Tarius - Patrick Fiedel - E-Book

Tarius E-Book

Patrick Fiedel

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Beschreibung

Eine fesselnde Coming-of-Age-Abenteuergeschichte für Jungen und Mädchen ab 12 Jahren sowie für alle Erwachsenen, die wissen, wie besonders das Band zwischen Enkelsohn und Großvater ist. Julius will Abenteurer werden, wie sein Großvater. Sehr zum Missfallen seiner Eltern. Eine neue Anstellung für seine Mutter zerstört die gemeinsamen Urlaubspläne der Familie, aber es gibt Hoffnung. Julius darf die Sommerferien bei seinem Großvater verbringen. Dieser ist Geologe und oft monatelang auf Reisen, lässt es sich jedoch nicht nehmen, jeden Samstag mit seinem Enkel zu telefonieren und ihm neue Abenteuergeschichten zu erzählen. So ist die Freude über den neu gemachten Ferienplan sehr groß, da das letzte Aufeinandertreffen lange Zeit zurückliegt. Nach der gemeisterten Zugfahrt trifft Julius auf seinen Großvater und lernt auch den schwarzen Hengst Mercutio kennen. Auf einem Flohmarkt entdeckt Julius ein versteckt liegendes Antiquitätengeschäft und erfährt von der Sage des Königs, welcher ein Schwert, geschmiedet aus einem Stern, besaß. Gemeinsam machen sich Großvater und Enkel mit Mercutio auf die Suche nach dem Schatz. Julius lernt dabei in den Wäldern nicht nur, wie man Himmelsrichtungen bestimmt, ein Feuer macht oder die Breite eines Flussufers bestimmt. Er lernt auch, dass etwas viel wichtiger ist, als jeder Schatz.

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Patrick Fiedel

Tarius

„Was du hier in deinem Herzen fühlst, allein das zählt. Und wenn du ein Abenteurer bist, dann bist du einer. Punkt.“

Tiberius Tarius

Tarius

Patrick Fiedel

Impressum

Texte: © Copyright by Patrick Fiedel, 2019

Patrick Fiedel

Menckestraße 8

04155 Leipzig

Tel.: 0341/22354213

E-Mail: [email protected]

Umschlag:© Copyright by Katz & Tinte

www.katzundtinte.de

I

Julius saß, wie jeden Samstag um 19.59 Uhr, bettfertig, frisch gebadet und gekämmt auf dem großen braunen Sessel im Wohnzimmer. Beide Beine hingen über der linken Armlehne und wippten aufgeregt hin und her. Seine Eltern, ihm gegenüber auf dem Sofa sitzend, schauten auf das flackernde Licht der Mattscheibe vor ihnen und warteten auf den nahenden Gong der Tagesschau.

Julius wartete auch auf etwas, jedoch nicht auf einen Gong, sondern auf ein Klingeln. Das Klingeln des Telefons. Gespannt starrte er auf den tastenübersäten Apparat und zappelte vor Vorfreude hin und her, wie ein kleiner Hundewelpe, der gleich ein Leckerli bekommt. Seine rechte Hand schwebte ungeduldig über dem aufgelegten Telefonhörer und Julius sprach seine Beschwörungsworte.

„Klingle. Klingle. Klingle.“

‚Gong.‘

Julius nahm den Hörer ab und hielt ihn an sein Ohr.

„Opa?“, sagte er aufgeregt. Doch am anderen Ende ertönte nur ein unendliches Fiepen.

„Junge“, rief seine Mutter lachend, „das war der Fernseher, nicht das Telefon.“

Julius lächelte etwas verlegen und legte den Hörer sofort wieder auf den Apparat.

„Er wird schon gleich anrufen“, ergänzte sie und zwinkerte ihrem Sohn zu.

Seit nun mehr 10 Jahren ließ es sich Opa Tiberius nicht nehmen, jeden Samstag anzurufen. Anfänglich machte Julius noch die üblichen Babygeräusche, aber mit der Zeit folgten Meilensteine der Weltgeschichte, wie „Töpfchen gemacht“ oder „Roller gefahren“. Sein Großvater erzählte kleine Geschichten und Julius hörte gespannt zu. Seit er nun etwas älter war, durfte er auch etwas länger aufbleiben und abends mit seinem Großvater telefonieren.

‚Rrrriiinggggg.‘ Die Hand schnellte zum Hörer.

„Opa, bist du es?“, hechelte er in den fest ans Ohr gedrückten Hörer.

„Hallo Julius. Schön, dich zu hören. Bist du bereit für eine neue Abenteuergeschichte?“, sprach es mit tiefer Stimme aus der oberen Seite des schweren Hörers.

„O ja“, quiekte Julius etwas zu laut zurück.

„Schau dir mal unseren Sohnemann an“, flüsterte Julius’ Vater leise zu seiner Frau und tippte sie dabei liebevoll an die Schulter.

„Was er ihm wohl heute erzählt?“, rätselte sie und beobachtete ihr Sesselkind lächelnd.

Julius saß mit weit aufgerissenen Augen am Telefon. Den Hörer fest in der Hand. Der Mund öffnete sich vor Erstaunen, dann schloss er sich wieder, um kurz darauf zu einem überbreiten Lächeln zu werden. Die aufgerissenen Kinderaugen leuchteten, die Augenbrauen zog es nach oben und Julius hielt den Atem an, dann blies er die Luft wieder aus und lachte.

„Was ist dann passiert, Opa?“, flüsterte er aufgeregt in den Telefonhörer.

„Ich verrate es dir. Aber nur, wenn du dann wirklich schlafen gehst“, erwiderte sein Großvater.

„Versprochen.“

„Wir waren also schon seit Stunden auf einem neuen Wanderweg durch einen dicht bewachsenen Wald unterwegs. Die Sonne schlief schon längst und der Mond tat seine Arbeit. Wir knipsten die Taschenlampen an. Johann lief direkt neben mir, als direkt vor uns etwas zu hören war. Wir blieben sofort stehen und lauschten in den Wald hinein.“

„Was war es? Ein Wolf? Ein Wildschwein?“, quiekte Julius aufgeregt.

„Junge, nicht so laut!“, ertönte die väterliche Stimme gegenüber.

„Entschuldige, Papa.“

„Wir schauten dem Lichtstrahl folgend“, erzählte die tiefe beruhigende Stimme weiter, „auf die mächtigen Bäume und da, plötzlich wackelten die Blätter und die hohen Sträucher am Boden direkt vor uns. Johann und ich gingen ganz vorsichtig näher heran, das Rascheln wurde immer lauter und dann sprang es heraus, direkt über unsere Köpfe.“

Julius hüpfte auf den Sessel und presste den Hörer noch fester an sein Ohr.

„Ein riesengroßes Pferd, schwarz wie die schwärzeste Nacht, machte einen gewaltigen Sprung direkt über uns hinweg. Wir schauten erschrocken nach oben und die Hufe des Tieres rauschten an unseren Gesichtern vorbei“, erzählte Opa Tiberius voller Leidenschaft.

„Ein Pferd? Mitten im Wald?“, rief Julius euphorisch in den Hörer.

„Julius!“, rief seine Mutter etwas bestimmter. Sie stand direkt neben ihm, was er gar nicht bemerkt hatte.

„Gib mir mal den Hörer“, forderte sie ihn auf.

Julius reichte ihn widerwillig weiter und setzte sich, schwer atmend, erschöpft auf den Sessel.

„Aber, Mama, Opa erzählte gerade von einem Pferd mitten im Wald“, reagierte er empört.

„Sag ‚Gute Nacht‘ zu Opa, Julius“, beendete sie die aufkommende Diskussion.

Julius schaute seine Mutter traurig und auch ein klein wenig sauer an, was es aber nicht besser machte und ein etwas strengeres „Julius!“ nach sich zog.

„Opa?“, flüsterte er in das Telefon, während es seine Mutter fest in der Hand hielt. „Ich muss jetzt ins Bett. Erzählst du mir irgendwann, was dann passiert ist?“

„Eher als du denkst. Fest versprochen. Und jetzt schlaf gut“, beendete Opa Tiberius das Großvater-Enkel-Gespräch und Julius ging betrübt in das Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen.

„Du sollst den Kleinen doch nicht immer so aufregen, Papa!“

„Margarete“, erwiderte es am anderen Ende, „so klein ist Julius nun auch nicht mehr. Er ist immerhin schon 10 Jahre alt und ich rege ihn doch nicht auf. Und wieso muss er überhaupt schon ins Bett?“

„Ich bitte dich nur, es nicht zu übertreiben. Er schläft sonst schlecht und träumt von deinen abenteuerlichen Geschichten. Und ins Bett muss er, weil er, wie sein Opa, im Wald unterwegs war und zwei Stunden zu spät nach Hause kam. Von oben bis unten verschmutzt. Gute Nacht, Papa. Ich bring ihn jetzt ins Bett.“

„Gute Nacht“, versuchte Julius’ Großvater noch zu antworten, aber seine Tochter hatte den Hörer schon auf den Telefonapparat gelegt und war auf dem Weg ins Kinderzimmer.

Julius lag komplett bis über den Kopf zugedeckt in seinem Bett und drehte sich demonstrativ weg, als sich seine Mutter zu ihm auf den Bettrand setzte.

„Bist du böse auf mich?“, fragte sie.

Julius drehte sich zu ihr, streckte seinen Kopf aus der Bettdecke und blickte in die liebevollen mütterlichen Augen.

„Ich will nur, dass du keine Albträume bekommst von Opas Geschichten. Die sind ja manchmal etwas gruselig. Und ich kenne einige davon. Er ist halt ein Abenteurer, dein Großvater.“

„Ich will auch mal wie Opa werden. Ganz viele Abenteuer erleben“, flüsterte Julius in seinem Bett und wurde dennoch langsam müde.

„Oder du wirst Lehrer, wie dein Papa. Das ist ein sicherer Beruf.“

„Igitt. Nein, Mama. Das klingt voll langweilig. Da macht man doch jeden Tag dasselbe und abends muss man Arbeiten kontrollieren. Papa sitzt doch immer bis spät in die Nacht. Das ist das Gegenteil von Abenteuer“, reagierte Julius entschlossen.

„Lass uns ein anderes Mal darüber reden. Du hast ja noch viel Zeit. Und dennoch: Auch Abenteurer müssen schlafen.“

„Na gut“, flüsterte Julius leise und schloss langsam seine Augen.

„Gute Nacht, Mama.“

„Gute Nacht, du Abenteurer.“

In dieser Nacht träumte Julius von einem schwarzen Wildpferd.

II

Am nächsten Morgen erwachte Julius mit einem Lächeln im Gesicht. Die Sommerferien begrüßten ihn an ihrem ersten Tag mit Sonnenschein und Vogelgezwitscher vor dem Haus. Er schwang seine Bettdecke zur Seite, spurtete die Treppe hinunter in die Küche, wo seine Eltern schon am gedeckten Frühstückstisch saßen, und setzte sich auf seinen Stammplatz.

„Guten Morgen“, rief er freudig.

„Guten Morgen“, antworteten seine Eltern im Chor.

Julius schnappte sich eine Brotscheibe und bestrich sie mit goldgelber Butter. Darauf legte er mehrere Blutwurstscheiben und zum krönenden Abschluss durfte eine zarte Schicht Senf nicht fehlen. Dann biss er hinein und kaute genüsslich. Dabei beobachtete er, wie sein Vater ihn beobachtete.

„Wie du so etwas nur essen kannst“, sprach dieser und verzog dabei das Gesicht.

„Das hast du von deinem Großvater“, ergänzte Julius’ Mutter und küsste ihn dabei auf seinen blonden Wuschelkopf.

Julius’ Vater stand auf und befüllte den Teekessel mit Wasser. Er stellte ihn auf der Herdplatte ab und räusperte sich.

„Wir müssen dir etwas sagen.“

Julius blickte gespannt in des Vaters Augen.

„Du erinnerst dich doch daran, dass ich mich in einem Krankenhaus beworben habe“, führte seine Mutter die Erzählung fort.

Julius blickte nun noch gespannter in Mutters Augen.

„Deine Mama wurde angenommen. Sie hat die Stelle bekommen“, ergänzte nun wieder sein Vater.

Julius blickte abwechselnd in Vaters Augen, dann Mutters, dann wieder Vaters, dann Mutters.

„Das ist fantastisch!“, freute er sich und ging zu seiner Mutter, um sie zu umarmen.

„Aber wieso freut ihr euch nicht richtig?“, fragte er.

„Nun. Die ganze Sache ist das Beste, was uns seit langem passiert ist, aber es gibt einen Haken“, sagte Julius’ Mutter.

Julius schaute in ihre Augen und dann wieder in des Vaters Augen, gespannt, was er gleich sagen würde.

„Ich muss in drei Tagen anfangen“, führte sie fort und Julius’ Augen verwirrte das genauso sehr wie sein noch schläfriges Köpfchen.

Er wusste nun gar nicht mehr, wo er hinschauen sollte, und sagte nichts. Er konnte nichts sagen. Der geplante Jahresurlaub mit seinen Eltern sollte genau in drei Tagen beginnen. Sie wollten zusammen nach Italien fliegen. Julius hatte sich so darauf gefreut, das erste Mal zu fliegen und drei Wochen lang nur Pasta und Pizza zu essen. Seine Mundwinkel wanderten nach unten und obwohl er sich für seine Mutter von Herzen freute, konnten seine Mundwinkel das nicht wiedergeben.

„Wir müssen dir noch etwas sagen“, sprach sein Vater, der nun wartend am Teekessel stand.

Julius erwartete das Schlimmste: Er müsste jeden Tag mit auf die neue Arbeit. Er müsste mit seinem Vater langweilige Lehrerdinge erledigen. Er müsste jetzt kochen lernen. Er müsste das Haus putzen. Sie zögen aus dem Haus aus, weil es auf einer Fliegerbombe gebaut worden war.

„Du darfst Großvater besuchen. Allein“, unterbrach ihn sein Vater beim gedanklichen Unglücksszenario.

In diesem Moment pfiff nicht nur der Teekessel. Julius sprang blitzschnell auf und kreischte vor Freude mit ihm um die Wette. Der Stuhl flog nach hinten und Julius rannte erst um den Tisch, dann die Treppe nach oben, durch sein Zimmer, wieder die Stufen nach unten, durch das Wohnzimmer hindurch, zurück zur Küche und schlussendlich setzte er zu einem finalen Sprung fest in die Arme seiner Eltern an.

Er war aufgeregt. Noch nie hatte er allein verreisen dürfen. Noch nie hatte er Zeit nur mit seinem Großvater verbringen dürfen. Noch nie war er so glücklich gewesen wie genau jetzt. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich Julius beruhigt hatte und wieder damit begann, langsam und gemächlich zu atmen. Seine Eltern schienen erleichtert und saßen mit ihm am Küchentisch. Sie tranken aufgebrühten Pfefferminztee und Kaffee und warteten auf das Fragengewitter, das wohl im Anflug war bei dieser Neuigkeit. Sie kannten ihren Sohn ja nun schon eine Weile.

„Aber weiß Opa denn Bescheid?“, schoss Julius los.

„Er hat es selbst vorgeschlagen, durfte aber noch nichts verraten“, antwortete seine Mutter und setzte sich ihrem Sohn nun wie ein Verhörpartner in einer Krimiserie gegenüber.

„Und wie lange darf ich?“

„Drei Wochen.“

„Seit wann steht das fest?“

„Seitdem ich weiß, dass ich die neue Stelle antrete.“

„Und seit wann weißt du das?

„Seit vorgestern.“

„Und wie komme ich hin, zu Opa?“

„Mit dem Zug.“

„Wann fahre ich los?“

„Morgen früh.“

In Julius‘ Kopf ratterte es. Er hatte seinen Großvater zuletzt vor zwei Jahren gesehen. Zwar telefonierten sie regelmäßig, aber ein Abenteurer wie sein Großvater war nicht oft in seinem Zuhause, sondern unterwegs. Dafür hatte Julius schon immer Verständnis gehabt, seine Eltern weniger.

Damals also, vor zwei Jahren, waren sie zusammen mit dem Zug zu ihm gefahren. Das Zugfahren war einfach. Einsteigen, fahren, aussteigen. Ein Kinderspiel. Julius versuchte, sich zu erinnern, wie die Haltestelle hieß, die sein Ziel markierte.

„Ich schreib dir alles auf“, reagierte seine Mutter, die am rätselnden Blick ihres Sohnes erkannte, was in ihm vorging.

Julius strahlte, sprang auf und rannte nach oben, um zu packen. Er war kein Kleinkind mehr, er war immerhin schon 10 Jahre alt und sehr wohl in der Lage, selbst einen Koffer zu suchen und zu packen.

„Mama? Wo ist denn der Koffer?“, schrie er quer durch das Haus.

„Schrei nicht so. Der ist im Keller“, rief sie zurück.

Julius machte sich also auf den Weg in den Keller. Er war kein Kleinkind mehr, er war immerhin schon 10 Jahre alt und sehr wohl in der Lage, alleine in einen gruseligen dunklen Keller zu gehen.

„Papa, brauchst du auch etwas aus dem Keller?“, schrie er wieder zu laut.

„Ich komme mal mit nach unten“, flüsterte Julius’ Vater direkt hinter ihm, „ich brauche eine Glühlampe.“

Julius erschrak etwas darüber, dass sein Vater auf einmal hinter ihm stand, doch als dieser ihm zuzwinkerte, verschwand der Schreck und machte Platz für ein breites Grinsen. Er drückte auf den Lichtschalter, aber nichts geschah. Er schaute zur Lampe an der Wand und betätigte den Schalter erneut.

„Ich sagte doch, ich brauche eine Glühlampe“, grinste sein Vater.

„Dann wollen wir mal“, sagte Julius und stieg mutig hinter seinem Vater die Stufen hinab ins Dunkle.

Sie tasteten sich durch die Finsternis des Raumes und Julius versuchte, den gesuchten Koffer zu erfühlen.

„Kiste, Kiste, Kiste, Truhe, Regal, Kopf.“

Julius schrie auf.

„Ah, mein Auge!“, japste sein Vater. Er hockte vor dem Regal, rieb sein fingerbelastetes Auge, stieß sich beim Aufrichten den Kopf und fluchte.

„Sch….ornsteinfeger“, rief er laut und Julius musste lachen.

„Entschuldige, Papa“, flüsterte er, aber es war längst verziehen. Sein Vater war schon auf dem Weg zur kaputten Glühbirne, um sie auszutauschen. Julius hörte das Schraubgeräusch, dann ein ‚Klick‘ und der Keller war erleuchtet.

Der Koffer ward schnell entdeckt und gleich von Julius aufgenommen. Schnell rannte er die Stufen nach oben, an Papa vorbei, der sich sein Auge rieb. Und die Stirn. Julius packte, klassenfahrterprobt, wie er war, seinen Reisekoffer und trug ihn zur Haustür hinunter.

Der Abend mit seinen Eltern sollte ein wundervoller werden. Sie aßen Spaghetti mit Fleischbällchen in Tomatensoße und schauten einen Film über Italien. Julius fand ihn ziemlich schnulzig, aber zumindest kam eine coole geheimnisvolle Steinmaske darin vor. Sie spielten Rommé und aßen Salzstangen. Seine Eltern tanzten zu italienischer Musik und Julius schaute ihnen glücklich zu. Spät gingen sie schlafen.

In dieser Nacht träumte Julius von einer sprechenden Steinmaske. Sie sprach italienisch. Er verstand sie nicht.

III

Der Bahnsteig war fast leer, als Julius mit seinen Eltern dort ankam. Eine große Uhr zeigte mit ihren beiden dünnen schwarzen Armen die aktuelle Zeit: 10.26 Uhr. Vier Bänke in der Nähe des Gleises warteten auf pausierende Reisende.

„Wir sind viel zu früh“, sagte Julius.

„Du kennst doch Mama“, antwortete sein Vater lächelnd und ging zum Zeitungskiosk, um sich eine Tageszeitung zu kaufen.

Am zweiten Gleis des kleinen Bahnhofes fuhr nach einer schwer verständlichen Lautsprecherdurchsage ein Zug durch. Julius beobachtete ihn und versuchte, die Wagen zu zählen.

„Sieh mal, Junge“, zupfte ihn seine Mutter unterbrechend am Ärmel, „die ist bestimmt in deinem Alter. Und was für süße Zöpfe sie hat.“

Julius drehte sich zur Seite und sah, von wem sie gesprochen hatte. Ein Mädchen mit Stofftier in der Hand stand zu Füßen ihrer sich unterhaltenden Eltern und winkte ihm zu. Julius schaute schnell in eine andere Richtung, dann kurz wieder zu dem Mädchen, die immer noch winkte.

„Na, schon eine kleine Freundin gefunden?“, sprach es für seinen Geschmack etwas zu laut direkt hinter ihm.

Sein Vater war mit der Tagespresse zurückgekehrt, sah das winkende Mädchen und grinste. Julius wurde rot. Das Mädchen grinste weiter. Und winkte. Julius schaute verlegen auf den Boden. Jetzt hatten sich auch die Eltern gegenseitig entdeckt, freuten sich gemeinsam über das winkende Kind und winkten auch. Und grinsten. Julius schloss die Augen. Er wollte weg von hier.

Ein knarzender Lautsprecher erlöste ihn endlich und beendete die elterlichen Verkupplungsversuche.

Der Interregio war in Anfahrt. Der Bahnsteig füllte sich mit anderen Mitreisenden. Gehetzte Männer und Frauen mit Aktentaschen, entspannte ältere Damen mit grauen Haaren, verliebte händchenhaltende Jugendliche, spazierstockführende Herren mit Hüten, Familien mit schlafenden Kindern im Kinderwagen, Familien mit schreienden Kindern im Kinderwagen und viele mehr bevölkerten den bis eben fast leeren Bahnsteig.

Julius schaute nach links und sah den nahenden Zug in der Ferne.

„Jetzt ist es soweit“, schluchzte seine Mutter und beugte sich zu ihm herab.

„Pass gut auf dich auf. Halte dich an die Anweisungen auf dem Zettel. Iss deinen Reiseproviant. Bleib dort sitzen, wo wir dich gleich hinsetzen. Höre auf die Durchsagen im Zug. Schau genau auf die Ortsschilder am Bahnhof. Steig erst aus, wenn der Zug an Opas Station ankommt“, ergänzte sie mit den Tränen kämpfend.

„Und wasch dich immer. Kämm dir die Haare. Putz dir die Zähne. Ruf uns an, wenn du angekommen bist“, schloss sie mütterlich umsorgend.

Der Zug kam langsam angefahren und quietschte sich über die Gleise zum Stehen. Die Türen öffneten sich. Ankommende stiegen aus, Abreisende stiegen ein. Julius und seine Eltern kletterten in den Waggon hinein und suchten das für Julius bestimmte Abteil.

„Guten Tag“, grüßte sein Vater die schon Sitzenden und verstaute den Koffer. Er umarmte seinen Sohn, gab ihm einen Kuss und Julius schaute ihm auf die Stirn, besser gesagt, auf die Beule.

„Tut es sehr weh?“

„Die Beule nicht. Der Abschied schon“, antwortete er mit einer kleinen Träne im Auge.

Dann umarmten sich beide kurz. Julius’ Mutter stellte derweil den Proviantrucksack auf den Sitz und wies alle im Abteil Mitfahrenden an, ein Auge auf ihren Sohn zu haben.

„Sag dem Schaffner Bescheid, wenn etwas ist!“, forderte sie ihn zum Abschied auf und umarmte Julius so fest, dass er kurz nach Luft schnappen musste.

Als sich die mütterliche Kraftumarmung langsam löste, kullerten die mütterlichen Tränen über das schluchzende Gesicht.

„Mama, es sind doch nur drei Wochen. Ich habe dich lieb. Mach dir keine Sorgen“, versuchte Julius erwachsen zu beruhigen.

„Ich habe dich lieb“, flüsterte sie und beendete den schmerzlichen Abschied.

Der Zug wollte losfahren, ob man wollte oder nicht. Julius nahm am Fenster Platz, setzte den Proviantrucksack auf seinen Schoß und schaute nach draußen. Die Türen schlossen sich und das metallene Ungetüm kam in Bewegung. Er winkte seinen Eltern zu. Seine Eltern winkten zurück.

Dann verschwanden sie durch des Fensters Bewegung mit dem Zug in Fahrtrichtung und dort, wo Julius eben noch den Bahnhof gesehen hatte, wechselten sich anfänglich graue Häuserfassaden und dann Felder und Wiesen verschwommen ab. Der Zug schleppte sich mit gleichmäßigem Herzschlag über die Gleise.

Julius schaute sich um.