Tag der Befreiung - George Saunders - E-Book

Tag der Befreiung E-Book

George Saunders

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Beschreibung

George Saunders, der "König der Kurzgeschichte" (NZZ), erzählt einfühlsam und virtuos von den Gefängnissen, in denen wir stecken - den realen wie den eingebildeten.

"Tag der Befreiung" versammelt so virtuose wie einfühlsame Erzählungen über die Gefängnisse, in denen wir stecken, die ganz realen und die eingebildeten. Sie handeln von Macht und Moral, Liebe und Verlust, von der Sehnsucht nach menschlicher Verbindung und dem Versuch, sich von allem zu befreien. Und davon, dass die Befreiung manchmal die noch größere Katastrophe ist.

George Saunders erzählt mir großer Klarsicht von einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft: Da ist der Großvater, der in einer nicht allzu fernen dystopischen Zukunft einen Brief mit einer zärtlichen Warnung an seinen Enkel schreibt. Oder die Mutter, die ein Unrecht an ihrem Sohn sühnen möchte, dabei jedoch nur noch größeres Unrecht verursacht. Oder der Obdachlose, der sich zu einer Gehirnwäsche bereiterklärt und doch eingeholt wird von seinem früheren Leben. Oder der unterirdische Vergnügungspark, in dem Hölle gespielt wird und der alles auf die Probe stellt, was wir für die Wirklichkeit halten...

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Zum Buch

George Saunders erzählt mit großer Klarsicht von einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft: Da ist der Großvater, der in einer nicht allzu fernen dystopischen Zukunft einen Brief mit einer zärtlichen Warnung an seinen Enkel schreibt. Oder die Mutter, die ein Unrecht an ihrem Sohn sühnen möchte, dabei jedoch nur noch größeres Unrecht verursacht. Oder der Obdachlose, der sich zu einer Gehirnwäsche bereiterklärt und doch eingeholt wird von seinem früheren Leben. Oder der unterirdische Vergnügungspark, in dem Hölle gespielt wird und der alles auf die Probe stellt, was wir für die Wirklichkeit halten ...

»Tag der Befreiung« versammelt so virtuose wie einfühlsame Erzählungen über die Gefängnisse, in denen wir stecken, die ganz realen und die eingebildeten. Sie handeln von Macht und Moral, Liebe und Verlust, von der Sehnsucht nach menschlicher Verbindung und dem Versuch, sich von allem zu befreien. Und davon, dass die Befreiung manchmal die noch größere Katastrophe ist.

Zum Autor

George Saunders wurde 1958 in Amarillo, Texas, geboren, lebt heute in Oneonta, New York, und ist Dozent an der Syracuse University. Er hat mehrere Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht, erhielt u.a. den PEN/Malamud Award und den Folio Prize. Das Echo auf seinen ersten Roman »Lincoln im Bardo« war überwältigend: Man Booker Prize 2017, Shortlist für den Golden Man Booker Prize, Premio Gregor von Rezzori 2018, New York Times-Nr. 1-Bestseller, SWR-Bestenliste Platz 1 und SPIEGEL-Bestseller. Zuletzt erschienen »Fuchs 8« und »Bei Regen in einem Teich schwimmen«, beides ebenfalls SPIEGEL-Bestseller.

Zum Übersetzer

Frank Heibert, 1960 in Essen geboren, lebt in Berlin. Er hat Prosa und Theaterstücke aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Portugiesischen übersetzt, u. a. von Don DeLillo, Richard Ford, Raymond Queneau, Yasmina Reza. Diverse Übersetzerpreise, darunter der Braem-Preis für »10. Dezember« von George Saunders, und der Straelener Übersetzerpreis, zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel.

George Saunders

Tag der Befreiung

Stories

Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert

Luchterhand

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Liberation Day« bei Random House, einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2022 George Saunders

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 

Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign | München

unter Verwendung eines Motivs von © Ruth Botzenhardt

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29172-3V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

Für Paula

Inhalt

Liebesbrief

Die Mom der kühnen Tat

Tag der Befreiung

Eine Sache auf der Arbeit

Spatz

Ghul

Muttertag

Elliott Spencer

Mein Haus

LIEBESBRIEF

22. Februar 202_

Lieber Robbie,

hab Deine E-Mail bekommen, mein Junge. Entschuldige, dass ich handschriftlich antworte. Weiß nicht, ob bei dem Thema E-Mail der beste Weg ist, aber das liegt natürlich bei Dir, mein Lieber (wie Deine Mutter sagt, bist Du ja jetzt bald schon 1,80 groß), wobei, Du weißt ja: komische Zeiten.

Wunderschöner Tag hier. Gerade kam eine Familie Rehe vorbeigelaufen, Deine Großmutter und ich saßen draußen auf der Terrasse, mit den hellblauen Tassen, Deinem lieben Weihnachtsgeschenk, und kriegten gleichzeitig so ein Zucken in der Hüfte, als die Rehe Richtung Seascape sprangen, wo sie auf dem Golfplatz leicht und viel zu fressen finden, denk ich mir.

Sieh es mir nach, wenn ich im Folgenden nur Initialen verwende. Würde ungern G., M. oder J. noch mehr Schwierigkeiten einbrocken (alles gute Leute, wir haben uns sehr gefreut, sie kennenzulernen, als Ihr letzte Ostern bei uns vorbeigekommen seid), falls das hier in falsche Hände gerät und von jemand anders als Dir gelesen wird.

Ich glaube, in Bezug auf G. hast Du recht. Der Zug ist abgefahren. Ich empfehle Loslassen. Und M. hat, laut Deinen Erläuterungen, ihre Papiere zwar in Ordnung, aber wusste die ganze Zeit, dass G. keine Papiere hatte, richtig? Und hat nichts deswegen unternommen? Will natürlich nicht sagen, dass sie was hätte tun sollen. Aber wenn wir kurz mal so denken wie »sie« (die Loyalisten) – ich glaube, heutzutage empfiehlt sich das –, dann könnten wir fragen: Warum hat M. nicht getan, was sie hätte tun »sollen« (wie gesagt, laut denen und wie sie denken), nämlich jemand Zuständigen über G. informieren? Wo es doch »ein Privileg, kein Recht« ist, hier zu sein. Sind wir (ich kann’s schon nicht mehr hören) »ein Rechtsstaat« oder nicht?

Auch wenn sie ständig das Recht ändern, um es ihren Überzeugungen anzupassen!

Glaub mir, mich widert all das genauso an wie Dich.

Aber nach meiner Erfahrung (der eines alten Mannes) bewegt sich die Welt manchmal in eine bestimmte Richtung, und sobald sie das getan hat, kann sie, weil sie so groß und unergründlich ist, nicht in ihren vorherigen, besseren Zustand zurückgeführt werden, und deshalb ist es in der derzeitigen Situation an uns, würde ich sagen, so zu denken wie sie, soweit wir dazu in der Lage sind, um möglichst viele Unannehmlichkeiten und zukünftigen Schaden zu vermeiden.

Natürlich hast Du eigentlich geschrieben, um wegen J. nachzufragen. Ja, ich bin immer noch in Kontakt mit dem Anwalt, den Du erwähnt hast. Ehrlich gesagt kann der uns nicht wirklich helfen, glaube ich. Inzwischen. Als junger Mann ist er stolz wie ein Prinz ins Gericht geschritten, absolut, aber heute ist er nur noch ein Schatten seiner selbst. Damals, als das Verteidigungsministerium amtierende Richter überprüfte/ihres Amtes enthob, stellte er sich dagegen, vielleicht etwas zu engagiert, und wurde in der Presse beschimpft, sein Haus wurde beschmiert, er wurde kurzzeitig verhaftet, und heutzutage werkelt er, wie ich höre, die meiste Zeit nur in seinem Garten herum und behält seine Meinung hübsch für sich.

Wo ist J. jetzt? Weißt Du das? In einem staatlichen oder einem Bundesgefängnis? Das könnte von Bedeutung sein. Ich denke, »sie« (die Loyalisten) werden jetzt (wo sie die Macht der Gerichte hinter sich wissen) sagen, dass J., auch wenn sie Bürgerin ist, durch ihre Weigerung, die erfragten Informationen über G. & M. zu liefern, bestimmte Rechte und Privilegien verwirkt hat. Vielleicht erinnerst Du Dich an R. & K., Freunde von uns, die Dir zu Deinem fünften (sechsten?) Geburtstag diese Lincoln-Spardose aus Bronze geschenkt haben? Sie sind Loyalisten, wir haben immer noch Kontakt zu ihnen, und sie folgen genau dieser Art von Logik. Aus ihrem Fitnessstudio kennen sie einen Mann aus Aptos Village, der sich dort mit einem Typen angefreundet hat, sie waren zusammen joggen und so, und nachdem dieser Mann ablehnte, das bisherige Wahlverhalten seines neuen Freundes zu kommentieren, stellte er auf einmal fest, dass er seinen Dienstwagen nicht mehr anmelden konnte (er war Florist, das war also ein Problem). Was meinen R. & K. dazu? Wer sich weigert, »eine einfache Frage« von seiner »eigenen Heimatregierung« zu beantworten, »ist kein Patriot«.

So sieht unsere Situation derzeit aus.

Du hast gefragt, ob Du etwa danebenstehen und zuschauen sollst, wie das Leben Deiner Freundin zerstört wird.

Zwei Antworten: eine als Bürger, die andere als Großvater. (Du hast Dich in einer Lebenslage, die schwer für Dich sein muss, an mich gewandt, und ich versuche, ganz offen zu Dir zu sprechen.)

Als Bürger: Natürlich kann ich verstehen, warum ein junger (intelligenter, gutaussehender) Mensch (den zu kennen übrigens eine stetige Freude ist) es als seine Pflicht betrachtet, für seine Freundin J. »etwas zu tun«.

Aber was genau?

Das ist die Frage.

Wenn Du ein gewisses Alter erreicht hast, begreifst Du, Zeit ist das Einzige, was wir haben. Damit meine ich solche Momente wie vorhin mit den springenden Rehen, oder als ich zusah, wie Deine Mutter geboren wurde, oder als ich hier am Esszimmertisch saß und auf den Anruf wartete, der mir mitteilte, dass ein gewisses Baby (Du) auf die Welt gekommen war, oder den Tag, als wir alle draußen in Point Lobos wandern waren. Dieser irrsinnig laute Seehund, wie der Schal Deiner Schwester nach unten segelte, auf diesen salzschlierigen schwarzen Felsblock, und wie Du ihr in Monterey einen neuen gekauft hast, so großzügig warst Du, und ihre Freude darüber, wie lieb Du zu ihr warst. Das ist die Wirklichkeit. Das (und nicht mehr) bekommen wir geschenkt. Alles andere ist nur in dem Maße Wirklichkeit, wie es solche Momente stört.

Nun könntest Du sagen (ich höre Dich schon und sehe, wie Du dabei guckst), dass dieser Vorfall mit J. genau eine solche Störung ist. Das respektiere ich. Aber als Dein Großvater bitte ich Dich dringend, die Macht/Gefahr dieses Augenblicks nicht zu unterschätzen. Vielleicht habe ich Dir eine Geschichte noch nicht erzählt: In den frühen Tagen dieser ganzen Sache schrieb ich zwei Leserbriefe an das Lokalblättchen, einer war etwas überdreht, der andere humorvoll. Beide blieben ohne jede Wirkung. Wer meiner Meinung war, fühlte sich bestätigt; wer es nicht war, ließ sich nicht beeindrucken. Nachdem ein dritter Brief nicht veröffentlicht wurde, passierte Folgendes: Ich wurde, hier nicht weit vom Haus entfernt, rechts rangewunken, ohne erkennbaren Grund. Der Cop (netter Kerl, fast noch ein Kind eigentlich) fragte, was ich so den ganzen Tag täte. Ob ich irgendwelche Hobbys hätte? Ich sagte nein. Er sagte: Man hört, Sie tippen gern. Ich saß in meinem Auto und betrachtete seinen großen blassen Arm. Und dazu sein Kindergesicht. Der Arm war allerdings der Arm eines Mannes.

»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte ich.

»Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Sir«, sagte er. »Und Hände weg vom Computer.«

Meine Güte, seine Dummheit und Klotzigkeit da im Dunkeln, das metallische Klickern von seinem Gürtel her, die spürbare Selbstgewissheit, mit der er seine Ziele vertrat, Ziele, die mir selbst zu diesem späten Zeitpunkt einfach nicht in den Kopf wollen, in die ich mich nicht hineinversetzen kann.

Ich will nicht, dass Du irgendwann einmal unter die Fuchtel so eines Menschen gerätst, nicht mal in seine Nähe, niemals.

Jetzt möchte ich unbedingt noch den letzten Teil Deiner E-Mail ansprechen, der (da kannst Du Dir ganz sicher sein) mich weder aufgeregt noch »verletzt« hat. Nein. Wenn Du in mein Alter kommst und das Glück hast, so einen (brillanten) Enkel wie Dich zu haben, dann wirst Du auch wissen, dass nichts, was dieser Enkel sagen könnte, Dich je verletzen könnte, vielmehr hat es mich sehr berührt, dass Du in Deiner Notlage daran gedacht hast, mir zu schreiben, mich so direkt und sogar (das gebe ich zu) hart anzugehen.

Im Rückblick, ja: Es gibt einiges, was ich bedaure. Es gab eine bestimmte entscheidende Phase. Das ist mir heute klar. In jener Zeit saßen Deine Großmutter und ich jeden Abend beim Puzzeln an dem Esstisch, den Du ja sehr gut kennst, sie an ihrem, ich an meinem Puzzle. Wir hatten vor, die Küche renovieren zu lassen, waren gerade mitten dabei, die Mauern draußen im Garten für ein Heidengeld neu bauen zu lassen, bei mir gab es die ersten Anzeichen für die Zahnprobleme, von denen Du so viel (wahrscheinlich viel zu viel) gehört hast. Jeden Abend saßen wir einander gegenüber und legten unsere Puzzles, während aus dem Fernseher im Nebenzimmer diese Litanei von Dingen blökte, die es noch nie zuvor gegeben hatte, die wir uns nie im Leben vorgestellt hätten und die jetzt passierten, und die Fernsehexperten reagierten mit ironischer, satirischer Selbstgefälligkeit, wie wir alle nahmen sie an, dass all das irgendwann wieder rückgängig gemacht und das Leben zur Normalität zurückkehren würde – dass irgendwann ein erwachsener Mensch (oder mehrere) kommen und alles in Ordnung bringen würde, so wie es in der Vergangenheit immer gewesen war. Es war nicht vorstellbar (bitte vernichte diesen Brief, nachdem Du ihn gelesen hast), dass so ein Clown etwas so Edles und Erprobtes und scheinbar Stabiles zerrütten könnte, etwas, mit dem wir buchstäblich jeden Tag unseres Lebens gelebt hatten. Mit anderen Worten, wir hatten ein großes Geschenk für allzu selbstverständlich genommen. Und es nicht als glückliche Fügung erkannt, als Schimäre, als wunderbares Zusammentreffen von Übereinkunft und gegenseitigem Verständnis.

Und da der Auslöser dieser Zerstörung so unfähig wirkte, nichts als ein lachhafter Strolch (damals!), der so wenig Ahnung von dem, was er zerstörte, zu haben schien, und da das Leben weiterging, auch wenn von ihm bzw. »denen« jeden Tag eine neue Grenze des Anstands brachial überschritten wurde, merkten wir bald, dass uns keine echte Empörung mehr zu Gebote stand. Wenn Du mir eine derbe Metapher nachsehen magst (kein Problem für Dich, den König der Furz-Jokes): Ein Typ kommt zu einem Abendessen und kackt auf den Teppich im Wohnzimmer. Die Gäste regen sich auf, protestieren lautstark. Er kackt gleich nochmal. Die Gäste denken, hm, das Geschrei hat nicht geholfen. (Und ein paar von ihnen beklatschen seine Dreistigkeit.) Da kackt er zum dritten Mal, mitten auf den Tisch, und immer noch schmeißt ihn keiner raus. Ab jetzt ist die Skala zukünftiger Kackhaufen nach oben offen.

Zwar sagten Deine Großmutter und ich in dieser entscheidenden Phase oft »Man müsste einen Marsch organisieren«, ja, oder »Diese besch... republikanischen Senatoren«, aber wir waren es bald leid, uns das sagen zu hören, und um nicht die typischen Alten zu sein, die sich ständig sinnlos wiederholen, ließen wir es bald bleiben, das zu sagen, machten unsere Puzzles und so weiter und warteten auf die Wahl.

Ich rede hier von der dritten Wahl, nicht der vierten (der des Sohns), die, weil sie der totale Betrug war, nicht mehr ganz so wehtat (bzw. überraschte).

Nach der Wahl, neue Puzzles (meins war eine besonders schwierige Sommerszene in den Catskills), fielen uns die frühen Begnadigungen auf (als sie dann ausgesprochen wurden, hatten wir schon begriffen, dass mit ihnen zu rechnen war), dann kam eine wahre Flut von Begnadigungen (jede bereitete den Weg für die nächste), begleitet von feierlichem Verlautbarungsschwachsinn (inzwischen waren wir praktisch abgehärtet dagegen), dann wurden Richter ins Visier genommen, es gab die Vorfälle von Reno und Lowell, die Ermittlungen gegen Kritiker, die bereits verlängerte Mandatsbegrenzung wurde komplett beiseitegewischt, und immer noch glaubten wir nicht richtig, dass das gerade alles passierte. Die Vögel kamen immer noch aus den Bäumen geflogen und so weiter.

Ich habe das Gefühl, Dich zu enttäuschen.

Ich will nur sagen, dass die Geschichte, wenn sie geschieht, vielleicht nicht so aussieht, wie man es aufgrund der Lektüre von Geschichtsbüchern erwartet. Da sieht alles immer so sonnenklar aus. Man weiß genau, was man getan hätte.

In dieser entscheidenden Phase hätten Deine Großmutter und ich (wie viele andere) weitaus radikalere Menschen sein müssen, um tun zu können, was immer wir hätten tun sollen. Unser Leben hatte uns nicht auf Extremsituationen vorbereitet, so dass wir, ich erkenne es im Nachhinein, nicht so mobilisierbar oder konzentriert oder energisch waren, wie wir es hätten sein müssen. Wir waren nicht bereit, auf alles zu verzichten zur Verteidigung eines Systems, das für uns wie Sauerstoff war: ständig benutzt, niemals bemerkt. Wir waren verwöhnt, das will ich wohl damit sagen. Und die auf der anderen Seite genauso: willens, alles niederzureißen, gründlich gemästet von dem stumpfsinnigen Überfluss, in dem wir alle gelebt hatten, von den üppigen Umständen, die es den Menschen erlaubten, zu gedeihen und Meinungen zu vertreten und herumzustolzieren wie die Könige und Königinnen, ohne den geringsten Schimmer von ihrer eigenen Geschichte.

Was hätte ich Deiner Meinung nach tun sollen? Was hättest Du getan? Ich weiß, was Du sagen wirst: Du hättest gekämpft. Aber wie? Wie hättest Du gekämpft? Hättest Du Deinen Senator angerufen? (In jenen Tagen konntest Du immerhin noch Deine machtlose Botschaft auf dem Anrufbeantworter eines Senators hinterlassen, ohne Repressalien befürchten zu müssen, aber genauso gut hättest Du draufsingen oder -pfeifen oder -furzen können, gemessen an dem Erfolg Deiner Aktion.) Also, das haben wir gemacht. Wir haben angerufen, Briefe geschrieben. Hättest Du bestimmten Leuten Geld gespendet, die sich zur Wahl stellten? Auch das haben wir gemacht. Hättest Du Dich an Märschen beteiligt? Aus irgendeinem Grund gab es auf einmal keine Märsche mehr. Hättest Du einen Marsch organisiert? Damals wie heute weiß ich nicht, wie man einen Marsch organisiert. Ich hatte immer noch einen Vollzeitjob. Die Zahngeschichte hatte gerade erst angefangen. Das hält einen mental ziemlich auf Trab. Du weißt, wo wir wohnen. Hättest Du gewollt, dass ich nach Watsonville runterfahre und den Beamten dort Predigten halte? Sie waren alle unserer Meinung. Damals. Hättest Du Dich bewaffnet? Das hätte ich nicht getan und werde es nicht tun, und ich glaube auch nicht, dass Du es tätest. Hoffentlich nicht. Denn dann ist alles verloren.

Lass mich am Schluss zum Anfang zurückkehren und ganz direkt sagen: Ich rate Dir und flehe Dich an, Dich aus dieser Sache mit J. herauszuhalten. Wenn Du Dich einschaltest, wird das nicht helfen (vor allem wenn Du nicht weißt, wo sie sie hingebracht haben, ins staatliche oder ins Bundesgefängnis), es könnte sogar schaden. Ich hoffe, ich kränke Dich nicht, wenn ich hier den Ausdruck »leere Geste« benutze. Es würde nicht nur J.’s Lage verschlimmern, sondern möglicherweise auch die Deiner Mutter, Deines Vaters, Deiner Schwester, Deiner Großmutter, Deines Großvaters usw. Du bist nicht allein bei alldem, das macht die ganze Sache nicht einfacher.

Ich wünsche Dir nur Gutes. Hoffentlich bist Du eines Tages selbst ein alter Knacker, der einem (geliebten) Enkel einen (zu) langen Brief schreibt. In dieser Welt ist viel von Mut die Rede und, nach meinem Empfinden, nicht genug von Diskretion und Umsicht. Ich weiß, wie das für Dich klingen muss. Lass es mir. Ich habe so lang gelebt, ich darf das.

Erst jetzt fällt mir ein, dass J. und Du vielleicht mehr als nur Freunde wart.

Falls das stimmt, verkompliziert das die Situation (zwangsläufig).

Letzte Nacht hatte ich einen lebhaften Traum von dieser Zeit damals, der entscheidenden Phase vor den Wahlen. Ich saß Deiner Großmutter gegenüber, sie war mit ihrem Puzzle zugange (Welpen und Kätzchen), ich mit meinem (Zwerge in Bäumen), und auf einmal sahen wir, in einem Blitz der Erkenntnis, die Dinge, wie sie waren, mit anderen Worten, wir erkannten, dass dies ein entscheidender Moment war. Wir sahen uns mit frischem Blick, wenn ich das so sagen kann, voller Liebe füreinander und für unser Land, das Land, in dem wir unser ganzes Leben verbracht hatten, die vielen Straßen, Hügel, Seen, Malls, Seitenstraßen, Dörfer, wo wir gewesen waren und uns so freizügig herumbewegt hatten.

Das kam uns alles so kostbar und schön vor.

Deine Großmutter stand auf, mit der Entschlossenheit, die Du gut kennst, wie ich weiß.

»Lass uns überlegen, was wir tun müssen«, sagte sie.

Dann wachte ich auf. Da im Bett hatte ich kurz das Gefühl, es wäre noch jene Zeit und nicht diese jetzt. Ich lag da und stellte fest, dass ich zum ersten Mal seit langem nicht überlegte »Was hätte ich tun sollen?«, sondern »Was könnte ich noch tun?«

Allmählich kam ich wieder zu mir. Das war traurig. Ein trauriger Moment. Sich wieder in einer Zeit und an einem Ort zu befinden, wo Handeln nicht möglich ist.

Ich wünsche mir von ganzem Herzen, wir hätten Euch alles intakt weitergeben können. Wirklich. Aber das sollte nicht sein. Dieses Bedauern werde ich mit in mein Grab nehmen. Inzwischen beschränkt sich Klugheit nur noch darauf, wie man sich möglichst intelligent arrangieren kann. Ich sage nicht, steck den Kopf in den Sand. J. hat eine Entscheidung getroffen. Sie hätte alles über G. und M. erzählen können. Das hat sie nicht getan. Das respektiere ich. Und doch. Niemand ruft Dich dazu auf, etwas zu unternehmen. In meinen Augen tust Du schon viel Gutes, wenn Du morgens einfach aufstehst, so präsent wie möglich bist und den gesunden Menschenverstand in der Welt am Leben erhältst, damit eines Tages, wenn (falls) diese Sache vorübergeht, das Land seinen Weg zurück in die Normalität findet, mit Deiner Hilfe und der Hilfe von Menschen wie Dir.

Aber Du sollst bitte auch wissen, dass ich verstehe, wie schwer es sein muss, still und tatenlos zu bleiben, wenn J. tatsächlich mehr als eine Freundin für Dich war. Sie ist ein wunderbarer Mensch, und ich weiß noch, wie sie mit ihrer ganz eigenen Grazie und Energie durch unseren Garten kam, sie ließ Deine Autoschlüssel an einer langen Kette baumeln, und ihr Hund (Whiskey?) trottete neben ihr her. Es stimmt schon, was Du sagst: Es gehört zu dieser unserer neuen Welt, dass wir keine Ahnung haben, was mit ihr los ist. Und das muss natürlich schwer auf Dir lasten, vor allem wenn das eine intime Beziehung war und Dir das wahrscheinlich (wie könnte es anders sein?) das Gefühl gibt, Du müsstest etwas unternehmen.

Ich glaube, ich habe weiter oben klargemacht, was ich bevorzugen würde. Das Folgende sage ich nicht als Ermutigung. Wir haben Geld (nicht viel, aber etwas) auf die Seite gelegt. Falls es zum Äußersten kommt. Es fällt mir schwer, Dir einen guten Rat zu geben. Ich möchte Dich nicht enttäuschen. Und Dich auch nicht zu etwas verleiten. Mit dem Älterwerden wird man auch vorsichtig. Das ist ein Fluch. Wir lieben Dich so sehr. Bitte lass uns wissen, was Du vorhast, denn wir merken, dass wir eigentlich an gar nichts anderes mehr denken können (als an Dich).

In Liebe, großer Liebe, mehr als Du Dir vorstellen kannst.

GVater

DIE MOM DER KÜHNEN TAT

Wieder stellte sie fest, dass sie ihre kostbare morgendliche Schreibzeit damit zubrachte, in ihrem liebenswerten Saustall von Küche auf und ab zu tigern, ohne im Geringsten voranzukommen. Warum hatte sie einen Dosenöffner in der Hand?

Hmmm.

Das könnte was sein.

»Der getreue kleine Öffner«. Gerard der Dosenöffner war ein Träumer. Er wollte GROSSE Sachen aufkriegen. NOCH GRÖSSERE. Die ALLERGRÖSSTEN! Und was durfte er stattdessen aufmachen, ähm, Bohnen? Mais? Thunfisch?

Man musste ihm was Wichtiges zum Öffnen geben, damit er bei Laune blieb. Medikamente? Herzmedikamente? Herzmedikamente wurden nicht mit Dosenöffnern aufgemacht. Tomatenpaste? Sehnte sich irgendein lieber Mensch im Haushalt nach Spaghetti? Die alte italienische Tante. Mit allen gut Freund. Die auf dem letzten Loch pfeift. Und die Spaghetti bringen sie zurück nach Florenz oder so? Aber der moderne Hightech-Dosenöffner Cliff war zum Feiern aus mit einem fiesen Nudelsieb und einem zynischen Salatkopf. Da sah Gerard seine Chance. Obwohl er ein Kind der Sechziger war und keinen schicken Gummigriff hatte wie Cliff, kriegte er immer noch Sachen auf. So wie jetzt! Seine Chance, der lieben alten süßen Mamma Tinti zur letzten Schüssel ihres Lebens zu verhelfen, voller –

Mäh.

Also wirklich.

Warum drehte Mr. Potts hinter dem Gatter im Windfang durch? Sie hatte ihm schon drei von diesen Erdnussbutter-Dingern gegeben.

»Der Missvergnügte Hund«. Der Missvergnügte Hund war nie zufrieden. Egal wie viele Erdnussbutter-Dinger er kriegte. Wenn er drin war, wollte er raus. Wenn er draußen war –

Sie fischte noch ein Erdnussbutter-Dingens aus der Schachtel.

»Das Erdnussbutter-Dingens, das sich opferte, damit die anderen Erdnussbutter-Dinger leben konnten«. Jim, das Erdnussbutter-Dingens, schob seinen erdnussförmigen Körper immer höher, auf die tastende menschliche Hand zu. Jake und Polly sahen verblüfft zu. Wollte Jim unbedingt verspeist werden? »Na los, ihr beiden, lebt eure Träume!«, rief Jim, als ein Daumen und ein Finger ihn um seine, äh, schlanke Stelle packten. Die Stelle, die bei Erdnussbutter-Dingern als Taille diente.

Sie öffnete das Gatter, gab Mr. Potts das Erdnussbutter-Dingens, beugte sich aus der Tür hinaus und rief Derek, dass er kommen und Mr. Potts an die Hofleine legen solle.

Keine Antwort.

»Der Sohn, der keine Antwort gab«. Es war einmal ein Sohn, der, wenn er gerufen wurde, keine Antwort gab. Ignorierte er sie absichtlich? Weil präpubertär? Onanierte er schon? Ging sie das was an? Die Mutter untersuchte brav Unterhosen/Laken nach entsprechenden Spuren, so dass sie ihn bei Bedarf auf ihre ruhige Weise wissen lassen konnte, dass jeder, auch berühmte Menschen, auch unser großer epochaler –

»Zeit für dich selbst«. George Washington, zwölf Jahre alt, lag auf seinem Bett. Ein Himmelbett, das wie alle Betten damals selbstgeschreinert war. War das komisch? Was er sich gerade vorgestellt hatte? Ihre Nachbarin, Mrs. Betsy Alcott, in diesem figurbetonten Mieder, die sich herüberbeugte und ihm seinen Dreispitz vom Kopf nahm? Nein: Wenn ein Mensch etwas fühlte, war das per Definition »normal«. Wenn er feststellte, dass er sich anfasste, während er sich vorstellte, wie die schlanke Mrs. Alcott ihren Federkiel geistesabwesend an die vollen Lippen legte, dann hatten bestimmt andere kleine Jungs zu anderen Zeiten an anderen Orten den Drang verspürt, sich anzufassen, während sie sich ähnliche Dinge vorstellten. Und daher war es in Ordnung, was er tat! Auf einmal fühlte er sich so frei, und in diesem Freiheitsgefühl fing er an, von einem neuen Land zu träumen, wo sich alle so frei fühlen konnten wie –

Himmel. Fast schon Mittag.

Zeit, sich hinzusetzen und wirklich was zu schreiben.

Aber wo war jetzt Derek? Im Ernst? Sie machte sich Sorgen. Als Baby war mal seine Lunge kollabiert.

Alles okay?, hatte sie gestern Nacht vom Bett aus gerufen.

Du machst ihn zum Nervenbündel, hatte Keith gesagt.

Ich hab nichts, hatte Derek aus seinem Zimmer gerufen. Höchstens gute Ohren.

Lunge arbeitet immer noch?, hatte Keith gefragt.

Soweit ich das beurteilen kann, sagte Derek.

Wir machen uns halt Sorgen, sagte sie. Wir haben dich so lieb.

Gleichfalls, sagte Derek.

Dann süßes Schweigen.

Sie liebte es. Eine Familie zu haben. Bei den Familien im Fernsehen war immer alles besch … eiden, aber ihre war etwas ganz anderes. Sie mochten sich. Hatten immer Spaß. Trauten und vertrauten einander und nahmen sich so, wie sie waren, komme, was wolle.

Weder vor dem Haus noch dahinter.

Was zum Kuckuck sollte das jetzt? Er hatte versprochen, im Garten zu bleiben. Und er war ein Kind, das seine Versprechen hielt.

»Der Junge, dessen kranke Lunge im Wald schlappmachte«.

»Der Junge, der dalag und nach seiner Mom wimmerte.«

»Der Junge, der mutterseelenallein starb und mit den Waldgeistern eins wurde.«

Und die Mutter irrte für immer und ewig durch den Wald, auf der Suche nach ihrem verlorenen Jungen.

Iiih.

»Die Mom, die in den Wald rannte, und als sie da war, wusste sie nicht mehr, wie Reanimation ging, dann fiel es ihr plötzlich wieder ein.«

Ogottogott. Ihr glühten die Wangen.

Derek lag irgendwo verletzt. Sie wusste es einfach. Mütter wussten so was.

Sie schnappte ihr Handy und den Erste-Hilfe-Koffer und –

Moment, stopp, warte mal.

Genau das hier meinte Keith immer. Sie flippte aus. Sie neigte dazu, sich reinzusteigern. Manchmal wussten Mütter so was eben nicht. Letzten Monat hatte sie einfach gewusst, dass er an der Bushaltestelle gekidnappt worden war. Sie war in Bademantel und Pantoffeln hingerast. Er hatte sie kommen sehen und den Kopf geschüttelt, so: Nein, Ma, nein, nein. Aber zu spät. Die älteren Jungs äfften schon ihr schlurfendes Rennen nach.

Einmal hatte sie geträumt, er hätte angefangen zu rauchen. In dem Traum hatte er eine Zigarre geraucht. Bei den Wölflingen. Irgendwie angeberisch. Er hatte eine Männerstimme und fragte mit dieser Stimme Mr. Belden, ob es nicht auch ein Verdienstabzeichen für Rauchen gebe. Am nächsten Morgen, im wahren Leben, erwischte er sie, wie sie an seinen Kleidern schnüffelte, und fing an zu heulen, so wie er es machte, wenn er voll die Wahrheit sagte, aber nicht gehört wurde.

»Warum sollte ich rauchen?«, hatte er gesagt. »Ma, das ist ekelhaft.«

Da musste man seine irrationalen Ängste beherrschen. Indem man sich über die Tatsachen informierte. Darüber hatte sie was in Best Life gelesen. Eine Tante mit Flugangst hatte den Monat, bevor sie nach China flog, damit zugebracht, die Statistiken von Flugzeugabstürzen auswendig zu lernen. Ein Mann mit Angst vor Schlangen hatte sich ein Mantra darüber ausgedacht, dass die meisten Schlangen ungiftig waren. In einem anderen Artikel waren Eltern mit den besten Absichten zu weit gegangen. Eine Mutter, die total darauf fokussiert war, richtig zu essen, hatte ihre Tochter in die Magersucht getrieben. Ein Vater hatte das Geigenüben zu streng durchgesetzt, und jetzt hasste sein Sohn Musik. Und kriegte sogar Panikattacken, immer wenn er in die Nähe von poliertem braunem Holz kam.

Überall in der Welt waren in diesem Augenblick Tausende von Jungs irgendwo draußen am Rumstrolchen, die ihr Versprechen, im Garten zu bleiben, gebrochen hatten.

Die meisten Wälder waren ungefährlich.

Im Allgemeinen kollabierten Lungen nicht einfach so.

Die Welt war kein furchteinflößender oder feindlicher Ort, und Derek war ein schlauer kleiner Bursche mit einem guten Kopf auf den Schultern.

Ihm ging’s gut. Und was sie jetzt tun sollte? Sich hinsetzen und was schreiben.

Was sie nicht tun sollte: am Fenster rumhängen.

Oder nur ein bisschen.

»Der Baum, der so gern hereingekommen wäre«. Es war einmal ein Baum, der so gern hereingekommen wäre und sich an den Holzofen gesetzt hätte. Er wusste, dass das komisch war. Er wusste, dass da drinnen seine Mitbäume grausam verbrannt wurden. Aber Mann, die Küche sah so einladend aus. Weil die Mutter sich so damit angestrengt hatte. Mit dem Streichen und was nicht alles. Wo sie doch besser hätte schreiben sollen. Der Rauch, der aus dem Schornstein kam, roch so gut. Das Fleisch seiner Mitbäume roch, wenn es verbrannt wurde, unglaublich.

Bäh.

Neustart.

Es war einmal ein Baum, der so gern hereingekommen wäre. Ben der Baum fühlte sich so zu Menschen hingezogen. Schon als Schößling hatte er es genossen, ihnen beim Reden zuzuhören. Puh, was war ein »Drehmomentloch«? Was meinte der Daddy mit »Du bist ja total besessen«? Was meinte die Mommy, wenn sie sagte, dass ihre »Besessenheit« ihre »Superpower« war, die sie »jeden Tag bei ihrer Arbeit benutzte«? Es gab so viele Wörter zu lernen! Was war eine »Entschuldigung«, was war »gestört«, was war »Liebling«? Wenn der Wind von Osten her wehte und ihn leicht nach links bog, konnte er in die Küche hineinspähen, durch das schmutzige kleine Fenster über der Spüle, das so lange schon nicht mehr geputzt worden war, und durch das die Mommy jetzt hinaus auf ihn starrte, einen besorgten Blick auf ihrem –

Neustart.

Ben der Baum liebte seinen Platz am Weg in den Wald hinein, von wo aus er das Kommen und Gehen der verschiedenen Waldbewohner beobachten konnte, ob groß oder klein, etwa Bären, Füchse, Wanderer, Jäger und heute –

Ein merkwürdiges Tableau.

Der Satz ploppte einfach so in ihrem Kopf auf. Derek kam in den Garten. Stolpernd. Blut im Gesicht. Heiliger Strohsack. Taumelte wie ein kleiner Trunkenbold.

Sie stürmte aus dem Haus, gefolgt von Mr. Potts, der wie ein Wilder bellte und durch den Garten pflügte. Sie pflügte selber durch den Garten, hob Derek hoch und pflügte zurück durch den Garten und sackte auf den Verandastufen zusammen, mit ihm auf dem Arm.

Was ist passiert, Kleiner?, fragte sie. Kleiner, was ist passiert?

Ein alter Typ, sagte er.

Ein alter Typ?, fragte sie. Was für ein alter Typ?

Tauchte hinter mir auf, sagte er. Und schubste mich auf den Boden.

Wo?, fragte sie.

Das wollte Derek nicht sagen.

Schatz, wo warst du?, fragte sie.

Church Street, sagte er.

Das war – o Gott, das war ja fast im Stadtzentrum. Absolut nicht erlaubt.

Nicht jetzt.

Sie brachte ihn hinein. Nase nicht gebrochen. Nichts an den Zähnen. Sie rief Keith auf der Arbeit an. Rief die Polizei an. Säuberte Dereks Gesicht. Es sah aus, als wäre er von Klauen zerkratzt worden.

Er hat dich einfach … zu Boden geschubst?, fragte sie.

In ein Gebüsch, sagte er.

Muss eine Rose oder Brombeere gewesen sein.

Himmel.

Zehn Minuten später kam Keith herein.

Was ist hier los?, fragte er.

Ihr Telefon klingelte.

Die Polizei hatte jemanden. Jetzt schon. Einen alten Typen. Irgendwie weggetreten. Sie hatten ihn aufgegriffen, als er zwischen der Church und der Bellefree Street hin und her wanderte. Ob sie herkommen und einen Blick auf ihn werfen würde? Den Jungen mitbringen, falls er das schaffe?

Oh, das schafft er, sagte sie.

Der Typ war echt alt.

Lange Haare, fehlender Zahn, eklige Sandalen, ängstlich umherirrender Blick.

Leugnete natürlich alles. Warum sollte er einen Jungen zu Boden schubsen? Er wäre gerade nur in einer schwierigen Phase. Aber deshalb würde er doch keinen Jungen schubsen. Diese falsche Anschuldigung gehörte zu all dem dazu. Ob Glenda das alles in Gang gesetzt hätte? Glenda hätte ein Netzwerk, und anscheinend gehörte die Polizei dazu. Und Jimmy Carter übrigens auch.

Keith und Derek und der Cop und sie schauten auf dem Laptop des Cops zu, wie der Typ verhört wurde.

Ich bin mir nicht sicher, sagte Derek.

Der Cop warf Keith und ihr einen Blick zu, so: Er muss aber sicher sein.

Ach komm, das kann doch kein Zufall sein. Ein alter Typ schubst einen Jungen zu Boden, und eine halbe Stunde später wird eine Straße weiter ein alter Typ aufgegriffen, der nicht mehr alle Tassen im Schrank hat?

Tja, das war jetzt der Moment für ein bisschen Erziehungsleistung.

Ein bisschen diskrete Anleitung.

Schatz, wenn dieser Typ hier einfach davonkommt, sagte sie, meinst du nicht, dass er dann vielleicht nochmal einen anderen kleinen Jungen zu Boden schubst? Und dass der dann am Ende vielleicht nicht nur ein paar Kratzer abkriegt?

Jemand, der so was macht, braucht Hilfe, Kumpel, sagte Keith. Und dafür gibt es nur einen Weg, nämlich wenn wir hier und jetzt die entsprechenden Schritte einleiten.

Wieso hilft es ihm, wenn er im Knast sitzt?, fragte Derek.

Der Blick des Cops sagte: Hm, da ist was dran.

Vielleicht kriegt er da drin ja irgendeine Therapie, sagte sie.

Wenn ein erwachsener Mann einen kleinen Jungen ohne Grund auf den Boden schubst, dann stimmt was nicht, sagte Keith.

Irgendwie unverantwortlich, wenn man das jetzt auf sich beruhen lässt, sagte sie.

Derek bat um ein paar Minuten, zum Nachdenken.

Süßer kleiner Kerl.

In einem Nebenbüro klingelte ein Festnetztelefon, und der Cop ging hin.

»Die schwere Entscheidung.« Der Junge saß auf einem silbernen Bürostuhl, drehte sich nervös herum, fuhr mit dem kleinen Finger über einen der Kratzer im Gesicht. Seine Mutter tat so, als läse sie die Aushänge, damit es nicht so aussah, als wollte sie Druck auf den Burschen ausüben, und ärgerte sich darüber, dass er in diese Lage gebracht worden war, von diesem – beschissenen Wichser. Zahnlosen Hippie-Wichser. Sie hätte in den Verhörraum stürmen und den alten Arsch zu Boden schubsen sollen. Mal gucken, wie ihm das gefallen hätte. Obwohl er groß war. Und man ihm ansah, dass er auch gemein werden konnte.

Der Cop kam schneller aus dem Nebenbüro, als … na ja, schneller, als man von einem Cop erwartet hätte, aus einem Nebenbüro zu kommen. Er kam schnell heraus, ging schnurstracks an ihnen vorbei, drehte um. Wie in einem Zeichentrickfilm. Und gleich würde sein gummiartiger Schlips aus dem Nebenbüro gezischt kommen.

Na, das setzt dem Ganzen die Krone auf, sagte er.

Was jetzt?, fragte sie.

Es gibt noch einen, sagte er.

Noch einen was?, fragte sie.

Alten Typen, sagte er. Drüben auf der Church Street. Der da rumwandert. Er wird gerade hergebracht.

Der zweite alte Typ sah fast genauso aus wie der erste. Sie hätten Brüder sein können. Alter Hippie, lange Haare, Sandalen, fehlender Zahn.

Anderer Zahn.

Aber trotzdem.

Keith und sie wechselten einen Blick, so: Hmm.

Der zweite beteuerte auch seine Unschuld. Wirkte vielleicht etwas heller als der erste. Er fuchtelte mit einem Klebebandknäuel herum. Warum nahm ihm der Cop das nicht ab? Vielleicht wurde es als sein »Eigentum« betrachtet? Vielleicht hatte er »juristisch Anspruch darauf«, es geistesabwesend von einer Hand in die andere zu werfen?

Himmel.

Was für ein Land.

Sie brachten den ersten Typen zurück, und die beiden alten Hippies saßen nebeneinander, beäugten sich irgendwie argwöhnisch. Für sie sah es so aus, als würde jeder von ihnen in seinem Kopf die Argumente dafür zusammentragen, warum er als abgewrackter Ex-Hippie der intelligentere und authentischere von beiden war.

Derek stand kurz vorm Heulen. Das merkte sie. Zu viel Druck.

Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht, flüsterte er.

Also setzte sie dem ein Ende. Das war’s. Die beiden alten Sonderlinge konnten ihrer Wege gehen. Sie sah ihnen durchs Fenster nach. Sie erreichten die Rasenfläche und hasteten in verschiedenen Richtungen davon, schnell wie kleine Fische, wenn man die Hand ins Wasser hielt.

Wenigstens haben wir nicht den Falschen ins Gefängnis gebracht, sagte Derek im Auto auf dem Nachhauseweg.

Langes Schweigen.

Na ja, war ihr Gefühl, ja und nein. Einer von ihnen hatte es getan. Hatte Derek zu Boden geschubst. Hatte es tatsächlich getan. War an ihn herangetreten, hatte ihn zu Boden geschubst. Und war dann hochzufrieden weggeschlappt. Das war ohne Zweifel in dieser Welt passiert. Hätte man beide in den Knast gesteckt, wär’s immerhin eine Trefferquote von 50 Prozent gewesen. Und jetzt? 100 Prozent falsch. Und wer musste leiden? Ihr kleiner Junge. Wer musste nicht leiden? Der, der es getan hatte, welcher auch immer. Der war jetzt da draußen unterwegs, hoppelte durch die Stadt, steigerte sich durch seinen kleinen Sieg in immer verrücktere Gedanken hinein, dass das (für ihn) seine visionäre Sicht auf die Welt beweisen würde oder irgend so ein Scheiß.

Unglaublich.

Verdammt.

»Die Mom der kühnen Tat«. Es war überraschend einfach, an die Waffe zu kommen. Sie trug das gelbe Kleid, die Haare im Pferdeschwanz. Sie sah hübsch aus, aber normal. Der Typ im Laden lobte sie dafür, dass sie Schießstunden nehmen wollte. Er gab ihr die [hier Namen der Waffe einfügen] einfach rüber. Ob er ihr wohl zeigen könnte, wie sie geladen wurde? Konnte er. Machte er. Jetzt fuhr sie langsam die Church Street hoch. Da war der Typ. Der alte Hippie. Welcher es auch immer getan hatte. Als er die Waffe sah, gestand er. Nein. Sie kam hinter ihm angefahren. Da war er, gerade dabei, das nächste Kind zu Boden zu schubsen. Ein kleines Mädchen. Im Kommunionskleid. Das war einfach sein Ding, Kinder zu Boden zu schubsen. Und warum? Wer weiß. Vielleicht war er ja selbst mal zu Boden geschubst worden, als –

Nein, nix da.

Er war einfach ein Irrer.

Sie sprang aus dem Auto, ging auf ein Knie, zielte. Bäng! Direkter Treffer. Ins Bein. Was sie auch so beabsichtigt hatte, sie war ja mitfühlend. Erstaunlich, wie gut sie schießen konnte. Wo sie noch nie zuvor geschossen hatte. Na gut, sportlich war sie immer gewesen. Und so sank er zu Boden, verletzt, und gestand. Flehte um Gnade. Aber so richtig leid schien es ihm nicht zu tun. Wollte der ihr blöd kommen? Lag da eine Spur Spott in seinem Blick, als er sich pseudo-entschuldigte? Sie drückte die Waffe an seine verschwitzte Stirn.

Himmel hilf, was tat sie –

Sie fuhren am Fluss entlang. Da paddelte einer im Kajak gegen die Strömung und brüllte herum, entweder gaga oder in sein Telefon. Derek saß hinten, gegen die Tür gesackt, und wirkte nachdenklich und ernüchtert, ihm ging’s nicht gut, das merkte sie, weil er nicht sicher gewusst hatte, welcher Typ es nun gewesen war, und weil das für diese komische stumme Anspannung im Auto sorgte.

Denn, wie ihr plötzlich klarwurde, die war weiterhin da.

Ich finde, du hast das perfekt gemacht, sagte sie. Das war nicht leicht, und du hast es wunderbar gelöst.

Amen, sagte Keith.

Ich wünschte, ich könnte mich erinnern, sagte er. Ich gehe es immer wieder im Kopf durch.

Und?, fragte Keith.

Na ja, er hatte auf jeden Fall Jeans an, sagte Derek.

Das Auto erreichte ihr gutes altes Haus. Das jetzt traurig wirkte. Das Haus der Opfer. Im letzten Jahr hatten sie das Dach erneuern und eine neue Veranda anbauen lassen. Wofür? Was war das für ein großes Ding, zu dem sie unbedingt gehören wollten? War das gut? Hatte das irgendeinen Sinn? Und wofür hatten sie das alles getan? Damit ihr Junge von irgendeinem Irren zu Boden geschubst werden konnte? Etwas Schlimmeres war ihnen als Familie bisher noch nicht passiert.

Die anderen Häuser in der Nachbarschaft blinzelten mit den Augen, die ihre Fenster waren.

Besser ihr als wir, dachten sie.