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Ein Traum, der zerbricht. Eine Liebe, die alles verändern kann. Nach Jahren harter Arbeit hat Lucas es endlich geschafft: Er ist Haupttänzer an der renommierten Pariser Oper. Sein Leben ist geprägt von Disziplin, Leidenschaft – und der absoluten Hingabe zum Tanz. Camille hingegen hat sich geschworen, ihr Herz zu schützen. Ein tragisches Ereignis aus der Vergangenheit hält sie gefangen, und Männer lässt sie nicht mehr an sich heran. Doch Lucas’ Charme und seine unerschütterliche Entschlossenheit wecken Gefühle in ihr, die sie längst verloren glaubte. Gerade als sich zwischen ihnen etwas Wundervolles entwickelt, reißt ein Schicksalsschlag Lucas aus seiner Welt und droht, seinen Traum für immer zu zerstören. Kann ihre Liebe diesem Schmerz standhalten? Oder verlieren sie sich, bevor sie erkennen, dass sie gemeinsam jede Hürde überwinden können? Ein bewegender, leidenschaftlicher Roman über die Kunst des Tanzes, die Kraft der Liebe und die Magie Frankreichs. Dieser Band wurde ursprünglich von Sandrine Dupont geschrieben. Kim David hat ihn, in enger Zusammenarbeit mit Sandrine, komplett überarbeitet. Mit dem zweiten Band "Spring in mein Herz" setzt sie die Reihe fort.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Tanz in mein Leben!
Love and Dance in Paris (Band 1)
von Kim David
2. Auflage, überarbeitet und unter neuem Namen.
© Kim David – alle Rechte vorbehalten.
Impressum:
Kim David
C/o Patricia Härtl
Hubertushöhe 9
65812 Bad Soden am Taunus
Alle Figuren, Ereignisse und Geschehnisse sind fiktiv und entspringen meiner Fantasie. Lediglich die Örtlichkeiten in Paris entsprechen der Wahrheit. Die beschriebenen Behandlungsmethoden nach Frakturen sind dank medizinischer und physiotherapeutischer Beratung ebenfalls wahr.
Über die Autorin:
Kim David ist das, was man eine Weltenbummlerin nennt. Sie liebt es, neue Länder und Städte zu entdecken. Ihren Lebensmittelpunkt hat sie nun in Hessen. Das vorliegende Buch ist eine Neuauflage des Romans „Dein Tanz in meinem Leben“, geschrieben von ihrer Freundin und Kollegin Sandrine Dupont. In Zusammenarbeit entstand dann der Nachfolgeband.
Die alleinigen Rechte am vorliegenden Werk gehören der Autorin. Es ist untersagt, Kopien anzufertigen und/oder Auszüge auf illegalen Plattformen zu verbreiten. Bei Zuwiderhandlung wird Strafanzeige gestellt.
Wer im Regen tanzen kann,
wird auch bei Sturm den Tanz des Lebens meistern können.
(Verfasser unbekannt)
Prolog
Nun war er also da, der Tag, vor dem ich mich so gefürchtet und doch gehofft hatte, er würde nicht kommen. In Gedanken ging ich die letzten Minuten, die ich mit meinem Zwillingsbruder Julian zusammen verbracht hatte, durch. Dachte an die letzten Worte, die wir sprachen, wie wir noch einmal gelacht hatten. Spürte den schwachen Händedruck, bevor Julian ein allerletztes Mal lächelte, mich dabei ansah und dann für immer die Augen schloss. Ich hielt seine Hand, bis auch der letzte Funke Leben erloschen war und nur noch die leere Hülle seines zerbrechlichen Körpers im Bett lag.
Warum musste Julian sterben? Warum so früh? Warum hatte ich ihn nicht retten können? Warum?
Der Schrei, der meine Kehle fast zerriss, drückte nur ansatzweise den Schmerz aus, den ich empfand.
Julian war nicht nur mein Zwillingsbruder gewesen, sondern auch die zweite Hälfte meiner Seele. Auch wenn wir uns äußerlich nicht ähnlich sahen und kaum gemeinsame Interessen hatten, hätten wir doch alles für den anderen getan, wenn es denn erforderlich gewesen wäre. Alles, doch genau das hatte nicht gereicht. Ich hatte als Bruder versagt.
Nachdem ich nach Paris gezogen war, um meinen Traum zu leben, war unser Kontakt zueinander weniger geworden, doch als Maman anrief und mir von dem nahenden Ende meines Bruders erzählte, war ich sofort nach Nancy aufgebrochen. Ich hatte bereits seit längerem gewusst, dass er krank war, jedoch nie wirklich realisiert, was die Diagnose Krebs letztendlich bedeutete.
Die Tränen, die mir über das Gesicht rannen, wischte ich irgendwann entschlossen weg. Mein Bruder hätte nicht gewollt, dass ich in Depressionen verfiel. Er würde wollen, dass ich für ihn lebte und glücklich war.
„Nun hat er seinen Frieden gefunden, das darfst du nicht vergessen“, sagte Maman, die neben mir saß. „Er wird weiter auf uns aufpassen, so wie er es schon immer getan hat.“
Mit beiden Armen umschlang ich die schmale Gestalt meiner Mutter. „Es tut so weh“, schluchzte ich. „Wie soll es nur weitergehen?“
„Irgendwie wird es das.“ Sie strich mir meine wilden blonden Locken aus dem tränennassen Gesicht. „Danke, dass du noch geblieben bist. Aber jetzt wird es Zeit, dass du nach Hause fährst und weiter an deinem Traum arbeitest. Julian war so stolz auf dich, dass du das Engagement an der Pariser Oper bekommen hast.“
„Ja? Er hat nie etwas dazu gesagt, zumindest nicht zu mir.“ Endlich stahl sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. „Es tut gut, es zu wissen.“
„Ich habe noch etwas für dich. Dein Bruder wollte, dass du diese CD bekommst, wenn er ... er hätte sie dir gerne selbst gegeben, aber dazu kam er nicht mehr.“ Sie überreichte mir eine dieser altmodischen Kunststoffhüllen, in denen eine silbrig glänzende CD steckte. „Ich weiß nicht, was drauf ist. Er sagte, es wäre nur für dich. Er hat dich sehr geliebt, das weißt du, oder?“
Ich konnte nur nicken. Zu sehr wurde ich von meinen Gefühlen überrollt, konnte keine Worte mehr fassen. Ja, ich hatte es gespürt und ich würde Julian für den Rest meines Lebens lieben und vermissen.
Was wohl auf der CD enthalten war? Ein kleiner Zettel steckte zwischen der Hülle und dem Papiercover, den ich nun vorsichtig herauszog und den Text darauf zu lesen begann.
„Lucas, mein wundervoller Bruder,
wenn du diese CD in den Händen hältst, bedeutet das, ich bin von meiner Krankheit erlöst worden. Mein Leiden ist vorbei. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es dir jetzt geht, jedoch will ich, dass du deinen Traum lebst. Werde ein berühmter Tänzer. Erobere alle Bühnen der Welt. Es war dir schon immer bestimmt, genau dies zu tun. Vielleicht kann ich mit meiner CD, die in der Hülle steckt, dazu beitragen. Du magst es nicht glauben, aber die Musik darauf stammt von mir. Ich habe sie komponiert und zusammen mit einem Freund aufgenommen. Vielleicht bin ich nicht solch ein Künstler wie du, aber dieses Stück ist ein Teil meiner Seele, die ich für dich zurücklasse. Sie wird dank dir weiterleben. Gerne hätte ich noch erlebt, was für einen Tanz du dazu aufführst, aber sei versichert, ich werde es von da oben verfolgen.
Ich bin unfassbar stolz auf dich, auch wenn ich es dir nie gesagt habe. Lebe weiter. Finde die Liebe, die du verdienst. Werde glücklich.
Dein dich immer liebender Bruder Julian“
Schon wieder rannen Tränen über mein Gesicht, doch diesmal wischte ich sie nicht weg. Die CD an meine Brust gepresst, stand ich auf und ging ins Haus. Es war Zeit, wieder nach Paris zu fahren. Dort würde ich mir anhören, was Julian für mich hinterlassen hatte.
Camille
„Stop, Camille. Hör doch mal!“, rief Eloise mir zu, als wir durch die Rue Poulbot schlenderten. Da ein lauer Sommerwind durch Paris wehte, waren alle Fenster der umstehenden Häuser weit geöffnet. Aus einem der oberen Stockwerke eines unscheinbaren Gebäudes drangen fetzige Tanzrhythmen zu uns nach unten. „Lass uns eine Runde tanzen.“
„Hier auf der Straße?“ Verwundert schaute ich meine jüngere Schwester an. „Das geht doch nicht. Was sollen die Leute von uns denken?“
„Ach, vergiss die. Wir sind in Montmartre, da kennt uns niemand. Und außerdem ist das hier normal. Schließlich leben in diesem Teil von Paris überwiegend Künstler. Die sind alle ein wenig verrückt, wie du weißt.“
Eloise hatte ja recht, musste ich eingestehen. Die Musik war zu gut, um einfach nur still zu stehen oder sie zu ignorieren. Also schnappte ich mir die Hände meiner Schwester und schon tanzten wir ausgelassen. Immer mehr fing der Song mich ein, nahm mich in Beschlag und ich ließ mich treiben. Meine Umgebung und auch Eloise verschwammen. Ich schloss die Augen und lebte nur für den Moment.
Irgendwann verstummten die Töne und ich kehrte in die Gegenwart zurück. Eloise betrachtete mich lächelnd.
„Was? Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte ich irritiert.
„Nein, im Gegenteil. Mir war nur nicht klar, wie gut du tanzt. Das solltest du viel öfter tun.“
„Ach komm, so gut war es auch nicht.“
„Spinnst du?“, grinste Eloise und applaudierte begeistert. „Das war unglaublich gut.“
„Lass uns weitergehen. Die Leute starren uns schon an“, murmelte ich und spürte, wie meine Wangen sich röteten. Nicht vom Tanzen, sondern von dem unerwarteten Lob meiner Schwester.
Klar, wir verstanden uns gut, so wie Schwestern es halt tun, aber manchmal wünschte ich mir mehr ... mehr Zusammengehörigkeit oder Gemeinsamkeiten. Während Eloise an der Sorbonne Modedesign studierte und auf den Fashion-Shows ihre phantasievollen Entwürfe präsentierte, blieb ich lieber im Hintergrund. Es war so gar nicht meine Welt und ich hasste es, im Rampenlicht zu stehen oder angegafft zu werden. In meinem Beruf als Physiotherapeutin in einem Krankenhaus wurde ich das zum Glück nicht. Manchmal versuchten die männlichen Patienten, mit mir zu flirten, oder gestanden mir sogar ihre Liebe, aber das war immer nur Spaß. Niemals würde ich etwas mit einem Patienten oder Kollegen anfangen. Das führte immer nur zu Problemen und die brauchte ich nun absolut nicht.
Nicht nach Éric. An den gutaussehenden Arzt wollte ich nicht mehr denken, sondern nur den Abend mit meiner kleinen Schwester genießen.
„Wo wollen wir hingehen?“, erkundigte ich mich. Eloise war gerade damit beschäftigt, den Schaukasten an der Hauswand zu studieren. „Hast du einen Vorschlag?“
„Wie wäre es mit dem „Chéz Plumeau“? Das hat eine Außenterrasse und das Essen ist einfach göttlich“, schwärmte meine Schwester.
„Du wirst doch nicht Thomas abtrünnig werden, meine Süße.“ Breit grinste ich sie an. Ich wusste um die heimliche Liebe zu dem sexy Koch des angesagtesten Restaurants in ganz Paris.
„Ach, der ... der hat doch nur noch Augen für seine Ella.“ Dramatisch seufzte Eloise auf. „Auch wenn sie ja total gut zusammen passen, aber wie kann er mich nur abweisen?“
Ausgelassen lachten wir und schlenderten Arm in Arm zusammen durch das Künstlerviertel.
Überall hatten sich Bleistiftartisten mit ihren Staffeleien aufgebaut und bedrängten nun die zahlreichen Touristen. Wir hingegen wurden nicht angesprochen, was uns nur recht war. Niemals würde ich diesen völlig überteuerten Preis für eine geschmacklose Karikatur meiner selbst bezahlen! Dreißig Euro war in meinen Augen verschwendetes Geld, das ich besser investieren konnte. Zwar verdiente ich nicht schlecht, aber zum Fenster rauswerfen wollte ich mein Gehalt trotzdem nicht.
Wenig später erreichten wir das Restaurant und fanden auf der bereits gut gefüllten Terrasse noch einen Platz.
Der Kellner nahm unsere Getränkebestellung auf und wir studierten konzentriert die Speisekarte.
„Ich glaube, ich nehme heute nur den großen Salat“, murmelte ich und klappte die Karte wieder zu. „Es ist viel zu schwül für etwas Warmes.“
„Das stimmt, aber ich nehme trotzdem die Canneloni, denn die sind einfach lecker.“ Auch Eloise legte ihre Karte auf den Tisch und sah mich erwartungsvoll an.
„Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, einen Tanzkurs zu machen?“, fragte sie schließlich.
Ich seufzte auf. „Habe ich doch schon längst. Wenn du dich erinnerst, sogar mit dir zusammen.“
„Nein, ich spreche nicht von Standard oder Latein, sondern von etwas Modernerem. HipHop oder Jazz-Tanz. Du hast echt Talent.“
„Dafür habe ich keine Zeit und selbst wenn, die Kurse sind bestimmt jetzt im Sommer alle ausgebucht. Und außerdem kenne ich niemanden, der so etwas anbietet.“ Erneut seufzte ich. „Also vergiss es.“
Eloise lächelte nur verschmitzt. Diesen Gesichtsausdruck kannte ich nur zu gut. Sie heckte etwas aus. Vermutlich würde sie es mir bald präsentieren. Vielleicht schon an meinem Geburtstag nächste Woche.
Lucas
„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht und nochmal, vier, fünf, sechs, sieben, acht“, zählte ich leise die Schritte, während ich meine Partnerin Gisele über die Tanzfläche führte. „Allmählich haben wir den Dreh raus.“
„Wurde ja auch mal Zeit, dass du kapierst, wie es geht“, murrte die zierliche Tänzerin, die auf einem Bein stehend die Pirouette drehte.
„Ach komm, ich habe noch nicht so viel Erfahrung wie du. Sei ein wenig nachsichtig“, bat ich sie und lächelte sie dabei an. „Es ist meine erste große Rolle, die ich tanzen darf.“
„Ob du diese Ehre auch verdient hast, wird sich noch zeigen.“
So ganz konnte ich ihr Verhalten nicht verstehen. Was hatte ich ihr getan? Ich hatte hart für diese Rolle trainiert und mich durch Fleiß und Talent hervorgetan. Warum konnte sie mich nicht akzeptieren? War es, weil ich als Außenseiter galt und nicht wie alle anderen schon in namhaften Produktionen getanzt hatte?
„Ich werde dich nicht enttäuschen, das verspreche ich.“
Die Takte der Musik verklangen und ich verneigte mich leicht vor meiner Partnerin. Gisele galt als DIE Primaballerina der Pariser Oper. Neben ihr zu tanzen, war ein Privileg, dessen war ich mir bewusst.
„Ich wollte dich nicht kränken“, lenkte Gisele nun ein und strich fast zärtlich über meinen muskulösen Oberarm. „Du bist gut, das steht außer Frage. Nur wirst du beweisen müssen, ob du das Vertrauen, dass die Intendanten in dich haben, auch verdient hast.“
„Habe ich dich noch nicht überzeugt?“ Fragend schaute ich sie an.
Gisele trat einen Schritt zurück und ließ ihren Blick über meinen durchtrainierten, aber schlanken Körper gleiten. Diese offensichtliche Musterung fühlte sich für mich fast so an, als betrachte sie mich als Ware und nicht als Kollegen.
„Ich will dir nichts vormachen ... ich möchte mehr von dir sehen. Wie wäre es heute Abend? Wir könnten noch etwas privat trainieren. Natürlich gebe ich mein umfangreiches Wissen gerne an Nachwuchstänzer weiter.“
Was sollte das? Machte sie mich an? Sie war nett, aber überhaupt nicht mein Fall, weder optisch noch vom Charakter her. Gisele war viel zu eingebildet und überheblich, allerdings könnte sie mir einiges beibringen. Doch zu welchem Preis? Ich war zwar ein Mann, aber keiner, der für den Erfolg mit einer Frau in die Kiste hüpfte. Sicherlich würde ich mich nicht nach oben schlafen. Eher würde ich weiterhin im Ensemble tanzen und nebenbei unterrichten.
„Also, wie sieht es aus? Bist du interessiert?“, wollte Gisele wissen und trat nahe zu mir. Die rotlackierten Fingerspitzen ihrer rechten Hand fuhren zart über meine Wange. „Du wirst es nicht bereuen.“
„Ich fühle mich geehrt, aber leider muss ich ablehnen.“ Energisch trat ich einen Schritt zurück und brachte damit Abstand zwischen uns. „Wie du weißt, habe ich noch anderweitige Verpflichtungen.“
„Du weist mich wegen dieses neumodischen Herumgehüpfes ab?“ Fassungslos starrte sie mich an. „Aber wie du meinst. Du wirst sehen, wie weit du es mit dieser Einstellung bringst.“
Sichtlich wütend ob der Abfuhr rauschte Gisele davon und ließ mich verunsichert zurück.
„Was war denn das?“, kicherte es hinter mir.
Ich seufzte auf und wandte mich um. „Madame Gisele hat eben eine Absage von mir bekommen. Sie wird sich einen anderen Gespielen suchen müssen. Ich stehe nicht zur Verfügung“, erklärte ich der Tänzerin mit den unfassbar vielen Sommersprossen im Gesicht. Ihre rote Lockenmähne ließ sich kaum bändigen. Ein paar einzelne Strähnen stahlen sich unter dem Tuch, das um den Kopf geschlungen war, hervor.
„Du böser Junge aber auch“, grinste mich Delphine an. Sie war eine der Tänzerinnen im Ensemble und seit kurzem meine Mitbewohnerin. Dabei waren wir nur Freunde, auch wenn man schon anderes vermutet hatte. Doch das Vertrauen, das zwischen uns bestand, würde ich durch eine Affäre nicht gefährden. Für mich war sie mehr die kleine Schwester, die ich nie gehabt hatte.
„Na, dann komm, du Schwerenöter. Ab nach Hause“, rief Delphine und wuschelte durch meine blonden Locken, die nun wild in alle Richtungen abstanden.
Für Auftritte musste ich stets viel Haarspray verwenden, damit sie glatt am Kopf anlagen. Nur bei den Proben oder privat trug ich meine Mähne so wie sie war. Diese hatten wir beide und vielleicht war jene Gemeinsamkeit der Grund für unsere Freundschaft.
„Du sollst das lassen“, schimpfte ich lachend und rannte hinter ihr her Richtung Umkleide.
Am Künstlereingang wurden wir von jungen Mädchen, die einen Blick auf die Tänzer und Tänzerinnen werfen wollten, erwartet. Nie würde ich mich an diese Art Groupies gewöhnen, gab aber freundlich lächelnd Autogramme.
„Du bist schon jetzt ein Star.“ Delphine strahlte mich an und legte ihren Arm um meine Hüfte. „Aber nur ich darf mit dir nach Hause gehen.“
„Wenn das meine Fans wüssten ... einige sind bestimmt neidisch auf dich“, sagte ich ernst und umschlag ihre Schulter. „Dabei sind wir doch nur Freunde und mehr nicht.“
„Ganz genau. Es gibt gar keinen Grund, eifersüchtig zu sein.“
Gemeinsam liefen wir zur nächstgelegenen Metrostation und erreichten gerade noch den wartenden Zug. Wie immer um diese Uhrzeit war es proppenvoll und so standen wir eng aneinandergepresst zwischen den anderen Fahrgästen.
Zum Glück konnten wir die Untergrundbahn schon drei Stationen später wieder verlassen und eilten hastig die lange Treppe nach oben.
„Ich muss kurz in die Tanzschule. Meine Chefin schrieb mir, ich solle dringend vorbeikommen. Sie müsse mit mir reden“, erklärte ich meiner Begleiterin. „Wir sehen uns später.“
„Alles klar. Bis gleich. Pass auf dich auf.“ Delphine winkte mir noch zu und verschwand um die nächste Häuserecke.
Mir war klar, dass mich viele meiner Kollegen um die Freundschaft zu Delphine beneideten und nicht verstanden, warum wir nicht schon lange zusammen im Bett gelandet waren. Ich mochte sie, sehr sogar, aber nur als beste Freundin, mehr nicht. Wir sprachen über alles, wenn wir abends zusammen in unserer gemeinsamen Küche standen und kochten. Über vergangene Liebschaften und vor allem über unsere Träume. Delphine wollte, wie alle Tänzerinnen, berühmt werden und vielleicht am Broadway in New York tanzen. Ich hingegen wollte eine eigene Dance Academy, in der nicht nur klassisches Ballett, sondern auch HipHop und Street Dance unterrichtet wurde. Es war mein Traum, diese unterschiedlichen Richtungen zu vereinen, denn für mich war es egal, was man tanzte, solange man es mit Leidenschaft und Freude tat.
Endlich hatte ich die Tanzschule, in der ich nach dem Training an der Oper unterrichtete, erreicht und flitzte die zahlreichen Stufen nach oben. Zaghaft klopfte ich an die Tür, auf der „Büro“ stand.
„Herein!“, rief eine dunkle, weibliche Stimme von innen. „Oh, trés bien, mein lieber Luc. Gut, dass du hier bist.“
„Es klang dringend. Warum sollte ich dann nicht kommen?“, wunderte ich mich.
„Ähm ... ja. Egal. Hauptsache, wir können noch heute reden.“
„Was gibt es?“, wollte ich wissen und ließ mich in den altmodisch wirkenden, mit blauem Samt bezogenen Sessel vor dem überfüllten Schreibtisch fallen.
Madame Ernestine, der die Schule gehörte, sah mich traurig an. „Ich muss dir leider mitteilen, dass ich die Tanzschule zum Ende des Jahres schließen werde.“
„Was?“ Erschrocken starrte ich die ältere Frau mit dem auffälligen dunkelroten Lippenstift an. „Warum? Du weißt, ich brauche das Geld und überhaupt ...“
Ich konnte es nicht fassen. Was sollte ich dann machen? Nur noch Ballett tanzen? Auf keinen Fall. Das war viel zu langweilig und steif. Von dem zusätzlichen Einkommen mal abgesehen, befriedigte mich die Arbeit in der Oper nicht.
„Keine Sorge, mein lieber Lucas, bis zum Jahresende ist es noch lange hin. Jedoch werde ich auch nicht jünger. Sophie, meine Tochter, bekommt im Dezember ihr erstes Kind und sie schlägt vor, dass ich dann bei ihr in Brignoles lebe. Das milde Klima in der Camargue ist zudem besser für meine alten Knochen und ich möchte nichts von meinem Enkelkind verpassen. Das verstehst du doch, oder?“
„Natürlich verstehe ich das, aber was wird aus uns?“ Skeptisch sah ich sie an. Außer mir lehrten noch drei weitere Tänzer in der Schule. Wir alle würden dann wohl auf der Straße stehen, wenn sich niemand fand, der die Schule übernahm.
„Wir werden schon eine Lösung finden, da bin ich mir sicher. Bisher haben wir das doch immer.“ Sie klatschte bestimmt in die Hände. „Und nun habe ich dir noch etwas mitzuteilen ...“
„Nicht noch mehr schlechte Nachrichten“, murmelte ich und senkte den Blick gen Boden. Schlimmer ging es ja bald nicht mehr.
Das unbändige Kichern der Inhaberin ließ mich aufschauen. Ein breites Grinsen überzog ihr Gesicht. „Nein, ganz im Gegenteil. Ich habe einen besonderen Auftrag für dich.“
„Jetzt bin ich aber gespannt.“
„Ich habe einen neuen Kurs ins Leben gerufen und du sollst ihn übernehmen. Du allein bestimmst, was getanzt wird. Einzige Bedingung ist, dass du mit dieser Gruppe an dem Contest kurz vor Weihnachten teilnimmst und unsere Schule somit vertrittst. Das Preisgeld ist ziemlich hoch und dann wäre die Zukunft unseres Instituts gesichert. Was hältst du von der Idee?“
„Ich habe absolute Freiheit? Keine Vorgaben deinerseits?“ Ich konnte es gar nicht glauben. Vielleicht wäre das die Chance, endlich mein wahres Talent zu zeigen.
„Du bestimmst. Da ich schon ein wenig Werbung dafür geschaltet habe, stehen die ersten Teilnehmer bereits fest. Bis jetzt sind es acht Schüler und am kommenden Samstag geht es los. Also überleg dir schnell, was ihr tanzen wollt. Viel Zeit hast du nicht. Vergiss aber nicht, dass es unter Umständen absolute Anfänger sind, denen du erst die Grundschritte zeigen musst.“
„Ach, das bekommen sie fix hin. Da mache ich mir keine Sorgen. Bis jetzt haben es alle gelernt“, freute ich mich. „Ich werde dich nicht enttäuschen, das verspreche ich. Wir werden den Wettbewerb gewinnen und es allen heimzahlen, die über uns gelacht haben.“
„Sehr gut. Dann los an die Arbeit, mein Lieber. Ich bin auf deine Choreografie gespannt“, ermutigte Ernestine mich.
Da heute kein Kurs mehr anstand, machte ich mich auf den Heimweg. In meinem Kopf entstand bereits ein Teil der Schrittfolge, die ich verwenden wollte.
„Das wird alle von den Socken reißen, das weiß ich“, rief ich und rannte die Treppe zu meiner Wohnung nach oben.
Camille
Eigentlich hasste ich meinen Geburtstag. Zum einen, weil ich es überhaupt nicht mochte im Mittelpunkt zu stehen, weder bei Freunden noch meiner Familie. Zum anderen, weil es mich an diesem einen Tag vor zwei Jahren erinnerte. Der Tag, der mein Leben so sehr veränderte und dessen Nachwirkungen mich heute noch verfolgten. Aber irgendwie würde ich alles überstehen. Irgendwie. Es musste ja sein und ließ sich nicht umgehen.
Missmutig lief ich die wenigen Meter von der Metrostation zu dem Haus, in dem meine Eltern nun wohnten. Nachdem meine Schwester und ich flügge geworden waren, hatten Maman und Papa die große Villa draußen vor Paris aufgegeben und waren in die Innenstadt gezogen. Als renommierte Anwälte konnten sie sich das geräumige Appartement in der obersten Etage locker leisten. Mein Vater war neben seiner Tätigkeit in der Kanzlei zudem noch Richter am Gericht.
Wäre mein Leben anders verlaufen, wenn ich mich wie meine Eltern für Jura entschieden hätte? Wahrscheinlich schon. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, den ganzen Tag über langweiligen Gesetzestexten zu sitzen und dann vielleicht sogar über Menschen zu urteilen, auch wenn deren Taten sie zu dem gemacht hatten, was sie waren: Kriminelle.
Vor dem Haus wurde ich schon von meiner Schwester erwartet, die mir von weitem bereits zuwinkte.
„Da bist du ja endlich“, rief diese und umarmte mich stürmisch. „Alles Liebe zum Geburtstag, meine Süße.“
Rechts und links bekam ich nun Küsse auf die Wangen gedrückt, so wie es in Frankreich üblich war.
„Danke dir, aber du weißt, dass ich meinen Geburtstag überhaupt nicht mag“, murrte ich.
„Ja, ich weiß, aber der ist nur einmal im Jahr, also sei tapfer und versuche zu lächeln.“
Meine Schwester hatte recht. Irgendwie würde es gehen. Das dezente Bling des Aufzuges riss mich aus meinen Gedanken. Okay, Augen zu und durch. Es half nichts.
„Da ist ja meine wundervolle Tochter, unser Geburtstagskind“, strahlte Papa mich an. „Lass dich ansehen. Hast du abgenommen? Du siehst so schmal aus.“
„Ja, finde ich auch. Nur gut, dass Claudine dein Lieblingsessen gekocht hat“, lächelte Maman und zog mich in ihre Arme. Trotz, dass unsere Eltern auf die sechzig zugingen, sahen sie jugendlich aus. Schlank und modern gekleidet wie immer standen sie mir nun gegenüber.
Mein Vater trug zur dunklen Jeans ein weißes Hemd und hatte die Ärmel hochgekrempelt. So würde man sich niemals einen ranghohen Richter vorstellen.
Meine Mutter trug, wie so, oft ein schickes Kostüm. Aber auch dieses war nicht altbacken, sondern entsprach der neuesten Mode. Der kurze, enge Rock endete über dem Knie und präsentierte schlanke Beine. Dazu trug sie eine helle Bluse und um den Hals ein sicherlich teures Tuch von Dior oder einem anderen vornehmen Designer. Ich war nicht so modisch versiert wie Eloise und hatte heute eine helle Chino und ein schwarzes Shirt ausgewählt. Die weißen Sneaker schob ich von den Füßen, bevor ich das Wohnzimmer betrat, von dem man auf die Terrasse gehen konnte.
„Ich sage es immer wieder: Es war die richtige Entscheidung, ausgerechnet diese Wohnung zu wählen. Ich verstehe euch zu gut.“ Ich warf meinen Eltern ein Lächeln zu, das diese erwiderten.
„Ja, allein der Blick über die Stadt war den Preis wert“, lachte Papa.
„Auf unsere wundervolle Tochter. Auf dass das kommende Jahr das beste ihres Lebens wird“, prostete meine Mutter mir zu.
Die langstieligen Gläser mit dem echten Champagner in der Hand ließen wir uns unter dem grauen Sonnenschirm in die gemütlichen Sessel fallen.
„Ach, dein Geschenk“, fuhr mein Papa plötzlich auf. „Warte, ich hole es.“ Schon war er im Inneren der Wohnung verschwunden.
„Wir hoffen, es gefällt dir“, schmunzelte Mama.
Meine Schwester hüstelte dezent. Ich warf ihr einen Blick zu. Wusste sie etwas über das Präsent? Was es wohl sein konnte?
„Hier, mein Schatz“, rief mein Vater und reichte mir einen schmalen Karton, auf dem zusätzlich eine Karte befestigt war.
Jetzt war ich doch neugierig. Was hatten sich meine Eltern wohl ausgedacht? Vorsichtig öffnete ich die Schachtel. Darin lag ein seidig weich aussehender Schal mit dezentem Muster. Genau so einen hatte ich mir gewünscht, aber weil er so teuer war, nie gekauft. Woher wussten meine Eltern davon? Überrascht schaute ich hoch und sah meine Mutter lächeln.
„Catherine, die wie du weißt, eine meiner langjährigen Freundinnen ist, hat mir erzählt, dass du schon oft in ihrem Laden warst und immer diesen Schal bestaunt hast.“ Maman deutete auf das Tuch. „Binde es mal um. Lass schauen, wie er dir steht.“
Langsam hob ich das Tuch heraus. Wie weich es war! Es glitt durch meine Hände, als wäre es flüssige Seide. Ein Traum wurde wahr.
Geschickt band ich es um meinen Hals. Kühl und zart schmiegte es sich an meine Haut.
„Danke Mama“, flüsterte ich ergriffen.
„Jetzt öffne endlich auch den Umschlag.“ Meine Schwester rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl hin und her.
„Noch mehr Geschenke?“
„Du hast doch nicht gedacht, dass du nur einen einfachen Schal bekommst, mein Kind?“ Vorwurfsvoll schüttelte Papa den Kopf.
Was hatten sie sich noch ausgedacht?
Das Papier des Kuverts war etwas steif und so brauchte ich einen Moment, bis ich es endlich geöffnet hatte. Darin lag eine Eintrittskarte für die Pariser Oper. Mit großen Augen las ich den Text darauf.
„Persönliche Einladung zur Premiere von „Schwanensee“ am kommenden Wochenende.“ Ausgestellt vom Intendanten.
Diese Karte musste ein Vermögen gekostet haben oder zumindest mehrere große Gefallen. Die Vorstellung war seit Monaten ausverkauft und ich durfte hingehen? Dieses Stück liebte ich so sehr und obwohl ich es schon bestimmt fünfzehn Mal gesehen hatte, verpasste ich keine Vorstellung. Ein wenig wehmütig hatte ich die zahlreichen Plakate betrachtet, die überall in Paris hingen. Den Vorverkauf hatte ich verpasst und dann waren die Karten unerschwinglich teuer gewesen. Innerlich hatte ich mich darauf eingestellt, es in diesem Jahr nicht zu sehen. Und jetzt das!
„Wir gehen alle zusammen. Philippe, der Chef der Oper, hat mit mir zusammen studiert und als ich nach Karten fragte, war er so freundlich, mir vier Stück für einen guten Preis zu überlassen. Wir werden in seiner Loge sitzen“, erklärte Papa, der sich nun vor mich hockte. „In der Einladung eingeschlossen ist ein Abendessen mit deiner Familie und natürlich die passende Garderobe. All das bekommst du von uns geschenkt. Den Termin für das Dinner kannst du frei wählen.“
Tränen stiegen in meine Augen. „Danke. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Damit macht ihr mir eine große Freude.“ Glücklich umarmte ich meine Eltern.
„Und jetzt noch mein Geschenk“, lachte Eloise, als endlich alle wieder saßen.
Auch sie hatte einen Umschlag gewählt, allerdings war ihrer nicht weiß, sondern knallig grün mit handgemalten roten Herzen darauf. Typisch Künstlerin, dachte ich.
„Ich hoffe, dir gefällt es.“
„Bestimmt. Egal, was es ist.“ Schnell hatte ich es geöffnet und kicherte, als ich sah, was es war.
„Du verrückte Nudel.“
Eloise schenkte mir tatsächlich einen HipHop-Kurs, und zwar in der Schule, vor deren Türen wir vor wenigen Tagen getanzt hatten. Wie verrückt war das denn?
„Ich hoffe, du hast Spaß und lernst endlich mal nette Leute kennen. Du gehst viel zu selten aus.“
Natürlich bemerkte ich die irritierten Blicke, die meine Eltern sich zuwarfen. Sie würden nie verstehen, welche Freude ich an dieser Art von Musik hatte. Das mussten sie auch nicht, solange sie es akzeptierten.
„Jetzt lasst uns essen.“ Papa klatschte in die Hände und deutete nach drinnen. „Ich habe Hunger.“
Lucas
Endlich durfte ich mein Talent unter Beweis stellen und mir die Choreografie für den Tanz ausdenken! Noch immer konnte ich mein Glück nicht fassen. Unter keinen Umständen würde ich Madame Ernestine enttäuschen. Zusammen mit der Gruppe würde ich den Wettbewerb gewinnen und damit das Überleben der Schule sichern.
Die langen Beine überkreuzt, saß ich auf dem alten, dunkelbraunen Ledersofa, das sicherlich schon bessere Tage gesehen hatte. Allerdings liebte ich es und auch meine Mitbewohnerin Delphine machte es sich nach den Proben und Trainingseinheiten gerne darauf gemütlich.
Vor mir lag ein Block, auf dem ich die Abfolge der Schritte festhielt. Immer wieder sprang ich auf und tanzte einzelne Passagen, um die Durchführbarkeit zu prüfen. Alles musste perfekt sein, aber nicht zu kompliziert. Denn wahrscheinlich war ein großer Teil der Schüler noch blutige Anfänger, die noch nie zuvor getanzt hatten. Geschweige denn Hiphop.
Morgen endlich war es so weit. Dann startete der Kurs, zu dem sich fünf Männer und vier Frauen angemeldet hatten. Eigentlich perfekt, denn so konnten wir Paare bilden. Das sollte ich noch berücksichtigen, fiel mir ein. Schon wirbelte ich den Stift über das Papier.
„Was machst du denn da?“, fragte Delphine, die nach einer langen Yogasession nun ins gemeinsame Wohnzimmer kam. Sie trug ein kurzes, schwarzes Top, dazu enganliegende hellgraue Leggins. Die Wuschelmähne hatte sie zu einem strengen Dutt zusammen gedreht, aus dem sich nun ein paar einzelne lockige Strähnen lösten.
„Ich schreibe meine erste eigene Choreo auf“, murmelte ich und blickte auf. „Madame hat mir die Leitung für einen Kurs übertragen und ich allein bestimme, was getanzt wird.“
„Oh, lass mal sehen.“ Neugierig beugte sie sich über meine Beine. Ihr kleinen Brüste drückten sich an meine Oberschenkel. Andere Männer würde jetzt die Situation ausnutzen, die sich ihnen bot, aber für mich war meine Mitbewohnerin tabu. „Ja, sieht gut aus. Komm, wir probieren es mal aus.“
Schon sprang sie auf und zog mich dabei mit sich. Kurzerhand schoben wir den Tisch zur Seite, um mehr Platz zum Tanzen zu haben. Auch wenn wir beide ausgebildete klassische Tänzer waren, teilten wir die Begeisterung für den modernen Tanz.
„Warte, wir brauchen noch die richtige Musik“, rief Delphine, kaum dass sie die ersten Schritte probiert hatte.
Schnell legte sie eine CD ein, drehte an dem Lautstärkeregler und schon dröhnte ein satter Beat aus den riesigen Boxen der Anlage.
„So geht das doch viel besser.“ Sie deutete mir, die nächste Schrittfolge vorzutanzen, und setzte nur Sekunden später ein.
Immer abwechselnd hüpften und drehten wir uns, dabei sangen wir laut, aber schräg mit.
Als das Stück zu Ende war, ließen wir uns außer Atem zurück auf das alte Sofa fallen.
„Wahnsinn!“ Ich keuchte laut und grinste meine Mittänzerin breit an. „Das macht viel mehr Spaß als Schwanensee.“
„Aber an deiner Kondition müssen wir dringend arbeiten, Bruder.“ Delphine stieß mir mit dem Ellenbogen in die Rippen.
„Hey, nicht frech werden, kleine Kaulquappe.“ Übermütig strubbelte ich ihr durch die Haare. „Aber du hast recht. Ich sollte mehr joggen gehen. Wäre ja megapeinlich, mich vor meinen Schülern zu blamieren.“
„Wie viele Teilnehmer hat denn der Kurs? Brauchst du noch Hilfe? Ich hätte am Samstag Zeit.“ Delphine nahm einen langen Schluck aus ihrer Wasserflasche und fächelte sich dabei mit der freien Hand Luft auf ihren Ausschnitt.
„Nein, das schaffe ich allein. Ist ja nicht mein erster Kurs, den ich leite. Allerdings wurde mir bisher immer vorgeschrieben, was ich zu tanzen habe. Aber danke fürs Angebot.“
Schwungvoll stand ich auf und blickte zur Tür, über der die alte Wanduhr hing.
„Verdammt. Ich komme zu spät. Und ich muss noch duschen, sonst bekomme ich wieder einen Anschiss von ihrer Hoheit.“
Hastig zog ich mir im Laufen noch das Shirt aus und an der Badezimmertür folgte die Hose. Ich hatte keine Probleme damit, mich vor Delphine nackt zu zeigen. Mein Körper war durchtrainiert und mehr als ansehnlich. Da ich als Balletttänzer gewohnt war, enganliegende Kleidung zu tragen, die kaum etwas verbarg, war es ein Leichtes für mich, das auch zu Hause zu tun.
Nur wenige Minuten später trat ich frischgeduscht aus dem Haus und lief zur nächsten Metrostation. Dank der Kopfhörer konnte ich weiterhin Musik hören. Niemals würde ich ohne leben können.
Die Melodie des Stückes zur Choreografie summend, betrat ich nur zwanzig Minuten später durch den Künstlereingang die Pariser Oper.
Hier fühlte ich mich sicher und willkommen. Mein Traum, endlich als Solist im Schwanensee zu tanzen, wurde wahr. Ob Julian von oben über mich wachte? Wäre er stolz auf mich?
Camille
So sehr ich die Besuche in der altehrwürdigen Oper liebte, umso mehr verabscheute ich den in meinen Augen übertriebenen Aufwand, der mit der Wahl der Kleidung einherging. Ja, ich war eine junge Frau und musste meinen Körper wahrlich nicht verstecken, aber sich derart herauszuputzen, mochte ich gar nicht. Es ging doch immer nur um das Sehen und Gesehen werden. Jeder wollte zeigen, wie viel Vermögen er hatte und dieses als Statussymbole präsentieren. Als Tochter bekannter Anwälte war ich von klein auf daran gewöhnt, aber schon immer hatte ich versucht, mich hinter meiner Schwester zu verstecken. Diese liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Wahrscheinlich hatte sie deshalb die Modebranche gewählt.
Gemeinsam waren wir gerade im gefühlt hundertsten Designerladen und probierten das wahrscheinlich tausendste Kleid an. Dabei herrschten vor der Tür des wohltemperierten Geschäftes fast dreißig Grad und die Luft schien in Paris zu stehen. Kein Lüftchen wehte, jegliche Kleidung klebte am Körper, obwohl man sich nicht bewegte.
„Das ist dein Kleid“, rief Eloise und klatschte begeistert in die Hände.
„Das hast du die letzten zehnmal auch schon gesagt.“ Missmutig stieg ich auf das niedrige Podest und drehte mich dann langsam im Kreis. Aber meine Schwester hatte recht. Diese Robe passte perfekt. Vielleicht zeigte es ein klein wenig zu viel meiner Oberweite, aber solange nichts herausfiel oder verrutschte, musste ich mir keine Gedanken machen. Meine Brüste waren nicht gerade klein, aber dafür fest und absolut in Form.
„Und die Farbe steht dir soo gut, mon coeur.“ Eloise trat zu mir und strich vorsichtig über den weichen, nachtblauen Stoff, der meine Kurven perfekt zur Geltung brachte.
Zum Glück hingen keine Preisschilder an den Kleidern, denn sicherlich sprengte dieser Traum aus Seide das Budget. Nur gut, dass meine Eltern dafür aufkamen. Allerdings wollte ich ihnen nicht zu sehr auf der Tasche liegen. Ich nahm mir vor, keine neuen Schuhe und auch keine Tasche zu kaufen, sondern stattdessen die schon vorhandenen Accessoires zu nutzen. Einzig eine Kette würde ich mir noch gönnen, aber nichts exorbitant Teures.
„Ich nehme es.“ Entschlossen blickte ich die Verkäuferin, die nervös ihre zierlichen Finger geknetet hatte, an. „Packen Sie es mir ein.“
„Wir können es auch bringen. Änderungen müssen wir ja keine vornehmen, wir würden es nur etwas aufdämpfen, damit der Stoff schön schimmert.“ Lächelnd hielt mir die ältere Dame eine Hand hin, damit ich vorsichtig von dem Podest heruntersteigen konnte. „Ihre Schwester kennt sich gut aus. Dieses Schmuckstück hat nur auf Sie gewartet. Alle Männer in der Oper werden sich nach Ihnen umdrehen, das versichere ich Ihnen.“
Nur das nicht. Wenn ich mit Maman und Papa unterwegs war, sorgte das schon genug für Aufsehen. Und Eloise mit ihrer farbenfrohen Frisur zog auch die Blicke auf sich.
„Wenn es Ihnen keine Mühe macht, würde ich mich freuen, wenn Sie mir das Kleid morgen Abend bringen. Dann kann ich mit meiner Schwester noch ein wenig bummeln gehen und muss es nicht durch Paris schleppen.“
„Und zur Feier des Tages lade ich dich zum Essen ein“, grinste Eloise und wackelte dabei mit ihren schmalen Augenbrauen.
„Lass mich raten ... wir gehen zu Thomas. Du gibst wohl nie auf, oder?“
Wann würde Eloise endlich einsehen, dass die schmachtenden Blicke, die sie dem attraktiven Restaurantbesitzer zuwarf, umsonst waren? So verliebt, wie er seine Freundin Ella, eine Galeristin und Künstlerin aus Turin, ansah, hatte keine andere Frau mehr eine Chance bei ihm.
Erst neulich war ich mittags am Lokal vorbeigelaufen und hatte die beiden wildknutschend am Seitenausgang beobachtet. Sie waren so ein schönes Paar, das es verdiente, endlich glücklich zu werden. Nach der Geschichte mit der verrückten Entführung von Thomas nach Italien und der gelungenen Befreiung gönnte ich es den beiden sehr, endlich glücklich zu sein.
„Nenn mir bitte ein Restaurant, wo man besser essen kann und dabei auch was für die Augen geboten bekommt? Siehst du ... du weißt es auch nicht.“
Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Eloise war ein hoffnungsloser Fall, aber ich liebte meine Schwester trotzdem.
„Aber erst suchen wir noch eine passende Kette zum Kleid aus, dann gehen wir essen. Abgemacht?“
Schwungvoll schlug Eloise in die dargebotene Hand ein.
Eine Stunde später machten wir uns auf den Weg zum derzeit angesagtesten Lokal in ganz Paris. Das kleine Schmuckkästchen, in dem das schlichte, aber wunderschöne Collier aufbewahrt wurde, ruhte tief in meinem Rucksack. So würde niemand das kostbare Stück stehlen können.
Vor dem Restaurant wurde gerade ein Zweiertisch frei, auf den wir sofort zustürmten.
Die junge Kellnerin nahm unsere Getränkebestellung auf und überließ uns den Speisekarten.
„Ich denke, ich nehme die Ziegenkäse-Galette, von der es heißt, sie können Tote wiedererwecken.“ Kichernd drehte sich Eloise auf der Suche nach dem Besitzer um. „Aber ich würde mich eher von IHM wachküssen lassen.“
„Ich nehme den knackigen Salat, damit ich am Samstag auch noch in das Kleid passe.“
Endlich kamen unsere Getränke und wir nannten der Kellnerin unsere Essenswünsche.
„Auf einen zauberhaften Opernbesuch, ma soeur.“ Vorsichtig stießen wir unsere Gläser aneinander. Wir hatten uns beide für Wasser mit einem Spritzer Zitrone entschieden. Bei dieser Hitze die beste Wahl, fanden wir.
„Die Compagnie soll ja einen neuen männlichen Haupttänzer haben, habe ich gelesen. Viel gehört hat man noch nicht von ihm, nur, dass er recht gut aussieht. Ich bin gespannt, was er zu bieten hat.“
„Auf den Plakaten sah er wirklich attraktiv aus, das stimmt, aber wahrscheinlich sind die Fotos alle manipuliert. Sicherlich ist er ein absolut unscheinbarer Typ, der halt nur gut tanzen kann. So heiß wie er, kann kein Mann ohne Photoshop sein.“
Nachdenklich drehte ich das Glas in meiner Hand. Wann hatte ich das letzte Date? An leidenschaftlichen Sex konnte ich mich gar nicht mehr erinnern, so lange war der her. Vielleicht war ja in dem Tanzkurs, den meine Schwester mir geschenkt hatte, ein netter Mann, der eines zweiten Blickes würdig war.
„Da sind ja meine Lieblingsgäste“, tönte die tiefe Stimme des Restaurantbesitzers zu uns. „Ihr wart lange nicht mehr da. Ich dachte schon, ich hätte euch verärgert.“
„Nein, keinesfalls, lieber Thomas. Wir hatten nur viel zu tun“, flirtete Eloise ihn gnadenlos an. Mit den Wimpern klimpernd sah sie zu dem großgewachsenen Mann empor, der zwei Teller in seiner Hand trug und in dem enganliegenden Shirt zugegebenermaßen einfach heiß aussah.
„Gott sei Dank“, lachte Thomas. „Ich verliere euch nur ungern.“
„Wie geht es Ella?“ Geschickt lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung.
„Der geht es bestens. Sie ist gerade in der Provence und sieht sich einige Immobilien an. Wir planen ...“, setzte er an, doch ein anderer Gast rief nach ihm und unterbrach somit das Gespräch.
Schon war er wieder weg, doch unser Essen hatte er schnell abgestellt.
„Immobilien in der Provence? Ella ist doch Galeristin, oder? Warum schaut sie sich dann Häuser an? Will ihr Arbeitgeber expandieren?“
Eloise standen die vielen Fragezeichen deutlich ins Gesicht geschrieben. Nur eine Antwort würden wir nicht so schnell bekommen. Thomas war bereits wieder im Restaurant verschwunden. Von ihm bekamen wir wohl keine Lösung des Rätsels.
Allmählich wurde es ruhiger in den Straßen. Hier nahe der Oper herrschte am Abend eine entspannte Stimmung. Nur noch Besucher und Künstler waren unterwegs.
„Wir sollten auch gehen“, schlug ich irgendwann vor. „Ich muss morgen arbeiten und abends gehen wir ja in die Oper. Am Samstagnachmittag ist dieser Kurs. Hoffentlich kann ich wenigstens am Sonntag ausschlafen.“
„Stimmt, der Tanzkurs geht ja schon los. Ich bin so gespannt, was du erzählst. Du musst mir alles berichten, das ist dir hoffentlich klar.“
Hand in Hand schlenderten wir die wenigen Meter zur nächsten Metrostation. Thomas hatten wir leider nicht mehr gesehen. Vermutlich war der in der Küche und zauberte irgendwelche wohlschmeckenden Speisen, mit denen er junge Frauen wie meine Schwester um den Schlaf brachte.
Auf den Hiphop-Kurs freute ich mich unbändig. So konnte ich meine beiden Leidenschaften verbinden. Es verging kein Tag, an dem ich nicht Musik hörte. Ohne war ich kein richtiger Mensch. Nie würde ich Menschen verstehen, die sich nicht dafür begeistern konnten. Menschen wie meine Eltern, wobei diese auch Musik hörten, aber halt andere als ich.
„Schreib mir, wenn du zu Hause bist, einfach damit ich weiß, dass du gut angekommen bist.“ Eloise und ich machten das immer, wenn eine von uns unterwegs war. Zu wissen, dass es der anderen gut ging, beruhigte uns beide.
„Natürlich. Auch wenn ich nur zwei Stationen mehr fahren muss“, lächelte ich und drückte meine Schwester fest an mich.
Eloise winkte mir beim Verlassen der Metro kurz zu, dann ging die Fahrt weiter.
Zum Glück war es jetzt nicht mehr so voll. Trotz dieser Hitze schienen einige Menschen vergessen zu haben, dass es so etwas wie Duschen gab. Manchmal war der Gestank kaum auszuhalten. Ich verstand diese Menschen nicht. Dachten die nicht an ihre Mitmenschen? Unmöglich war so etwas. Einfach nur eklig.
Endlich war auch ich angekommen. Nur noch wenige Minuten und ich konnte die laute Welt aussperren und die Ruhe in meinem gemütlichen Appartement genießen. Schnell tippte ich noch die Meldung an Eloise, dann schaltete ich das Handy aus.
Lucas
Premierentag! Ganz allmählich wurde ich doch nervös. Klar, ich tanzte nicht das erste Mal vor ausverkauftem Haus, aber bisher war ich immer nur Teil des Ensembles gewesen. Heute jedoch würde ich mit der Primaballerina die Hauptrolle tanzen und halb Paris schaute dabei zu. Okay, vielleicht nicht ganz so viele Menschen, aber es würde sich fast so anfühlen.
„Wollen wir dann?“, fragte Delphine, die an meine Zimmertür gelehnt auf mich wartet.
„Eine Sekunde noch, dann können wir los.“ Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass mein Magen dabei war, den wenigen Inhalt nach außen zu kippen und die Beine sich wie flüssiger Pudding anfühlten.
„Wir kommen noch zu spät, Luc. Madelaine wartet schon auf uns, um letzte Änderungen an den Kostümen vorzunehmen. Und schminken müssen wir uns auch noch.“ Hektisch tippte meine Mitbewohnerin mit der linken Fußspitze an die Türzarge.
„Allez! Los geht’s.“ Schwungvoll warf ich mir die Tasche mit meinem Equipment über die Schulter. „Auf in den Kampf.“
Wie üblich war die Metro an einem Samstagnachmittag gut gefüllt, doch wir konnten den Zug nach nur vier Stationen wieder verlassen.
Fast synchron sogen wir die frische Luft ein, nachdem wir die lange Treppe Richtung Straße hoch gerannt waren. Jetzt nur noch wenige Meter und wir hatten die Oper erreicht.
Am Künstlereingang warteten keine Fans. Kein Wunder, um diese Uhrzeit waren die noch nicht unterwegs.
Im Inneren des Gebäudes war es angenehm kühl. Den leicht muffigen Geruch nach altem Gemäuer liebte ich und konnte mir nicht vorstellen, jemals an einem anderen Ort zu arbeiten.
Es war nicht das, was meine Mutter sich für mich gewünscht hatte. Wäre es nach ihr gegangen, hätte ich einen soliden und ehrenwerten Beruf ergriffen. Anwalt, Lehrer oder vielleicht auch Handwerker. Aber Tänzer und noch dazu beim Ballett? Sie hatte es nie verstanden, aber irgendwann akzeptiert. Schon als kleiner Junge hatte ich die Aufführungen, die im Fernsehen übertragen wurden, mit leuchtenden Augen verfolgt. Als ich dann in einer Tanzschule landete, steckte man mich in eine Ballettklasse und dieser Tag veränderte mein Leben von Grund auf. Meine Freunde aus der Schule kapierten nicht, warum mich das Tanzen so begeisterte. Für sie war ich ein Freak, ein Sonderling, aber das störte mich nicht. Keine Frage, ich war sportlich und rannte die einhundert Meter schneller als sonst jemand, aber typische Männersportarten wie Basketball oder gar Fußball ... das war nichts für mich. Doch wenn irgendwo Musik zu hören war, hielt mich nichts mehr. Ich musste mich einfach dazu bewegen. Stillsitzen war die schlimmste Strafe für mich.
„Hey! Träumst du?“ Meine Garderobiere tippte an meine Schulter und holte mich somit wieder zurück. „Ich muss dein Oberteil etwas enger machen. Du hast schon wieder abgenommen. Es ist echt schlimm mit euch Tänzern. Von was ernährt ihr euch? Nur von Salatblättern?“
„Nein, ganz so schlimm ist es nicht, aber wir bewegen uns halt viel und trainieren dadurch jede überflüssige Kalorie wieder ab.“ Ich lächelte ihr zu. „Wenn du wüsstest, dass ich am liebsten fette Burger mit scharfer Soße esse ... das glaubt mir keiner, aber so ist es.“
„Deinen Stoffwechsel möchte ich haben“, seufzte Madelaine auf. „Aber wenigstens passt deine Hose.“
Meine Hose ... das war ein heikles Thema für mich. Nicht nur, dass sie verdammt eng und nahezu durchsichtig war, nein, ich musste auch dieses furchtbare Suspensorium tragen. Mir war ja klar, dass es zur Grundausstattung eines jeden männlichen Balletttänzers gehörte, aber dennoch mochte ich es nicht. Auch wenn es meinem besten Stück den nötigen Halt gab, fühlte ich mich damit nicht wohl. Und mal ganz ehrlich: Es sah bescheuert aus.
„Okay, jetzt sollte es passen. Schlüpf mal rein.“ Meine Kostümbildnerin hielt mir die hellgraue, schmalgeschnittene Jacke hin. Gekonnt schloss sie die unzähligen Knöpfe. „Perfekt. So kann ich dich auf die Bühne lassen.“
„Was würde ich nur ohne dich machen?“ Herzlich drückte ich sie. Ich war mehr als dankbar, sie zu haben. Sie war im gleichen Alter wie meine Mutter und für mich die wichtigste Person in der Oper. Sie achtete auf mich und steckte mir immer mal Stücke ihres köstlichen, selbstgebackenen Kuchens zu, die ich aber stets mit Delphine teilte.
„Jetzt noch schminken.“ Aufatmend ließ ich mich in den bequemen Stuhl vor dem großen Spiegel fallen. Noch hatte ich genug Zeit, um zur Ruhe zu kommen, und die vielen komplizierten Schritte und Sprünge im Kopf durchzugehen.
Wie immer trug ich nur minimal Make-up auf. Lediglich die Augen betonte ich. Durch das starke Scheinwerferlicht würde ich ohne etwas im Gesicht käsig und ungesund aussehen. Zu viel sollte es auch nicht sein, schließlich war ich nur die Begleitung. Alle Aufmerksamkeit lag auf der Primaballerina und die würde wie immer glänzen und strahlen.
Der erste Gong ertönte. Nun waren es noch fünfzehn Minuten, bis der Vorhang sich hob und die Vorstellung begann. Hoffentlich tanzten wir nicht vor leeren Reihen. Nichts war schlimmer, als ohne Publikum zu tanzen.
Dank meiner Stellung hatte ich eine eigene Garderobe, deren Tür ich nun schloss. Ich brauchte etwas Zeit für mich.
Wenige Minuten später klopfte es an der Tür.
„Es geht los. Alle in Position“, rief es von draußen.
Ich war bereit. Heute würde ich die Vorstellung meines Lebens geben. Mein Traum ging endlich in Erfüllung. Jetzt durfte nichts mehr passieren. Ob Julian von oben zusah?
Vor dem dicken Vorhang, der noch bis zur Bühne herabgelassen war, hörte ich die Menschen murmeln. Gut, dann waren wenigstens ein paar Zuschauer da, dachte ich, als ich mich in Position stellte.
„Ich hoffe, du bist bereit, denn wenn du mich blamierst, war das dein erster und zugleich letzter Tanz“, hatte mir Gisele zugeflüstert, als wir Richtung Bühne gelaufen waren. „Wehe, du lässt mich schlecht aussehen.“
„Das würde ich niemals tun. Ich tanze viel zu gerne. Und jetzt lass uns dem Publikum zeigen, wie Schwanensee aussehen kann.“
Die ersten Takte der Musik setzten ein, live gespielt von einem großen Orchester direkt vor der Bühne. Es ging nichts über echte Musik, auch wenn sie im Gegensatz zu dem stand, was ich sonst hörte. Aber gerade dieser Kontrast machte es interessant und natürlich kannte ich berufsbedingt alle klassischen Kompositionen, zu denen man tanzen konnte. Leider verstanden viele meiner Kollegen meine Liebe zur modernen Musik nicht und beäugten mich misstrauisch, wenn ich davon sprach.
Dann war er da, der große Moment, auf den ich so lange hingearbeitet hatte. Der dicke Vorhang hob sich Stück für Stück, der einzelne Scheinwerfer strahlte mich an. Die Musik setzte ein und mein Körper übernahm die Kontrolle.
Im ersten Akt stand ich ohne Gisele auf der großen Bühne. Mein Herz klopfte wie verrückt, drohte den Brustkorb zu sprengen, doch ich war Profi genug, es mir nicht anmerken zu lassen.
In der Szene, eine ausgelassene Feier im Schlosspark, tanzte ich zusammen mit anderen die vertrauten Schritte. Gekonnt drehte ich mich und sprang, so wie die Choreografie es vorsah. Allmählich ließ die Anspannung nach und ich genoss es, mein Können zu zeigen.
Applaus brauste auf, als der Akt beendet war. Wie viele Zuschauer gekommen waren, konnte ich nicht erkennen, aber der Lautstärke nach war die Oper ausverkauft.
Szene um Szene tanzte ich, mal allein, mal mit dem Ensemble, mal mit Gisele, die mir anerkennend zunickte.
Ganz so ungeschickt stellte ich mich dann wohl doch nicht an, dachte ich und gab noch einmal alles.
Camille
Ein paar Stunden zuvor
Es war früher Freitagabend. Nicht mehr lange und wir würden in die Oper gehen. Vorsichtig strich ich über den seidigen Stoff meines Kleides. Es war wirklich ein Traum in nachtblau. Schulterfrei und enganliegend, doch ab der Taille weit und dazu bodenlang. Vermutlich nie hätte ich diese Robe von meinem Gehalt bezahlen können, auch nicht das dazu passende Collier aus glitzernden Steinen im gleichen Farbton. Lediglich die Clutch und die halbhohen Schuhe hatte ich nicht kaufen müssen. Schließlich wollte ich das Budget meiner Eltern nicht überstrapazieren.
„Was machen wir mit deinen Haaren?“, fragte Eloise, die hinter mich trat und vorsichtig meine dunklen Locken anhob. Ich war stolz auf meine Haare, die mir bis fast zum Po reichten, aber meist in einem Dutt oder lockerem Knoten zusammengefasst waren. Bei der Arbeit war das einfach praktischer.
„Vielleicht eine Hochsteckfrisur? Aber nicht zu streng. Was meinst du?“ Dankbar lächelte ich meine Schwester an, die mich bereits zum Stuhl vor dem Schminktisch dirigierte.
„Gute Idee. Ein paar einzelne Strähnen lassen wir herausfallen, das lockert es etwas auf. Ach, ich hätte so gerne deine Mähne. Es war ein Fehler, die Haare abzuschneiden, das sehe ich jetzt ein.“
Eloise trug ihre glatten Haare zurzeit als Pagenschnitt, also nur kinnlang, dafür aber in einem kräftigen dunkelrot. Passend dazu hatte sie ihr Kleid in Schwarz gewählt. Es stellte einen starken Kontrast zu ihrer hellen Haut dar. Diese teilten wir uns, wobei meine dank des täglichen Joggens am Flussufer ein wenig gebräunter war als ihre.
„So machen wir es. Danke, dass du mir hilfst. Du weißt, ich bin da eher talentfrei.“ Ich reichte Eloise die ersten Haarnadeln, die diese in der dunklen Mähne versenkte.
Nach und nach entstand so eine zauberhafte Frisur, die meinen langen, schmalen Hals betonte.
„Nun noch die Kette, dann sind wir fertig.“
„Ich freue mich auf den Abend zusammen mit Maman und Papa. Endlich wieder in die Oper. Ob die neue Besetzung auch so gut ist wie im letzten Jahr?“ Geschickt kletterte ich in die Pumps und zog das zierliche Riemchen um die Knöchel fest.
Während wir die steile Treppe in meinem Haus nach unten liefen und dabei unsere langen Roben hochhielten, kicherten wir ausgelassen. Vor dem Haus wartete schon das bestellte Taxi. Minuten später erreichten wir das altehrwürdige Gebäude.
„Da schau, ein Poster vom neuen Stern am Pariser Balletthimmel. Hach, er sieht so gut aus. Wie er wohl privat ist? Auf jeden Fall ist er gut bestückt“, grinste Eloise mich an.
„Quatsch! Das wissen wir doch gar nicht. Dieses Ding da auf seinem ... Ding ... lässt es nur größer aussehen.“ Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Solche Unterhaltungen mochte ich überhaupt nicht und schon gar nicht in aller Öffentlichkeit.
„Wie dem auch sei ... er sieht gut aus. Wenn er jetzt noch tanzen kann, ist es mehr als okay“, versuchte Eloise mich zu beruhigen.
In diesem Moment traten unsere Eltern zu uns. Beide sahen, wie immer, unglaublich aus. Meine Mutter trug ein schneeweißes, langes Kleid, das ihre tiefgebräunte Haut noch dunkler wirken ließ. Papa hatte seinen schwarzen Smoking herausgeholt, den er nur in der Oper trug, wie er immer wieder betonte.
„Ich kann mich glücklich schätzen, mit drei der schönsten Frauen in ganz Paris gesehen zu werden“, lachte er und bot uns Töchtern die Ellenbogen zum Einhaken an. „Sorry, meine Liebe. Ich habe nur zwei Arme.“ Entschuldigend zwinkerte er seiner Frau zu, die ausgelassen lachte.
„Geht ihr nur. Ich habe dich die ganze Woche für mich. Unsere Mädchen sehen dich ja eher selten.“
„Wenn ich darf, geleite ich dich hinein, Héléne“, sprach sie ein älterer Mann an. Es war der Chef der Pariser Oper, der sich nun zu uns gesellte.
„Sehr gerne, Philippe.“ Ganz die Grand Dame hakte sich Maman unter.
„Man beobachtet uns“, flüsterte ich meinem Vater zu.
„Ja, man beneidet mich um die wunderschönen Frauen an meiner Seite. Und ich fühle mich ob der Aufmerksamkeit geehrt.“
Papa schritt sichtlich stolz die lange Treppe zur ersten Etage nach oben, uns neben sich. Wir hoben unsere Kleider an, um nicht drauf zu treten.
Nachdem man uns langstielige Gläser mit perlendem Champagner gereicht hatte, schlenderten wir durch die Menge, begrüßten alte Bekannte und näherten uns langsam der reservierten Loge.
„So macht ein Opernbesuch viel mehr Spaß“, seufzte Eloise auf, als wir uns in die dunkelrot bezogenen Plüschsessel setzen. „Das hat wenigstens Stil.“
Noch war der Vorhang, hinter dem sich die Bühne verbarg, unten. Noch konnte man nichts erkennen. Nur die Musiker im Orchestergraben davor stimmten bereits ihre Instrumente. Um uns herum hörte ich das Gemurmel der anderen Besucher, die sich niederließen. Alle waren festlich gekleidet, auch die Zuschauer außerhalb der Logen.
Ein Gong ertönte und das Licht erlosch. Jetzt ging es los. Gott, wie sehr ich dieses Ballett liebte. Wie gerne hätte ich es selbst einmal getanzt, aber dafür war ich jetzt zu alt und leider auch zu groß. Mit meinen 1,75 m entsprach ich nicht dem Gardemaß einer Balletttänzerin.
Der einzelne Spot beleuchtete den Tänzer, der Prinz Siegfried darstellte, also neben Odette die männliche Hauptrolle. Wie er da stand! Ein Bild von einem Mann. Wenn nicht diese lächerliche, enge Hose gewesen wäre, hätte ich mich direkt und auf der Stelle in ihn verguckt. Aber tanzen konnte er.
Seine Haare hatte er streng nach hinten gekämmt, was sein kantiges Gesicht besonders hervorhob.
Neugierig hob ich das Fernglas vor meine Augen und betrachtete ihn näher. Oh ja, er war mehr als gut aussehend. Wie es sich für einen Profisportler gehörte, war er durchtrainiert, auch wenn die enganliegende Jacke, die zu seinem Kostüm gehörte, nicht besonders viel von seinem Oberkörper erkennen ließ.
„Hast du was entdeckt, was dir gefällt?“, wisperte Eloise in mein Ohr. „Er ist ein Hingucker, oder? Den würde ich gerne näher kennenlernen.“
„Wir haben doch eh keine Chance“, säuselte ich zurück. „So, wie er aussieht, steht er nicht auf Frauen.“
„Du meinst, er ist schwul? Das glaube ich nicht.“
„Schhh.“ Vorwurfsvoll schaute unsere Mutter uns beide an. „Seid still. Man hört euch.“
Schnell schlug ich die Hand vor den Mund, um nicht laut loszuprusten.