Tag des Nakathá - Riley H. Bush - E-Book

Tag des Nakathá E-Book

Riley H. Bush

0,0

Beschreibung

Der zwielichtige Jorgei bietet Dacan la Corso, Kommandant des Frachtsegelschiffes Edra, die unglaubliche Summe von 2000 Goldaurelien an, wenn dieser ihm eine sagenumwobene Wunderpflanze beschafft, die angeblich alle Krankheiten zu heilen vermag. Die Sache ist riskant, zudem besteht kaum Aussicht auf Erfolg. Doch da die Geschäfte für Dacan sehr schlecht laufen, bleibt ihm keine andere Wahl als anzunehmen. Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Heilkraut stolpern Dacan und seine Crew unversehens in ein brandgefährliches, haarsträubendes Abenteuer. Weder er noch sein Blutsbruder Anouk ahnen, dass dies erst der Auftakt zu einer Reihe weitreichender, brisanter Ereignisse ist, die das Schicksal aller Usenier bestimmen werden... "Tag des Nakathá" ist der erste Band der Chronica Usenia-Reihe.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 562

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ich danke Ingeborg, Herwig und Rainer für ihr Engagement, ihre Anregungen, Korrekturen und Hinweise.

Rainer K. danke ich für sein Lektorat. Er hat diese Geschichte wieder und wieder gelesen. Er hat mich inspiriert und motiviert. Seine Unterstützung kam zum richtigen Zeitpunkt.

Riley. H. Bush im September 2019

Inhalt

Prolog

Erster Teil

Ein unmöglicher Auftrag

Zweiter Teil

Zu neuen Ufern

Dritter Teil

Die Insel des Nebels

Vierter Teil

Der verfluchte Wald

Fünfter Teil

Der Tag des Na'kathá

Prolog

Geheime Chroniken von Yantar la Umbrat aus dem Geschlecht der Samarrer. Ich schreibe den 10. Tag im 8. Monat des Jahres 255 zu Tifli.

Dies ist die wahre Geschichte vom Entstehen Useniens und der Menschen

Einst, vor langer Zeit, herrschte große Stille überall. Es existierte weder ein Gestern noch Morgen, es war weder hell noch dunkel noch gab es ein Oben oder Unten. Nichts war von fester Form, bis jener, der vor allem da war, das Universum hervorbrachte. Er, dessen Name verloren ging, schuf die brennenden Sterne, die Weite zwischen ihnen, den blauen und den grünen Mond sowie die rote Sonne. Hernach erschuf er unsere Heimstatt und nannte sie Usenien, die erste aller Welten. Er schuf Himmel und Erde, Pflanzen und Tiere. Auf Usenien gab es einen großen Kontinent, der Bra‘Tan hieß. Dort lebten seine Geschöpfe viele Äonen, bis er Wesen nach seinem Ebenbilde gebar. Er nannte sie Nerati, Die-von-seinem-Fleisch-Erschaffenen. Hernach erschuf er vier Wächter, die seine Kinder beschützen und seinen Willen vollstrecken sollten.

Er zeugte Rakne, indem er sich mit dem Wind vereinigte.

Er gebar Ganacca, indem er sich mit dem Meer paarte.

Er erschuf Waruacca, indem er mit der Sonne verschmolz.

Er brachte Nirr hervor, indem er sich mit der Erde verband.

Die Nerati aber erkannten einander und wurden zahlreich. Über zwei Kalársas hinweg besiedelten sie das Land, sie lebten im Einklang mit der großen Schöpfung, und ihre Kultur erblühte zu ungeahnter Schönheit. In jener Zeit verliebte sich der Weltenerschaffer in eine Nerati: Saté war eine Zauberin, sanftmütig und schön, klug und mächtig. Sie nahm er zur Frau. Mit einem Hauch seines Atems schenkte er Saté Unsterblichkeit und stellte sie über alle anderen. Da wurden Rakne, Ganacca, Waruacca und Nirr zornig. Lange schon waren sie der ständigen Kontrolle des Weltenerschaffers überdrüssig, und so beschlossen sie, eigene Kreaturen zu zeugen, auf dass sie von ihnen angebetet würden wie Götter.

Nirr nahm Erde und formte den Leib.

Ganacca nahm Wasser und wandelte es in Blut.

Rakne hauchte Wind und gebar eine Seele.

Waruacca spie Feuer und spendete den Lebensfunken.

Auf diese Weise erschufen sie den Menschen. Rakne, Ganacca, Waruacca und Nirr aber hassten die Nerati abgrundtief und hetzten die Menschen gegen sie auf. Die Städte des goldenen Volkes brannten nieder, und viele Nerati starben. Auch alles, was an den Weltenerschaffer erinnerte, wurde getilgt. Sie verboten den Menschen, seinen Namen auszusprechen. Sie behaupteten, die Nerati seien Dämonen aus den sieben Höllen. Sie brächten Tod und Verderben über das Menschengeschlecht, selbst wenn man nur an sie dachte. Als der Weltenerschaffer das Wehklagen der Nerati vernahm, sandte er den Menschen und ihren falschen Göttern Tod und Verderben. Er zerstörte Bra’Tan, hernach versank Usenien in Finsternis.

Rakne, Ganacca, Waruacca und Nirr aber löschten den Namen des Weltenerschaffers aus dem Gedächtnis der Menschen. Von nun an gaben sie sich als Erschaffer des Universums und allen Lebens aus. Die Macht des Weltenerschaffers schwand, seine Kinder gingen verloren. Dennoch soll es Nerati geben, die die Zeit der langen Finsternis überstanden haben und irgendwo auf Usenien leben. Man sagt, unter ihnen würde sein Name bis zum heutigen Tage fortbestehen und weiterhin Macht haben. Seit dem Untergang Bra’Tans aber hat niemand, weder im Osten noch im Westen, weder im Norden noch im Süden, einen leibhaftigen Neraten erblickt.

Nach dem Ende der langen Finsternis begann die ungestüme Herrschaft des Menschengeschlechts. Rakne, Ganacca, Waruacca und Nirr stritten sich verbissen um die Vorherrschaft. Da sie keine Einigung erzielten, begab sich Rakne gen Westen und Norden, Ganacca zog in den Osten und Nirr in den Süden, Waruacca aber siedelte auf Je’darr, einer einsamen Feuerinsel im Meer der Mahlströme. Die Menschen indes folgten ihren Göttern überallhin. Und so begann der unaufhaltsame Aufstieg des Menschengeschlechts, seiner Götter und Halbgötter.

Erster Teil

Ein unmöglicher Auftrag

I.

4. Tag im 7. Monat des Banak’Ba 4578, Logbucheintrag von Dacan, Kommandant der Edra

Ein unerwartet heftiger Orkan verschlug uns an die Westküste von Lanekh. Obwohl die Zeit drängt, müssen wir in Kafri vor Anker liegen. Ein Tag ist seither vergangen, ohne dass sich das Wetter gebessert hätte, und wie die Dinge stehen, wird wohl ein anderer Kommandant den Handel in Xillas abschließen. Der Sturm hat unseren Großmast stark beschädigt, und ich befürchte, er wird kaum einem zweiten Sturm trotzen können. Davon abgesehen, hat dieses Schiff seine besten Tage hinter sich: Seine Segel sind alt und müssten ersetzt werden, Planken und Reling sind morsch - von der Takelung ganz zu schweigen.

Wo sind die Zeiten geblieben, als sich freier Handel und Schmuggel noch lohnten? Der Gewinn des letzten Auftrages reichte gerade aus, um unsere Vorräte zu füllen und die Mannschaft zu bezahlen. Ich bete zu Dir, göttliche Rakne, schenke uns einen günstigen Wind und einen lohnenden Auftrag.

Heftiger Regen trommelte gegen die Kabinenfenster. Ein dichter Vorhang aus Wasser rann an ihnen hinab und entrückte die Welt diesseits des stillen Raumes in fahles, graues Zwielicht. Dacan schlug mit einer widerwilligen Geste das Logbuch zu, stand auf und trat an die Fenster. Warum hatte das Schicksal ihn ausgerechnet an diesen Ort, an dem es außer ein paar Fischern nichts von Bedeutung gab, verschlagen? Sein Gesicht verdüsterte sich, während er durch die Regenschleier nach draußen starrte. Dieser verfluchte Frieden von Moniz! Der Friedensvertrag, der den Seekrieg zwischen Ka’eresh und Val Venosa beendet hatte, war seit knapp einem Monat in Kraft, aber schon jetzt konnte man die Auswirkungen spüren. Die Auftragslage für sein kleines Unternehmen war schlecht geworden. Ein leises Klopfen zerstörte das Gespinst seiner düsteren Gedanken.

„Herein“, brummte Dacan.

Es war einer jener Tage, an denen er am liebsten keiner Menschenseele begegnet wäre. Unwillig drehte er sich um und nickte Anouk, dem ersten Maat, zu.

„Ich hoffe, es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit.“

Die beiden kannten einander schon lange: Sie hatten bereits unter dem alten Kommandanten Ohak auf der Edra gedient. Anouk war einer der wenigen Menschen, auf die Dacan zählen konnte. Der Kopfjäger war verschwiegen und loyal. Pechschwarze, in Zöpfe geflochtene Haare umrahmten ein dunkles, ausdrucksstarkes Gesicht, das von zahlreichen Kämpfen gezeichnet war. Rituelle Narben, die Kreise und Spiralen beschrieben, zierten Brust und Bauch. Obgleich es draußen kühl war, trug Anouk nur einen Lendenschurz und lief barfuß herum. Er troff vor Nässe. Während er Dacans Blick erwiderte, fielen Wassertropfen auf den Boden, wo sie kleine Pfützen bildeten. Seine Augen blitzten schalkhaft.

„Ich würde es niemals wagen, dich wegen einer unwichtigen Sache zu behelligen, Bruder“, beendete er das Schweigen zwischen ihnen, schloss die Tür und lehnte behutsam seine Naphka, eine schwere, doppelschneidige Axt, dagegen.

Dacans rechte Augenbraue schnellte in die Höhe. „Dann erzähle, was es so Wichtiges und Unaufschiebbares gibt.“

„Es ist Delos“, befriedigte er seine Neugier.

Der freundliche Ausdruck schwand aus Dacans Miene. Mochte Rakne den Tag verfluchen, an dem er diesem Lusaner begegnet war.

„Rede weiter. Was hat er dieses Mal angestellt?“

„Es ist nichts von dem, was du denkst“, antwortete Anouk diplomatisch. „Delos hatte Besuch von einem gewissen Ka‘uri. Ein Lanekhe und, wenn du mich fragst, nicht unvermögend. Wir hatten schon lange keinen so feinen Herren mehr an Bord.“

„Womöglich ein neuer Auftraggeber“, spekulierte Dacan. „Warum wurde er nicht zu mir geschickt? Wo befindet er sich jetzt?“

Anouk zuckte die Achseln. „Er hat die Edra bereits wieder verlassen. Du wolltest nicht gestört werden, das hast du selbst befohlen. Delos befolgte deine Order wie stets. Und ich habe es leider zu spät mitbekommen.“ Dacan fluchte, während Anouk unbeirrt fortfuhr: „Was Ka‘uri mit unserem Ersten Offizier zu bereden hatte, weiß ich nicht. Sie führten ihr Gespräch unter vier Augen. Als ich Ka’uri aus Delos’ Kabine kommen sah, folgte ich ihm jedoch umgehend an Land und sprach ihn an.“

„Ich hoffe, du hast ihn anständig behandelt und nicht allzu sehr erschreckt“, gab Dacan besorgt zurück.

Das dunkle Gesicht des Kopfjägers blieb ausdruckslos. „Ich weiß, wie ich mich zu benehmen habe, Bruder“, erwiderte er ruhig. „Nachdem sich Ka’uri erst einmal an mich gewöhnt hatte, wurde er sehr mitteilsam.“

„Setzen wir uns“, schlug Dacan vor.

Die Männer nahmen am Tisch in der Mitte des Raumes Platz.

„Ka’uri gibt an, der Verwalter eines gewissen Jorgei zu sein“, erzählte Anouk weiter. „Sein Herr habe ihn zur Edra geschickt, weil er dich zu sprechen wünsche. Doch er wurde nicht zu dir vorgelassen. Da er den Befehl hatte, nur mit dir und keinem anderen zu reden, verriet er Delos nicht den Grund seines Besuches. Aber er hinterließ bei ihm eine Nachricht für dich.“

„Ach, eine Nachricht für mich“, wiederholte Dacan und presste die Kiefer kurz zusammen. „Und natürlich hat er sie, wie immer, nicht an mich weitergegeben."

Welche Strategie sein Erster Offizier damit verfolgte, war unverkennbar.

„Du hättest nie davon erfahren, wenn mir der Lanekhe nicht zufällig über den Weg gelaufen wäre“, bestätigte Anouk seine Vermutung. „Ka’uri erzählte mir einiges. Sein Herr erfuhr von unserer Ankunft und will dich wegen eines wichtigen, aber heiklen Auftrags sprechen. Mit keinem anderen als mit dem legendären Dacan la Corso möchte er dieses Geschäft abschließen.“

„Ich hatte keine Ahnung, dass ich so bekannt bin“, sagte Dacan verlegen.

Ein breites Grinsen flog über Anouks Gesicht. „Ja, in der Tat. Es ist erstaunlich, dass man auf Cundan mit solcher Hochachtung über dich spricht. Ka’uri und sein Meister zumindest haben eine hohe Meinung von dir.“

Dacan gab das Grinsen zurück. Er hatte zweifellos eine große Schwäche fürs Glücksspiel und für schöne Frauen; ihre Liebe stand dem Hass ihrer gehörnten Ehemänner in nichts nach. Sein schlechter Ruf eilte ihm daher weit voraus. Dass Dacan eine starke Wirkung auf das schöne Geschlecht ausübte, lag auf der Hand. Er war ein blonder, sehr gut gebauter Hüne, der durchaus geschliffene Manieren an den Tag legen konnte, wenn es darauf ankam. Seine Augen erinnerten an klares, tiefblaues Gletschereis.

„Erzähl weiter“, bat er ungeduldig.

„Wenn du Interesse an dem Auftrag hast, dann komme morgen ins Gasthaus Zur Tanzenden Elfe. Dort wird Ka’uri warten, um mit dir alles weitere zu klären.“

„Wann?“

„Zur Stunde der kurzen Schatten.“

„Nun gut.“ Dacan nickte. „Ich werde dort sein, und du gehst natürlich mit.“

„Aber was ist mit Delos? Du wirst ihn hoffentlich zur Rede stellen, oder?“, wandte der Kopfjäger ein.

„Nein, mein Freund“, erwiderte Dacan. Das Blau seiner Augen vertiefte sich. „Delos hat seine Geheimnisse und ich die meinen. Dieses Mal mache ich ihm einen Strich durch die Rechnung. Es wird Zeit für eine kleine Lektion.“

„Mir behagt es nicht, dass er allein an Bord zurückbleibt“, meinte Anouk. „Du weißt, er ist unberechenbar.“

„Was kann er schon unternehmen? Das schlechte Wetter hindert uns am Auslaufen. Außerdem ist das Schiff in einem erbärmlichen Zustand“, erwiderte Dacan gutgelaunt. „Wer weiß, womöglich ist dies unsere Chance, die alte Edra wieder instand zu setzen.“

„Ich mag diesen Lusaner nicht. Schon zu Ohaks Zeiten war er ein Quell ständigen Ärgers. Faules Obst muss aussortiert werden, sonst befällt es den Rest des Korbes.“

„Du weißt genau, dass ich es Ohak in der Stunde seines Todes geschworen habe, Delos als Ersten Offizier zu behalten.“ Dacan hatte dieses Thema gründlich satt.

„Wenn er gewusst hätte, was er dir damit einbrocken würde, hätte er nicht darauf bestanden“, wandte Anouk ein. „Die Männer lieben dich. Für Delos legt keiner seine Hand ins Feuer.“

Dacan seufzte. „Unterschätze unseren Freund nicht. Schade, dass Maron nicht mehr Schneid besitzt.“

Maron, der Zweite Offizier, war ein Ausbund an Moral und Mustergültigkeit. Er erfüllte seine Aufgaben stets hervorragend, doch er war ein Feigling. Er ließ jene Loyalität vermissen, die der Kommandant so dringend gebraucht hätte.

„Wir werden diesen Ka’uri treffen“, bekräftigte Dacan entschlossen. „In der Zwischenzeit sollten wir die Moral der Mannschaft stärken. Wir haben Glück. Wenn mich nicht alles täuscht, findet in wenigen Tagen das cundanische Vereinigungsfest statt. Die Crew wird Ausgang erhalten. Schade, dass wir nicht in Fara vor Anker liegen. Nirgendwo wird so gefeiert wie dort.“

Er versank in Gedanken, sodass Anouk unwillkürlich lächeln musste. „Sind die farenischen Frauen so sagenhaft schön, wie man behauptet?“, fragte er mit unschuldiger Miene.

Sein Freund unterdrückte ein sehnsüchtiges Seufzen. „Oh ja, das sind sie, Bruder. Das sind sie.“

Wind und Regen hatten am nächsten Tag nachgelassen. Die Wolken, die ruhelos über die Berghänge hinwegjagten, rissen immer wieder auf und erlaubten einen Blick auf die smaragdgrünen Wälder des Hinterlandes. Dacan verschloss seine Kabine und trat ins Freie. Das Schiffsdeck war an diesem Morgen noch verwaist, lediglich Anouk und den ersten Steuermann traf er dort an. Sein Freund gab Neskor leise Anweisungen zur Wachablösung, bevor er sich ihm anschloss. Kurze Zeit später verließen sie das Schiff, ohne von Maron oder Delos gesehen zu werden. Sie huschten an den Molen vorbei, wo kleine Fischerboote vor sich hindümpelten. Es herrschte an diesem frühen Tag wenig Betrieb. Einige Fischhändler öffneten ihre Läden. Von irgendwoher erklang freches Kinderlachen und das Schimpfen einer Frau. Die Seeleute benötigten kaum eine Stunde, um alle Straßen, Höfe und Gassen der kleinen Hafenstadt kennenzulernen. Es gab ein Handwerker- und Händlerviertel sowie einen Ganaccatempel. Außer dem Gasthaus Zur Tanzenden Elfe fanden sie keine andere Schenke, wohl aber drei Herbergen. Zu ihrer Überraschung stießen die Männer am Ende ihres Spazierganges auf ein scheinbar neu eröffnetes Bordell, welches in einem dunklen, schäbigen Hinterhof versteckt lag. Es wirkte nicht sehr einladend.

„So viel zu Kafri“, stellte Dacan lakonisch fest. „Die Stadt hat sich seit unserem letzten Besuch kaum verändert.“

„Veränderungen sind nicht immer gut“, warf Anouk leise ein. „Sei froh, dass es hier keine Waruaccen gibt.“

Der Orden des Waruacca war überall in den Ostländern auf dem Vormarsch, und man erzählte sich über den Feuerkult furchtbare Dinge.

„Du hast recht“, sah Dacan ein. „Kafri mag langweilig sein, aber hier werden wir wenigstens keinen religiösen Fanatikern begegnen. Gehen wir frühstücken.“

Der feine Nieselregen hatte aufgehört, und ein kräftiger Wind fegte die letzten Wolken vom Himmel. Als die Mittagsstunde nahte, gingen die Seeleute zur Tanzenden Elfe, aus der gedämpftes Gelächter auf die Straße quoll. Sie tauchten in das dämmrige Zwielicht des Gastraums und sahen sich erwartungsvoll um. Hier saß zu ihrer Überraschung ein buntes Völkchen aus Cundanern, Rhendanern, Venarern und Lanekhen beisammen. Eine offene Feuerstelle inmitten der Wirtschaft verströmte überwältigende Hitze.

„Hey, der Barbar muss draußen bleiben.“

Eine schroffe Stimme hinderte sie daran, weiterzugehen. Dacan drehte sich zu dem Mann, der offenbar der Wirt war, herum und baute sich in voller Größe vor ihm auf. Freundlich lächelnd blickte er auf ihn herab.

„Nun, er mag ein Kopfjäger sein, aber er hat einen gut gefüllten Geldbeutel, viel Durst und bessere Manieren als manch anderer hier“, erwiderte er höflich.

Der Lanekhe zeigte sich beeindruckt. „Nun gut. Aber das da“, mit diesen Worten deutete er pikiert auf Anouks Naphka, „das muss er am Tresen abgeben.“

Die Seeleute tauschten einen kurzen Blick, worauf der Kopfjäger, in sein Schicksal ergeben, nickte.

„Dort drüben sitzt er“, raunte Anouk und deutete in eine bestimmte Richtung.

Gespannt überflog Dacan die Reihen der Zecher. Ein schlaksiger Mann, der zwischen einem Tulaien und einem Kafazen hockte, fing den Blick aus seinen Augen auf und nickte ihm unmerklich zu. Ka‘uri entpuppte sich als ein schmächtiger Lanekhe, dessen Alter nur schwer einzuschätzen war. Er trug die traditionelle Landestracht. Sein Gesicht mit der grünen Stirntätowierung war ausgemergelt und faltig. Verblasste Narben zeugten von einer lange zurückliegenden Krankheit. Bevor sie sich zu ihm gedrängelt hatten, hatte er sich bereits erhoben und kam ihnen entgegen. Er musterte Dacan mit einer Mischung aus Neugier und vornehmer Zurückhaltung.

„Dacan la Corso, wie ich annehme.“ Seine Stimme klang erstaunlich jung.

Dacan deutete eine Verbeugung an. „Und Ihr müsst Ka’uri sein.“

In Ka‘uris Mundwinkel entstand ein freundliches Lächeln, als er ihn musterte. „Dies ist nicht der Ort, an dem wir ungestört reden können. Das Gasthaus hat ein Hinterzimmer, wo wir unsere Ruhe haben werden.“

Sie schlossen sich ihm an und betraten den kleinen Nebenraum. Nachdem der Wirt ihre Getränke herbeigeschafft hatte und mit einem letzten, ängstlichen Blick auf Anouk verschwunden war, schloss Ka‘uri die Tür. Im Gastraum nebenan erklang plötzlich gedämpfte, perlende Harfenmusik und eine weibliche Stimme, die ein melancholisches Lied anstimmte. Die Männer betrachteten einander intensiv, bis Ka‘uri das Schweigen beendete.

„Wie ich zu meiner Freude feststelle, habt Ihr jetzt mehr Interesse und wollt erfahren, was Meister Jorgei Euch anzubieten hat.“

„Ich erfuhr von Eurem Besuch erst, nachdem Ihr die Edra bereits verlassen hattet“, klärte ihn Dacan auf. „Aber nun bin ich hier, und ich bin sehr gespannt, was Ihr mit mir besprechen wollt.“

„Dacan la Corso. Wie ich sehe, entsprecht Ihr auf den ersten Blick zumindest jenem Seefahrer, von dem so viel gemunkelt wird. Wir waren lange Zeit auf der Suche nach dem richtigen Mann. Nun scheinen wir ihn gefunden zu haben. Jorgei, mein Meister, möchte Euch für einen speziellen Auftrag gewinnen. Er ist davon überzeugt, dass nur Ihr ihn ausführen könnt.“

„Wenn es Eure Absicht ist, mir zu schmeicheln, dann spart Euch die Mühe“, gab Dacan trocken zurück. „Kommen wir lieber zur Sache. Welches Anliegen habt Ihr?“

Ka‘uri war nicht beleidigt. „Nun gut, lasst uns keine Zeit vergeuden. Meister Jorgei wünscht Euch in dieser Sache persönlich zu sprechen. Nur eines darf ich Euch und Eurem Freund verraten: Wenn Ihr diesen Auftrag erfolgreich ausführt, dann werdet Ihr sehr, sehr reich werden. Wenn das Euer Interesse geweckt hat, seid heute Abend zur Stunde des Blutes auf dem Platz der Fellgerber. Ein Wagen wird Euch abholen und zu meinem Herren bringen.“

Anouk musterte ihn argwöhnisch. „Mir gefällt diese Sache nicht, Lanekhe. Heimliche Gespräche, nächtliche Treffpunkte. Warum rückt Ihr nicht gleich mit der Sprache heraus?“

Dacan nickte. „Es ist offensichtlich, dass es sich um ein illegales Geschäft handelt“, schloss er sich seiner Einschätzung an.

„Jorgei ist ein angesehener Bürger Lanekhs“, erklärte Ka‘uri. „Er hat in dieser Angelegenheit sehr viel zu verlieren. Der Auftrag birgt gewisse Risiken.“

„Gut, wir werden heute Abend dort sein“, erklärte sich Dacan nach einigem Zögern einverstanden. „Aber ich rate Euch, kein falsches Spiel mit uns zu treiben. Wir verstehen in solchen Dinge keinerlei Spaß.“

„Selbstverständlich. Dann sind wir uns einig.“ Ka‘uri nickte zufrieden.

Er stand schnell auf und entbot ihnen einen kurzen Gruß, bevor er aus dem Raum schlüpfte. Die Seeleute saßen eine Weile stumm da, bis Dacan sein Schweigen brach.

„Was für ein seltsamer Zeitgenosse. Ein Gefühl sagt mir, dass diese Sache gewaltig zum Himmel stinkt“, meinte er leise.

Anouk nickte. „Du solltest auf keinen Fall allein dorthin gehen.“

„Ich stimme dir zu.“ Dacan stand entschlossen auf. „Gehe zur Edra und sage Neskor, dass er sich zur verabredeten Stunde auf dem Platz einfinden soll. Du bleibst auf dem Schiff und hast ein Auge auf Delos. Ich werde die Zeit nutzen, um einige Erkundigungen über diesen Jorgei einzuholen.“

In den nächsten Stunden durchstreifte Dacan die umliegenden Dörfer. Jorgei Ralec war auf Lanekh nicht nur bekannt, sondern hoch angesehen. Dieser Mann besaß ein großes Vermögen. Er hatte mehr Gold, als einem einzigen Menschen guttat. Im Laufe des Nachmittages erfuhr er einige interessante Dinge über ihn. Erst als die Sonne in einer Orgie aus blutrotem und violettem Licht unterging, kehrte er nach Kafri zurück. Da noch genügend Zeit war, zog es ihn in die Tanzende Elfe. Das Gasthaus trug seinen Namen nicht zufällig, wie er an diesem Abend bei einem kühlen Ale feststellen sollte.

Eine rothaarige, zierliche Lanekhin mit blauer Stirntätowierung und einem knappen, hauchdünnen Elfenkostüm trat ohne Vorankündigung an den Rand einer kleinen Holzbühne, die ihm am Mittag gar nicht aufgefallen war. Im Schankraum wurde es schlagartig still, als sie zum zarten Klang einer Harfe zu singen begann. Nachdem das melancholische Lied verhallt war, stimmte der verborgene Harfenspieler eine beschwingtere Melodie an. Mit ihr begann der Tanz der Elfe. Die Lanekhin bewegte sich im schnellen, heiteren Rhythmus der Musik anmutig und fließend. Sie vollführte leichtfüßige Sprünge und drehte schwindelerregende Pirouetten, mit denen sie alle in ihren Bann zog. Nachdem sie ihre Darbietung in einer letzten dramatischen Geste beendet hatte, verneigte sie sich. Rasch sprang sie von der Bühne und entschwand den Blicken. Nicht nur Dacan starrte ihr benommen hinterher, während der Applaus und das einsetzende Schwatzen den Rest des Zaubers unwiederbringlich zerstörten. Da die Stunde des Blutes unaufhaltsam näher rückte, wurde es Zeit für ihn, aufzubrechen. Im hellen Licht der zwei Monde eilte er durch Kafri, bis er den Platz der Fellgerber erreicht hatte. Ein leiser Ruf ließ ihn innehalten. Aus dem Schattendunkel einer Gasse trat eine Gestalt. Es war Neskor.

„Anouk hat mich unterrichtet“, wurde er begrüßt. „Ich bin zu allem bereit, mein Kommandant.“

Die Seeleute mussten sich nur kurz gedulden. Bald vernahmen sie das Rollen von Rädern, noch ehe die Kutsche auf den Platz eingebogen war. Der Verschlag öffnete sich, und Ka’uri beugte sich aus dem Inneren. Das Licht der Monde verlieh seinem hageren Gesicht ein noch kränklicheres Aussehen als am Mittag.

„Wie ich sehe, seid Ihr pünktlich“, raunte er, wobei er Neskor neugierig musterte. „Steigt ein.“

Sie fuhren so lange, bis der Hall der Pferdehufe verklungen war und der Wagen über knirschenden Sand dahinrollte. Anschließend ging es mit lautem Getöse durch enge Straßen weiter. Irgendwann jedoch hielt die Kutsche mit einem Ruck an. Die Seeleute stiegen erleichtert aus und fanden sich in einem kleinen, von Mondlicht durchfluteten Hof wieder. Das Haus, an dem sie vorgefahren waren, erwies sich als ein Gebäude mit geschlossenen Fensterläden. Alles machte einen heruntergekommenen, schäbigen Eindruck: Zwischen den Pflastersteinen wucherte dichtes Unkraut, der Putz bröckelte in großen, hellen Platten von der dunklen Hausfassade. Sie verfolgten gespannt, wie Ka’uri in einem bestimmten Rhythmus gegen eine alte, verwitterte Tür klopfte. Ein schmaler Streifen Licht fiel wie zur Antwort in den schweigsamen Hof und nahm sie bereitwillig auf. Drinnen ging es über eine ächzende Holztreppe in den ersten Stock hinauf. Ka’uri führte sie in ein holzgetäfeltes Zimmer mit schiefer Decke. Dort nahmen sie in weichen Sesseln Platz, die – ebenso wie der Tisch – unverkennbar vor kurzem erst herbeigeschafft worden waren. In einem Kamin brannte ein Feuer. Auf dem Tisch stand eine kostbare Kristallkaraffe mit rotem Wein, in dem sich funkelnd das Licht einiger Kerzen brach. Ka’uri schenkte ihnen ein, bevor er sich verbeugte und zurückzog. Die Tür schloss leise.

„Ich brenne darauf zu erfahren, was dieser Jorgei anzubieten hat“, raunte Neskor.

Er trug eine knielange Goija, den traditionellen cundanischen Männerrock. Dacan betrachtete die zwei tätowierten, sich umschlingenden türkisfarbenen Schlangen auf seiner Stirn, die seine cognacfarbenen Augen noch strahlender erscheinen ließen. Jeder Cundaner, sei es Mann oder Frau, erhielt seine persönliche Shal’ria, sobald die Geschlechtsreife erreicht war. Die Tätowierung sagte etwas über den Charakter, die Herkunft sowie über die sexuellen Fähigkeiten der betreffenden Person aus. Da es von Insel zu Insel große Unterschiede in der Symbolik gab, war eine Deutung der Zeichen für einen Außenstehenden nahezu unmöglich. Neskors schwarzes, langes Haar, das er im Nacken zu einem Zopf gebunden hatte, ließ ihn zunächst asketisch wie ein Mönch wirken, wäre da nicht die schillernd weiße Perle in seinem linken Ohr und sein ansteckendes Grinsen gewesen. Er war neben Anouk der zweite Mann, dem Dacan blind vertrauen konnte.

„Lassen wir uns überraschen“, erwiderte er und nippte an seinem Glas. „Nicht schlecht. Veonischer Ribo. Er muss ein Vermögen gekostet haben.“

„Ihr verfügt über einen erlesenen Geschmack.“

Erstaunt drehte Dacan den Kopf und erblickte im unsteten Licht des Kaminfeuers die Gestalt eines korpulenten Mannes, der das Zimmer unbemerkt betreten hatte. Er bewegte sich unerwartet geschmeidig und lautlos auf sie zu.

„Seid willkommen in meinem Haus.“

Die Männer standen rasch auf und erwiderten den traditionellen Gruß höflich.

„Wir danken im Namen der Götter für Eure Gastfreundschaft“, erwiderte Dacan.

Der Lanekhe lachte leise. „Wahrlich eine bescheidene Gastfreundschaft. Ich hätte Euch gerne meinen Landsitz gezeigt, aber in Anbetracht der Umstände werden wir uns mit diesen primitiven Räumlichkeiten wohl zufriedengeben müssen. Ich hoffe, Ihr vergebt mir.“ Über sein dickes Gesicht glitt ein listiges Lächeln. „Da Ihr bereits in Der Tanzenden Elfe zu Abend gespeist habt, werden wir gleich zur Sache kommen.“

Dacans Miene blieb ausdruckslos, als er nickte. Er hatte den ganzen Tag über schon das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Sollte Jorgei ruhig wissen, dass er kein Dummkopf war, den man mit schmeichlerischen Worten und einer Flasche guten Weins umgarnen konnte. Die Geschichte lehrte ihn aber, diesen Lanekhen keine Sekunde lang zu unterschätzen.

„Ich gehe davon aus, dass das, was zwischen uns besprochen wird, diesen Raum nicht verlässt. Gebt Ihr mir darauf Euer Wort?“, fragte Jorgei.

„Sicher“, bekräftigte Dacan. „Wir haben schon früher heikle Aufträge erledigt, Ihr könnt beruhigt sein. Wir können ein Geheimnis wahren. Was habt ihr anzubieten?“

„Ich will Euch ein Angebot machen, das man nur einmal im Leben erhält“, antwortete er.

„Und wo ist der Haken?“, erkundigte sich Dacan.

„Der Auftrag ist lukrativ, aber brandgefährlich“, verriet Jorgei. „Ich habe Eure Laufbahn während des veonisch-kaerischen Seekrieges mit großem Interesse verfolgt. Ihr seid genau der Richtige: erfahren, wagemutig und eine Spielernatur. Und nun hört zu. Segelt nach Toretho. Dort werdet Ihr Euch auf die Suche nach Kaduk machen. Wenn Ihr mir einhundert intakte Heilpflanzen beschaffen könnt, bringt Ihr die Ladung nach Marakka.“

In der Stille, die nach diesen Worten folgte, hätte man eine Maus rascheln hören können. Es kursierten die wildesten Gerüchte über dieses sagenumwobene Kraut. Viel, jedoch wenig Verlässliches wurde darüber erzählt. Es sollte angeblich ein Allheilmittel sein. Es wurde sogar gemunkelt, dass Kaduk ein wirksames Antidot gegen alle Gifte sei. Niemand hatte dieses Kraut jemals gesehen oder gar probiert - alles war reine Spekulation. Es gab nichts Greifbares.

„Nennt mir Euren Preis, Xareke.“ Jorgei beobachtete sein Gegenüber gespannt.

Dacan ließ ihn absichtlich lange warten. Von Minute zu Minute nahm Jorgeis Spannung zu.

„Kaduk ist nichts weiter als eine Legende“, sagte Neskor leise. „Wir würden einem Hirngespinst hinterherjagen, Kommandant.“

Dacan gebot ihm zu schweigen. „Es ist Eure Sache, in ein Geschäft mit einem derart ungewissen Ausgang zu investieren“, wandte er sich an Jorgei. „Auch wenn ich die Meinung meines ersten Steuermannes teile, bin ich an Eurem Auftrag interessiert.“ Er warf Neskor einen warnenden Seitenblick zu, während er weitersprach. „Für fünftausend Goldaurelien werden wir gerne herausfinden, ob Kaduk ein Märchen ist oder nicht. Wenn es diese Wunderpflanze gibt, werde ich sie beschaffen und nach Marakka bringen. Wie gesagt, für fünftausend Goldaurelien.“

Jorgei schenkte sich unbekümmert Wein nach, während Neskor erschrocken nach Luft rang.

„Dies ist eine ungeheure Summe, Kommandant“, stellte er fest. „Der Preis ist selbst für einen Mann mit meinen Möglichkeiten beachtlich.“

„In Anbetracht der Tatsache, dass niemand jemals lebend aus dem torethischen Hinterland zurückgekommen ist, halte ich die Summe für angemessen“, widersprach Dacan sanft. „Nicht einmal Torether sind so dumm, sich in ihr eigenes Hinterland zu wagen.“

Jorgei lachte tonlos. „Ich zahle Euch siebenhundert Aurelien bei erfolgter Lieferung“, lautete sein Angebot.

Neskor verfolgte mit klopfendem Herzen, wie die Männer zu feilschen begannen. Dacan war ein harter Verhandlungspartner und lange Zeit bewegten sich die Fronten kaum. Sie einigten sich schließlich auf die unerhörte Summe von zweitausend Goldaurelien.

„Und zehn Goldsulan als Vorschuss“, forderte Dacan.

„Das sind zehntausend Danare!“ Jorgeis Hand flog zu seinem Herzen.

„Die Vorbereitungen für die Expedition werden einiges kosten. Wir benötigen zunächst Mittel, um die Edra flott zu machen. Dann brauchen wir Ausrüstung, Proviant, Trinkwasser, Lastentiere und Leute, die…“

„Schon gut.“ Jorgei seufzte abgrundtief. „Ihr erhaltet zehn Goldsulan und zusätzlich einen Sulan, wenn die Arbeiten an Eurem Schiff bis zum 15. abgeschlossen sind. Wenn die Götter es wollen und Ihr mit dem Kaduk zurückkehrt, erhaltet Ihr den Rest Eurer Bezahlung. In der Zwischenzeit wird Euch Ka’uri mit Rat und Tat zur Seite stehen, sofern sich unerwartete Schwierigkeiten einstellen.“

Sie grinsten sich über den Rand ihrer Weingläser hinweg an.

„Bei Ganacca. Ich hatte schon lange keinen solchen Spaß mehr. Ihr seid ein zäher Verhandlungspartner.“ Jorgei kicherte. „Der Handel gilt.“

Die Männer besiegelten das Geschäft mit einem kräftigen Handschlag.

II.

6. Tag im 7. Monat des Banak’Ba 4578, Tagebuch von Dacan

Ich habe ein Geschäft mit zweifelhaftem Ausgang abgeschlossen, aber ein Ertrinkender greift bekanntlich nach jedem Strohhalm. Heute überbrachte mir Ka’uri den vereinbarten Vorschuss. Zum Glück gewährt sein Meister uns ein großzügiges Zeitlimit von einem halben Jahr. Er will lediglich im Abstand von vier Wochen über den Stand unserer Unternehmung informiert werden. Für diese Zwecke übergab mir Ka‘uri einen Käfig mit Brieftauben.

Zum Glück hat Neskor das Handwerk des Schiffsbaus auf Tulaisia gelernt. Ich habe ihn beauftragt, das passende Holz für die notwendigen Reparaturen zu beschaffen. Renja, die Segelmacherin, hat bereits geeignetes Material in Kafri gefunden. Zum ersten Mal seit langem blicke ich zuversichtlich in die Zukunft. Man könnte annehmen, dass unsere Ankunft in Kafri und die Ereignisse, die sich seither zugetragen haben, kein Zufall, sondern Schicksal waren.

Dacan setzte sein Zeichen unter den Eintrag, schlug sein Tagebuch zu und schloss es weg. Anschließend begann er mit den Berechnungen des Kurses. Offiziell segelten sie mit fünf Torn Cundansalz nach Ka’eresh, um es gegen andere Waren zu tauschen. Von Ka’eresh aus würden sie südwärts gen Venara segeln, an dessen Südspitze Toretho lag. Nachdem Dacan mit beiden Kursberechnungen fertig war, ging er nach draußen und begab sich ins Mannschaftsquartier. Hier unten war die Crew aus Xareken, Macarsen, Cundanern und Yasken mit dem Drehen der Taue beschäftigt, während Renja und Vani gerade eines der neuen Vorsegel, den großen Klüver, zusammennähten. Die Leute schwatzen und lachten laut durcheinander. Es schien alles in bester Ordnung. Die Arbeiten gingen gut voran. Alle freuten sich auf das bevorstehende Fest. Dacan suchte die Krankenstation auf. Er traf dort den Heiler im angetrunkenen Zustand an. Tolka van Mebath döste in seiner Koje vor sich hin, als er schwungvoll eintrat. Die Edra war Tolkas einzige Heimat. Er lebte schon sehr lange hier. Dacan schätzte sein Alter auf mindestens sechzig Jahre, daher brachte er es nicht übers Herz, ihn wegen seiner notorischen Trunksucht an Land zu setzen. Das wäre sein Untergang gewesen. Tolka war ein Quartalsäufer. Aber wenn er nüchterne Zeiten erlebte, verstand er sein Handwerk. Den Rest der Zeit sprang Me’hat ein.

„Komm rein, Dacan“, begrüßte ihn der stämmige Mann mit schleppender Stimme. „Setz dich doch, was kann ich für dich tun? Du bist doch nicht etwa krank?“

Dacan nahm auf dem einzigen Stuhl der Krankenstation rittlings Platz, sodass er seine Arme bequem auf der Rückenlehne abstützen konnte.

„Nein, es ist alles in bester Ordnung. Gibt es zu dieser frühen Stunde schon was zu feiern, alter Freund?“

Dacan musterte die Norkaiiflasche neben der Koje, worauf Tolka sofort eine schuldbewusste Miene aufsetzte. Er zuckte leise rülpsend die Achseln und stöpselte die Flasche zu. Dacan beließ es dabei.

„Eine andere Angelegenheit führt mich zu dir“, verriet er. „Versprich mir, alles für dich zu behalten.“

Tolka nickte. Ein Umbrate verstand sich wie kein anderer Usenier auf die Kunst der Diskretion, daher glaubte ihm Dacan aufs Wort.

„Hast du Zeichnungen von Kräutern?“, fragte er.

„Du weißt, dass ich Bücher über Heilpflanzen besitze. Ich brauche sie für meine Arbeit“, war die brummige Antwort. „Wusste gar nicht, dass du ein solches Interesse für die Heilkunde hast. Suchst du was Spezielles? Ich habe Bücher über Jungfernkraut, Purpurgrasblüten oder Aura’kánan.“

„Nein, nichts von dem“, verneinte Dacan kopfschüttelnd. „Ich interessiere mich für Heilkräuter auf Toretho.“

Ein feines Lächeln entstand in Tolkas Mundwinkeln. „Hm, Toretho. Da hast du aber Glück. Bist du auf der Suche nach was Bestimmtem?“

„Hast du ein solches Buch?“, hakte Dacan unbeirrt nach.

„Über die Heilkräuter von Venara und seiner Inseln hab ich so einiges über die Jahre gesammelt. Eines handelt, glaub ich, sogar von Toretho selbst. Wo habe ich es denn nur hingetan?“

Er verfolgte gespannt, wie Tolka aufstand, schweren Schrittes zu einem Regal im Nebenraum schlurfte und mit dem Zeigefinger der Reihe nach auf die Buchrücken tippte, bis er schließlich innehielt. Brummend zog er ein unscheinbares Buch heraus und kehrte an den Tisch zurück.

„Hier, das ist es“, verkündete er, wobei er sich auf seinen wackligen Hocker setzte.

Dacan musterte das Buch mit dem dunkelgrauen Ledereinband und den eingeprägten, verblassenden Goldbuchstaben. Toretho, seyne Eynwohner und Heylpflanzen, von Meyster Norrek van Nash’Umbrat stand dort geschrieben. Sein Herz begann schneller zu schlagen, dennoch bezähmte er sich. Stattdessen ließ er Tolka erst einmal erzählen.

„Man hielt Norrek, nachdem er dieses Buch veröffentlicht hatte, für einen Scharlatan“, begann der Heiler. „Er erntete usenienweit Hohngelächter. Dieses Buch über Toretho hat seine Karriere beendet. Er behauptet in seinem Werk, Kaduk gefunden und selbst ausprobiert zu haben. Einen Beweis ist er allerdings schuldig geblieben. Suchst du was Spezielles?“

Dacan konnte sein Glück kaum fassen. „Ich würde es lieber selbst durchlesen.“

Tolka reichte ihm das Buch, und er blätterte begierig bis zur Inhaltsangabe vor. Da stand es. Er traute seinen Augen kaum. Auf Seite 127 war ein Kapitel Kaduk – Wirklichkeyt oder Mystik? verzeichnet.

Tolka schmunzelte. „Wie ich sehe, hast du bereits gefunden, wonach du suchst.“

Auf Seite 136 fand Dacan sogar die Zeichnung einer vermeintlichen Kadukpflanze. Sie sah unscheinbar aus: Es war eine Pflanze mit dunkelgrünen schmalen Blättern und weißen kleinen Blüten.

„Es ist nicht sicher, ob das da tatsächlich Kaduk ist“, brummte Tolka skeptisch. „Einige meinen, Norrek habe hier das Grünkleenblatt dargestellt und es nur ein wenig abgeändert.“

Selbst wenn Norrek van Nash’Umbrat ein Scharlatan gewesen sein mochte, so war dies zumindest ein kleiner Anhaltspunkt. Vielleicht würde er in Ka’eresh in einem Buchantiquariat noch eine andere Quelle auftun.

„Mit deiner Erlaubnis leihe ich mir das Buch aus“, sagte er ruhig, klappte es zu und schob es unter seine Weste.

„Na klar, wenn es dir Freude bereitet“, erklärte sich Tolka bereit. „Aber pass darauf auf. Es ist das einzige Exemplar, das ich habe. Es ist heutzutage nicht mehr zu kriegen.“

Dacan hielt inne. „Du bekommst es in einem Stück wieder, versprochen. Behandle die Sache vertraulich. Sage niemandem etwas von diesem Buch.“

Tolka schaute verständnislos drein. „Was? Von welchem Buch redest du?“

Mit diesen Worten trat er zum Regal und ordnete den Rest so, dass die entstandene Lücke verschwand. Dacan legte grinsend einige Münzen auf den Tisch.

„Genehmige dir eine Flasche guten Schnaps, aber fall nicht ins Hafenbecken.“

Tolka murmelte etwas vor sich hin, während er begierig die Münzen in seine Hosentasche steckte. Als Dacan die Krankenstation verließ, widmete er sich bereits wieder der Flasche und hatte den seltsamen Besuch seines Kommandanten vergessen. Nachdem Dacan das Buch in seinem Geheimfach unter dem Bett versteckt hatte, ging er hinauf zur Brücke. Maron und Delos unterbrachen ihr leises Gespräch, als er sich zu ihnen gesellte. Sie grüßten einander knapp. Der Erste Offizier hatte unverkennbar eine schlaflose Nacht hinter sich. Gewiss hatte Delos inzwischen erfahren, dass Dacan einen neuen Auftrag an Land gezogen hatte. Die Ladung Cundansalz war ja bereits Beweis genug. Delos’ Bemühungen, dieses Geschäft zu vereiteln, waren kläglich gescheitert. Du wirst noch früh genug herausfinden, was wirklich geschehen ist, dachte Dacan schadenfroh und betrachtete seinen Rivalen ausdruckslos. Von jeher waren Lusaner und Xareken miteinander verfeindet und gewiss trübte diese traditionelle Abneigung ihre bestehende Beziehung. Wenn Dacan ehrlich war, konnte er keinen Lusaner, der jemals seinen Kurs gekreuzt hatte, leiden. Sowohl Delos als auch er waren typische Vertreter ihrer Völker: der eine klein und schwarzhaarig, der andere hünenhaft und blond. Delos wirkte kühl und distanziert, während Dacan lebhaft und bisweilen impulsiv war.

„Was gab es gestern denn so Aufregendes in Kafri, dass du und Neskor die halbe Nacht unterwegs wart?“, fragte Delos lauernd. Er beherrschte seinen Ärger hervorragend.

„Wir haben nach einem Auftraggeber gesucht.“

„Mit Erfolg, wie ich sehe“, erwiderte Delos schmallippig.

Dacan verwunderte es nicht, dass er Ka’uris Besuch mit keinem Wort erwähnte. Er hätte ihn am liebsten in das Hafenbecken befördert.

„Ein Auftrag mit wenig guten Aussichten, wenn Du mich fragst“, mischte sich Maron, der Zweite Offizier, in ihr Gespräch ein. „Das Cundansalz wird nicht viel Ertrag bringen. Es deckt kaum die laufenden Kosten. Wie gut, dass wir wenigstens einige notdürftige Reparaturen vornehmen können. Es ist mir schleierhaft, woher du deinen Optimismus beziehst.“ Maron schüttelte verwundert den Kopf.

„Hab Geduld, mein Freund“, erwiderte Dacan unbekümmert. „Das Leben steckt voller Überraschungen. Vertrau mir.“

Dies war ein Stich, der sein Ziel gefunden hatte. Delos’ Miene verdüsterte sich jäh, aber er schluckte unbedachte Fragen hinunter. Wenn Dacan nur eine Minute länger auf der Brücke blieb, würde er seine Beherrschung verlieren und vor Wut platzen.

„Entschuldigt mich. Ich vergaß, dass ich eine wichtige Sache zu erledigen habe“, verkündete er vergnügt. „Delos? Du übernimmst die Brückenwache.“

Er ließ sie stehen und ging, verfolgt von ihren Blicken, an Land. Kurz darauf war er in einer Gasse verschwunden.

„Vertrauen.“ Delos spie verächtlich in das Hafenbecken. „Vertraue niemals einem Xareken, hörst du? Sie kennen keine Ehre und Anstand. Sie sind Diebe und Taugenichtse.“

Delos zuckte erschrocken zusammen, als er das Geräusch von sich nahenden Schritten vernahm.

„Du hast mich gerufen? Hast du Befehle für mich, Delos?“

Anouk klang gelassen und höflich wie immer, aber Maron war davon überzeugt, dass er die letzten Worte des Ersten Offiziers gehört haben musste. Aus Delos’ Gesicht wich jede Farbe.

„Nein“, antwortete er beherrscht. „Du hast dich verhört. Du kannst gehen, Erster Maat.“

Gelassen schulterte Anouk seine Axt und schlenderte davon.

Befreit trat Dacan in das Gasthaus Zur Tanzenden Elfe. Der Wirt konnte sich an den gestrigen Tag noch gut erinnern. Doch er verschwendete zum Glück kein Wort an ihn, sondern stellte ihm nur finster dreinblickend einen warmen Wein hin. Zu Dacans Enttäuschung sang und tanzte die kleine Elfe heute nicht. Dafür entdeckte er zwei kräftige, muskelbepackte Tulaisierinnen und einen zierlichen, schwarzhäutigen Rhendaner, die voller Hingabe Batakk spielten. Noch hatten sie den Zyklus nicht beendet, daher beschloss er, sich einem neuen Spiel anzuschließen, sofern man es ihm gestattete. Er nahm seinen Becher, setzte sich an den Nachbartisch und wartete. Die tulaischen Frauen waren Söldnerinnen. Nur Rakne allein wusste, welches Schicksal sie in dieses Nest verschlagen hatte. Man beachtete ihn nicht, während er das Batakk neugierig verfolgte. Der Rhendaner erwies sich als Spieler, der es verstand, mit den Karten geschickt umzugehen. Alle gaben ihren Einsatz, bevor das letzte Spiel des Zyklus begann. Eine Weile sah es so aus, als hätten sich alle drei die gleichen Vorteile verschafft, dann allerdings nahm das Batakk eine überraschende Wende.

„Stich!“, rief der Rhendaner und legte triumphierend drei Karten auf den Tisch.

Es war das beste Blatt, das man sich vorstellen konnte: Der blaue Herrscher und die schwarze Königin waren die ranghöchsten Karten. Die rote Sonne ersetzte als Joker den grünen Ritter. Mehr ging nicht. Die tulaischen Frauen drehten verärgert ihre Karten um.

„Batakk“, rief der Rhendaner laut.

Sie mussten sich geschlagen geben. Sichtlich zufrieden strich ihr Spielpartner den satten Gewinn ein. Die Münzen verschwanden klimpernd in seiner Jackentasche. Zwischen seinen dunklen Lippen entstand ein leichtes Lächeln.

„Wie wäre es? Ich hätte Lust auf eine weitere Partie.“

Etwas hielt Dacan davon ab, sich ins Spiel zu bringen. Er spitzte die Ohren und beobachtete aus dem Augenwinkel heraus das weitere Geschehen. Es war unverkennbar, dass Ärger heraufzog.

„Für meinen Geschmack gehst du ein wenig zu flink mit den Karten um, kleiner Mann. Was meinst du, Tiara?“, zischte die ältere Söldnerin wütend. Ihre Worte gingen im lauten Schwatzen und Lachen der Gäste unter.

Tiara strich sich über den kahlgeschorenen Schädel. „Du hast verdammt noch mal recht. Unser Freund hat erstaunlich viel Glück, Norena“, stimmte sie zu.

Der Rhendaner atmete hörbar aus. „Was wollt ihr mir unterstellen? Ihr wollt damit doch nicht etwa andeuten, dass ich falsch spiele?“

„Genau das denken wir“, teilte ihm Norena mit feindselig gesenkter Stimme mit und strich sich eine Strähne ihres schwarzen Haars aus der Stirn. „Wir haben vier Zyklen miteinander gespielt, und jedes Mal hast du gewonnen. Das ist zu viel Glück für so einen kleinen Mann.“

Er schaute unschuldig drein, als er erwiderte: „Macht euch nicht lächerlich. Wir haben schließlich mit euren Karten gespielt und nicht mit meinen eigenen. Alles ging mit rechten Dingen zu. Aber hier, bitte… Wenn ihr mir nicht glauben wollt, prüft es nach. Dann könnt ihr feststellen, dass euer Kartenspiel vollzählig ist. Und schaut auch gleich nach, ob Karten gezinkt wurden. Tiara, du wirst sehen, dass alles in bester Ordnung ist.“

Aber die Söldnerin ließ sich davon nicht überzeugen. „Was meinst du, Norena? Dieser Bastard lügt.“ Ihre Augen funkelten wütend.

Norena nickte kühl. „Aye. Er hat uns reingelegt. Gib uns unser Geld zurück. Auf der Stelle.“

„Aber es ist mein Geld, gewonnen in einem ehrlichen Spiel“, quetschte der Rhendaner mühsam beherrscht hervor. „Es war ein faires Spiel. Ich habe keine Ahnung, warum ihr so ein Theater veranstaltet.“

Tiara lächelte kalt. „Er glaubt, unsere zwanzig Dashs rechtmäßig erworben zu haben.“

Norena lachte, als sei ihrer Gefährtin ein guter Scherz gelungen. Die Frauen richteten ihre Blicke auf den verärgerten dunkelhäutigen Mann.

„Du bist nichts weiter als ein kleiner, mieser Betrüger“, zischte Norena heiser. „Sei froh, dass wir dich nicht der Stadtwache ausliefern. Falschspieler werden auf Lanekh hart bestraft.“

Der Mann schnappte empört nach Luft. „Dazu müsstet ihr erst einmal beweisen, dass ich gemogelt habe.“

Er machte Anstalten aufzustehen, aber Tiara reagierte sofort. „Norena!“, zischte sie heiser und vollführte eine knappe Kopfbewegung.

Noch ehe der Rhendaner reagieren konnte, war Norena bereits neben ihn auf die Bank gerutscht und legte ihm lächelnd den Arm um seine Taille. Ihr Griff war eisern. Dacan sah in ihrer Hand ein Messer aufblitzen, bevor es unter dem Tisch verschwand. Man brauchte wenig Fantasie, sich vorzustellen, wo sie es ansetzte. Der Rhendaner wurde aschfahl und erstarrte in seiner Bewegung.

„Jetzt keinen falschen Mucks.“ Norena lächelte ihn an.

Von weitem sah es so aus, als bahnte sich hier ein Techtelmechtel an. Dacan trank einen Schluck aus seinem Becher und lauschte aufmerksam.

„Rück unser Geld heraus, Hurensohn, oder du wirst gleich drei Oktaven höher singen können“, zischte Norena zwischen den Zähnen hervor, ohne den Mund zu bewegen.

Die beiden Frauen lächelten um die Wette. Dacan hatte genug gesehen und gehört. Er stand unvermittelt auf und setzte sich neben Tiara an den Tisch. Rasch legte er den Arm um ihre Hüfte, zog sein Taumesser aus dem Stiefel und setzte es blitzschnell an eine neuralgische Stelle.

„Du solltest dich besser nicht bewegen“, raunte er ihr ins Ohr.

Die Frau verharrte. Aus ihrer Miene wich die Farbe, aber nach wenigen Wimpernschlägen hatte sie sich wieder gefasst. Unmerklich stieg dunkle Zornesröte stieg in ihrem vernarbten Gesicht auf. Dacan blieb davon unbeeindruckt.

„Es wäre sehr schade“, raunte er freundlich, „wenn du dich ernsthaft verletzen würdest.“

Mit diesen Worten piekte er sie leicht in die Innenseite ihres Schenkels. Er kannte sich bestens aus, denn er hatte genau jene Stelle gewählt, an der die große Beinschlagader entlanglief. Unbekümmert redete er weiter, während Tiaras Miene sich immer mehr verdüsterte. Sie versuchte vergeblich, seiner Waffe auszuweichen.

„Selbst wenn er betrogen hat, seid ihr ihm den Beweis bisher schuldig geblieben. Der Gewinn gehört ihm. Ich kann schlechte Verlierer nicht ausstehen. Ich rate dir… Du heißt doch Norena, nicht wahr? Lass ihn auf der Stelle los, sonst bekommt deine Freundin meine Klinge zu spüren.“

Tiara versuchte sich seinem festen Griff zu entwinden, doch er hielt sie unerbittlich in Schach. Sein Messer bohrte sich leicht in ihren Oberschenkel.

„Ich würde sagen, im Moment steht es unentschieden. Krümmst du dem Rhendaner ein Haar, ist deine Freundin dran.“ Er meinte es bitterernst.

Die Blicke der beiden Frauen kreuzten sich, dann gab Norena den Rhendaner widerwillig frei. Dacan nickte zufrieden.

„So ist es schon besser. Und jetzt verschwindet, alle beide“, forderte er sie auf, während er Tiara vorsichtig freigab.

„Wir sehen uns wieder, Xareke“, wurde ihm gedroht. „Und mit dir, du elender Betrüger, rechnen wir ab. Verlass dich drauf.“

Dacan verfolgte aufmerksam, wie die beiden Frauen wütend davonstapften. Nachdem sie das Gasthaus verlassen hatten, drehte sich der Rhendaner erleichtert zu ihm um.

„Ihr habt mein Leben gerettet, edler Herr“, sprudelte es aus ihm heraus. „Diese Barbarinnen hätten mich umgebracht, wenn Ihr nicht gewesen wärt. Ich stehe tief in Eurer Schuld.“

„Ich finde, du übertreibst. Aber ich gebe dir einen guten Rat. Lasse deine Batakk-Gegner ab und an gewinnen.“

Der dunkelhäutige Mann schnaubte gekränkt. „Aber ich habe nicht falsch gespielt. Ich schwöre es bei meiner Mutter. Hättet Ihr vielleicht Lust auf eine Partie, mein werter Herr?“

Dacan lachte aus voller Kehle. „Nein danke, ich werde sicher nicht den gleichen Fehler wie die Söldnerinnen begehen.“ Er vollführte eine eindeutige Kopfbewegung in Richtung des Ausgangs. „Aber wir können zusammen etwas trinken und uns unterhalten. Zur Ableistung deiner Ehrenschuld könntest du mir für den Anfang einen Wein ausgeben. Wie findest du das?“

Der Rhendaner schien nicht nachtragend zu sein. „Es wäre mir eine besondere Ehre, edler Herr“, willigte er ein.

„Mein Name ist Dacan, und ich bin kein feiner Herr“, stellte dieser richtig, während ihnen frischer Wein gebracht wurde. „Und wer bist du?“

Der Rhendaner warf sich stolz und ein wenig theatralisch in die Brust. „Mein Name ist Rodero ben Eidan ben Nakon ben Nafrut al Barnak.“

Dacan stieß belustigt mit ihm an. „Gibt es dafür auch eine Kurzform?“

Sein Gegenüber lachte ansteckend. „Du kannst mich Rodero nennen.“

Der Mann war keine zwanzig Jahre alt, klein und drahtig. Er besaß eine Haut wie Schokolade und ein nettes Gesicht, auffallend hellgraue, wachsame Augen und ein charmantes, einnehmendes Lächeln. Alles in allem war es ein recht hübscher Rhendaner, der ihm da gegenübersaß. Davon abgesehen schien er ein aufgeweckter Bursche zu sein.

„Ein Rhendaner hier in Kafri?“, nahm Dacan die Unterhaltung auf. „Welcher Wind hat dich denn hierher geweht?“

„Ein ungünstiger“, klagte Rodero leise. „Das Schiff, das mich in Ka’eresh mitnahm, sollte mich an die Gestade von Yrth bringen. Leider wurde daraus nichts.“

„Was ist geschehen?“, fragte Dacan neugierig.

Er musterte Roderos grüne Ledertasche, die neben ihm auf der Bank lag. Sie war prall gefüllt. Einen flüchtigen Augenblick lang meinte er, dass sich etwas darin bewegte. Dacan blinzelte überrascht, musste aber feststellen, dass er sich offenbar getäuscht hatte.

„Es war grässlich“, erzählte Rodero währenddessen. „Ein Sturm zwang uns zur Umkehr. Wir konnten unser Leben mit knapper Mühe retten. Seitdem sitze ich hier auf dieser elenden Insel fest.“

„Und das Schiff? Warum bist du nicht auf ihm geblieben?“, fragte Dacan interessiert.

Rodero seufzte schwer. „Es segelte am nächsten Tag nach Xillas weiter“, erwiderte er betrübt. „Ich wollte auf Lanekh bleiben. Diese Insel, dachte ich, ist so gut wie jede andere im cundanischen Archipel. Doch meine Entscheidung stellte sich rasch als Fehler heraus. Du hattest Glück, mir begegnet zu sein. Dies ist mein letzter Tag in diesem elenden Kaff. Morgen werde ich zu Fuß nach Matra aufbrechen. Möge Nirr mir eine Schiffspassage nach Yrth schenken.“

Er fröstelte bei der Vorstellung, was ihm auf dieser Reise noch alles bevorstand: noch mehr Regen, schlammige Straßen, schmutzige Gasthäuser, miserables Essen, ungewaschene Lanekhen… Dacan schmunzelte in seinen Becher hinein.

„Matra liegt auf der Strecke meines neuen Kurses“, verriet er ihm. „Wenn du es noch ein paar Tage länger in Kafri aushältst, wäre ich bereit, dich mitzunehmen. Vorausgesetzt, du zahlst zwei Dashs für die Fahrt.“

Roderos sorgenvolle Miene hellte sich bei Dacans Angebot jäh auf. „Ein Schiff? Du hast ein Schiff?“

„Aye. Ich bin der Kommandant eines xarekischen Seglers. Wir liefen notgedrungen in Kafri ein. Du wirst lachen, wir sitzen wegen eines Sturms hier fest. Die Reparaturen werden uns noch einige Tag beschäftigt halten, bevor es wieder zur See gehen kann.“

„Die göttliche Nirr hat meine Gebete erhört“, seufzte Rodero überglücklich. „Zwei Dashs, sagst du? Ein angemessener Preis für die Passage. Ich bin einverstanden.“

Dacan hob seinen Becher, um mit ihm anzustoßen.

„Dann ist es beschlossene Sache. Du hast soeben eine Kabine auf meinem Schiff gebucht.“

Die Männer prosteten sich vergnügt zu. Es wurde allmählich Zeit. Neskor war bestimmt schon von seiner Tour zurück. Dacan war schon sehr gespannt, ob er erfolgreich gewesen war. Er stand, nachdem er seinen Becher in einem Zug geleert hatte, abrupt auf. Als Rodero sich ihm anschließen wollte, hielt er ihn davon ab, indem er ihn auf seinen Stuhl niederdrückte.

„Trinke deinen Wein in aller Ruhe aus, mein Freund.“ Er lächelte auf ihn herab. „Auf mich wartet die Arbeit. Komm am 14. Tag in den Hafen. Mein Schiff heißt Edra und ist nicht zu übersehen. Es ist die einzige Brigantine, die dort vor Anker liegt. Melde dich beim Ersten Maat. Er wird dir deine Kabine zuteilen. Spiele bis dahin nicht mehr so viel Batakk, das könnte der Gesundheit schaden. Und wenn du draußen bist, achte auf das, was sich in deinem Rücken abspielt.“

„Es ist das beste Makaniholz, das du dir vorstellen kannst“, schwärmte Neskor wenig später in Dacans Quartier. „Ich konnte einen guten Preis aushandeln.“

Er nannte ihm die Summe

„Das ist sogar besser, als ich erwartet hatte“, freute sich Dacan. „Wann wird die Lieferung eintreffen?“

„Morgen, im Laufe des Tages“, erwiderte Neskor. Er musterte ihn nachdenklich. „Seit ich auf der Edra bin, beschäftigt mich der Gedanke, die alte Dame einmal ordentlich herzurichten. Da wir nun über die Mittel verfügen, hätten wir die Gelegenheit dazu. Was hältst du davon, aus der Brigantine eine Brigg zu machen?“

Das klang nach einem ehrgeizigen Projekt. Dacan musterte ihn neugierig. „Du willst sie auftakeln? Ein verlockender Vorschlag. Wir hätten mehr Segelfläche, wären schneller und wendiger. Aber werden wir es bis zum Termin schaffen? Wer führt die Planung und die Berechnungen aus? Außerdem müssen wir eine Probefahrt unternehmen, bevor wir die Reise antreten. Sind wir erst einmal unterwegs, ist es für Nachbesserungen zu spät. Wir brauchen ein absolut zuverlässiges Schiff.“

„Du hast recht, es könnte knapp werden“, gestand Neskor. „Aber ich kann dir versichern, dass der Aufwand nicht unverhältnismäßig höher sein wird. Wir müssen den Großmast ohnehin ersetzen. Wenn alle mit anpacken, schaffen wir es.“

„Einverstanden. Wir brauchen zusätzliches Holz, Tuch, Taue und Baupläne. Wirst du dich darum kümmern?“

Neskor grinste gerissen. „Das Holz habe ich bereits gekauft. Es wird morgen mit dem Makani geliefert. Den Rest habe ich ebenfalls geordert. Die Planung übernehme natürlich ich. Ich habe an so vielen cundanischen Vereinigungsfesten teilgenommen, dass ich dieses Jahr gerne darauf verzichten kann. Was ist mit den Offizieren? Hast du sie unterrichtet?“

„Nein. Vor allem Delos sollte nicht allzu viel wissen. Er könnte sonst auf dumme Gedanken kommen.“

„Du wirst es auf Dauer nicht verheimlichen können“, wandte Neskor ein. „Spätestens morgen, wenn die große Holzlieferung eintrifft, wird er Fragen stellen. Wenn er erst alles erfahren hat, wird er Stimmung dagegen machen.“

Dacan nickte. „Die Einwände, die er anbringen würde, sind nicht von der Hand zu weisen. Dieser Auftrag ist Wahnsinn. Wenn die Zeiten besser wären, hätte ich Jorgeis Ansinnen ausgeschlagen. Aber was bleibt mir übrig, als auf sein Angebot einzugehen? Wenn wir erfolgreich sind, werden wir allerdings sehr reiche Leute sein.“

„Und wenn es schiefgeht, ziemlich tote Leute“, fügte Neskor trocken hinzu. „Aber all das interessiert Delos wohl kaum. Er verfolgt andere Pläne. Ich wollte dich schon lange was fragen.“

„Nur zu“, ermunterte ihn Dacan.

„Wie kam er eigentlich auf dieses Schiff? Ich dachte immer, ein Lusaner würde auf einem xarekischen Frachtsegler niemals eine Heuer erhalten. Wie kam es dazu?“

Dacan sann nach. „Als Delos auf die Edra kam, gab es keine Xareken an Bord. Der alte Ohak übernahm das Schiff einst von Zehra, der Kafazin.“

Neskor war überrascht. „Eine Kafazin führte dieses Schiff? Ich ging davon aus, dass xarekische Segler nur von Xareken kommandiert werden.“

„Da täuschst du dich gewaltig. Zehra war die beste Kommandantin von allen“, widersprach ihm Dacan. „Delos war damals gerade zum Ersten Offizier aufgestiegen, als ich neu dazukam. Er rechnete fest damit, eines Tages das Kommando zu übernehmen. Dann allerdings ernannte Ohak mich überraschend zu seinem Nachfolger. Delos’ Abneigung schlug daraufhin in blanken Hass um. Er war der Überzeugung, dass ihm die Führung des Schiffes zustand.“

„Wann wirst du ihm von Jorgeis Auftrag erzählen?“

„Keine Ahnung. Ich lasse ihn vorerst im Ungewissen.“

„Euer Hass wird die Crew eines Tages spalten“, befürchtete Neskor. „Biete ihm wenigstens einen Waffenstillstand an.“

Dacans Lachen erfüllte den Raum. „Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Er stand auf, um Holz im Ofen nachzulegen. „Nachdem Ohak gestorben war, versuchte ich immer wieder, mich mit ihm zu einigen. Doch das war nur Zeitverschwendung. Es hat keinen Sinn, sich mit ihm gut stellen zu wollen.“

„Was wirst du jetzt tun“, erkundigte sich Neskor.

„Ich lasse mir was einfallen, so wie immer. Die Wahrheit wird er erfahren, wenn ich es für richtig halte“, verkündete Dacan. Seine Augen blitzten kalt. „Ich werde ihn damit konfrontieren, dass er Ka‘uri weggeschickt und mir nichts gesagt hat. Noch ein solcher Vorfall, und er muss sich eine andere Heuer suchen. Aber wenn er geht, dann muss das hieb- und stichfest sein. Andernfalls riskiere ich einen Aufstand. Delos ist ein Meister darin, sich als unschuldiges Opfer darzustellen.“

Neskor beschloss, dass es besser sei, dieses heikle Thema ruhen zu lassen. „Und was springt bei diesem Auftrag für jeden heraus?“, fragte er stattdessen.

„Ich werde mindestens ein Dutzend Leute für diese Expedition benötigen“, ging Dacan bereitwillig auf ihn ein. „Jeder Teilnehmer erhält eine Bezahlung von fünfzig Goldaurelien pro Nase. Den anderen, die auf der Edra bleiben, stehen fünf zu. Ausgenommen von dieser Regel bist natürlich du. Wenn du es schaffst, aus dem Schiff bis zum 15. eine seetaugliche Brigg zu machen, erhältst du einen Sonderbonus von fünfzig Aurelien.“

Neskor pfiff durch die Zähne. „Du gibst so viel von Jorgeis Bezahlung als Belohnung an uns weiter? Bereits zwei Aurelien wären beachtlich. Die Mannschaft wird sich um die Teilnahme an deiner Expedition förmlich reißen, mag diese auch noch so gefährlich sein.“

„Das ist auch meine Absicht. Wir werden die Leute auslosen müssen, damit kein Unfriede entsteht. Verstehst du jetzt, warum ich Delos vorerst nichts erzählen will? Er hat keine Ahnung, wie hoch das Preisgeld sein wird. Er soll keine Gelegenheit erhalten, das Losverfahren zu manipulieren. Aber ich will dich nicht länger aufhalten. Es wartet sicher jede Menge Arbeit auf dich.“

Nachdem Neskor in seine Werkstatt zurückgegangen war, holte Dacan Tolkas Buch hervor und begann zu lesen. Erst als die Schiffsglocke die Mitternachtsstunde einläutete, versteckte er es, bevor er sich schlafen legte.

„Du willst mich sprechen“, begrüßte Dacan seinen Ersten Offizier knapp, der ohne anzuklopfen in seine Kabine gestürmt war.

Delos brachte ein Lächeln zustande, seine funkelnden schwarzen Augen jedoch blieben kalt. „Das muss ich, in der Tat.“

Dacan lehnte sich zurück und musterte ihn gleichmütig von oben bis unten. „Auch wenn dich eine wichtige Angelegenheit zu mir führt, bleibt doch genügend Zeit, die Tür zu schließen, meinst du nicht auch?“

Zu seiner Verwunderung kam Delos dem Befehl nach und blieb abwartend stehen. Sein starrer Blick fiel auf Dacans Aufzeichnungen. Auch wenn er sich noch so sehr den Hals verrenkte, die geschwungene Handschrift des Kommandanten war, auf dem Kopf stehend, auf diese Entfernung nicht zu entziffern. Dacan gönnte ihm einen vergeblichen Blick auf die Zeilen, bevor er das Buch zuschlug. Sein Gegenüber zuckte, wie aus einem Traum erwachend, zusammen, fasste sich und nahm Platz, obgleich eine Aufforderung ausgeblieben war. Auch er lehnte sich wie Dacan zurück. Die kühlen Blicke der Männer kreuzten sich zu einem stummen, verbissenen Duell.

„Es gibt wichtige Dinge, über die ich mit dir sprechen muss“, sagte Delos.

Seiner Stimme fehlte jede Ironie oder Härte. Sie klang überraschend mild und nachsichtig, aber genau das machte Dacan hellhörig.

„Dann mal heraus damit“, forderte er ihn höflich auf. „Ich möchte deine kostbare Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. Du hast sicher noch einiges zu tun.“

Seine Worte waren aller vordergründigen Freundlichkeit zum Trotz unmissverständlich. Wie immer verstand er es mit wenigen Redewendungen zum Ausdruck zu bringen, dass ihm die Anwesenheit seines Ersten Offiziers höchst zuwider war. Delos schluckte die Beleidigung, die Dacan geschickt zwischen den Sätzen versteckt hatte, hinunter und rang sich ein dünnes Lächeln ab. Er hatte sich bewundernswert unter Kontrolle. Obwohl es in der Kabine nicht heiß war, standen ihm dicke Schweißperlen auf der Stirn. Seine Halsschlagadern pulsierten verdächtig.

Dacan musterte ihn eingehend. „Ich kann mir schon denken, weshalb du hier bist. Sicher brennst du darauf zu erfahren, woher das Geld stammt, mit dem wir das Makani bezahlen konnten. Nun, es gibt Anlass zur Freude. Die schlechten Zeiten sind vorbei. Wir können wieder auf eine bessere Zukunft hoffen.“

„Lass mich raten. Wir haben noch einen zweiten, weitaus größeren Auftrag erhalten, habe ich recht?“, fragte Delos lauernd. Er presste die Lippen hart aufeinander, sodass aus ihnen alles Blut wich. „Warum hast du mir nichts davon erzählt? Bin ich nicht dein Erster Offizier? Habe ich nicht das Recht, stets gut unterrichtet zu sein? Besonders dann, wenn es mit dem Schicksal dieses Schiffs in Verbindung steht?“

Genau diese Reaktion hatte Dacan erwartet. „Der Wein sieht vielsprechend aus, findest du nicht?“, überging er die Vorwürfe und widmete sich der Betrachtung des Glases, das er in seinen Händen drehte.

Er dachte nicht im Traum daran, Delos davon anzubieten. Es bereitete ihm ein außerordentliches Vergnügen, ihn zappeln zu lassen. Verwundert stellte er fest, dass der Lusaner keineswegs verunsichert oder verärgert zu sein schien. Empört und gekränkt war die treffendere Bezeichnung dessen, was sich auf seinem gebräunten, gut aussehenden Gesicht abspielte.

„Ich bin dein Erster Offizier und habe das Recht, von dir ins Vertrauen gezogen zu werden“, wagte er einzuwenden.

In Dacans kühlen blauen Augen entstand ein Glitzern. Langsam ließ er daraus ein spöttisches Lächeln werden. Er stellte das Weinglas ab.

„Ich hatte ja keine Ahnung, dass du darauf so viel Wert legst. Aber es stimmt natürlich. Alles wäre viel einfacher, wenn wir ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander hätten. Ich habe in letzter Zeit den Eindruck gewonnen, dass man auf der Edra allmählich vergisst, wer der Kommandant ist. Auch du bist verpflichtet, mir alles, was sich auf dieser Brigantine abspielt, mitzuteilen. Nun, ich sehe dich nicken. Deine Einsicht ist erfreulich. Doch zwischen deiner guten Absicht und deinem Verhalten liegen Welten.“ Dacan betrachtete ihn gelangweilt, während aus der Miene des Lusaners alle Farbe wich. „Du enthältst mir Dinge vor, von denen ich wissen muss. Doch sei gewiss, ich höre und sehe alles, was sich auf meinem Schiff abspielt.“

Delos starrte ihn schweigend an. Obwohl Ka’uris Besuch mit keiner Silbe erwähnt worden war, wusste er natürlich sofort, wovon Dacan sprach.

„Aber vielleicht sollte ich dieses Mal eine Ausnahme machen und dich einweihen.“ Der Kommandant zögerte kurz. „Offen gestanden bin ich mir nicht sicher, ob ich damit klug handle. Was ist deine Meinung, Delos?“

Der Erste Offizier schluckte hart und hielt dem bohrenden Blick stand. Schließlich schien Dacan das Einsehen zu haben.

„Nun gut. Hier die Geschichte: Der vermeintliche zweite Auftrag ist keiner, sondern die Zahlung einer alten Schuld aus vergangenen Tagen. Nein, ich muss dir diesbezüglich keine Rede und Antwort stehen. Der Grund, welcher zu dieser Schuld führte, ist rein privater Natur und geht niemanden etwas an. Das Schiff ist nicht nur meine Zukunft, sondern auch die Zukunft all jener, die unter meinem Kommando stehen. Für sie trage ich die Verantwortung. Daher verwende ich mein privates Geld für die notwendigen Instandsetzungen. Ich hoffe, dass damit alle Fragen erschöpfend geklärt sind“, schloss er freundlich.

Dacan nahm den Stift in die Hand. Dies war das Zeichen für Delos, die Kabine zu verlassen.

„Welchen Kurs werden wir einschlagen?“, wollte Delos lauernd wissen. „Was hat es mit der Salzladung auf sich?“

Es war offensichtlich, dass er ihm kein Wort glaubte. Aber er hütete sich vor unbedachten Äußerungen und wartete stoisch auf Dacans Antwort.

„Wir nehmen, wie angekündigt, Kurs auf Ka’eresh und liefern das Salz ab“, erklang sie schließlich. „Bestimmt ergibt sich auf den Ruparan-Inseln die Gelegenheit, einen neuen Auftrag zu finden. Falls es dir nicht passt, kannst du gerne das Schiff verlassen und dir eine andere, angenehmere Heuer suchen. In diesem Fall wünsche ich dir für die Zukunft alles Gute. Falls du bleibst, gönne dir ein paar freie Tage, bevor wir aufbrechen. Ich finde, du brauchst jede Menge Entspannung. Du wirkst in letzter Zeit erschöpft und überarbeitet.“

„Deine Sorge rührt mich zutiefst“, gab Delos tonlos zurück.