Tage der Rache - Charlotte Kroker - E-Book

Tage der Rache E-Book

Charlotte Kroker

4,0

Beschreibung

Die Lebensgeschichte einer fünffachen Mörderin Anna ist das Kind einer Hure. Schon in der Schule erfährt sie, wie es sich anfühlt, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Nach dem Tod der Mutter nimmt ihr perverser Erzeuger das achtjährige Kind auf. Ein wahres Martyrium beginnt. Der Hass auf das männliche Geschlecht wächst ins Unermessliche. Dann kommt der Tag - und Anna nimmt Rache!

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Die Lebensgeschichte einer fünffachen Mörderin

Anna ist das Kind einer Hure. Schon in der Schule erfährt sie, wie es sich anfühlt, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.

Nach dem Tod der Mutter nimmt ihr perverser Erzeuger das achtjährige Kind auf. Ein wahres Martyrium beginnt ...

Der Hass auf das männliche Geschlecht wächst ins Unermessliche. Dann kommt der Tag - und Anna nimmt Rache!

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Anna

Barbara

Anna

Barbaras Tod

3. November 1980

Mordkommission Köln

Anna

Kripo Köln

Hückeswagen

Präsidium Köln

Anna

Bei der Kripo

Präsidium Köln

Anna

Polizeipräsidium Köln

Anna

Kripo Köln

Präsidium Köln

Anna

1985

Kommissariat Köln

Sommer 1990

Kommissariat Köln

Im Polizeipräsidium

Hückeswagen, Anfang 2018

Herbst 2018

Vorwort

Vor ein paar Jahren sah ich einen Dokumentationsfilm über Kinder von Huren. Zu sehen, wie sie ohne Alternative in so einem Milieu aufwachsen müssen, hat mich sehr berührt.

In dem Film begleitete ein Reporter die Kinder einige Jahre ihres Lebens. Er stellte fest, dass die Chancen nicht sehr groß sind, später ein »normales« Leben zu führen.

Der Film ging mir nicht mehr aus dem Kopf, und so entstand die Idee, ein Buch darüber zu schreiben. Ich begann zu recherchieren. Polizeiberichte habe ich gelesen und in die Akten von Mörderinnen geschaut. Über ein Jahr hat es gedauert, bis ich genügend Daten und Fakten gesammelt hatte, um endlich anzufangen.

Was liegt näher, als die Morde in meiner Heimatstadt passieren zu lassen?

Mein erster Dank gilt meiner Lektorin Sabine Dreyer, die sich auf Krimis spezialisiert hat. Dank an Peter, den ich als Kriminalkommissar fragen durfte. Dank an Michael, der mit seiner Kritik den Inhalt positiv beeinflusst hat. Iris und ihre Mutter, die mir wertvolle Tipps gegeben haben. Anne, die sich beim Lesen gegruselt hat, und meinen Dank an Erika, die mir als Buch-Fachfrau zur Seite gestanden hat.

Anna

Es kommt auf mich zu ... schwarz ... Es ballt sich über mir zusammen... wird immer größer, dehnt sich aus und ...es nimmt Gestalt an. Mein Herz rast, jede Pore an meinem Körper presst den Schweiß heraus. Vor seelischer Pein liege ich zusammengekrümmt wie ein Embryo in meinem Bett. Ich versuche, die Gestalt zu erkennen, und schaue auf muskulöse, gespreizte Beine über mir und ... und dazwischen ...

Anna riss die Augen auf. Ihr Herz vollführte einen wahren Trommelwirbel. Das Blut raste durch ihre Adern, ihr Schädel dröhnte. Panisch irrte ihr Blick umher. Sie konnte sich erst wieder beruhigen, als sie durch den beginnenden Morgen die Umrisse der Möbel in ihrem Schlafzimmer erkannte.

»Diese verfluchten Albträume!«, ächzte sie.

Mit zitternden Händen tastete Anna nach ihrer Brille, die auf dem Nachttisch lag. Nur mit Mühe schaffte sie es, sie sich auf die Nase zu setzen. Stöhnend quälte sie sich hoch, blieb auf der Bettkante sitzen und suchte mit den Füßen nach ihren Pantoffeln. Dann schlurfte sie zum Fenster, um die Vorhänge aufzuziehen. Der Schmerz und das Unvermögen, sich normal zu bewegen, machten ihr zu schaffen.

Das Gelächter der Schulkinder drang zu ihr herauf. Anna schaute aus dem Fenster und lauschte. Irgendwo kläffte ein Hund. Müde strich sie sich die Haare aus dem Gesicht und sah einen Augenblick auf die Straße.

Angenehm berührt nahm sie das Bild in sich auf, wie die Morgensonne einen dunstigen Lichtschimmer auf den Asphalt zauberte. Dann schaute sie den Kindern zu, die fröhlich lärmend zur Schule gingen. Doch plötzlich gab sich Anna einen Ruck. Sie dachte ärgerlich: Die Romantik kann mir gestohlen bleiben. Die lachenden Kinder und das bezaubernde Bild auf der Straße machten sie zornig. Wütend schlug sie das Fenster zu, um das normale Leben auszusperren. Doch tief in ihrem Inneren fühlte sie sich wie ein Verlierer.

Erschöpft humpelte Anna zu ihrem Sessel in die Wohnküche und plumpste hinein. Der Albtraum fiel ihr wieder ein. »Mein Gott«, murmelte sie vor sich hin. »Immer wieder dieselben elenden Träume. Wann wird das mal ein Ende haben?«

Nachdenklich betrachtete sie ihr Jugendbild, das vor ihr an der Wand hing. Es zeigte eine lachende junge Frau, die sehr schön war. Lange, dunkle Locken kringelten sich um ein schmales Gesicht mit einem sinnlichen Mund. Die Erinnerung an die Zeit, in der das Bild aufgenommen worden war, konnte Anna kaum ertragen. Sie hatte dann jedes Mal den Wunsch, es von der Wand zu reißen, doch irgendwie brachte sie es nie fertig. Es war eine kurze, sehr schöne Zeit gewesen - eine Zeit des Glücklichseins. Sie war verliebt, konnte es jetzt nicht mehr glauben. Dann dachte sie an ihr Spiegelbild, das ihr jeden Morgen entgegenstarrte. Es war ein Gesicht, in dem ihre Krankheit geschrieben stand. Eine schlimme Form der Gicht mit großen Schmerzen hatte ihr Aussehen geprägt. Die einst sinnlichen Lippen waren an den Mundwinkeln zynisch herabgezogen wie bei einer sehr alten Frau. Auch ihre Stimme war mittlerweile keifend und schrill, obwohl sie einmal voll und melodisch geklungen hatte. Schon früh, mit Anfang zwanzig, hatte sich die Gicht langsam in ihrem schlanken Körper breitgemacht. Und heute zwang sie die Krankheit, trotz Tabletten, krumm zu gehen. Aber das war noch nicht alles. Ihre Mutter hatte ihr auch noch ein schwaches Herz vererbt.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, wie spät es war. Schon kurz vor acht, gleich muss Frau Gerber kommen.

Der Schlüssel knirschte im Schloss der Korridortür. Wie jeden Morgen trat Hannelore Gerber, Annas Hilfe und Betreuerin vom Roten Kreuz, mit einem mulmigen Gefühl im Bauch über die Türschwelle in die kleine Wohnung ein. Die pummelige Frau war vom Treppensteigen außer Atem. Keuchend stellte sie ihre Tasche in die Diele und angelte ein Taschentuch aus dem Mantel, um sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Als Hannelore Gerber ihren Mantel auszog, zitterten ihre Hände. Während sie ihn an den einzigen Haken hängte, der in dem winzigen Flur als Garderobe diente, dachte sie: Bin gespannt, wie sie heute wieder drauf ist. Doch wie jeden Tag zwang sie sich zu einem freundlichen Gruß.

»Einen schönen guten Morgen, Frau Hellkamp«, klang es unterwürfig.

Und wie jeden Morgen kam prompt die erwartete Antwort: »Was kann an dem Morgen nur schön sein!«

Hm, war klar, dass sie wieder schlecht gelaunt ist. Was sollte sich auch bei der griesgrämigen Alten über Nacht verändert haben?, stellte Hannelore Gerber fest. Wenn sie endlich beherzigen würde, was der Arzt sagt, würde es ihr besser gehen. Aber nein, nur weil der Arzt ein Mann ist, stellt sie sich an, als ob er ihr ans Leben wollte. Sie dreht bald durch, wenn er seine Besuche macht. Sie will unbedingt eine Ärztin, die verstockte Alte. Ich möchte nur wissen, was sie damit bezwecken will!

»Ich habe noch ein bisschen Käse mitgebracht, Frau Hellkamp. Er war im Angebot. Es ist Ihnen doch recht?«, rief sie Anna zu, ohne eine Antwort zu erwarten. Hannelore eilte in die Küchenecke, um das Frühstück zuzubereiten. Währenddessen humpelte Anna vor sich hin brummend ins Badezimmer. Während sie sich für den Tag fertigmachte, grübelte sie, dass sie sich selbst auch eine schönere Arbeit vorstellen könnte, als einer kranken, griesgrämigen Frau das Essen zu machen und diese Wohnung zu putzen.

Die Gerber sieht immer scheu und bedrückt aus. Ich kann ihr ansehen, wie ungern sie zu mir kommt. In meine spartanisch eingerichtete Wohnung. Gut, dass sie nicht weiß, wie viel Geld auf meinem Konto liegt - ob sie dann immer noch für diesen Hungerlohn bei mir arbeiten würde?

Während Hannelore später herumwerkelte und aufräumte, hockte sich Anna auf ihren Stuhl an den Küchentisch. Lustlos kaute sie auf ihrer Frühstücksschnitte mit Käse herum und schlürfte dabei ihren dünnen Tee. Als ob es nichts Spannenderes geben würde, beobachtete sie ihre Haushaltshilfe mit Argusaugen, ob die ihre Arbeit ordentlich verrichtete, und vor allen Dingen, wie schnell.

Annas Zugehfrau merkte, dass sie beobachtet wurde. Sie spürte die Blicke wie Nadelstiche in ihrem Nacken und fühlte sich weiß Gott nicht wohl in ihrer Haut. Am liebsten hätte sie den Putzlappen vor Annas Füße geworfen und wäre nach Hause gegangen. Aber was sollte sie machen? Sie war auf den Job angewiesen. Nachdem sie ihr Mann verlassen hatte, reichte das Geld nicht, um ein bisschen Lebensqualität zu genießen. Also ertrug sie jeden Tag die unzufriedene, keifende Frau. Rasch und gründlich verrichtete sie ihre Pflichten und verließ dann hastig die Wohnung.

Wie immer verbrachte Anna den ganzen Tag in ihrem Sessel. Wenn Hannelore Gerber später wiederkam, merkte sie erst, dass der Tag vergangen war.

Der Abend breitete langsam seine Dunkelheit in der Stube aus. Gespenstisch winkten die kahlen, dünnen Äste der Linde zum Fenster hinein. Der Herbst würde, unbemerkt von Anna, langsam in den Winter übergehen.

Als Hannelore Gerber nach dem Abendbrot schon lange fort war, wurde es für Anna Zeit, ins Bett zu gehen. Während sie sich auszog, liefen ihr die Gedanken davon. In der letzten Zeit habe ich Angst davor, zu schlafen, überlegte sie mit einem unguten Gefühl. Angst vor diesen verdammten Träumen, die mir früher schon den Verstand geraubt haben! Wenn sie kamen und mich quälten, konnte ich sie nur zum Schweigen bringen, wenn ich ES getan habe. Nur dann war ich eine Zeit lang von ihnen befreit.

Seufzend ließ sie sich in den Sessel plumpsen. Damals klopften die Träume in der Nacht an. Sie kamen immer wieder. Als dann endlich ihre Rache gestillt war, glaubte sie, für alle Zeiten Ruhe zu haben ...

»Doch plötzlich schleichen sie sich wieder in meinen Kopf!«, jammerte sie laut. Die grausame Erinnerung, die sie heraufbeschworen hatte, ballte sich in ihr zusammen. Ohne dass sie es wollte, lief alles, wie in einem Film ab. Bilder ihrer schrecklichen Vergangenheit tauchten hinter ihrer Stirn auf und klammerten sich an ihr fest. Vor Erschöpfung schlief Anna irgendwann in ihrem Sessel ein.

Lüsterne Augen starren mich an. Aus einem grinsend verzerrten Mund tropft geifernder Speichel. Als ich ihn auf meiner nackten Haut spüre, fange ich an zu zittern. Jedes Knöchelchen in meinem Körper führt ein Eigenleben. Das Gesicht kommt näher. Ein stinkender Atem streift meine Haut. Ein entsetztes Stöhnen ringt sich aus meinem Mund. Je näher ES kommt, umso heftiger beginnen meine Knochen zu zittern. Riesige, behaarte Arme und Hände greifen nach mir... es kämpft sich ein Schrei aus meiner Kehle ... grell... anklagend! Mein Körper ist schweißnass... und zwischen meinen schmerzenden Beinen sehe ich... Blut!

Die Kälte weckte Anna auf. Noch ganz benommen humpelte sie in ihr Schlafzimmer und kroch ins Bett, unter die wärmende Decke.

Die Schwärze der Nacht leckt lüstern in alle Ecken und kommt näher. Eiseskälte umhüllt meinen Körper. Da! Wieder diese behaarten Arme mit den großen Händen. Sie greifen nach mir. Rückwärts krieche ich bis an die Wand. Dann haben mich die Hände erreicht. Grob reißen sie an meinem Körper herum. Wulstige Lippen verzerren einen Mund, aus dem schwarze Zahnstummel hervorschauen.

Anna wachte auf. Die Angst, die sie im Albtraum gespürt hatte, war noch gegenwärtig. Wirre Gedanken, wie im Strudel der Zeit, trieben ihren Geist hin und her. Alter, vergessener Hass brodelte hoch, entstanden aus seelischen und körperlichen Schmerzen, die man ihr als Kind zugefügt hatte. Der Hass bahnte sich einen Weg zu ihrem Verstand.

Als sie glaubte, alles wieder einigermaßen im Griff zu haben, war sie aus den Klauen der Vergangenheit noch lange nicht erlöst! Jetzt raubte ihr die Erinnerung den Atem. Jahrelang hatte sie Ruhe vor diesen Träumen gehabt. Mit zunehmendem Alter quälten sie sie nun wieder die Erinnerungen.

Wie ein Häufchen Elend lag sie in ihrem Bett. Während sie sich krampfhaft an der Bettdecke festhielt, fuhren ihre Gedanken Achterbahn und rasten in ihrem Kopf herum. Sie brauchte eine Weile, um sich zu sammeln. Die Schmerzen brachten sie wieder in die Gegenwart. Als sie sich aus dem Bett quälen wollte, um die Tabletten zu nehmen, schaffte sie es nicht, aufzustehen. Sie blieb kraftlos und völlig fertig liegen, hielt ihren Kopf mit den Händen fest und wiegte ihn hin und her.

Anna dachte an den Schuldigen ihres verpfuschten Lebens, an ihren perversen Erzeuger, der sie seinen alternden Stammtisch-Kumpeln zur Verfügung gestellt hatte. Damals glaubte sie, wenn sie sich rächen würde, dass dann die Albträume aufhören würden. Jedem Einzelnen von ihnen wollte sie es heimzahlen. Ihre Rechnung ging dann eine Zeit lang auf. Jedoch begann irgendwann die Qual wieder von vorne. Ihre kranke Seele litt Höllenqualen.

Dann schaffte es Anna doch noch, sich in ihre Küchenecke zu schleppen, um endlich die Tabletten zu schlucken. Als sie wieder im Bett lag, schlummerte sie ein.

»Frau Hellkamp? Hallo Frau Hellkamp. Ja wollen Sie heute denn gar nicht aufstehen? Das Frühstück ist schon lange fertig, Ihr Tee wird kalt!«

Hannelore Gerber tippelte ratlos hin und her. Sie wusste nicht so recht, was sie machen sollte.

Aber egal, wie ich mich verhalte, ich kriege von ihr sowieso wieder einen auf den Deckel, dachte sie. Doch wenn sie ehrlich war, hatte sie Anna in dem Zustand noch nie vorgefunden.

»Frau Hellkamp. Frau Hellkamp. Ich muss jetzt gehen. Es ist schon spät ... habe einen Arzttermin«, stotterte sie unsicher. »Aber dafür komme ich heute Abend etwas früher. Also Frau Hellkamp, dann bis später!« Hannelore nahm ihren Mantel vom Haken und schloss aufatmend die Korridortür hinter sich zu. Mit einem schlechten Gewissen ging sie die Treppe hinunter.

Was ist, wenn sie jetzt stirbt?, dachte sie. Werde ich dann bestraft wegen unterlassener Hilfeleistung? Ach, ich glaube nicht. Es weiß keiner, dass ich die Hellkamp in so einem seltsamen Zustand verlassen habe. Unten zog sie die Haustür schnell hinter sich zu und lief mit raschen Schritten davon.

Stinkender Atem weht mir ins Gesicht. Meckerndes Lachen lässt vor Angst mein Blut in den Adern gefrieren. Vor lauter Geilheit tropft Speichel aus dem geöffneten, stinkenden Maul. Übelkeit bis zum Erbrechen drückt mir den Hals zu. Riesengroß drängt sich etwas zwischen meine Beine. Oh, diese Schmerzen! Oh, mein Gott - Blut - überall Blut!

Dieses Mal wachte Anna durch ihren eigenen Schrei auf. Sie schlang die Arme um ihren Körper, als ob sie jetzt Trost brauchte, doch den konnte sie sich nur selber geben. Vielleicht dachte sie zu viel über ihr verpfuschtes Leben nach, grübelte sie. Über die lieblose Kindheit, als ungewolltes Kind.

Der Schmerz und der Durst trieben Anna aus dem Bett. Sie stöhnte laut auf. Zurück ins Bett wollte sie nicht mehr. Sie hatte Angst, weiterzuträumen. Seufzend humpelte sie nur zu ihrem Sessel, denn bis zur Küchenecke schaffte sie es nicht. Das Grübeln zehrte an ihrer Kraft.

Punkt 17:30 Uhr drehte sich der Schlüssel in der Korridortür. Frau Gerber kam mit einem leisen »Guten Abend« herein. Sie war, wie sie versprochen hatte, eine halbe Stunde früher da.

»Frau Hellkamp! Geht es Ihnen nicht gut? Sind Sie krank? Das Frühstück steht noch unberührt auf dem Tisch, und das Mittagessen ist auch noch im Kühlschrank.«

Anna gab keine Antwort. Sie starrte Hannelore Gerber böse und mit zusammen gekniffenen Augen an. Ihre Putzhilfe schüttelte den Kopf, dann eilte sie schnell an den Kühlschrank, stellte das Mittagessen für den nächsten Tag hinein und bereite das Abendbrot vor.

Jetzt ist schon Abend, und die Hellkamp hat noch nichts gegessen! Ich fasse es nicht. Sie wird immer verrückter. Die kann nicht mehr alleine leben! Sie sollte in ein Heim gehen. Aber auf mich hört sie nicht. Hm, geht mich ja auch nix an.

Anna brauchte eine Weile, bis sie aufstehen konnte, um an den Tisch zu kommen. Hannelore war ratlos. Sie wusste nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Es erschreckte sie einerseits, Anna so teilnahmslos vorzufinden. Doch dann ärgerte sie sich über ihre Sturheit. Leise murmelte sie: »Altersstarrsinn!« Trotzdem muss ich ihr noch mal ins Gewissen reden, bevor ich das Sozialamt informiere, dachte sie. Ich hab Angst, dass das Amt mir die Schuld gibt, wenn etwas passiert und ich nichts unternommen habe.

Aus der sicheren Entfernung der Küchenecke sagte sie: »Frau Hellkamp, wäre es nicht besser, in ein Heim zu gehen? Es ist für Sie viel zu gefährlich geworden, alleine zu wohnen.« Eigentlich war klar, dass Hannelore bei der Äußerung ins Fettnäpfchen getreten hatte.

Eine unbeschreibliche Wut überschwemmte Annas Körper. »Ach was!«, schrie sie. Ihr Kopf schien gleich zu platzen, so rot wurde er. »Ich bin gerade mal dreiundsechzig Jahre und noch lange nicht verrückt! Und ich kann noch sehr gut alleine leben, basta!«

»Na ja, ich meine es ja nur gut mit Ihnen, Frau Hellkamp. Sie sind einfach zu viel alleine, und durch Ihre Schmerzen können Sie sich nicht mehr versorgen. Im Heim hätten Sie mehr Fürsorge, und es wäre immer jemand für Sie da. Vor allen Dingen> wenn es Ihnen schlecht geht«, versuchte sie es noch mal. Dann dachte sie: Soll sie machen, was sie will, und mir den Buckel runterrutschen!

Nicht nur Anna war sauer, dass ihre Haushaltshilfe sie ins Heim stecken wollte, sondern auch Hannelore Gerber über Annas Benehmen! »Warum mischen Sie sich in mein Leben ein, Frau Gerber? Wenn es Ihnen nicht passt, bei mir zu arbeiten, suchen Sie sich eine andere Stelle!«, rief Anna aufgebracht.

Beleidigt bearbeitete Hannelore Annas Butterbrot, als ob es die alleinige Schuld hätte. »Olle Zicke!«, zischte sie leise zwischen den Zähnen hervor. Als sie später den Abendbrottisch abgeräumt hatte, machte sie noch die Küchenecke sauber und ging dann nach Hause.

Ganz in Gedanken stand Anna am Fenster und starrte hinaus auf die dunkle, nur von einer Laterne beleuchtete Bahnhofstraße. Wahre Wasserfontänen trieb der Wind vor sich her, und prasselnd klopfte der Regen an die Fensterscheiben. Die dunklen Wolken, die der Vollmond anstrahlte, jagten vorbei. So trostlos, wie das Wetter war, so trostlos sah es in Anna aus.

Ein kalter Luftzug, der durch das undichte Fenster hereinströmte, ließ sie erschaudern. Fröstelnd zog sie sich das Wolltuch enger um ihre Schultern, während sie weiter in den Regen starrte. Mit einem tiefen Seufzer schlurfte sie dann auf ihren Sessel zu und setzte sich hinein. Ihre Gedanken weilten wieder in der Vergangenheit.

»Ach Flori«, flüsterte sie. Ihr Magen verkrampfte sich, als sie an ihre große Liebe dachte. Die einzige kurze Zeit des Glücks. Und während ihr Florian immer noch durch den Kopf geisterte, bemerkte sie nebenbei, dass Hannelore Gerber die Ketchup-Flasche auf dem Schrank stehen gelassen hatte. So etwas konnte Anna überhaupt nicht leiden. »Schlamperei!«, murmelte sie und stand ächzend wieder auf. Mit einem ärgerlich verkniffenen Gesicht humpelte sie zum Kühlschrank, um die Flasche hineinzustellen. Plötzlich jagte ihr ein Schmerz durch die Hand - sie konnte die Flasche nicht mehr halten. Mit einem Knall zerbrach sie, als sie auf dem Fußboden aufkam, und dann verteilte sich der Inhalt vor Annas Füßen. Eine rote Pfütze breitete sich vor ihr aus. Wie gelähmt blieb sie stehen und starrte auf den Küchenboden. Dann kam Leben in ihre Beine. Rückwärts stolpernd flüchtete sie vor der roten Soße, ohne sie aus den Augen zu lassen.

»Blut! Überall Blut«, stieß sie mit gurgelnden Lauten hervor. Verwirrt sah sich Anna um. Die schönen Gedanken an die vergangene Liebe waren verschwunden. In Panik schaute sie auf ihre Hände.

»Wo ist das Messer ... das Messer?«, stammelte sie.

Die Erinnerung traf sie wie eine Keule. Sie ließ sich auf die Knie fallen. Ohne ihre Schmerzen zu spüren, kroch sie durch den Raum. Anna robbte durch den Ketchup. Sie stöhnte und jammerte. Mit hoher, piepsender Stimme flüstert sie: »Überall Blut!« Dann sank sie in sich zusammen und schloss die Augen. Ihr krankes Herz hämmerte in ihrer Brust, sodass sie kaum Luft bekam. Anna wollte nichts hören und sehen. Schmerz, Not, Angst und Pein überschwemmten ihren Körper.

Stunden später: Durchgefroren und verwirrt bemerkte Anna, dass sie immer noch auf dem Fußboden saß. Mit ihren ketchupbeschmierten Händen hatte sie die rote Soße über das Gesicht bis in die Haare verteilt. Zitternd vor Kälte versuchte sie aufzustehen. Fast hätte sie es geschafft, doch dann rutschte sie aus und fand sich auf dem Fußboden wieder. Sie schaute um sich herum. Ihre Lippen formten das Wort, Blut...

7:00 Uhr. Das Aufschließen der Korridortür holte Anna in die Gegenwart zurück. Wie aufgewacht blickte sie sich in ihrer Küche um. Sie hatte tatsächlich die ganze Nacht auf dem Fußboden zugebracht und mit ihren Gedanken in ihrer schrecklichen Vergangenheit gelebt.

Mein Gott, die Gerber hat mir doch gerade erst das Abendessen gemacht. Was will die denn schon wieder?, dachte Anna.

Hannelore kam immer erst um 8 Uhr. Doch heute war sie schon eine Stunde früher da. Sie wollte die Wohnung putzen, um Anna anschließend ihre Urlaubsvertretung vorzustellen. Ordentlich hängte sie ihren Mantel an den Garderobenhaken. Was sie wohl heute wieder zu meckern hat, ging Hannelore durch den Kopf. Sie klopfte an die Wohnungstür und trat ein. Als sie Anna verwirrt, mit verzweifeltem Gesichtsausdruck und von oben bis unten mit roter Soße bekleckert auf dem Boden sitzen sah, fuhr ihr der Schreck in die Glieder.

»Frau Hellkamp! O Gott, Frau Hellkamp!«, rief sie laut und aufgeregt.

Anna zuckte erschrocken zusammen. Wütend schoss ihr das Blut in den Kopf, und sogleich polterte sie los: »Was fällt Ihnen ein, mich so anzuschreien!«

Hannelore Gerber stürzte auf sie zu und stammelte: »Haben Sie sich verletzt, Frau Hellkamp? Soll ich einen Arzt holen? Sie bluten ja!«

Anna schaute verblüfft auf ihre Hände und dann zu der Küchenzeile, vor der die zerbrochene Ketchupflasche auf dem Boden lag.

»Ja sehen Sie denn nicht, dass es der verdammte Ketchup ist, den ich an den Händen habe! Sie haben vergessen, die Flasche in den Schrank zu stellen«, schnauzte sie herum. »Und jetzt gaffen Sie nicht so und helfen mir endlich auf die Beine!«

Anna konnte Hannelore Gerber ansehen, dass sie sich über ihre Reaktion ärgerte. Bestimmt hatte sie ein bisschen Dankbarkeit erwartet, da sie sich schließlich um sie gesorgt hatte. Die Haushaltshilfe zerrte nun an ihr herum, um sie wieder auf ihre Beine zu stellen. Doch so einfach war es nicht, denn ihr kalter Körper und das lange auf dem Boden sitzen ließen sie schwer wie Blei erscheinen. Sie kam kaum hoch.

Nachdem Anna eine Weile in ihrem Sessel ausgeruht hatte, rappelte sie sich hoch und schlurfte ächzend ins Badezimmer, um sich zu waschen.

Hannelore Gerber kam schon eine Zeit lang zu Anna, um ihr bei den täglichen Kleinigkeiten zu helfen, die sie alleine nicht mehr bewältigen konnte. Anna war ihr schon immer als schwieriger Mensch vorgekommen. Doch dass sie plötzlich geistig und körperlich so sehr nachließ, erschreckte sie. An dem Unglück mit der Ketchupflasche gab sie sich die Schuld. Glaubte sie doch, dass es der Ketchup war, auf dem Anna ausgerutscht war. Sie wusste nichts von Annas Vergangenheit. Wie es in ihr aussah, wusste sie schon gar nicht. Zitternd beseitigte sie die Scherben und putzte schweigend die rote Soße auf.

Mittlerweile saß Anna in ihrem Sessel und überwachte Hannelore Gerber. Dass die Hände ihrer Haushaltshilfe zitterten, bereitete ihr Genugtuung.

Hannelore nahm sich ein Herz und sagte stotternd: »Ich möchte ... also, wie soll ich sagen ... Ja, ich möchte Ihnen gleich noch meine Urlaubsvertretung vorstellen, Frau Hellkamp. Den Herrn Wacke ...«

Es entstand eine unangenehme Pause. Anna starrte Hannelore an. Unter diesem Blick duckte sie sich wohl ahnend, dass ihre kranke Arbeitgeberin gleich die Kontrolle über sich verlieren würde. Doch das wäre noch gelinde gewesen, denn Anna explodierte förmlich.

»Waaas?! Ein Mann soll meine Wohnung betreten? Das ist nicht Ihr Ernst, Frau Gerber? Passen Sie gut auf. Der ist schneller wieder draußen, als er reingekommen ist. In meiner Wohnung dulde ich keinen Kerl, merken Sie sich das!« Dann musste sie erst Luft holen, um überhaupt weitersprechen zu können. Ihr Gesicht war feuerrot, dann flippte sie förmlich aus.

Annas Haushaltshilfe bekam es mit der Angst zu tun. Sie rechnete jeden Augenblick damit, dass ihre Arbeitgeberin der Schlag treffen würde.

»Bitte Frau Hellkamp, beruhigen Sie sich doch«, jammerte sie. »Es geschieht doch nichts, was Sie nicht wollen. Aber ich dachte ... « Doch Anna ließ sie nicht ausreden.

»Mein letztes Wort. Keinen Kerl! Sehen Sie zu, wen Sie anheuern können, aber keinen Mann, basta!«

Wutentbrannt wollte Hannelore Gerber so schnell wie möglich aus der Wohnung. Während sie ihren Mantel vom Haken riss, schaute sie sich noch einmal um und sah gerade noch, wie Anna in sich zusammensackte und auf dem Fußboden aufschlug. Ihre Wut war verraucht. Schnell ging sie zum Telefon und wählte den Notruf.

Barbara

Das Schicksal hatte es mit Babara Hellkamp nicht gut gemeint. Wahrscheinlich war es ihre Erzeugerin, die sie am frühen Morgen des 31.01.1936 in Wuppertal im Hausflur eines Kinderheims abgelegte. Nur ein einsamer Zettel mit dem Namen Hellkamp, der mit Buchstaben aus einer Zeitung zusammengesetzt war, lag auf ihrem nackten Bauch. Man hatte versucht, aufgrund des Namens ihre Identität festzustellen. Sämtliche Recherchen gingen ins Leere.

In diesem Heim aufzuwachsen war kein Zuckerschlecken für Barbara. Schläge und Essensentzug waren dort an der Tagesordnung. Dazu kam noch, dass sie von ihren Leidensgenossinnen ausgegrenzt wurde. Es war von den Mädchen pure Eifersucht, denn Barbara war ein stilles, schönes Kind.

Der 31. Januar 1954 war ein kalter, aber sonniger Tag. Barbara hätte bald vergessen, dass sie an diesem Tag achtzehn Jahre alt wurde! Alleine mit sich und der Welt gönnte sie sich eine Tasse Kaffee in dem Stehrestaurant, wo sie hin und wieder arbeitete. Während sie das heiße Getränk schlürfte, grübelte sie über ihre Zukunft nach. Sie hätte lieber etwas Richtiges gelernt, anstatt nur zu jobben. Viel Hilfe, wie sie es anstellen sollte, an eine Lehrstelle zu kommen, hatte sie vom Heim aus nicht. Plötzlich bemerkte sie, dass sie beobachtet wurde. Babara drehte sich um und sah geradewegs in die blauen Augen eines Mannes, der sie anstarrte, während er seinen Kaffee trank. Nun war es Barbara nicht neu, dass sie von den Männern bemerkt wurde, doch so ein gut aussehender, schon etwas älterer Mann erregte auch ihre Aufmerksamkeit. Sie musste immer wieder zu ihm hinsehen und wurde jedes Mal unsicherer, denn sie schätzte ihn mindestens 20 bis 26 Jahre älter, als sie selber war.

Weltgewand verstand es der Fremde, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Verschüchtert, unerfahren und glücklich zugleich ließ sie sich darauf ein und erzählte, dass sie Geburtstag hatte. Nachdem er ihr den Kaffee aufgrund des besonderen Tages spendiert hatte, flüsterte er ihr zu, dass er sie unbedingt wiedersehen müsse. Eingehüllt in Komplimente und schmeichelnde Worte stimmte sie einer Verabredung zu. Später dann, meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Und doch ging sie mit klopfendem Herzen zu der Verabredung.

Ungewohnt glücklich verbrachte Barbara ihre freie Zeit nur noch mit ihrem Verehrer, Friedhelm Lunkmeyer. So zuvorkommend und liebevoll war ihr noch kein Mensch begegnet. Vor allen Dingen seine Großzügigkeit fand sie gigantisch. 1954 saß das Geld noch nicht so locker, und aus dem Heim kannte sie so eine Großzügigkeit nicht. Geld schien bei ihm keine Rolle zu spielen. Friedhelm Lunkmeyer warb um sie mit einem Charme, dem sie nicht widerstehen konnte. Schon nach kurzer Zeit des Kennenlernens lud er sie in sein Haus nach Hückeswagen ein. Barbara war überwältigt. Sie sah sich schon als Frau Lunkmeyer mit eigenem Haus im Grünen. Glücklich dachte sie, dass nun alles besser werden würde. Und unerfahren, wie sie war, glaubte sie Lunkmeyer alle Versprechungen, die er ihr machte. Anfang Mai hatte Barbara Hellkamp nach kurzer Zeit frohen Herzens alle Brücken hinter sich abgebrochen und war zu ihrem Freund nach Hückeswagen gezogen. Es begann die glücklichste Zeit in ihrem Leben.

Barbara wohnte nun schon drei Monate in Hückeswagen am Buschweg, nahe am evangelischen Krankenhaus. Von so einem Leben hatte sie immer geträumt. Es machte sie auch nicht stutzig, dass Friedhelm Lunkmeyer über sie wachte und bestimmte, was sie zu tun und zu lassen hatte und dass sie das Haus nicht alleine verlassen durfte. Lunkmeyer war sechsundzwanzig Jahre älter und wirkte väterlich auf sie. Außerdem war sie es gewöhnt zu gehorchen.

Um Lunkmeyers Grundstück waren riesige, dichte Hecken gepflanzt. Direkte Nachbarn gab es nicht, und da er sowieso immer unnahbar nur für sich gelebt hatte, konnte keiner wissen, dass bei ihm eine Frau eingezogen war. Babara dachte, dass es sicher an seinem Job als Angestellter der Kreissparkasse in der Nachbarstadt Wipperfürth läge, dass sie keinen Kontakt zu anderen Menschen haben durfte. Sie überlegte nicht weiter, denn ihr ging es gut. Er kleidete sie jedes Mal ein, wenn er mit ihr in die Großstädte fuhr. Sich um irgendetwas zu sorgen brauchte sie nicht, das tat ihr Freund für sie. Lunkmeyer verwöhnte und verhätschelte Babara noch ungefähr vier Monate, bis ... ja, bis er ihr klarmachte, dass sie jetzt an der Reihe wäre, sich zu revanchieren. Wie das auszusehen hatte, machten ihr seine Stammtisch-Kumpel begreiflich. Für Babara brach eine Welt zusammen. Sie weigerte sich, den Männern ihre abartigen sexuellen Wünsche zu erfüllen. Sie weinte und flehte, appellierte an die große Liebe zu Lunkmeyer.

Eine Zeit lang ließen sich die alten Kerle hinhalten, und bevor sie Barbara dazu zwingen konnten, half ihr das Schicksal auf eine komische Art und Weise. Barbara war schwanger von Lunkmeyer! Aber wenn sie geglaubt hatte, dass das Leben im Heim unerträglich gewesen wäre, so lernte sie, dass es noch weitaus schlimmer kommen konnte.