Tage wie Türkis - Jennifer Hilgert - E-Book

Tage wie Türkis E-Book

Jennifer Hilgert

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Beschreibung

Tage wie Türkis schmecken nach Pfefferminze und Lakritz. Sie atmen Widerstand ein und Freundschaft aus. Ungeplant begegnet Amy ihrer Vergangenheit. Mit einem gewaltigen Gedankenguss bahnt sich allerhand Ballast aus achtzehn Jahren seinen Weg in ihre Gegenwart, ungeordnet und doch fein säuberlich dokumentiert in ihrem alten Tagebuch May. Seit sie die erste Seite aufgeschlagen hat, spinnen nicht enden wollende Fragen ein Netz aus Vergangenheit und Zukunft in ihren Gedanken. Was macht das Glück in den Momenten, in denen man es am allerwenigsten hat? Wie wird man überhaupt glücklich? Und wo sind sie hin, die Tage, wie Türkis? Ein innerer Kampf beginnt, in dem sie die Gelegenheit erhält, ihre Geschichte zu verarbeiten und ihre Zukunft zu verändern. Tage wie Türkis. Eine philosophische Novelle.

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EPUB

Seitenzahl: 140

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Turmalingrau

Jadegelb

Achatschwarz

Saphirviolett

Granatapfelrot

Malachitgrün

Lapislazulikönigsblau

Mondsteinweiss

Türkis

Almadinbraun

Türkis

Aquamarin

VORWORT

Üblicherweise bin ich Leserin und erfreue mich an guten Büchern. Wenn man nun wie ich eine schreibende Schwiegertochter hat, darf man bereits die Rohfassung eines Werkes lesen. Mir ist die Ehre zuteilgeworden, ein Vorwort zu schreiben.

Was hat die Novelle mit Türkis zu tun? Türkis ist die Farbe des Himmels, der nah und fern zugleich ist. Es ist die Farbe der Hoffnung.

Der Türkis ist ein wunderschöner Halbedelstein, ein Tonerde Phosphat, das in Knollen wächst. Die farbgebenden Substanzen sind Kupfer und Eisen. Die Indianer beispielsweise stellten Schmuck aus Türkis her, der es bis zu uns nach Europa geschafft hat. Bis heute ist Türkis verbreitet, sein Hauptvorkommen ist in Arizona, Nevada, China, dem Tibet und Mexiko. Bereits als Mädchen habe ich mich in Türkise verliebt und gerne ein Lederband mit einem Türkisdonat um den Hals getragen. Dabei habe ich fest in seine Heilkraft vertraut. Der Stein soll Tatkraft verleihen, Ängste und Unsicherheiten nehmen. Er gilt als Beschützer vor Unglück und ist demzufolge ein guter Stein für Reisende.

Ihm wird nachgesagt, negative, störende und schädliche Einflüsse vom Energiefeld seines Trägers fernzuhalten. Beobachtungen hinterlassen den Eindruck, als könne er diese Energien in sich absorbieren. Der Edelstein verausgabt sich für seinen Träger, das heißt, wenn es jemandem längere Zeit nicht gut geht, verfärbt sich der Türkis und weist dunkle Flecken auf. Ist das der Fall, darf er in Erde oder Meersalz gelegt werden, um sich zu erholen.

Birgit Mohr

TURMALINGRAU

16. Oktober 2014

Weißt du, May, es gibt Tage, die sind wie Zwiebeln. Man geht ihnen Schicht für Schicht auf den Grund und was übrig bleibt, ist zum Heulen. Solche Tage, einer wie der nächste und jede Minute eine Qual. Nix passiert, was sonderlich erwähnenswert wäre und wenn doch, ist da nicht das lächerlichste bisschen Gutes. Nach Pfefferminze und Lakritz schmecken wollen! Voller Zufriedenheit nur so triefend. Pah! Dass ich nicht kotze. Zum Kakadu mit den Tagen, die wie Türkis sein wollen! Und zum Höllenheilstein mit den Schweigeminuten, in denen man nicht einmal danach fragt, was es Neues gibt, weil man sich doch nichts zu erzählen hat. Es sind diese Momente, in denen man besser die Augen schließt und die Klappe hält. Nur ein bisschen tot sein! Für immer ganz kurz. Das hätte jetzt was. Bloß bis nächste Woche oder so. Hast du mal versucht, tot zu sein? Nur bis die Tage wieder bedeutender werden? Und wenn nicht, erweckst du mich zum Leben? Dieses scheiß Glück. Ich begegne ihm immer dann, wenn ich es am wenigsten bin. May, ich sag dir was, ich pfeif drauf. Aufs Glücklichsein. Offiziell. Heute erst recht. Weil es einer dieser Tage ist. Nix ist Türkis, nix „wird schon wieder“. Alles mehr in Richtung zum Kotzen. Ohne Einhörner und Konfetti, Pfefferminze und Lakritz.

Sonnenstrahlen drängeln sich zwischen den einzelnen Lamellen des Rollos ins Zimmer. Draußen ziehen Frauenstimmen am Schlafzimmerfenster vorbei. Amy kann nicht genau hören was sie sprechen, aber sie bemerkt die gute Laune, die in jedem Wort mitschwingt. Sie werden immer wieder von einem Gelächter unterbrochen, das an einen Hustenanfall nach einem im Hals steckengebliebenen Bonbon erinnert. Irgendwie ansteckend.

Doch Amy verleitet es nicht im Geringsten. Sie ist seit Stunden wach, brütet mal grübelnd über dem Durcheinander, das eher an einen gut sortierten Schreibwarenladen als an ein Bett erinnert und liegt dann wieder in Gedanken verloren auf ihrer Matratze. Sie denkt nicht einmal ans Aufstehen. Ausgeschlafen ist sie, das Lachen der Frauen hat sie nicht geweckt. Ihr Wecker soll das eigentlich in sieben Minuten für sie übernehmen. Bevor der jedoch die Chance dazu bekommt, rafft Amy sich hoch, schaltet ihn vorsorglich ab und drückt zum wiederholten Mal ihren Körper in das Bettpolster. Sie streckt die Arme von sich, als wollte sie einen Schneeengel imitieren. Dann versucht sie nach ihren Fußspitzen zu greifen, und verzieht das Gesicht. Mit einem gekonnten Wendemanöver kugelt sie sich auf den Bauch, drückt ihren Kopf ins Kissen und atmet fest in es hinein. Sie schließt ihre Augen. Lach doch, ermahnt sie sich ungnädig.

„Ich zelebriere das Wachwerden mit meinem ganzen Willen, so gemütlich wie möglich und so energisch wie nötig.“ Laut rezitiert Amy das Mantra, das ihr Dr. Lee mit auf den Weg gegeben hat. Jetzt wird es was! Amy zieht die Mundwinkel nach oben und presst ein Lächeln in den Kissenstoff. Früher hatte sie nicht mal im Traum die Fähigkeit zu einer Lilalaune am Morgen besessen. Sie gehörte zu den Menschen, die das Pech anzogen wie die Erde den Mond und umgekehrt. In ihrem alten Leben hatte sie die Nacht vermisst, noch bevor der Morgen begann. Ihre Angst vor dem Tag nahm mehr Raum ein, als die Scheu vor der Schwärze. Die Sorgen darüber, er könnte nichts Gutes bringen, betäubend. Ihr Kosmos beschränkte sich auf vier Quadratmeter Polstergarnitur. In der Dunkelheit ließ es sich wenigstens schlafen.

Amy versucht die schlechten Erinnerungen von sich abzuschütteln. Ich hasse es, dass sie sich immer wieder einschleichen müssen wie Schlangen in subtropische Ferienanlagen. Sie kämpft ihren Oberkörper von der Matratze und dreht ihn zum Nachttisch. Ihr Blick fällt auf das Getränk. Mit ihrer linken Hand zielt sie nach dem Glas. Es ist halb voll. Seit letzter Woche bereitet sie es sich regelmäßig vor. Nachdem das letzte Wasserglas geleert ist, richtet sie sich ein neues. Jeden Abend. Nach ihrer Kalenderkontrolle und vor dem Zähneputzen. Dieser Ablauf hilft ihr, den Tag mit ein paar Schlücken Flüssigkeit zu beginnen. Meinem Herzen das Gefühl geben, dass ich am Morgen schon an es denke, scherzt sie in Gedanken. Hört sich verdächtig nach Werbeslogan an. Wirkt mindestens so ergiebig, fühlt sich aber ehrlicher an. Zum Kakadu mit meinem Kopfweh! Durstkopfschmerz, adé. Dreißig Milliliter pro Kilo ist angesehener Maßstab. Errechne: Macht anderthalb Liter für mich. Dr. Lee hat ganze Arbeit geleistet. Hautbild, Energie, Verdauung, alles geschmeidig. Note to myself: abends noch mehr gefüllte Wassergläser in der Wohnung verteilen. Hab Durst. Trinken. Jetzt! Sie setzt das Glas an. Wie ein eisiger Bergquellbach stürzt das Wasser ihre Kehle hinunter. Glashart, wenn man sich darauf konzentriert, findet Amy und räuspert sich. Und dabei so verdammt belebend! Mit dem Handrücken wischt sie sich die perlnassen Reste von der Oberlippe und schwingt ihre Beine über die Bettkante. Dann bringt sie ihren Körper in die Position einer römischen Statue, das weiße Nachthemd mit Punktapplikationen zusammengeknautscht unter ihren Oberschenkeln eingeklemmt. Es ist ihr zwei Nummern zu groß. Im Stand baumelt es wie ein Mobile. Vor allem die Ärmel hängen wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Auf ihrer Schneewittchenhaut erinnert die Kombi eher an blaue Lippen im Winter. “Lilys Duft haftet nicht mehr am Hemd”, seufzt Amy. “Dafür kommt mein Kreislauf in Schwung. Wie eine Seilbahn, die sich in Bewegung setzt.” Dabei tut Amy nichts weiter als aufrecht auf ihrem Bett zu sitzen und sich auf ihren Atem zu konzentrieren. Indessen schlägt ihr Herz schneller. Es pumpt und pumpt und pumpt, als gäbe es einen Wettbewerb zu gewinnen. Amy malt sich den Zirkulationsweg genau aus. In ihrer Vorstellung transportiert ihr Herz bei jedem Schlag lebenskräftiges Rot in sämtliche Ecken ihres Körpers. Wie ein Tintenpunkt, den man auf ein Löschpapier gibt, stellt sie es sich vor. Es kribbelt in ihren Schläfen, in ihren Zehen - und Fingerspitzen, sie hat eine Gänsehaut im Nacken. Blut in Wallung. Ein Gefühl voller Lebendigkeit und Wahnsinn, dabei ein Moment voller Ruhe und Aufrichtigkeit. Mein Leben und ich im Erwachen. Weit und breit kein Schmerz. Kein Druck. Nichts ist unangenehm. Da sind bloß diese Kaltwarmschauer, die sich über meinen Rücken werfen. Krasser Kakadu! Amy streckt sich ausgiebig. Sogar meinem Rücken geht es gut. Nichts knackt oder spannt. Fühlt sich alles stabil an. Woher kommt eigentlich das Sprichwort‚ ‘Haltung bewahren’? Kann man Gemütsruhe lernen? Oder nur beibehalten, wenn man sie eh schon hat? Und ist ‘aus der Haut fahren’ das Gegenteil? Wo steht man eigentlich, wenn man neben sich steht? Bevor Amy diese Sachverhalte weiter verfolgen kann, löst sie sich aus der Entspannung. Sie runzelt die Stirn, die sich wie eine Walnuss in winzige Windungen legt. Dann hebt sie ihre buschigen Augenbrauen und fabriziert damit ein Amuse-Gueule von Anblick: Sie fletscht die Zähne wie ein getriebener Wolf, zwingt sich ein weiteres Lächeln aufs Gesicht und lässt alles kurz darauf wieder fallen, ähnlich eines Theatervorhangs, dessen Leinen zu einem falschen Zeitpunkt gezogen werden. Im Inneren ihres Gehörganges fühlt es sich an, als schotteten sie sich ab. Als hätte Amy selbst es in der Hand, ihre Ohren gegen die Außenwelt abzuriegeln. Ihre Nasenlöcher blähen sich auf. Kugelfischartig weiten sie sich bei der Gesichtsaerobic und finden kurz darauf in ihren Normalzustand zurück. Und nochmal! Ihre Halsadern treten hervor. Gesicht zu einer Maske anspannen und lösen. Raffen und lockern. Raffen und lockern. Amy wiederholt das ein paar Mal, bis sich ihre Gesichtsmuskeln wie ermattet anfühlen. Auch wenn sie fasziniert davon ist, wie genial doch alles miteinander verbunden ist, kommt sie sich ein wenig albern vor. Zu ihrer überraschenden Freude gesellt sich vor allem eine bettreife Abgespanntheit. Egal! Noch zwei Mal. In ihrem Stirnbereich fühlt es sich jetzt nach Mückenstich an. Ohne dass es juckt. In ihren Wangen pumpt es. Ein neuer Gedankenblitz, beginnt sie zu beschäftigen und schießt ihr ein erstklassiges Loch ins Hirn. Wie entsteht ein Gedanke? Ist es wie mit der Liebe auch, eine chemische Reaktion? – schickt man Gedanken, für die man bezahlt wird, auf den Strich? Und woher kommt die Bezeichnung Gedankenstrich? Wenn ich könnte, würde ich jetzt an nichts denken. Vakuum, Leere. Aber notorisch grüble ich, überlege hin und her und zermartere mir das Hirn, rätsele und hänge doch bloß der Einbildung hinterher, dass man nie nichts denken kann.

Es ist so weit. Amy klammert sich an ihre Gedanken und je mehr sie geistige Vorkehrungen trifft, genau dies nicht zu tun, desto klarer werden die Konturen ihrer Vergangenheit.

Während sie sich mit einer einwandfreien Rückenhaltung auf den Beschlag der Schlafzimmertür konzentriert, erwartet sie in irgendeiner Windung ihres Hirns eine Rückschau auf einen wichtigen Teil ihrer Geschichte. Sie lauert da, zwischen High School und Prüfungsfragen, gespeist aus ihrer Kenntnis über die fünf Lehrsätze Watzlawiks. Himmel! Was habe ich ihn gefeiert! Amys Wissen an den österreichisch-amerikanischen Familientherapeuten und Psychologen zeigt sich. Er war einer der einflussreichsten Personen am “Mental Research Institut” im kalifornischen Palo Alto, dort, wo er lebte und arbeitete. Nachdem Amy von seinem Axiom erfahren hatte, “One cannot not communicate”, hatte sie all seine Forschungen genauestens studiert und den ersten Lehrsatz schließlich für sich umformuliert: Man kann nicht nichts denken. Wenn ich gleich die Tür öffne, beginnt für mich der Kampf. Bloß einen Schritt in den Flur gesetzt und ZACK! Der Tag hat mich. Da! Schon wieder. Der nächste Angstgedanke. Jede Überlegung kommt wie Platzregen, gleichzeitig will sie genau diese unter keinen Umständen akzeptieren. Mehr noch. Ihr Gedankenkonstrukt, der Versuch es zu verhindern, weil sie nichts lieber als verkehrt liegen will, ist im vollen Gange. Bitte, mir gehts doch gut gerade, hier, auf dem Bett, sicher hinter verschlossener Tür, fleht sie innerlich. Alles ist gut! Solange wie möglich im Augenblick bleiben! Bleib! Bleib!

Nichts ist gut. Bitte nicht aufgeben. Entspannen! Alltagsstrudel aus Pflichten und Fremdbestimmung, er wird mich festnehmen. Viel. zu. schnell. Einfangen. Gefangen halten. Spätestens, wenn ich da rausgehe. Es ist kompliziert. Es ist scheißeschwer. Ich will es nicht mehr! Und ich werde nicht mehr. Details verdrehen sich und ihre Angst kehrt zurück. April. April. April. Ich brauche den April.

Nervös reibt Amy sich mit den Handflächen über die nackten Beine. Als würde sie in ein Abenteuer springen, schnappt sie ich nach ihrem Tagebuch und wirft sich zurück. Hektisch beginnt sie zu blättern. Sie sucht nach einem Eintrag, nach einem prägnanten Eintrag aus dem April 1999.

JADEGELB

Amys Blick hängt gewitterwolkenschwer auf dem Papier, klebt an den Sätzen. Ihr Mund ist geöffnet. Wildfremd fühlt sich ihre Kehle an. Sie kommt aus dem Staunen nicht mehr raus. Die Beine hat sie zu einem Schneidersitz gefaltet. Da sitzt sie nun seit fünf Minuten, starrt ihre Schrift an, die langsam vor ihren Augen verschwimmt und die sie kaum wieder erkennt. Sie befindet sich in diesem seltsamen “once upon a time” Zustand. Sie weiß, sie hat sich genau dorthin selbst katapultiert. Ihre Erinnerungen hängen wie ein Nieselregen im Oktober vor drei Jahren. Ihr Geist ist fassungslos und fühlt sich trotzdem lebendig an. Amy wartet auf etwas, das nicht eintreten wird. Das Zurück. Doch das gab es jetzt nicht mehr. Schweißgebadet ist sie vor einer viertel Stunde aus einem Albtraum erwacht. Er hatte ihr keine andere Möglichkeit gelassen, als nach ihr zu suchen. Jeder Entzug entpuppte sich als gescheitert. Die trennscharfe Linie zwischen ihrem selbstauferlegten Verbot und dem, was jetzt einfach geschah, verwischte wie ein Fußabdruck im Sand. Weitere Minuten versiegen bis Amy ihren Mund wieder schließen und einen wachen Gedanken fassen kann. Bis dahin sitzt sie wie gelähmt inmitten vollgeschriebener Notizbücher, als übernähme sie eine Totenwache. Sämtliche Hefte mit festem Einband, alle sind sie bis auf die letzte Seite bewaffnet mit Erinnerungen. Zeitzeugen ihrer Vergangenheit. Auch lose Blätter tummeln sich dazwischen. Behutsam fährt sie mit dem Zeigefinger über die mit Schreibmaschine getippten Bögen, den Geruch der Tintenspule ihrer türkisen Smith Corona noch in der Nase. Ob sich Blindenschrift so ähnlich anfühlt, staunt sie, während sie die gestanzten Buchstaben befingert. Im Geiste vergleicht sie die Menge der knöchelhohen Stapel an Heften und Blöcken – penibel etikettiert – mit den Files auf ihrem Mac. Im Geist klickt sie sich durch ihre Dateien. Was für eine Entwicklung. Und zwischen all den Dokumenten, fast vintage, hat sie May gefunden. Ihr altes Tagebuch. Es ist die May aus ihrem Traum und es ist vor allem die May aus ihrer Realität. Die May ihrer Vergangenheit. Wird sie auch die May ihrer Zukunft werden?

„16. Oktober 2014“, haucht sie in den Raum und klappt das Tagebuch zu, als wollte sie etwas verheimlichen. Mit einem Ausdruck, als hätte sie eben etwas Unanständiges getan, betrachtet sie das längst vergessen geglaubte Buch, das Schatz und Fluch zugleich ist. Irgendwie ist sie froh, ihre dicke, alte May in den Händen zu halten. Andererseits kann sie es selbst kaum glauben, dass sie genau davor, vor diesem Jetztmoment, eine halbe Ewigkeit Angst gehegt hat. Ein warmes Gefühl breitet sich in ihrem Gesicht aus. Ihre Wangen erröten. Ihr Kopf fühlt sich heiß an, ihr Puls steigt. Mit der Hand fasst sie sich ans linke Ohr. Gütiger Kakadu! Ihr Herz schlägt ihr gleichmäßig bis zum Hals. Die Panik davor, weiter zu lesen, und gleichzeitig mit einem Schwall Altlast konfrontieret zu werden, setzt ihr zu. Trotzdem ist sie großartig überrascht. Von ihrer Disziplin, eine solche Menge handgeschriebener Erinnerungen jemals auf Papier gebracht zu haben.

Verewigt. Meine fein säuberlich notierten Tage. Alle unverarbeitet, fest in einem Dornröschenschlaf. Komatös. Aus den Augen waren sie. Aus dem Sinn. Nicht vorhanden. Bis jetzt.

Langsam zeichnen sich Pusteln auf ihrer Haut ab. Sie illustrieren ihr Dekolletee mit einem Rotschimmer. Das passiert regelmäßig, wenn Nervosität in ihr aufsteigt. Lesen ist wie erleben. Will ich die Geister von damals allen Ernstes aus ihrem Verlies locken und sie aus der Vergangenheit mitten ins Jetzt beschwören? In ihrem Rachen formt sich ein Kloß. Ihr Hals ist wie zugeschnürt. Das Engegefühl quittiert ihren Zweifel. Was sich nach Fremdkörper anfühlt, ist in Wahrheit ihre Angst. Sie kann sie nicht einfach herunterschlucken. Sie fragt sich, was geschieht, wenn sie weiter liest. Wird sie die geballte Ladung Schmerz noch einmal durchleben? Papier ist geduldig, stellt Amy klar. Ich nicht. Und schneller als sie sich selbst eine Antwort geben kann, öffnet sie ihr Tagebuch und blättert, als hinge davon alles ab.

Wenn ich das eines Tages lese, erwecke ich mich zum Leben. Ich bewahre mich vor dem Tod, weil ich mich nicht vergessen habe. Ich weiß jetzt schon, dass ich in Abgründe klettern muss und auf das zurückblicken werde, was ich niemals sein wollte. Ich starb bereits, als Dad zum ersten Mal zu mir sagte, dass er sich einen Sohn, statt mir gewünscht hatte. Und ich starb immer wieder aufs Neue, wenn er es wiederholte, weil ich nie sein Kind geworden bin, obwohl ich es sein wollte. Ich schreibe dir, May, weil ich mit niemandem darüber reden kann. Am liebsten würde ich es laut erzählen, wie froh du mich machst, obwohl ich todunglücklich bin.

Amy lässt die Sätze auf sich wirken. Sie kann nicht glauben, dass es erst ein paar Jahre her sein soll, was sie da in May vorfindet. Angestrengt kneift sie ihre Augen zusammen, als müsse sie den Inhalt ihrer Worte erst verifizieren. Nicht mehr allzu viel übrig von diesen Widersprüchen in meinem Leben, stellt Amy fest.