl?“
„Ja, genau. Gerade letzte Woche ist ein junger Richter quasi über Nacht ausgestiegen. Dabei war er in einem Bandenprozess beteiligt und hatte 28 Tage mitgesessen. Der ist einfach ab zu einer Versicherung und die hundert Zeugen dürfen nochmal vernommen werden. Fack ju Judge! Eben noch Proberichter und schon Justiziar im Großkonzern, warum auch nicht?“
„Wie doof“, warf Patty ein.
„Ja, junge Frau, lange kam man nur mit zwei Prädikatsexamen in die Justiz. Aber diese unsägliche Eliteauswahl nur anhand von Noten funktioniert nicht mehr. War eh schon immer Mist. Die Justiz hat doch ihren Charme verloren. Jetzt bekommen wir immer mehr diese Life-Balance-Fuzzies, die unbedingt ihre zwölf Hobbies pflegen müssen und beim kleinsten Schnupfen zwei Wochen bei Mama sind.“
„Also Frauen finden den Job, glaube ich, immer noch dolle, oder?“, fragte Patty.
„Richtig. Die Justiz ist geradezu zum Refugium für Frauen mutiert, die sich ihren verständlichen Kinderwunsch wegen der Vorteile von Elternzeit und Teilzeitarbeit optimal erfüllen. Also jedenfalls, wenn der Ehemann dem gut bezahlten Anwaltsberuf nachgeht. Warum auch nicht? Der Richterjob verweiblicht allmählich, weil sich die Männer längst anders orientieren und bei gleicher Arbeitsbelastung den besser dotierten Beruf wählen. Sie sehen doch, selbst für das Praktikum hier interessieren sich fast nur Studentinnen. Ihre gestriegelten Kommilitonen schnuppern lieber in Großbüros, weil sie sich erste Kontakte auf dem Weg zum Partner erhoffen.“
„Mir wäre das Ansehen aber auch wichtig“, warf Patty ein.
Papstein ließ sich nicht wirklich unterbrechen und fuhr mit steigender Vehemenz fort. „Und das sogenannte Prestige. Das gibt’s vielleicht noch in der Wahrnehmung des einfachen Bürgers, der noch keine Justizerfahrung gemacht hat. Unsere Wertschätzung in der Binnenlandschaft können Sie vergessen. Immer mehr Zumutungen, mehr Fälle, Akten, Akten, Akten, immer komplizierter, immer verrückter. Und dann noch die miserablen Zustände in den Geschäftsstellen und beim Protokoll. Noch nicht einmal um die Taubenplage kümmert sich dieser Herrlein, obwohl die Fenster und Eingänge seit Jahren komplett zugeschissen sind. Aber meine Kollegen laufen ja wie die Lemminge auch durch den dicksten Dreck, weil‘s in der Kantine Currywurst mit Pommes für dreieurozwanzig gibt und sie keine Zeit haben für ein Lokal in der Nähe. Sie könnten ja bei diesem Luxus beobachtet werden.“
„Oje, das hab ich bisher ganz anders gesehen“, unterbrach Patty. „Aber sagen Sie mal, die, … die grünen Fingernägel Ihrer Beisitzerin sind jetzt nicht gerade angesagt. Ich mag grün ja mal gar nicht. Aber man kann ja als Richterin machen, was man will, ne?“
„Machen, was man will?“, gab sich Papstein empört. „Wo haben Sie denn diesen Spruch eingefangen? Ich wäre dann wahrscheinlich mit Ihnen gerade auf einer romantischen Schiffsfahrt auf dem Wannsee, mit Berliner Weiße und einem Jochen an der Hammondorgel oder so.“
„Gerne, ich war noch nie auf hoher See“, strahlte Patty und schob unbewusst den linken Träger ihres Tops nach innen.
„Na gut, wir könnten mal eine Art Betriebsausflug organisieren. Immerhin haben Sie ja auch Anspruch auf kulturelle Erweiterungen. Überlegen Sie, was Sie gerne mal erleben würden in der großen Stadt, und machen einen konkreten Plan, so ab sechzehn Uhr.“
„Werde ich“, reagierte Patty sofort. „Darf es auch später werden, also mit Nightlife? Berlin soll doch erst im Dunkeln so wirklich abgehen.“
„Sie haben alle Vollmachten, Madame“, entgegnete Papstein schmunzelnd. „Aber jetzt zu übermorgen. Haben Sie die Akte gelesen oder nur vor dem Spiegel ihre unbestreitbare Schönheit bewundert? Entschuldigung, ist mir so rausgerutscht.“
„Von Tanzstangen habe ich jedenfalls nicht geträumt“, entgegnete Patty und stützte ihre Hände in die runden Hüften, „aber Komplimente find ich megasuper. Die Story ist ja wirklich schräg. Wieso kümmert sich die Justiz um das Nachtleben von älteren Herren? Sind die nicht für ihr Treiben selbst verantwortlich? Wer sich …“
„Genau, … kommt darin um! Hören Sie mal, Jungphilosophin, wir sind hier beim Schwurgericht, und zwar deshalb, weil einer dieser älteren Herren fast Hopps gegangen wäre vor lauter Vergnügen. Dass die Männer in solche Schuppen strömen, heißt doch nicht, dass sie zum Abschuss freigegeben werden. Normalerweise gehen dort die Damen mit ihren zahlungskräftigen Kunden um wie mit Rohdiamanten. Andererseits Tabledance, Tabledance, was ist das eigentlich, außer halbnackt rumhüpfen und abkassieren? Haben Sie da mehr Erfahrung? Die Jugend geht mit solchen Themen doch viel entspannter um. Da werden doch bestimmt auch Geburtstage oder Junggesellenabschiede mal in so einem Klub zelebriert, weil‘s cool ist. Und die jungen Bräute machen da voll mit, als wäre es das Normalste der Welt. Hauptsache Party, verrücktes Ambiente, geile Cocktails und Spaß, oder was? Und irgendwelche Papa Neureichs blechen mal locker zwei, drei Mille.“
Kaum hatte er so harsch interveniert, kam Papstein seine eigene Rede wie gekünstelt vor. Hatte er nicht selbst noch gestern Abend den ganzen Prozess als despektierliche Einmischung in die Privatsphäre von Vertragschließenden gedeutet?
„Ja genau“, stimmte Patty zu. „Natürlich schlachtet niemand gerne seine Milchkuh. Aber mit K.O.-Tropfen geht’s natürlich megaeinfach. Und wenn die Chinesen dann mit dem Taxi zum Flughafen müssen, ist es doch egal, ob die vorher wie ein Sack Reis rumlagen. Also ich glaub der Anklage. Das gibt hundert pro ne Verurteilung!“
„Achje, junge Kollegin, irgendwie haben Sie wohl wie die meisten in diesem Land die Meinung, das Ergebnis eines Prozesses stünde von vorneherein fest. Wie hat der große Showmaster Rudi Carrell immer gesungen: Lass dich überraschen!“
„Wir in Köln sagen dazu nur, et kütt wie et kütt!“, zitierte Patty.
„Et kütt? Genau, Sie sollten doch heute noch zum Amtsgericht, Familienrichterin Finke-Strömer. Da können Sie mal einige der 45 Prozent Scheidungen erleben, die es in dieser Stadt statistisch gibt.“
„Und von den verbleibenden 55 Prozent müssten doch auch mindestens dreiviertel geschieden werden, oder?“, ergänzte Patty.
„Wahrscheinlich, oder sagen wir mal, mindestens 75 Prozent. Wir sehen uns morgen, halb neun.“
„Ich bin keine Blondine, Herr Papstein, und gehe ja schon, … das wird bestimmt spannend, … tschüühüüss!”
Kaum war Patty verschwunden, spürte Papstein wieder diesen stechenden Schmerz an der Halswirbelsäule, der ihn seit einigen Jahren in unregelmäßigen Abständen ereilte. Typische Verspannungen durch ständiges Sitzen an diesen unvermeidbaren Bildschirmen. Papstein drückte seinen Hinterkopf mit einiger Kraft für zehn Sekunden an die obere Sesselkante. Diese Adaption aus seinem Training im Fitness-Studio wiederholte er acht Mal. Das musste reichen.
Lieber wäre er jetzt in Thailand, würde über den Chatuchak-Markt in Bangkok schlendern oder am Coral Beach in Koh Ta Kiev in Kambodscha den Sonnenuntergang genießen und sich an den Spezialitäten Südostasiens laben. Schon während des Studiums hatte Papstein diese Region bereist und die Freundlichkeit der Menschen kennengelernt, die deren Charakter prägte. Dort wurde ihm zum ersten Mal die Verkrampftheit des angeblich freien Westens bewusst. Diese überregulierte deutsche Republik, die vieles in bürokratischem Paragraphendschungel erstickt. Gab es wirklich einen Sinn, im Hallenbad den Sprung ins Becken zu verbieten, auch wenn sich um sechs Uhr früh kein Schwein im Wasser befindet? Papstein hatte es einmal erlebt. Unter den Anstrengungen seines lauten Protestes gegenüber dem Bademeister wäre er fast ertrunken. Und warum sollte ein Handwerker mit dreißig Berufsjahren keine Lehrlinge ausbilden können, anstatt Meisterbrief nur auf dem Dienstweg, und den kleinste Kiosk gibt es nur mit lebenslang straffrei.
Die Leichtigkeit eines entspannten Lebens spürte Papstein erstmals am Chaweng Beach. Er hatte sich auf der kleinen Tropeninsel Koh Samui in einer einfachen Strohhütte eingemietet, die es vor der Invasion des Massentourismus noch gab. Sie stand unter hohen Palmen sieben Meter vom Meer entfernt. Tagsüber konnte er beobachten, wie geschickte Makaken die reifen Kokosnüsse pflückten. In speziellen Affenschulen dressiert, kletterten sie in Windeseile zu den unerreichbaren Palmkronen, lösten die Früchte vom Baum und ließen sie auf die Erde fallen. Aber auch nachts und ohne Affen fielen aus den mächtigen Bäumen Kokosnüsse dick wie Fußbälle. Nach mehr als zehn Metern krachten einige auf das Strohdach der Vier-Quadratmeter-Hütte und sprangen wie von einem Trampolin in die nahe Umgehung. Mit der Zeit erkannte Papstein den Einschlag der Biomonster an dem vorauseilenden Geräusch. Es hörte sich an wie leichtes Knicken von Unterholz, gefolgt vom schlüpfrigem Gleiten entlang der Palmwedel. Dann folgte ein dumpfer Aufprall auf dem sandigen Terrain, das von vertrocknetem Astgestrüpp und Bodendeckern gesäumt war. Papstein erinnerte es an den Sound dieser unsäglichen Medizinbälle, die er in der Grundschule seinen Mitschülern zuwerfen musste. Die schweren Dinger wurden fast nie aufgefangen, weil es mehr Spaß machte, die anderen mit dem braunen Lederklumpen abzuwerfen.
Auch eine Woche nach seiner Ankunft orderte Papstein im offenen Pavillon der Anlage seinen täglichen Banana-Peanutbutter-Honey-Pancake.