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In dem glamourösen Ort Burgberg, ein Vorort der Hauptstadt Lechen, wird ein grausamer Doppelmord entdeckt. Was liegt näher, als den verschwiegenen Hauptkommissar Karl Tannenhocker mit der Aufklärung des verzwickten Falls zu beauftragen. Die maßgeblichen Akteure in dieser reichen und äußerst prominenten Gemeinde können öffentliches Aufsehen bei ihren Geschäften so gar nicht gebrauchen. Wie gut, dass Karl Tannenhocker in seinem Team nicht nur als großer Schweiger gilt, sondern im wahrsten Sinne des Wortes gar nicht spricht. Und deshalb nehmen die Ermittlungen überhaupt nicht den gewünschten Verlauf. Der Autor verbindet wie in seinen zwei bereits erschienenen Büchern viele phantasievolle Biografien von skurrilen Akteuren zu einem spannenden und höchst humorvollen Kriminalroman; diesmal in dem fiktiven Prominenten-Ort Burgberg. Erneut machen die vielen, höchst amüsant beschriebenen Charakterskizzen diese überaus spannende Geschichte zu einer sehr besonderen Erzählung.
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Seitenzahl: 497
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Tannenhocker
Dieses Buch ist ein Werk der Fiktion. Orte, Namen und Figuren entsprin- gen rein der Phantasie des Autors und jede Ähnlichkeiten mit Orten und handelnden Personen sind frei erfunden. Wirklich jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre absolut rein zufällig und nicht gewollt.
Der nervöse Hans Brebeck
Das entzückende Burgberg
Der weltläufige Doktor Wolfgang Scharrer
Der rigide Tannenhocker
Die prominente Kanzlei von Manzinger
Der eigennützige Bürgermeister Angerbieger
Die unterschätzte Recherche am Schreibtisch
Die schweigsame Eva Maria Wölderlin, ehemals Freifrau von Lauffen
Die unverwitterbaren Herwegens
Das umtriebige Burgberg
Der gescheiterte Dialog
Der einzigartige Dagobert Markerlich
Die wilden Struppingers
Der famose Rechtsanwalt Ernst Lovis
Der feine Monsignore Markus Holzbacher
Der berühmte Professor Eichenbett
Die unfreiwillige Bekehrung
Die wunderschöne Silvia Senoner-Müller
Das emblematische Neapel
Die überraschende Assunta Spinarumma
Die aufschlussreichen Rabenschnabels
Das erstaunliche Hobby
Der erhellende Epilog
Handelnde Personen
Hans Brebeck sah wie stets ein wenig derangiert aus. Das Hemd war offensichtlich ungebügelt und passte farblich so gar nicht recht zu der abgetragenen Jeans, die eine Wäsche benötigte. Von Statur ein wenig untersetzt wölbte sich nun ein kleiner Wohlstandsbauch unter dem vormals hingebungsvoll durchtrainierten Oberkörper. Seine blonden Haare, die im Ansatz langsam grau wurden, trug er seit seiner Jugend, allen zeitgeistlichen Strömungen zum Trotz, strikt nach hinten gekämmt. Und für viele Betrachter vielleicht auch ein wenig zu lang. Wie immer wanderten seine auffallend bernsteinfarbenen Augen unruhig hin und her; wie auch sein ganzer Körper nie zur Ruhe zu kommen schien.
Und so bewegte er sich vor dem schon in die Jahre gekommenen Gartentor hin und her und steckte erneut eine dieser für ihn neuen und absolut unbefriedigenden Tabaksticks in den geradezu obszön durchdesignten Tabakerhitzer.
Er zählte nun schon zum zehnten Mal an seinen Fingern die Tage ab und kam beruhigenderweise immer wieder zu dem Schluss, dass eigentlich heute Franz Behammer Dienst haben müsste. Zwar nicht sein Freund Alfred, aber immerhin ein Kollege, oder besser Vorgesetzter, mit dem er arbeiten konnte. Alle, bloß nicht der Tannenhocker, dachte er noch und schaute verstohlen die kleine Straße hinunter. Er hatte am Tatort einen kurzen ersten Augenschein genommen und dann die sogenannte Maschinerie in Gang gesetzt. Nun waren alle da, er hatte alle nötigen Anweisungen erteilt, die ohnehin sinnlos waren, wusste die Maschinerie ohnehin genau, was zu tun war.
Nun lehnte er am Gartentor und hatte den Daumen sowie Ring- und Zeigefinger so verwunden, dass man sich mit viel Fantasie eine Art Hufeisen vorstellen konnte.
Jeder, nur nicht Tannenhocker, murmelte er mantraartig vor sich hin. Hans Brebeck war sehr abergläubisch, was an seiner Mutter lag, die
Hand-, Karten- und Glaskugelleserin gewesen war.
Seinen Vater hatte Hans Brebeck gar nicht erst kennengelernt. Auf Fotos sah dieser aus wie ein spektakulär überbräunter Sascha Hehn. Hans Brebeck war bei Ansicht der Bilder jedes Mal froh, dass er seiner Mutter so ähnlich sah.
Seine Mutter war auch nicht gut auf seinen Erzeuger zu sprechen gewesen und hatte trotz ihrer sehr jungen Jahre, bei der Geburt des kleinen Hans war sie gerade siebzehn geworden, erst gar nicht versucht, mit dem Vater durchzubrennen.
Trotz ihrer jungen Jahre war sie schnell darauf gekommen, dass sie in die klassische Romeo-Julia-Problematik geraten war: Mal verlieben sich zwei und merken später, dass sie sich doch hassen müssten, weil sie einander – ebenfalls ein zu häufig verwendetes Motiv – falsche Identitäten vorgespielt haben. Der Bräunling Sascha, der eigentlich Holger hieß, hätte locker einen Darwin-Sonderpreis gewonnen: der Preis, der an diejenigen vergeben wird, die zur menschlichen Evolution beigetragen haben, indem sie sich selbst aus dem Genpool herausgewählt hatten.
Seine Mutter hatte sogar schon vor der Ehe mit dem Versehentlich-Erzeuger das Gefühl, in dieser Kurzzeitbeziehung von ihm alles schon einmal gehört zu haben. Alles war trotz der kurzen Zeit mit Holger so vorhersehbar. Sodass sich sogar alle Auslöser, ihre Wut, ihr Ekel und ihre Aufregung irgendwie aufgewärmt und müde anfühlten. Ihre Eltern bestärkten sie in ihrer Entscheidung, sich vor der Geburt von Holger zu trennen. Etwas, was zu dieser Zeit eher ungewöhnlich war, verabscheuten auch sie beim Kindsvater seine Porto-zahlt-Empfänger-Mentalität, was die Verhütung betraf.
Und so wuchs der Hans bei seiner Mutter und deren Eltern auf. Erst in immer komfortabler werdenden Schaustellerwagen und dann in einer zentrumsnahen, großen Eigentumswohnung im ehemals erschwinglichen Handwerkerviertel Lechens. Allerdings erst nachdem Opa und Oma das Geschäft gut verkauft hatten. Seine Mutter Anna machte flugs ein Reisebüro auf, das in kürzester Zeit höchst beliebt war, hatte sie doch die »hellseherische« Fähigkeit nie verlernt, in die Köpfe der Kunden praktisch hineinzukriechen, um dort nach mehr oder weniger versteckten Sehnsüchten zu forschen. Um diese dann im großen magischen Moment in perfekt glänzende Reisepläne zu gießen. Die Kunden waren begeistert, dass jemand so einfühlsam und so hundertprozentig treffsicher Reisen vorschlagen konnte, von denen man bei Betreten des Reisebüros noch gar keine Ahnung hatte, dass man genau diese wollte.
Hans Brebeck war für die Schule nicht gemacht und wurde durch das System praktisch bis zum Quali durchgereicht. Nicht, dass er nicht intelligent genug gewesen war, er hatte einfach keine Lust auf Schule. Dazu kam, dass seine mögliche Aufmerksamkeitsspanne und Stillsitzfähigkeit atemberaubend kurz war. Da seine Mutter schon früh gemerkt hatte, dass der Hans eine ungeheure Energie, gepaart mit sensationell kurzem Schlafbedürfnis und unstillbarem Bewegungsbedürfnis, hatte, steckte sie ihn in abwechselnde Sportvereine. Für Hans Brebeck, der über eher schlechte Koordinationsfähigkeiten sowie Gleichgewichtsgefühl verfügte und sich auch kaum konzentrieren konnte, blieben nach einer Versuchsodyssee nur wenig Sportarten übrig. Und so kam der kleine Hans in einen Karateverein, um ebenjene Koordinationsfähigkeit, Gleichgewichtsgefühl, aber vor allem Konzentration spielerisch zu lernen. Und da der kleine Hans sich auch durch die alle besuchten Schulen eifrig durchgerauft hatte, war dieser Sportverein nicht nur ein Glücksgriff, sondern auch genau richtig. Denn der kleine Hans besaß schon natürlich erworbene, mannigfaltige Vorkenntnisse in der Kunst, Menschen zu besiegen.
Er wurde daher schnell einer der besten Karatekas dort, und mit dem Können kamen auch die Konzentrationsfähigkeit und ein wenig auch das Durchhaltevermögen.
Ebenfalls den ersten echten Freund in seinem Leben lernte er dort kennen, welcher ihn zur Polizeiausbildung animieren konnte.
Dort machte er seinen Weg. Wenn auch weniger bei Nachforschungen im Büro am Computer als mehr bei Recherchearbeiten auf der Straße.
»Heute müsste der Behammer Dienst haben. Also hoffen wir mal das Beste«, rief Hans Brebeck Wolfgang Scharrer zu, der sich im weißen Spurensicherer-Overall, mit seinem Arztkoffer bewehrt, neben ihn stellte.
»Na, ich wäre mir da nicht so sicher. Du weißt ja: Das Leben ist voller Leid, Krankheit, Schmerz, und zu kurz ist es übrigens auch. Ist von Woody Allen. Was hast du denn eigentlich gegen den Tannenhocker?«
Brebeck versuchte sich an einem besonders angewiderten Gesichtsausdruck.
»Er spricht mit niemanden, ist furchtbar rigide und treibt einen mit seinen Regeln in den Wahnsinn.«
»Also ich finde dies alles geradezu perfekt an ihm. Weißt du übrigens, dass diese Dinger nur ein bisschen besser sind als echte Zigaretten?«, fügte Scharrer an, um seinen Kollegen von dem Gesprächsthema weg zu lenken.
»Das hast du mir jetzt schon ein paar tausend Mal gesagt. Nur weil du Mediziner bist, macht es mir leider auch nicht mehr Angst. Aber danke.« Wolfgang Scharrer fing plötzlich an zu grinsen, nickte in Richtung der
Straße und drehte sich wieder zu Brebeck hin.
»Nein, bitte nicht!«, rief ihm Brebeck noch nach, als er seinem Blick folgte.
»Wenn dir niemand im Weg steht, gehst du nirgendwohin. Madeline Albright, wenn die Grande Dame dir etwas sagt. Hast doppelt Pech heute. Das sieht nach Tannenhocker aus, und dein geschätzter Kollege aus der Gerichtsmedizin hat heute seinen Zitatentag«, kam es von Scharrer lachend zurück.
»Ich weiß nicht, wie du dich heute mal wieder selbst medikamentös eingestellt hast, aber die Einstellung scheint ganz sicher einen Effekt zu haben. Sicher nicht den gewünschten«, kam es eine Spur zu bissig als gewollt von Brebeck zurück. Dies passierte fast immer, wenn er besonders geistreich sein wollte. Speziell bei Wolfgang Scharrer, der über einen schier unendlichen Zitatenschatz verfügte.
Ein silberner Opel Vectra bog gerade vorsichtig in die Straße ein. Sorgsam wurde das Auto endlos lange und millimetergenau in eine Parklücke eingeparkt und dann passierte lange Zeit gar nichts mehr.
Hans Brebeck konnte nicht umhin zuzugestehen, dass der fünfundzwanzig Jahre alte Opel Vectra aussah wie aus dem Verkaufsraum geschoben, und damit perfekt zu Karl Tannenhocker passte.
Er seufzte laut und ergab sich dem Schicksalsschlag. Er kramte in seiner Lederjacke und steckte noch einen schmalen Tabakstick in den Erhitzer, praktisch als Kompensation für sein Unglück. Außerdem wusste er genau, dass es noch dauern würde, bis sich die Autotüre öffnen würde.
Als es dann endlich so weit war, schälte sich bedächtig eine seltsam anmutende Figur aus dem Opel. Kriminalhauptkommissar Karl Tannenhocker war knapp zwei Meter groß, aber wirkte geradezu klapprig. Seine schwarzen Haare waren sehr kurz geschnitten und umrahmten sein kantiges Gesicht mit den eingefallenen steingrauen Augen. Wie immer hatte er ein hellblaues Hemd, eine dunkelblaue Hose und einen dunkelblauen Mantel sowie glänzende, perfekt geputzte schwarze Half-Brogues an. Ein breitkrempiger schwarzbrauner Borsalino und die dunkelroten Hosenträger stachen dezent aus dem ansonsten vorbildlich einheitlichen Stil heraus. Diese Hosenträger und rote Socken waren die einzige Extravaganz, die Karl Tannenhocker seiner klapprigen Figur und damit für seinen Körper unauffindbare Konfektionen von der Stange zugestand. Manche erinnerte er so an einen Filialleiter bei Peek und Cloppenburg in einem Einkaufszentrum kurz vor dessen Zwangspensionierung. Bedächtig ging er auf das Haus zu. Er blieb in respektvollem Abstand davor stehen und sah es drei Minuten an. Dann ging er auf Hans Brebeck zu, nickte ihm freundlich zu und blieb dann vor ihm stehen.
Brebeck nahm den Tabakstick aus dem Erhitzer und steckte diesen in einen portablen Aschenbecher. Er wartete noch einige Sekunden und sah Tannenhocker ruhig an. Wie immer kam keinerlei Reaktion. Also fing er an:
»Zwei Tote, die Bewohnerin des Hauses, eine Gudrun Rabenschnabel, und ein eher jüngerer Mann. Keine Dokumente, nichts, was uns helfen würde, ihn zu identifizieren. Der Getränkehändler vor Ort, ein Fritz Wegfeldner, hat sie heute früh gefunden. Der scheint hier eine Institution im Ort zu sein. Kommt alle zwei Wochen stets am gleichen Tag zur gleichen Zeit. Die Tote hat ihn gebeten, um das Haus zu gehen, wenn keiner öffnet. Sie würde im Garten oft die Klingel nicht hören. Als keiner geöffnet hat, wollte er in den Garten und hat durch das Fenster beide dort im Zimmer liegen gesehen. Dass da was nicht stimmte, konnte man vom Fenster aus gut sehen.«
»Das kann man so wohl sagen. Der Mann ist in dem Zimmer erschossen worden, und wie das aussieht, wissen Sie ja. Aber es ist noch schlimmer als sonst. Sieht nach Elefantenkaliber aus. Schrecklich. Auch die Frau dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit keines natürlichen Todes gestorben sein. Alles verändert sich, aber dahinter ruht ein Ewiges. Zum Beispiel eine 500 Magnum, würde auch Johann Wolfgang von Goethe dazu bemerken, geschätzter Hauptkommissar«, fügte Wolfgang Scharrer hinzu, der sich erneut zu ihnen ans Gartentor gesellt hatte.
Karl Tannenhocker sah beide abwechselnd an, sagte aber nichts. Er stand einfach vor ihnen und schwieg freundlich lächelnd. Brebeck fingerte nach einem neuen Tabakstick. Scharrer wusste, dass Brebeck wie immer diese Kraftprobe verlieren würde. Schweigegoliath gegen Zappeldavid.
So standen die drei Männer minutenlang vor dem Gartentürchen, vor dem sich schon eine kleine Sammlung von Menschen versammelt hatte, und lächelten sich freundlich an. Nach einer für ihn endlosen Zeit hatte Brebeck genug und ging wortlos zu dem Haus, von dem bedächtig schreitenden Karl Tannenhocker zeitlupenartig gefolgt. Wenn man nicht wüsste, dass der ein Hauptkommissar ist, könnte man denken, es ist ein Mensch gewordener Fahrradhelm. Der typische Volkshochschulleiter, dachte sich Wolfgang Scharrer wieder einmal, als er Tannenhocker in das Haus gehen sah. Er persönlich hatte das Siebziger-Jahre-Museum schon über Gebühr besichtigt und beschloss, draußen zu warten. Er wusste ohnehin, dass eine erste Tatortbesichtigung mit Karl Tannenhocker schweigsam und überaus lange dauern konnte. Für die Begleitenden absolut unfruchtbar.
Dort angekommen sah sich Karl Tannenhocker in dem Haus sorgsam um. Es war eines der typischen Siebziger-Jahre-Häuser, welches man sich mit kleinem Wohlstand leisten konnte: Es war weder schön noch besonders aufwendig gebaut worden. Alles gute, aber nicht beste Qualität. Zweckmäßig, ohne das geringste Zugeständnis an Extravaganz. Eines der vielen praktisch zu bauenden Häuser, die in unterschiedlichen, stets geometrischen Formen zu Tausenden im Baukastensystem gebaut worden waren. Stets mit den gleichen Tür- und Fenstermaßen, gleichen Neigungswinkeln und Materialien und Aufmaß. Lego-Steckbauhäuser, dachte Brebeck, als er Tannenhocker zusah.
Es war eben ein Wirtschaftswunderhaus wie so viele. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es in der Bundesrepublik ein veritables »Wirtschaftswunder« gegeben. Von einem kleinen Einbruch 1966/67 abgesehen, war es mit der Wirtschaft stets aufwärts gegangen.
Außergewöhnlich an dem Haus war die Lage: Es befand sich an einem wirklich exquisiten Ort, eine der gesuchtesten ortsnahen Adresse in Burgberg. Und Burgberg war der noble Vorort der reichen Großstadt Lechen. An einer so erstklassigen Adresse hätte man zweifelsohne ein anderes Haus erwartet. Inmitten von repräsentativen Villen in verschiedenen Baustilen, mal geschmackvoll im Voralpenstil eingebettet, mal etwas weniger treffsicher im Fantasy-Georgianischen-Empirestil, nur dem oft zweifelhaften Geschmack des Erbauers und dessen verzweifelten Architekten ergeben.
Dieses Haus fiel komplett aus diesem Raster, außer dass es einen noch viel riesigeren Garten hatte als all diese Prachtvillen, welche eben jenes Haus umringten. Man hätte erwartet, dass die Eigentümer dieses Haus entweder schon lange abgerissen und neu gebaut oder das wertlose Haus mit dem umso wertvollen Grund zu einem geradezu obszönen Preis veräußert hätten. Auf alle Fälle war es ein Wunder, dass es dieses Haus, so alt und lieblos gebaut, auf diesem riesigen Grundstück so gab. Wie es eben in dieser Gegend überhaupt keine Häuser mehr gab, die nicht als repräsentativ zu beschreiben wären.
Tannenhocker bewegte sich vorsichtig in das Haus und sah dort einen an der Eingangstüre hantierenden Spurensicherer fragend an.
»Sie können schon rein, wenn Sie sich die Überschuhe anziehen und vor allem, wenn Sie vorsichtig sind.«
Damit war klar, dass der Spurensicherer Karl Tannenhocker nicht gut kannte. Denn er war die Vorsicht und Langsamkeit sowie Gründlichkeit in Person.
Sein Vater, Anton Tannenhocker, war Uhrenmacher und auch Hauptansprechpartner für seinen Sohn und einziges Kind Karl. Wobei Ansprechpartner ein wenig vorsichtig zu verstehen gewesen sein dürfte, war Anton Tannenhocker seit Geburt taubstumm.
Tannenhocker senior arbeitete zuhause seine Reparaturobjekte auf. Er bekam diese von den meisten Geschäften in der Stadt, die sich rein auf den lukrativeren Verkauf von Uhren und Schmuck konzentriert hatten und sich daher keinesfalls mehr einen angestellten Uhrmacher leisten wollten. Oft auch bekam er komplizierte Reparaturobjekte direkt von Eigentümern, die junge und preisgünstig angestellte Uhrmacher nicht richten konnten. Stundenlang saß der kleine Karl schweigend neben seinem Vater und sah zu, wie dieser Uhren reparierte. Für den Uhrmacher gab es paradoxerweise bei seiner Arbeit keine Zeit! Er arbeitete selbstversunken langsam und gründlich, etwas, das den kleinen Karl zutiefst prägte.
Karls Mutter, Andrea Tannenhocker, war fast nie zuhause, und wenn sie der kleine Karl fragte, was sie so tat, so bekam er die Antwort, seine Mutter würde noch eine andere zeitraubende Verpflichtung haben. Eine Antwort, die sämtliche Nachfragen per se ausschloss. Und so wuchs Karl in der kleinen Dreizimmerwohnung in dem Stadtteil Unterfriesing auf, ging zur Schule und benötigte etwas mehr Zeit als seine Mitschüler, diese abzuschließen. Dafür war er gründlicher auf das Leben vorbereitet und hatte einen besseren Schulabschluss in der Tasche als seine Mitschüler. Da er nicht wusste, was er machen wollte, die Uhrmacherei war durch die Industrialisierung des Uhrengeschäfts obsolet geworden, beschloss er, sich einen Beruf zu suchen, in dem Langsamkeit eines der größten und auch wichtigsten Kennzeichen war.
Und so entschied er sich folgerichtig für die Beamtenlaufbahn und wurde nicht enttäuscht. Auf einer Verwaltungsschule lernte er seine zukünftige Frau Brigitte kennen. Er fand ihr Aussehen praktisch und ihren Charakter zeitlos. Brigitte verwechselte besonnen mit langsam und überlegt mit gründlich. Ein Irrtum, der ihr bis zum Lebensende mit ihrem Karl nicht auffiel. Sie liebte ihren Karl, weil er in seiner Zuverlässigkeit und Vorhersehbarkeit unschlagbar war, sie buchstäblich stets auch ohne jedes Wort verstand, ihren steten Redefluss niemals unterbrach und er auch höhenmäßig so gut zu ihr passte. Denn auch Brigitte hatte das Gardemaß 1,95 Meter und war somit in der Auswahl der potentiellen Partner sowohl fremd- wie selbstbeschränkt.
Karl Tannenhocker sah die eheliche Gemeinschaft äußerst pragmatisch und kam zu dem Schluss, dass eine Heirat zumindest nicht schaden konnte. So sparte er sich unter anderem die zum Paarwerden offensichtlich nötigen Kennenlern-Rituale wie verhasste Konversationseröffnungen, sinnfreie Lügenkomplimente oder gar aufdringliche Antanzerei sowie sehr körperliches Rivalengerempel. Alles Gehabe, welches sich Tannenhocker in Tierdokus viel entspannter ansehen konnte, als es live zu erleben. Wenn ihn Brigitte mit großen Augen fragte, ob er sie denn wirklich genauso liebte, wie sie ihn liebte, fielen ihm nur die »Man-muss-nur-wollen-Botschaften« von seiner resoluten Tante Magda ein. Dann sah er sie so liebevoll, wie es ihm halt möglich war, an und nickte schweigend.
Tannenhocker war ein schweigsamer, aber brillanter Verwaltungsschulabsolvent. Aber ihm kam nach ein paar Jahren das Thema Gründlichkeit in der Verwaltung etwas zu kurz und so beschloss er, Polizist zu werden, ein Beruf, bei dem es seiner Meinung nach sehr auf Gründlichkeit ankam. Dafür nahm er eine kleine Einbuße des Merkmals Langsamkeit in Kauf. Brigitte beendete ihre Ausbildung in der vorgegebenen Zeit und ward fortan glücklich und zufrieden an einen der viel zu wenigen Schalter der Kraftfahrzeugzulassungsstelle des Landratsamts Lechen tätig.
Karl Tannenhocker machte langsam, aber erfolgreich Karriere bei der Polizei, wo man das Talent für Gründlichkeit bald mehr als zu schätzen lernte als seine Mitteilungsarmut und die daraus resultierende Unmöglichkeit, teamfähig zu arbeiten. Trotzdem beförderte man ihn wegen seiner Gabe schnell zur Kriminalpolizei. Bald wussten alle Polizeibeamten, dass der Kriminalhauptkommissar Karl Tannenhocker zwar sehr langsam, aber aus irgendeinem Grund extrem erfolgreich ermittelte. Alles ging in Zeitlupe und er sprach praktisch mit niemanden, aber irgendwie schaffte er es, dass ihm fast nichts entging. Und dass er wirklich alle ihm übertragenen Fälle früher oder später löste.
Kollegen verzweifelten an seiner Schweigsamkeit, aber bewunderten heimlich an ihm, dass er eigentlich immer die richtigen Schlüsse zog. Karl Tannenhocker war fast wie sein Opel Vectra: aus der Zeit gefallen, nie modern oder ansprechend gewesen, unauffällig funktionierend, genügsam, aber stets zuverlässig.
Seine Vorgesetzten setzten ihn daher meist auf Fälle an, an denen sich schon Kollegen die Zähne ausgebissen hatten, oder an komplexe Ermittlungen, die viel Geduld verlangten und daher nur ohne unüberlegte Frustrationshandlungen oder impulsive Verdächtigungen zu lösen waren. Meist jedoch setzte man Karl Tannenhocker auf Fälle an, die aufgrund ihrer Brisanz geradezu nach langsamen und geräuschlosen Ermittlungen schrien.
Fälle, die keinerlei Beachtung in der Öffentlichkeit fanden und daher die Zeit hatten, in aller Ruhe und Sorgfalt gelöst zu werden. Oder Fälle, bei denen keinesfalls auch nur das kleinste Detail nach außen dringen durfte.
Dabei wussten alle Vorgesetzte, dass sie nie etwas zu diesen laufenden Fällen von Karl Tannenhocker hören würden, bis diese gelöst waren. Meist erfuhren sie eher zufällig, dass er diese Fälle gelöst hatte. Ohnehin sprach Tannenhocker kaum mit seinen Mitmenschen. Oder besser gesagt: gar nicht. Auch bei Vorgesetzten machte er keine Ausnahme. Und so hatten sich alle auch damit abgefunden, dass Tannenhocker kein Mobiltelefon hatte beziehungsweise vielleicht eines hatte, aber nie benutzte. Der Telefonhörer sowie die Tastatur seines Telefons im Büro waren unberührt, bis zur seltenen Büroreinigung stets mit einer kleinen Staubschicht versehen: im so genannten Auslieferungszustand. Wenn Tannenhocker etwas erfragen oder wissen wollte, kam er persönlich vorbei. Oder man kam bei ihm vorbei, wenn man etwas wissen wollte. Was aber aufgrund Tannenhockers Konversationsfähigkeiten viel Zeit sowie Geduld, ausgeprägte Fähigkeiten und überdurchschnittliche Erfahrung in nonverbaler Kommunikation erforderte. Fast alle Kollegen konnten auf die Frage nicht antworten, wie sich denn die Stimme des Hauptkommissars Tannenhocker so anhörte. Die meisten Kollegen waren auch überzeugt, dass Tannenhocker stumm geboren worden war.
Und so fand sich Karl Tannenhocker plötzlich in diesem Siebziger-Jahre-Haus in dem Prominentenort Burgberg wieder.
Polizeipräsident Werner Heisig war vom Bürgermeister von Burgberg in einem hastig getätigten Telefonat darum gebeten worden, einen Beamten zu senden, der keine voreiligen Schlüsse tätigen und die Ermittlungen auch gründlich und mit aller gebotenen Ruhe hinsiechen lassen würde. Denn die reiche Gemeinde Burgberg hätte in der Tat mannigfaltige Interessen an dem Fall. Interessen, die am besten mit den Schlagworten Image, Ruhe und Finanzen zu beschreiben waren.
Der Polizeipräsident sicherte Hinsiechen sowie Grabesstille zu, musste aber seinen heftigen Impuls zu lachen unterdrücken, als er zusicherte, den absolut geeigneten und richtigen Mann mit den Ermittlungen zu beauftragen. Er mochte den geradezu aufdringlich medienpräsenten Bürgermeister sowie dessen populistisch-opportunistische Kleinpartei nicht ausstehen und lächelte glücklich in sich hinein, als er nach dem Telefonat versuchte, Karl Tannenhocker zu sich zu rufen. Denn sein verstorbener Vater hatte ihm beigebracht, dass das Feuer ein guter Diener, aber vor allem ein tödlicher Meister ist.
Nur so lange, wie es eben dauerte, von einem schäbigen Dienstzimmer, das so gar nicht nach Serienkrimi aussah, zu einem ebenfalls abgewohnten Direktorenzimmer zu kommen, saß Karl Tannenhocker vor dem Polizeipräsidenten.
In einem kurzen Monolog erklärte ihm der Polizeipräsident, was ihn dort, im noblen Burgberg, erwarten würde. Nach diesem Monolog lehnte sich Herr Polizeipräsident in seinen ergonomischen Raumschiffsessel zurück und sah Karl Tannenhocker an. Zeit für einen Test.
»I bet you’re fun at parties.«
Erleichtert sah er, dass sein Gegenüber verneinte, indem er seinen Daumen senkte. Nun wusste er, dass sein Untergebener der englischen Sprache wohl mächtig war. Etwas, was für Ermittlungen im Umfeld von Burgberg wichtig sein könnte.
Es verstrichen etwa zehn Minuten, in denen sich die beiden Männer ununterbrochen und ohne ein Wort zu sprechen ansahen. Zufrieden senkte der Polizeipräsident nach diesen, für Außenstehende endlos erscheinenden zehn Minuten, den Blick und nickte zur Türe.
Karl Tannenhocker nickte ebenfalls dem Schreibtisch zu und stand langsam auf, ging zur Türe und schloss diese praktisch lautlos.
Und so stand er nun in der Schoarloser Straße in Burgberg und tastete sich langsam von Zimmer zu Zimmer. Blieb meist eine halbe Stunde reglos stehen und drehte sich wie ein Periskop, natürlich stets im Uhrzeigersinn, auf der Stelle, bis er sicher war, alles gesehen zu haben. Im Gegensatz zu allen Kollegen ging Tannenhocker stets als Letztes in genau jenes Zimmer, in dem die Tat stattgefunden hatte; sehr zur Freude der Spurensicherer, die so ungestört noch eine Zeitlang länger arbeiten konnten. Hier blieb Tannenhocker dann fast eine Stunde, immer wieder wie in Zeitlupe um sich selbst drehend, stehen.
Das Haus war zu seiner Zeit zweckmäßig gebaut worden und wirkte innen wie außen etwas verwohnt. Offensichtlich wurde seit Fertigstellung nur noch das Nötigste renoviert. Das Haus selber hatte keinerlei persönliche Note. Alles war pragmatisch geplant und erstellt worden. Keine Türzargen aus Holz, sondern nur gestrichenes Metall. Massenware, wo man hinsah. Keine architektonischen Extravaganzen oder Individualisierungen. Die Böden im ganzen Haus waren aus dem gleichen hellbraunen Stein. In einigen Zimmern lagen auf diesen Böden abgelaufene Teppiche mit lieblosen geometrischen Mustern, die in Farbe und Anordnung irgendwie an indigener Kunst Anleihe nehmen sollten, was seltsam misslungen wirkte.
Die Bäder waren mit beigefarbenen oder altrosafarbenen Fliesen im Geschmack der damaligen Zeit sowie mit pastellgrünen Waschbecken und weiteren Sanitärartikeln, ebenfalls in pastellgrün oder hilfsweise weiß, ausgestattet.
Überall fanden sich dunkelbraune Möbel im Stile der siebziger Jahre, die mit großer Sicherheit alle auf einen Schlag in nur einem Möbelhaus ausgesucht worden waren und sofort mit Fertigstellung des Hauses mit den Bewohnern eingezogen waren.
Die Küche schien ebenfalls noch aus dieser Zeit zu stammen: Offensiv zur Schau gestelltes, ohne Anspruch auf optische Täuschung zusammengestelltes Resopal mit absplitternden Kantenumfassungen. Grob verarbeiteter, durch die Zeit spröde und rissig gewordener Kunststoff, wo man hinsah. Tannenhocker bildete sich ein, harmlosen mal angegeigten, mal fidel stampfenden Deutschschlager aus dem unter einem Hängeschrank geschraubten Küchenradio zu hören. Der Text voller bedeutungsleerer Allzwecksätze des glänzend gelaunten Sinnvakuums, eingebettet in mollschwangeren Tonwolkenformationen.
Im Wohnzimmer stand ein mit hellblauem Kunstsamt bezogenes, sehr voluminöses, aber doch deutlich abgenutztes Sofa mit zwei dazu passenden massigen Sesseln vor einer riesigen Eichenholz-Schrankwand mit falscher Butzenglas-Vitrine. In dieser Schrankwand stand ein Fernseher, der noch viele Knöpfe im Holzdekor hatte, die man bedienen musste. Würde dieser laufen, dann sähe man einen lächelnd angefrosteten Harry Wijnvoord in einer bonbonfarbenen Kulisse vor dümmlich grinsenden Kandidaten. Begleitet von einem knapp bekleidetem Platinchen, welches ein Glücksrad dreht: mit Hirn, ohne Charme, aber mit Melonen. So, wie es zu dieser Zeit gedankenlos üblich war, dachte sich Tannenhocker, nur um sich kurz darauf für diesen Gedanken ordnungsgerecht zu schämen.
Gegenüber dieser Schrankwand befand sich das einzige Fenster des Zimmers, welches aber fast die ganze Wand einnahm und zum großen Garten ging. Direkt vor dem Fenster stand wie aus einer anderen Welt gefallen ein unförmiger Sessel aus schwarzem Leder mit Massagefunktion. Er wirkte auch aufgrund seiner voluminösen Modernität völlig deplatziert in dem Zimmer. Gleich neben dem Fenster machte sich ein unförmiger offener Kamin breit. Dieser schien nachträglich eingebaut wurden zu sein, denn er passte überhaupt nicht in das Zimmer und wirkte mit seiner Kaminöffnung und dem lieblos zu hoch hingeklatschten Zuluftgitter wie ein Fremdkörper. Tannenhocker betrachtete erst die Feuerfläche und sah dann in den kleinen Kaminabzug nach oben. Offensichtlich war dieser Kamin lange nicht mehr benutzt worden. Tannenhocker fühlte sich in längst vergangene Chipsletten-Zeiten zurückversetzt. Instinktiv suchte er den großen, überquellenden Aschenbecher aus gepresstem, kantenreichem Glas mit der davorliegenden Schachtel Ernte 23. Und die orange Tischuhr mit Fallblattanzeige, die eigentlich nicht fehlen durfte.
Der Körper der Toten saß in ebenjenem Sessel und starrte in die Luft. Auf dem Fensterbrett neben dem Massagesessel befanden sich ein langstieliges, aber leeres Glas, ein Fernsehmagazin, eine Schale mit Nüssen und eine kleine Ledermappe sowie ein Schlüssel. Nirgends standen Bücher oder persönliche Gegenstände, die auf eine Familienhistorie schließen ließen.
Der Oberkörper des Toten lehnte seltsam überbogen an der Wand schräg gegenüber dem großen Fenster, direkt neben der Eingangstüre. Da der Körper von einer Folie halb abgedeckt worden war, konnte man nicht mehr Details sehen. Die Wand hinter dem offensichtlich zusammengekauerten Körper war von Blut übersät und wies eine großflächige und tiefe Beschädigung auf. Spuren von Ziegelstaub mischten sich mit der Farbe getrockneten Bluts, die als Schleifspuren bis zu der Plastikfolie verliefen.
Nachdem sich Tannenhocker durch alle Zimmer, Keller und Garage sowie Gartengeräte-Häuschen durchgedreht hatte, schüttelte er fast unmerklich den Kopf und ging wieder nach draußen. Neben Hans Brebeck, der nun auf einem klappbaren Gartenstuhl im Vorgarten saß und in sein Laptop schrieb, ging er in die Hocke und sah diesen fragend an.
Nach wenigen Sekunden hörte dieser auf zu tippen und sah Tannenhocker an.
»Die Tote ist eine Gudrun Rabenschnabel. Über den Toten neben ihr im Zimmer wissen wir, wie gesagt, noch gar nichts. Haben keinerlei Papiere gefunden und nichts, was ihn identifizieren würde. Schätzen ihn auf Mitte/ Ende zwanzig. Wir suchen aber schon digital nach ihm.« Brebeck war sichtlich stolz auf diesen kleinen Scherz.
Nachdem aus der Hocke neben ihm keinerlei Reaktion erfolgte, fuhr er seufzend fort und scrollte einige Zeilen auf seinem Laptop nach unten.
»Das Haus gehört dieser Gudrun Rabenschnabel. Bis vor einem halben Jahr hat sie mit ihrem Vater, Gernot Rabenschnabel, hier gewohnt. Der ist hier im Haus eines natürlichen Todes gestorben. War aber gar nicht so alt. Danach hat Gudrun Rabenschnabel alleine hier gewohnt. Auch die Mutter ist vor gar nicht langer Zeit ebenfalls hier im Haus verblichen. Scheinen alle jung in dem Haus hier das Zeitliche zu segnen. Das mit der Nachbarbefragung hier ist etwas schwierig. Hier macht sehr oft nur Hauspersonal auf, denn die Eigentümer sind viel weg. Arbeiten hart, um sich das hier leisten zu können, und die Mütter sind mit Kindertaxi beschäftigt. Am Wochenende scheint hier übrigens alles verlassen zu sein, dann treffen die Einwohner sich in Geißenhöhe oder am Lago.« Brebeck sah zur Seite.
»Die Haushilfen sind lediglich zum Arbeiten hier und wollen auch nur dieses. Ich glaube verstanden zu haben, dass viele der Nachbarn hier nur wenig Kontakt untereinander haben. Nur wenn sie Kinder im gleichen Alter haben. Ansonsten scheint es hier eher um geschäftsmäßig distanziertes Miteinander zu gehen. Ist aber mehr als verständlich, denn es sind auch sehr viele neue Häuser vor kurzem hier gebaut worden. Das muss sich sozial erst einwachsen, denke ich. Die alten Häuser, die hier alle standen, wurden verkauft oder abgerissen. Bei den Grundstückspreisen hier kein Wunder.«
Brebeck sah Tannenhocker von der Seite an und fuhr dann erklärend fort:
»Erbe du mal so etwas und zahle deine Geschwister aus. Fast unmöglich bei den Werten hier. Daher gibt es hier viel Neues und eher wenig Gewachsenes. Das dürfte diese Distanziertheit in dieser Gegend hier erklären. Weiter unten in Burgberg ist es anders. Da sind die Grundstücke nicht so groß und die Bauten weniger repräsentativ. Da gab es über die Zeit nicht so einen großen Zuzug und alles ist ein wenig normaler und nicht so abgehoben. Weiß ich von einer ehemaligen Freundin, die hier wohnt.«
Karl Tannenhocker nickte unmerklich und sah Hans Brebeck weiter an. Er kannte die Eigenheiten von Burgberg nur zu gut, war die Gemeinde bei Lechen in ganz Deutschland mehr als bekannt.
Das kleine Gemeindestädtchen Burgberg war auch ein kleines landschaftliches Juwel. Idyllisch am Fluss Riss gelegen, hatte es am Ortsrand einen See, welcher von der Riss gespeist wurde. Dieser Burgberger See grenzte an einer Seite an eine Kalkstein-Felsenlandschaft und war an den anderen beiden Seiten von einem Mischwald begrenzt. Nichts schien die postkartenidyllische Ansicht von Burgberg zu stören. Nach Burgberg gab es aufgrund des Sees und der Felsenlandschaft auf der einen Seite und der sich im Kalksteinbett schlängelnden Riss auf der anderen Seite nur eine Straße, die den Ort durchquerte. Daher hatte man in Burgberg lediglich die Wahl, in die Stadt Lechen oder in das Alpenland abzubiegen.
Der Ort hatte sich in den letzten fünf Jahrzehnten zu einer außerordentlich gesuchten Wohngegend gewandelt. Als geborener Unterfriesinger, Unterfriesing war der Ortsteil von Lechen, der am nächsten zur eigenständigen Gemeinde Burgberg lag, wusste Tannenhocker auch etwas mehr von dem Ort. Denn seine Oma war kurz vor dem Krieg eine Zeitlang einem Bauern zur Hand gegangen, als dessen Frau bei der Geburt des dritten Kindes gestorben war. Irgendwie waren die Tannenhockers mit eben jenen Bauern über eine Vielzahl von nicht mehr nachvollziehbaren Ecken »verbandelt«, wie man bei Tannenhockers sagte. Aber Kontakt gab es keinen mehr und Tannenhocker wusste nicht einmal mehr den Namen ebenjener Familie. Als seine Oma dann durch den sinnfreien Krieg des großen Reiseleiters mit dem Schnauzbart so richtig gründlich ausgebombt worden war, waren mit ihren Möbeln auch alle Familienunterlagen in Einzelteile zerlegt worden.
Durch die Oma und ihre Geschichten wusste Tannenhocker auch etwas, was nur wenigen bekannt war. Und was eigentlich als ein großes Geheimnis behandelt wurde, auf welches man einen echten Burgberger besser nicht ansprach: Erst seit 1945 war Burgberg zu Burgberg geworden. Vorher hatte dieser Weiler, der heute das stolze Burgberg war, den Namen Umpfleng und war tiefbäuerlich geprägt. Der Ort war vormals bettelarm und Brutstätte von Krankheiten und Hunger. Die Böden waren karg, der See vermoort und Hort von verschiedensten Mückenarten, die so alles übertrugen, was die Natur an Zoonosen gerade im Programm hatte. Der Fluss überschwemmte im Frühjahr regelmäßig die Höfe; gerne auch im Herbst, wenn es in den Bergen tagelang heftig regnete. Dann trat auch der vormals morastige See über seine Ufer und verwandelte Umpfleng in eine Schlammlagune.
In Umpfleng gab es etwas abseits auf einem sanften Hügel ein kleines verfallenes Steingebäude mit der Andeutung eines Turms. Dieser mittelalterliche Steinhaufen, denn mehr war dieses damals nicht, war einem im Süden von Lechen geborenen Nationalsozialisten-Führer in starker Erinnerung geblieben, als dieser als Kind einmal dort gespielt hatte.
Als dieser glühende Nationalsozialist zum Reichsschatzmeister berufen worden war, ließ er den armseligen Steinhaufen von Internierten aller Art zu einem burgähnlichen Gebäude aufbauen. Zumindest so, wie sich ein bildungsarmer, aber fanatischer Möchtegernführer eine Kinderburg vorstellt. Nach Fertigstellung des eigentümlichen Gebäudes zog dort Herr Reichsschatzmeister Schwarnzer als prominentester Bürger von Umpfleng zeitweise ein, wenn ihm nach männlicher Zeitgestaltung, also Mätressen oder sinnlosem Geballere nach allerlei nicht existentem oder ausgehungertem Getier im Nadelwald, der Sinn stand.
Nach dem Krieg beschloss der damals visionäre Sprecher der Umpflenger Bauernschaft, eine Art Vorläufer des Bürgermeistertums, dass man den Namen des nationalsozialistischen Reichsschatzmeisters ebenso streichen sollte wie auch den assoziativ unangenehmen Namen des Ortes. Im Gegenzug würde man sich das fluchtartig verlassene Gebäude des Reichsschatzmeisters wie auch den damit sich quasi aufdrängenden Namen aneignen. Und so wurde aus Umpfleng das heutige Burgberg.
Eben jener visionäre Sprecher der Burgberger Bauernschaft schaffte es, ebenjene Bauernschaft zu überzeugen, dass man etwas Glamouröses in Burgberg ansiedeln musste, um den Ort attraktiv und finanzstark zu machen. Und so legte man zusammen und kaufte einem der Bauern ein Stück Land ab. Der kleine Wald auf diesem Grund wurde abgeholzt und so entstand am südlichen Ende des Gemeindegebiets zu den Alpen hin, direkt am Flusslauf der Riss gelegen, ein kleines, aber wunderschön gelegenes Areal. Dort wurden kleine spartanische Ateliers gebaut und Künstlern aller Art angeboten. Schon bald nachdem die ersten Künstler dort arbeiteten, entdeckte die aufstrebende Musikindustrie diesen inspirierenden Ort.
Sie bauten dort modernste Tonstudios auf und verdrängten nach und nach die bildenden Künstler. Man begann in den Nachkriegsjahren mit der allgegenwärtigen Schlagermusik und die bekanntesten deutschsprachigen Schlagerstars der Zeit nahmen dort ihre Platten auf.
Auch amerikanische Jazzgrößen nutzten die wunderschön am Fluss gelegenen Studios, war doch nach dem Einmarsch der US-Army die Stadt Lechen ein großer Stützpunkt ebenjener nordamerikanischen Armee geworden. Immer wieder kamen die besten Jazzer über den Teich, um in Lechen Konzerte für die dort stationierten Angehörigen der Army zu geben, und entdeckten die Burgberg Studios als einzigartiges Musikstudio-Kleinod. Nach und nach kam auch die europäische Rockelite nach Burgberg und nahm dort später berühmt gewordene Alben auf.
Burgberg-Studios wurde zum Synonym für Studios, die das ganz Besondere hatten. Weltbekannte Bands trafen sich dort, um neue Wege zu beschreiten oder um kreative Durststrecken zu überwinden. Burgberg-Studios hatte den Ruf, man könne dort ganz besondere Vibes spüren. Der Ort schien geradezu magisch für Musiker zu sein.
So spülten die Studios Geld in die Kasse von Burgberg, denn der Gemeinde gehörte weiterhin der Boden, auf dem die Studiogebäude standen, und man verlangte zur eher geringen Pacht schlauerweise zusätzlich eine Beteiligung an den Verkaufserlösen der dort entstandenen oder auch gemischten Tonträger. Welche ebenjener Bürgersprecher, der nun Bürgermeister geworden war, ausschließlich dazu verwendete, den Ort repräsentabel zu machen.
Die wilde Riss wurde gezähmt, indem diese in ein langweiliges, aber gefahrenbannendes Bett gezwungen wurde, und der Moorweiher wurde gründlich ausgebaggert und zu einem transparent-klaren See eingefasst, der fortan den Namen Burgberger See trug. Klang deutlich besser als der alte Name, der Rissweiher lautete. Nur der inzwischen dahinsiechende Tannenwald um den See konnte nicht verändert werden, gehörte dieser nicht mehr zur Gemeinde. So aufgeputzt, verschenkte die Gemeinde ein paar wenige Grundstücke, die nach den Kriegswirren herrenlos übrig geblieben waren, an bekannte Musikstars, welche viel in den Burgberg-Studios arbeiteten und welche sich wiederum verpflichteten, viel Tamtam um den wunderbaren Ort zu machen.
Dies alles allerdings nur so lange, bis die aufkommenden sozialen Medien zu einem so mächtigen Instrument der Fehlinformation geworden waren. Sodass zum Beispiel eine Internet-Mia nach einem fünfminütigen You-Tube-Video aus ihrem Nagelstudio zu einer Expertin für Immunologie, Virologie und so ziemlich jeder anderen »ologie« geworden war. Danach wurde allen, auch regulär zugezogenen Prominenten sehr ans Herz gelegt, möglichst nichts mehr über Burgberg zu posten.
Nach und nach wuchsen die Musikstudios und es wurden neue Flächen erschlossen, bis auch hier die Kapazitätsgrenze erreicht war. Aber die Burgberger machten sich keine Sorgen um sprudelnde Einnahmen, denn die Nähe zu der wirtschaftlich potenten Stadt Lechen im Süden sorgte für weiteren Zustrom von Firmen. Die Hauptstadt Lechen entwickelte sich zum kreativen Herz von Unternehmen der Unterhaltungsindustrie sowie dem aufstrebenden Dienstleistungsgewerbe für magische Geldvermehrung und Zahlungsdienstleistungen aller Art.
Und da Burgberg durch die Musikstudios den Ruf des Kreativorts überhaupt hatte, zogen immer mehr Firmen lieber nach Burgberg als nach Lechen. Der traditionell äußerst gering angesetzte Burgberger Hebesatz für Gewerbesteuern lockte leider zusätzlich eine ganz spezielle Art von Unternehmungen an, die sich auf die erfolgreiche Ausplünderung aller Art und Spezies spezialisiert hatten. Da die Gewerbeflächen von Burgberg äußerst begrenzt waren, tolerierte der Bürgermeister, so großzügig wie er nun einmal war, auch jede Firma, die bestenfalls nicht mehr Platz als einen Briefkasten benötigte. Um sich bei kritischen Rückfragen darüber dann lauthals zu empören, dass das Land als zuständige Steuerbehörde nichts dagegen unternehmen würde.
Und so wurde aus dem damals ärmlichen Umpfleng das heute exklusive Burgberg mit seinen sechstausend Einwohnern. Viel mehr konnte das kleine Gemeindegebiet auch nicht mehr aufnehmen, was wiederum die Begehrlichkeit und damit die Preise deutlich erhöhte. Der vollständig sowie höchst aufwendig sanierte alte Ortskern allerdings blieb dem traditionellen Baustil verbunden: alte Bauern- und Bürgerhäuser sowie die wenigen neuen Häuser mit maximal zwei Obergeschossen waren streng im alpenländischen Stil gehalten. Rot gedeckte Satteldächer sowie Holzverkleidungen aller oberen Stockwerke und die vielen kunstvoll verarbeiteten Holzbalkone, welche im Sommer meist mit Blumen verschönert waren, verstärkten das alpenländische Ortsbild.
Das Rathaus war in einem alten Bauernhof untergebracht. Vormals hatten in diesem Hof die legendären Bürgerversammlungen zur Gründung von Umpfleng stattgefunden. Der Eigentümer dieses Hofes, Melchior Risser, hatte in seiner Stube schon sehr früh selbstgebrautes Bier ausgeschenkt, um so sein Einkommen ein wenig aufzubessern. Somit war der Risser-Hof schon immer der Ort gewesen, an dem sich alle Umpflenger trafen und auch Versammlungen abhielten. Als Melchior Risser kinderlos verstarb, vererbte er seinen Risser-Hof den Bürgern mit der Maßgabe, dass sein Hof weiterhin allen Umpflengern als Treffpunkt und Versammlungsort dienen sollte. Der Wunsch wurde in den Nachkriegswirren mehr als beherzigt und so wurde der Risser-Hof mit seinen legendären, diskussionsintensiven Versammlungen und auch mit den leidenschaftlichen Reden ihres Bürgersprechers Angerbieger zur Keimzelle für das heutige Burgberg. Als die ersten Wahlen stattfanden und für die gewählten Amtsträger sowie die Verwaltung ein Rathaus benötigt wurde, lag es nahe, den Risser-Hof zum Rathaus umzuwandeln.
Speziell, weil es dann schon den Burgbräu gab. Die erste ordentliche Gastwirtschaft in Burgberg. Der Risser-Hof wurde als Rathaus über die Jahre immer wieder modernisiert, aufgestockt und behutsam erweitert, ohne seine prägenden Merkmale des Voralpenstils zu verlieren.
Zwischen dem Rathaus und der namensgebenden Burg im Westen erstreckten sich wilde Wiesen mit Bäumen und viel Buschwerk. Diese wurden komischerweise durch zwei sich kreuzende Pflasterstraßen, die mit Bänken und aufwendigen Blumenkästen sowie exzentrischen Straßenbeleuchtungskörpern ausgestattet waren, zerteilt. Für den Autoverkehr gesperrt, machten diese Straßen keinen Sinn und schienen völlig willkürlich in die Grünanlage gesetzt worden zu sein. Man kam nicht umhin zu denken, dass es sich bei den beiden Straßen um einen Irrtum gehandelt haben musste. Der Fluss Riss floss hinter der Burg an einem Plateau entlang, an das sich eines der begehrtesten Wohnlagen schmiegte. Diese Wohnlage wurde nur von dem Wohngebiet übertroffen, welches sich direkt am Burgberger See erstreckte.
Der Burgberger See lag im Osten auf der gegenüberliegenden Seite der Burg und des dahinter liegenden Riss-Plateaus, etwas weiter entfernt vom Ortskern, verbunden durch die typischen Bauten der Nachkriegszeit in üppig bemessenen Grundstücken. Die Grundstücke in Seenähe waren viel kleiner und wesentlich dichter bebaut. Neue Designerhäuser wechselten sich ab mit Häusern aus den sechziger und siebziger Jahren; dazwischen war noch der eine oder andere renovierte oder neu gestaltete alte Bauernhof, seines wertvollen Grunds beraubt, eingeklemmt. Der See bog sich im Süden in Richtung der Riss und die Bebauung zur Mündung ging langsam in den Ortskern über.
Zwischen der nördlichen Seite des Sees an der Straße Richtung Lechen erstreckte sich das Neubaugebiet von Burgberg, das in den Boomjahren leider auch das eine oder andere Mal die erste Adresse für stilloses Wohnen geworden war. Überladene Südstaaten-Taras, bis in die Unkenntlichkeit gemorphte viktorianische Tudorhäuser oder missinterpretierte Alhambra-Mediterranlichkeiten entstanden dort. Man sah diesen Gebäuden allzu oft den Willen des verzweifelten Individualismus und Möchtegern-kreativen-Stils an.
In den Zeiten des Aufstiegs von Burgberg waren finanzstarke Neubürger sehr begehrt. Der Bürgermeister und sein Bauamtsleiter waren sich daher notgedrungen einig, dass nur das Geld, der Bekanntheitsgrad sowie die Macht des Bauantragenden für eine Bewilligung ganz nach Gusto des Fordernden entscheidend waren. Und so bauten zu dieser Zeit immer mehr mal weniger oder mehr gut beleumundete Geschäftsleute, potente und einflussreiche oder ambivalente Vorstände und Präsidenten aus ganz Deutschland ihren entfesselten Wohntraum in Burgberg. Dazu gesellten sich schillernde Fußballsportler und kunterbunte Ernährer der Unterhaltungsindustrie, die noch exzentrischer als ohnehin möglich ihre Wohnträume realisiert haben wollten.
Sondergenehmigungen für riesige Garagen, bestückt mit in jeder Hinsicht optisch und auditorisch auffälligen Karossen, sowie ganze Wasser- und Tennisparks wurden großzügig gegen erhebliche Spenden für die Wahlkampfkasse der seit dem Krieg regierenden WirFürUnsPartei, kurz WFÜP genannt, ausgegeben. Allerdings waren sich sämtliche Bürgermeister, Gemeinderäte und Gemeindeangestellte stets einig, dass diese Stein- und Mörtelexzesse damals einfach notgedrungen akzeptiert werden mussten, um dieses Klientel anzulocken.
Aber man war sich schon zu dieser Zeit einig, dass diese nur auf dieses Gebiet zu beschränken waren. Je freizügiger Genehmigungen für eben jenes Neubaugebiet ausgegeben wurden, desto strenger waren die Regeln für Bauten um den Ortskern herum. Im Ortskern selbst war die kleinste Abweichung vom alpenländischen Baustil bereits ein Grund, ganze Gebäude wieder einzureißen.
Allmählich hatte sich der Hype um Burgberg ein wenig beruhigt. Zwar siedelten weiterhin die sehr gut verdienenden, oberen Hunderttausend der Gesellschaft, erfolgreiche Unternehmer sowie weitere Berühmtheiten und auch immer mehr glückliche Erben dort an, aber die Gemeindeverwaltung untersagte nun auch in jenem Neubaugebiet wesentlich selbstbewusster die schlimmsten Auswüchse der Selbstdarstellungsbauten. Tannenhocker sah ins Gras und erhob sich aus der Hocke, als Wolfgang Scharrer, sich seines Overalls entledigend, sich zu ihm gesellte.
»Zu wissen, was man weiß, und zu wissen, was man tut, ist das Wissen, mein lieber Konfuzius Tannenhocker. Also: Beide könnten ungefähr zur gleichen Zeit gestorben sein. Ich kann mich nicht festlegen, aber ich tippe, dass beide gestern irgendwann am frühen Abend gestorben sind. Die beiden waren sicher keine Freunde von unserem Volksgut, dass es noch jeden Tag Abend geworden ist. Bei diesen Konsequenzen.« Scharrer lächelte in sich hinein.
»Frei nach Rilke: Die falben Felder schlafen schon, mein Herz wacht allem, der Abend refft in Burgberg schon sein blutrotes Totensegel ein. Nun gut, ich sehe, hier ist kein Publikum für mich.«
Er bückte sich und entnahm ein kleines Notizbuch seiner Arzttasche.
»Also die Frau weist keine äußeren Wunden, keine Traumen auf. Auch keine typischen Spuren von Vergiftungen. Könnte ein Herzversagen sein, ein tödlicher Schlaganfall. Aber das glaube ich nicht so ganz. Keine auffällig typischen Zeichen dafür und die Haut sieht etwas seltsam aus. Und mit den Augen könnte auch etwas nicht stimmen. Ich kann jetzt noch nicht viel mehr dazu sagen, aber ich tippe auf herbeigeführten Tod. Die Obduktion wird mehr Klarheit bringen. Beim zweiten Opfer ist alles viel leichter, wie Sie sehen. Der ist ganz einfach erschossen worden. Da gibt es kein großes Rätsel auf. Bisher haben wir keine Waffe gefunden. Wir haben einen Schnell-Schmauchspurentest bei der Frau gemacht: negativ. Zur möglichen Waffe selber kann Ihnen dann die Ballistik mehr sagen, wenn diese die halbe Mauer ausgebohrt haben. Muss aber wirklich ein gewaltiges Ding sein.«
Hans Brebeck holte ebenfalls seinen Block heraus und fügte an:
»Der junge Mann sieht eher südländisch aus. Wie gesagt, Scharrer schätzt ihn auf maximal dreißig, eher jünger. Seine Kleidung ist der übliche Mix von Klamotten der großen Modeketten. Der übliche Fast-Fashion-Krempel halt. Nur die Schuhe und der Gürtel sehen nicht wie von der Stange aus.«
»Hier könnte unser Gebrauchspoet Klaus Klages Recht haben, wenn er feststellt: Mancher trägt weiter nichts als sein Aussehen. Denn der Mann hat sehr auf sein Äußeres geachtet: alles an Kleidung ist durchdacht und farblich perfekt kombiniert worden. Nicht kurz angezogen, was in Greifweite war. Die Sachen sind, wenn auch nicht teuer, genau ausgewählt und zusammengestellt worden. Gute Mischung aus Massenmarken, wie Hans schon bemerkt hatte. Aber es sind immer wieder bessere, sogar teure Sachen dabei: der Gürtel und die Schuhe sehen kostspielig aus. Auch wenn ich die Schuhmarke nicht kenne. Der Gürtel ist von Calabrese. Teures Zeug!
Die Lederwaren von Calabrese kosten richtig Geld. Unterwäsche sowie Socken sind von Calvin Klein. Sehen aber etwas seltsam dafür aus. Könnte zweite Wahl oder sogar ein gut gemachtes Stück Produktpiraterie sein. Ein echter Karl-Simrock-Fall: Man empfängt den Menschen nach dem Kleide und entlässt sie nach dem Verstand.«
Brebeck blickte Scharrer erstaunt an, erinnerte sich aber kurz danach, dass dieser viele Jahre mit einer Vertreterin einer bekannten Modemarke liiert gewesen war.
Scharrer bemerkte den Blick und lächelte kurz. Die Jahre mit Babsi hatten wohl offensichtlich diesbezüglich mehr Spuren hinterlassen, als er dachte. Er hätte sie sofort geheiratet, aber sie hatte nur mit dem Woody-Allen-Zitat, die Ehe ist der Versuch, die Probleme zu zweit zu lösen, die man alleine nicht hat, abgewunken. So unrecht hatte sie im Nachhinein nicht gehabt, denn Barbara Kiesinger war nun schon zum vierten Mal unglücklich verheiratet. Für alle etwas irritierend lächelte Scharrer bei diesem Gedanken, erschrak aber, als er Brebeck ansah, und fuhr dann hastig fort:
»Wie gesagt. Der Junge war auf sein Aussehen bedacht. Guter, frischer Haarschnitt, gepflegte, manikürte Hand. Zähne sind wahrscheinlich gebleached und ansonsten gepflegt. Allerdings nicht in der Kindheit kieferchirurgisch behandelt worden: das Gebiss ist optisch unregelmäßig. Meine Meinung: Der kommt nicht von hier. Passt nicht zu den jungen Leuten hier vor Ort mit ihrem eher Laisser-Faire-Urban-Style. Und eine gefälschte Cartier habe ich hier noch nicht gesehen. Rolex ja. Und zwar eine Menge von diesen Dingern an Gelenken von Leuten, von denen man das nicht glauben möchte. Wie sagte schon Attar: Falschheit ist ehrlos, und Lug wird von jedem verachtet.«
Scharrer sah nun zu Brebeck. Der nickte kurz, nahm seinen Block wieder auf und ging seine Notizen weiter durch.
»Bitte Wolfgang. Wir wissen alle, dass du der uneingeschränkte Zitatenkönig bist. Aber langsam wird es schwierig. So, jetzt zum Haus: Alles war komplett abgeschlossen. Nichts aufgebrochen. Keinerlei Spuren, wie jemand rein- oder rausgekommen ist. Das Haus ist wirklich vorbildlich gesichert. So, wie es unsere Kollegen beim Einbruch in den ganzen persönlichen Beratungen vorschlagen: Zwei Panzerriegel innen an der Türe im Keller, alle Fenster und Balkon- und Terrassentüren haben Sicherungsschlösser mit Schlüssel. Die Haustüre ist neu mit Innenschieber und Verhakungsmechanismus. Wie übrigens auch die Fenster so nachgerüstet worden sind. Alles absolut vorbildlich. Ich habe in der ersten Ansicht allerdings keinerlei Wertgegenstände wahrnehmen können, die so eine Sicherung rechtfertigen würden. Keine Bilder an der Wand. Nur gerahmte Massendrucke. Keine Unterhaltungselektronik, die Stereoanlage ist fast antik: hat noch einen Plattenspieler. Sogar der Fernseher dürfte noch ein altes Röhrengerät sein. Im Schlafzimmer haben wir einen kleinen Flachbildschirmfernseher der ersten Generation gesehen. Aber so einen kann man nicht einmal mehr auf Ebay verschenken. Keine Computer, Laptops oder Tablets. Komisch, dass man sich dann so eine Mühe mit der Sicherung dieses alten Kastens macht, wenn es ohnehin nichts zu stehlen gibt. Angst?«
»Sogar das Mobiltelefon ist dezent gealtert. Ein Smartphone, mit dem man fast nur telefonieren kann, das aber eine ganz passable Kamera für diese Zeit hat. Das einzig Wertvolle trug die Frau am Handgelenk. Eine Smartwatch der letzten Generation. Und zwar eine, mit der man telefonieren und alle möglichen Körperfunktionen messen kann. Und wenn ich noch anfügen darf: Das Einzige, was nach Vermögen aussehen könnte: die Tote ist etwas langweilig gekleidet, dafür aber teuer. Alles ziemlich neu. Solide, aber uninspiriert. Und geradezu konservativ für ihr Alter. Aber wie sagte schon unser Bundesheinemann: Konservativ sein heißt, die Flamme zu bewahren, und nicht, die Asche zu behüten«, fügte Scharrer schief grinsend hinzu.
Brebeck wurde nur ungern unterbrochen und sah daher Scharrer etwas genervt an, um dann wieder seine Notizen abzuarbeiten:
»Nur wenige Blutspritzer an der Kleidung der Frau. Der Mann ist aber im gleichen Zimmer erschossen worden, in dem wir auch die Frau gefunden haben. Die Kugel ist wie Butter durch den Körper und hat auch noch einen erheblichen Weg in der Ziegelwand zurückgelegt. Die Kollegen bergen sie oder besser was von der Kugel noch übrig ist.«
Brebeck stöhnte leise auf und beugte seinen schmerzenden Rücken. Nachdem weder Tannenhocker noch Scharrer kommentierten, sprach er nach der spontanen Rückenübung weiter und sah dabei zu Karl Tannenhocker:
»Ich darf einmal spekulieren, auch wenn Sie das nicht so mögen. Ein aus dem Ruder gelaufener Einbruch, der zu Raubmord wurde? Was spricht dagegen: Der junge Mann ist zwar sicher nicht so gekleidet, als ob er geplant hätte einzubrechen. Da zieht man eher dunkle Klamotten und Hoody an. Aber ganz sicher Turnschuhe und keine teuren Ledertreter. Gegen einen Raubmord spricht auch, dass es hier nichts zu holen gibt. Und das sieht man schon von außen oder wenn man durch die Fenster blickt. Gut, das Haus ist sehr gut gesichert und das könnte auf mehr schließen lassen.« Brebeck machte erneut eine kleine Pause, um seinen Rücken zu dehnen.
»Andererseits macht es das wieder komplizierter für den Einbrecher. Blöde Kombination: wahrscheinlich wenig Beute, aber hohes Risiko durch gute Objektsicherung. Sicher gibt es hier viel einladendere und damit lohnendere Objekte. Und wenn doch: Ein überraschter Einbrecher? Hat so jemand eine Waffe dabei? Eher nicht, wie uns unsere Statistiken sagen. Und wenn, dann sicher nicht so eine Riesenkanone, die ihn mehr behindert als Nutzen bringt. Wie gesagt: Einbrecher mit Waffen sind eher selten, zumindest bisher. Und dann noch mit einer vermeintlich so großen, schweren und besonderen Waffe. Nein, das glaube ich einfach nicht.«
Nachdem Tannenhocker ihn weiter ansah, fasste Brebeck Mut und sprach weiter:
»Ein geplanter Mord? Mit so einer Riesenwumme? Nein, das halte ich für unwahrscheinlich, denn solche Pistolen sind unserer Datenback nach nicht oft im Umlauf und daher wahrscheinlich schnell zu identifizieren. Das Risiko ist doch viel zu groß, dass diese seltene Waffe gegebenenfalls flott zugeordnet beziehungsweise zurückverfolgt werden kann. Da nimmt der Fachmann doch lieber eine häufig genutzte neun Millimeter. Und die verwendete Waffe dürfte für einen geplanten Mord viel zu kompliziert zu benutzen sein. Weil sie wahrscheinlich sehr schwer und groß sowie sicher auch ziemlich laut beim Abfeuern ist. Ein Überraschungsmoment brauchst du jedenfalls nicht von Angesicht zu Angesicht planen. Das glaube ich nicht. Wenn so eine Wuchtbrumme, dann wollte er von draußen einen gezielten Schuss setzen. Dafür musste er nicht in das Haus. Auch sehr unwahrscheinlich. Und warum sind beide tot, aber nur einer erschossen? Und welche Rolle spielt der Mann? Besucher, verhinderter Einbrecher oder gar Mörder? Aber zieht sich jemand so an? Eher nicht. Ich wiederhole: schwarze Klamotten, die viel verdecken, und sicher keine schicken Lederschuhe, sondern Laufschuhe.
Gewohnt hat er jedenfalls nicht im Haus. Erstens ist dort nur die Tote gemeldet und zweitens haben wir keinerlei persönliche Gegenstände gefunden, die auf den Mann schließen lassen. Nur solche, die wir der Frau zuordnen konnten. Wenn ich mir erlauben darf: nur Frauenkram. Gepäck haben wir auch keines gefunden. Und auch keine Toilettenartikel, die auf einen Mann schließen lassen könnten: Rasiersachen zum Beispiel, denn unser Toter ist ja sorgfältig rasiert. Ach ja: nur ein Bett im ganzen Haus ist bezogen, und wie es aussieht, auch genutzt. In einem Schlafzimmer, das so aussieht, als würde es zu der Frau gehören.«
Wolfgang Scharrer fügte an, als eine kurze Redepause entstand:
»Da der Körper der Frau nach erster Ansicht keinerlei Traumaspuren aufweist, muss sie den Mann hereingelassen haben oder er ist durch die offene Türe hereinspaziert und hat sie im Zimmer überrascht. Ist dann sofort erschossen worden. Jedenfalls kam es zu keiner Auseinandersetzung. Mit der Frau, meine ich natürlich. Aber wie sagte schon unsere österreichische Literatin Ebner-Eschenbach: Ausnahmen sind nicht immer Bestätigung der alten Regel; sie können auch die Vorboten einer neuen Regel sein. Und wenn es also gerade Mode wird, todschick gestylt mit eindrucksvollen Pistolen auf Einbruch zu gehen?«
Brebeck sah Scharrer genervt an und wandte sich erneut Tannenhocker zu.
»Nachdem das Haus so gut gesichert ist, denke ich aber, dass die Frau nie und nimmer die Haustüre oder sonst eine Türe oder Fenster offen gelassen hat. Also was zum Teufel ist dann passiert? Ein toter Unbekannter, der wahrscheinlich nicht von der zweiten Toten erschossen wurde. Und es ist keine Waffe im Haus zu finden. Also doch ein Dritter, Einbrecher, Räuber oder Mörder wie auch immer, der den Mann erschießt und die Waffe wieder mitgenommen hat? Was ist mit der Toten passiert? Hat sie nett zugesehen und ist dann freundlicherweise an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall gestorben, bevor er sie als missliebige Zeugin ebenfalls umgebracht hätte? Oder hat sie mit dem Dritten kollaboriert? Dieser erschießt den Mann, sie begleitet ihn wieder hinaus und schließt ab. Aber was hat sie dann mit dem Toten vor? Kommt der Dritte noch einmal und hilft beim Vertuschen? Ist er praktisch nur mal kurz Zigaretten holen gegangen? Wenn sie mit dem Dritten nicht kollaboriert, warum ruft sie nach der Tat nicht die Polizei? Schließt panisch die Türe ab und rennt zum Telefon. Was übrigens gegen einen Einbruch spricht: wir haben bisher keine Einbruchsspuren gefunden. Der oder die Dritte muss hereingelassen worden sein.«
Brebeck schaute möglichst bedeutungsvoll in die Runde.
»Wenn beide tot waren und der Dritte da noch im Haus war: wie ist diese Person aus dem Haus gekommen? Die Haustüre war abgesperrt und wir haben zwei Schlüssel innen gefunden. Es war auch keine weitere Person im Haus, als die Kollegen kamen. Die Haustüre war abgeschlossen, der Keller verriegelt und alle Fenster waren geschlossen und gesichert. Die einzigen Fenster in der Speisekammer, in der Toilette im Parterre oder im Keller, die nicht aufwendig gesichert sind, haben ein Gitter. Habe daran gerüttelt. Die sind absolut fest. Auch gibt es keine Spuren von Mauerarbeiten um die Gitter herum. Alles patiniert. Da hat seit Jahren keiner etwas verändert. Ich bin sogar auf den staubigen Dachboden rauf. Keine Spuren, dass da jemand durch das Dach heraus- oder hereingekommen ist. Ich warte noch auf die Drohne, um das ganze Dach von außen genauer anzusehen, aber ich glaube, dass da auch nichts zu sehen sein wird. Habe in meiner Verzweiflung sogar in das Kaminrohr gesehen. Da kommt nicht einmal ein Kleinkind durch. Wie kann das sein: Keine Waffe und keine weitere Person im Haus? Also mehr Schlüssel als die zwei gefundenen? Sie muss den Dritten rausgelassen haben und dann hat sie abgesperrt.«
»Oder derjenige, der das alles angerichtet hat, muss einen Schlüssel haben. Wenn es denn einen Dritten gibt. Die Spurensicherung wird uns da hoffentlich weiterhelfen. Denn wer sich nicht selbst helfen will, dem kann niemand helfen. Pestalozzi übrigens«, murmelte Scharrer.
»Der Mann ist tot, die Frau auch, beide sind in einem komplett gesicherten und abgeschlossenen Haus und es gibt keine Waffe. Wie gesagt, wir haben nach erster Ansicht keine Schmauchspuren und nur Blutspritzer an einer Seite der Frau gefunden. Es hätte an ihr viel mehr und vor allem großflächige Blutspuren nach der Wucht des Einschlags geben müssen. So groß ist das Zimmer auch nicht. Also wahrscheinlich hat die Frau nicht geschossen, aber sie war im Zimmer, als der Mann getötet wurde oder zumindest kurz danach. Denn wir haben Ziegelstaub in ihren Haaren gefunden. Aber das ist alles noch Spekulation.«
Brebeck kratzte sich kurz an der Stirn und fuhr gleich danach fort:
»Aber viel spricht dafür, dass sie nicht geschossen hat. Denn wenn sie geschossen hätte, wäre mehr Blut an ihren Kleidern. Die Blutspritzer des Mannes sind sonst fast überall im Zimmer zu finden. Wie gesagt, wahrscheinlich war es ein Hammerkaliber. Vielleicht ist sie kurz danach in das Zimmer gekommen und hat versucht zu helfen. Natürlich kann sich die tote Frau auch nach dem Mord an dem jungen Mann Handschuhe ausgezogen haben und die Blutspuren an der Kleidung so gut entfernt haben, wie es gerade ging. Und sich eben noch nicht komplett umgezogen haben. Wollte sie vielleicht später machen. Aber warum hat sie dann nicht alle Blutspuren einigermaßen gründlich entfernt? Speziell die im Gesicht. Die sieht man doch von Weitem. Und den Ziegelstaub dann gleich mit. Hatte sie ein Zeitproblem? Schnelle Vorreinigung, nur um die Waffe so schnell wie möglich wegzuschaffen? Unwahrscheinlich. Mit Blut im Gesicht rennt man nicht unauffällig durch die Gegend. Wir suchen übrigens schon länger die Gegend nach der Waffe ab. Bisher nichts. So Wolfgang! Du bist jetzt dran. Wie viel Zeit lag zwischen dem Tod von beiden. Das würde uns schon einmal sehr weiterhelfen«, kam es von Brebeck zurück.
»Mehr nach der Obduktion. Wie im Fernsehen«, lachte dieser Brebeck an.
Karl Tannenhocker sah beide an und nickte unmerklich.
Dann hob er die Hand zu einem angedeuteten Gruß und ging vorsichtig zur Gartentüre. Kurz danach konnte man den Vectra starten hören.
Scharrer sah Brebeck an. Beide zuckten die Schulter. Wie immer halt, dachten beide gleichzeitig. Kein Ton. Scharrer packte seine Sachen in die Tasche und sah Hans Brebeck dabei kurz an.
»Eines verstehe ich nicht. Eine alleinstehende junge Frau mit offensichtlich großen finanziellen Möglichkeiten in so einem Museum. Ihr scheint das hier zu gehören, also hatte sie ein kleines Vermögen. Warum wohnt sie so weit von der Stadt weg, wo das Leben tobt und sie alle Möglichkeiten hat. Da sucht man sich doch etwas in der Stadt.«
Brebeck sah ihn an und breitete die Arme aus. Als weiter keine Antwort von ihm kam, redete Wolfgang Scharrer weiter:
»Diese Gudrun Rabenschnabel war doch keine dieser Bartlos-Untätowierten, die die aufgerufenen Schamlosigkeiten für eine enge Wohnung in Frechen nicht zahlen können und gekränkt darauf bestehen, dass die Luft hier am Land ganz anders ist und sie nur dreißig Minuten bis dahin brauchen, von wo sie sich aus ins Abseits migriert haben.«
Er hielt inne und überlegte kurz, ob man, wenn man auf das Land zieht, irgendwohin geht oder vor irgendetwas flieht. Zum Beispiel weg von der Arroganz der Metropole, auch wenn die Vorortidylle inzwischen doch meist einen stark provinziellen Unterton hatte. Trotz Hipster-Holzfällerhemden und elektrischem Lastenfahrrad. Nachdem immer noch keine Reaktion erfolgte, sprach er in Gedanken einfach weiter:
»Also gut, du hast wahrscheinlich recht. Es ist sicher grundsätzlich egal, ob man in Frechen oder eben hier, also dreißig Minuten von der Metropole weg wohnt. Es geht am Ende um Identity Politics. Es wird dich langweilen, aber das erinnert mich an Reckwitz: Es geht um einen gesellschaftlichen Strukturwandel, der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen. Aber ich sehe schon, Hans, das ist wohl ein bisschen viel für dich. Darf ich neben Reckwitz auch George Bernhard Shaw anführen? Exklusiv ganz alleine und nur für dich: Der Nachteil der Intelligenz besteht darin, gezwungen zu werden ununterbrochen dazuzulernen. Besonders, wenn man einen so belesenen Kollegen wie mich hat.« Scharrer lächelte ihn maliziös an.
Hans Brebeck spitzte die Lippen und antwortete mit gezierter Stimme:
»Danke, dass du mich an deinen Gedanken und deinem universumsgleichen Wissen so umfänglich teilhaben lässt. Aber auch ein kleiner Polizist hat natürlich schon lange bemerkt, dass derzeit das Außergewöhnliche gepflegt und herausgestrichen wird. Es kommt jetzt nur noch darauf an, was man isst, wie man wohnt, wohin man reist, wen man zitiert und eben auch und vor allem: wie man spricht. Besonders möglichst einzigartig und außergewöhnlich zu wirken ist derzeit ganz groß angesagt! Individualismus ist alles, was zählt.«
Wolfgang Scharrer war müde. Es war ein langer Tag geworden. Bis alle Punkte im Haus abgearbeitet worden waren, hatte es länger gedauert, als alle dachten. Er sah zu Brebeck herüber, der ebenfalls müde auf dem Gartenstuhl saß und in den Laptop vor ihm auf dem Gartentisch starrte, in dem er seine Ergebnisse eingetragen hatte.
Wolfgang Scharrer, mittelgross, mittelbreit mittellang war im landläufigen Sinn ein gut aussehender Mann. Auch wenn er dies ungewollt geradezu perfekt verbarg. Sein sehr dichtes schwarzes Haar, welches sein absolut symmetrisches, dabei aber völlig merkmalloses Gesicht umrahmte, schnitt er regelmässig selbst: natürlich mit einem elektrischen Haarschneider zu einer selbstverständlich praktisch-funkionellen Frisur. Alles an ihm war so praktisch und funktional ausgelegt wie seine randlose, rechteckige Silhouette Technikerbrille: leicht, unverbiegbar und phototrop. Und damit stets die richtige wenn auch gesichtlose Wahl. Seine Kleidung kaufte er stets im Zehnerpack beim immer gleichen, gehobenen Herrenausstatter: beige und blaue Chinos dazu von der Verkäuferin sorgsam ausgewählte, farblich abgestimmte, unifarbene und strikt bügelfreie Hemden und Pullover. Seine geliebten und daher auch bei grimmigen Temperaturen getragene Poloshirts waren allerdings unbetreute Käufe, da diese stets weiss waren. Nur auf Schuhwerk legte Wolfgang Scharrer überraschenderweise grossen Wert. Diese mussten nicht nur funktional sondern auch ästhetisch gehobenen Ansprüchen dienen und wurden daher als einzige Teile in der Scharrer Gesamterscheinung eben nicht nur in Schuss gehalten sondern geradezu hingebungsvoll gepflegt. Was stets für eine unerklärliche Unstimmigkeit bei den Betrachtern des Gesamtbilds Doktor Scharrer sorgte.