Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Tarons Erwachen" ist ein Fantasy-Abenteuer über den jungen Fischer Taron. In seinem Heimatdorf folgt alles dem immergleichen Trott. Doch Taron ist ein Abenteurer, den es in die Welt zieht. Als er ein Tagebuch mit einer sagenumwobenen Geschichte in die Hände bekommt, packt ihn der Mut und er macht sich auf seine Reise. Drachen, gefährliche Herausforderungen und neue Freunde halten schnell Einzug in Tarons Abenteuer. Der junge Mann lernt auf seinem Weg nicht nur viel über die Welt, sondern auch unglaublich viel über sich selbst. Es ist eine epische Reise, die den Leser sein eigenes Leben hinterfragen lässt und weise Empfehlungen für Selbstentwicklung und ein glückliches Leben gibt. Ein Muss für alle, die nicht nur gut unterhalten werden möchten, sondern auch Tiefgang und Botschaft in Büchern begrüßen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 298
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Kapitel 1 Hangosvaan
Kapitel 2 Stürmische Zeiten
Kapitel 3 Neue Zeiten
Kapitel 4 Aufbruch
Kapitel 5 Mine
Kapitel 6 Eis – Iskandar
Kapitel 7 Neue Wildnis
Kapitel 8 Ellie
Kapitel 9 Neue Freunde
Kapitel 10 Esi und Ellie
Kapitel 11 Sumpf – Svazidra
Kapitel 12 Auf Wiedersehen?
Kapitel 13 Milbrad
Kapitel 14 Ein Abendessen und zwei Gauner
Kapitel 15 Ein Weg hinein?
Kapitel 16 Die Burg
Kapitel 17 Durchatmen
Kapitel 18 Hereinspaziert
Kapitel 19 Feuer – Malinkot
Kapitel 20 Stolz
Kapitel 21 Eine gute Schachpartie
Kapitel 22 Isabella
In Hangosvaan ist der Herbst angekommen. Die Blätter fallen in großer Zahl von den Bäumen. Kaum einer, der sich nicht von seinem alten Kleid befreien möchte.
„Der Wind ist schon beinahe winterlich, nicht wahr, Junge?“
Kay Bertrong sitzt auf der Bank am Hafen, stützt sich sanft – doch sichtbar – auf seinem Spazierstock ab und rümpft die Nase. Seine Stirn ist zum Himmel emporgereckt und die geschlossenen Augen könnten selbst dann nichts sehen, wenn sie geöffnet wären.
„Ja, etwas“, erwidert Taron Helk. Er blickt nachdenklich zum Himmel und versucht, den Punkt zu finden, dem sich Kay nun schon seit ein paar Minuten zugewandt hat.
„Wie geht es deiner Mutter?“
Er schließt die Frage mit einem Schmatzen. So, als habe er gerade etwas gegessen und genieße den Geschmack des letzten Bissens im Mund.
Tarons Mutter Silva ist hübsch, doch ein solches Verhalten hält Taron für äußerst unangebracht. Gerade möchte er zu einer tadelnden Erwiderung ansetzen, als er bemerkt, wie Kay mit dem Zeigefinger in seinem Mund herumbohrt.
Taron zieht eine Grimasse und wendet sich von dem unappetitlichen Schauspiel ab.
„Ganz gut.“
Er macht eine Pause und denkt darüber nach, wie schwer es in den letzten Wochen und Monaten gewesen ist. Die Fische vor der Küste gingen ihm immer spärlicher ins Netz und sie mussten oftmals weit hinausfahren, um noch etwas zu fangen.
Seine Mutter tut ihr Bestes, das Pech zur See auszugleichen. Als einzige Näherin im Dorf ist sie sehr gefragt. Ein jeder benötigt von Zeit zu Zeit ihre Dienste. Ob nun, um das Lieblingshemd zu flicken oder einen neuen Unterrock zu nähen, Silvas Laden ist stets gut besucht. In letzter Zeit jedoch geben die Schafe weniger Wolle, lässt sich weniger Wild im angrenzenden Wald erlegen und die Vorräte gehen auch langsam zur Neige.
„Sicher wäre es einfacher, wenn …“
„Ach! Die Jugend und ihre ständige Nörgelei!“
Mit einem lauten und knorrigen Lachen poltert Kay hervor und erschreckt nicht nur Taron mit dieser unerwartet heftigen Reaktion. Ein paar Meter die Straße hinunter fällt etwas klappernd zu Boden. Offenbar wurde vor Schreck Geschirr fallengelassen. Kay lässt sich nicht beirren. Noch immer klingt sein Gelächter über die Straße.
Taron beginnt zu schmunzeln und wartet darauf, dass sein Gesprächspartner sich wieder beruhigt.
„Der Vater deines Vaters und ich wir haben viele der Häuser hier im Dorf mit unseren eigenen Händen gebaut. Egal, ob es regnete oder schneite oder die Sonne brannte – was natürlich hier bei uns sehr selten passiert“, wieder lacht er kurz und kehlig auf, „aber du verstehst, was ich sagen will, was, mein Junge?“
Kays Hand streckt sich zur Seite aus und versucht, etwas in der Luft zu finden.
Viele Male schon leistete Taron Kay Gesellschaft auf der kleinen Bank vor dem Krämerladen. Meist saß er dabei direkt neben ihm, doch dieses Mal will er stehen bleiben. Der irritierte Gesichtsausdruck von Kay weicht schnell einer aufrichtigen Zufriedenheit, als er Tarons Schulter ergreift und tätschelt. Der junge Mann setzt sich nun doch hin.
„Ja, der Sommer ist hier meist auf einen Tag beschränkt, was?“
Kays Lachen wird noch einen Ton lauter und nun perlen feine Tränen aus seinen Augen, die er sogleich mit dem Handrücken abwischt.
„Ob es überall so aussieht wie hier bei uns?“
Kays Lachen erstirbt langsam.
„Was meinst du, Junge?“
„Na, wie es wohl an anderen Orten ist? Wenn wir mit den Booten draußen sind, dann kann ich an manchen Tagen ganz weit am Horizont Land sehen. Die anderen sagen dann immer, ich soll auf die Netze oder das Ruder oder das Segel achten … aber ich …“
„Mach dich nicht verrückt mit diesen Gedanken, Junge! Ist schon richtig so, dass deine Freunde dir sagen, du sollst deine Arbeit machen. Ohne euch und das Fischen hätten wir hier im Dorf nicht so viel zu essen. Ist es nicht gut, satt zu sein?“
Taron stutzt. Natürlich ist es wichtig, genug zu essen zu haben. Doch ist das nicht das, was er sagen wollte. Er schüttelt sanft mit dem Kopf und runzelt die Stirn. Vornübergebeugt, die Hände auf den Knien abgestützt, geht sein Blick geradeaus zum Meer hinaus. Der Herbstwind peitscht das Wasser unruhig auf und lässt hohe Wellen an der hölzernen Kaimauer brechen. Ganz in der Nähe vertäuen zwei Dorfbewohner ein Boot und sichern es vor einem möglichen Sturm.
„Ich werde nach Hause gehen. Es ist schon spät. Sicher hat Ma auch noch etwas für mich zu tun.“
„Tu das, Junge, tu das. Und grüß sie mir, die liebe Silva!“ Ein strahlendes und herzliches Lächeln liegt auf Kays Gesicht. Tarons Gedanken über das unangebrachte Schmatzen sind verflogen.
„Das will ich tun, alter Mann. Wir sehen uns morgen!“
„Und hör nie auf zu träumen, Junge! Die Welt braucht Träumer und Abenteurer!“
Taron lauscht Kays letzten Worten und stapft zielstrebig die Straße empor zum Zentrum des Dorfes. Seine Kleidung ist noch ein wenig feucht von der fordernden Arbeit auf See. Vorbei am Lagerhaus und der Taverne, direkt neben der Tischlerei und ein gutes Stück entfernt vom Haus des Schmiedes, erreicht er nach ein paar Minuten sein Zuhause.
Die Tür zum Haus ist zu dieser Zeit des Tages bereits geschlossen. Räuber oder Gesindel gibt es in Hangosvaan nicht. Niemand schließt sein Haus ab, alle gehören zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Doch das Wohnhaus der Helks ist auch zugleich das Geschäft für Silvas Kunden.
„Hallo, Ma.“
Beim Eintreten überwältigt Taron gleich die wohlige Wärme des Feuers in der Küche.
„Mach schnell die Tür zu.“
Silva steht am Ofen an der gegenüberliegenden Seite des Eingangs und rührt in einem Topf. Es duftet im ganzen Haus nach dem Abendessen für den Tag.
„Schon wieder Eintopf?“, fragt Taron etwas missmutig, „ich dachte, wir könnten mal einen Fisch machen. Ich habe doch gestern erst welche mitgebracht.“
„Die habe ich eingelegt. Es ist noch zu viel vom Eintopf übrig. Nun komm und hilf mir. Räum mal den Tisch frei.“
Der Tisch im Haus ist Arbeitsplatz, Esstisch und Ablage zugleich. Rechts neben dem Eingang sind hier vier Stühle um den Tisch herum aufgestellt.
Taron geht an der Verkaufstheke für Silvas Näharbeiten vorbei. Auf einem hölzernen Ständer hängen eine lederne Weste und ein feines Hemd mit Stickereien. Er tritt näher heran und bewundert die filigrane Arbeit seiner Mutter.
„Was ist nun? Der Tisch!“ Sie ruft vom Herd aus herüber und zieht das „i“ ganz besonders in die Länge.
Hastig räumt Taron den Tisch frei, eilt zur Anrichte, holt das Geschirr heraus und deckt den Tisch.
„So.“ Silva setzt den großen Topf ab und gibt ihrem Sohn ein stolzes Lächeln.
„Her mit deinem Teller.“
Sie füllt ihre Teller mit dem – wirklich – gut duftenden Eintopf und setzt sich nieder.
„Erzähl, wie war es heute? So stürmisch wie gestern?“
Sie essen, während sie sich unterhalten.
„Schlimmer. Der Herbst ist da, Ma.“ Er zuckt mit den Schultern.
„Aber wir haben wieder so wenig gefangen. Die älteren Fischer reden schon davon, dass es bald ein Problem für das Dorf geben könnte.“ Er zieht die Brauen hoch. „In der Vorratshöhle sind nicht genügend Reserven für den kommenden Winter und wir sind angewiesen auf den Fisch, sagen sie.“
Silva blickt streng und lauscht Tarons Bericht.
„Dann muss der Bäcker eben mehr Mehl zu Brot verarbeiten. Ich weiß, dass der liebe Siggurd noch eine ganze Menge bei sich gelagert hat. Für schlechte Zeiten, sagt er dann immer und wirft mir so einen komischen Blick zu, als würde er …“
„Ma, bitte. Erzähl mir nichts von deinen Liebeleien mit Siggurd!“
Er lässt den Löffel in den Eintopf fallen. Sie verdreht die Augen und schmunzelt, will aber nicht auf die unbegründete Anschuldigung eingehen. Siggurd ist lediglich Nachbar und gern gesehener Gast oder Gesprächspartner, aber zu einer Liebelei mit ihm ließe sich Silva sicher nicht hinreißen.
„Hat Pa eigentlich mal daran gedacht, hier wegzugehen?“
Nun ist es an Silva, ihren Löffel fallen zu lassen.
„Wie bitte?“
Taron kratzt sich verlegen am Ohr.
„Na, ich meine, wir wissen beide, dass die Welt nicht nur aus Hangosvaan und den paar Kilometern Wald und Wasser um uns herum besteht. Schließlich sind unsere Vorfahren ja auch mal über das Meer hierhergekommen.“
Silva runzelt die Stirn und mustert Taron aufmerksam, während er weiterspricht.
„Ich bin schon oft weiter rausgefahren mit den anderen Fischern. Die Fischgründe sind immer weiter draußen. Da haben wir keine andere Wahl. Und an besonders guten Tagen, mit weiter Sicht und viel Sonne, kann man in der Ferne eine Insel sehen. Oder vielleicht sogar ein riesiges Land, dass noch keiner kennt.“
Taron redet sich in Rage. Seine Wangen glühen vor Aufregung und seine Augen weiten sich in Gedanken an die magischen und unentdeckten Länder, die es in seinen Kopf geschafft haben.
Als sein Vater noch lebte, erzählte dieser ihm allabendlich eine Geschichte. Meist dachte er sich etwas anderes aus und erzählte einfach drauf los. Im Laufe der Jahre wiederholte sich natürlich vieles, doch Tarons Faszination für fantastische Welten und mystische Geschöpfe blieb immer gleich.
„Pa hat doch früher immer …“
„Ach!“ Silva schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und erschrickt sich gleich, ob ihres kleinen Ausbruchs.
„Entschuldige …“
Sie faltet ihre Hände und hält sie – ähnlich einem Gebet – vor ihr Gesicht. Taron beobachtet sie und wartet höflich. Er spürt, dass seine Mutter etwas teilen möchte.
„Ich habe deinen Vater über alles geliebt und bin so dankbar für die Zeit, die wir miteinander hatten.“ Ihre Augen werden glasig. Sie legt eine Hand offen auf den Tisch und nähert sich Tarons Hand. Er greift nach ihr.
„Und dass er mir dich geschenkt hat, ist für mich das Beste …“
„Ma …“ Er blickt verlegen zur Seite und löst sich aus dem Griff.
„Was aber auch zum Leben deines Vaters gehörte, war, dass er viele Geschichten erzählt hat. Manche davon, um dich zu unterhalten und zum Einschlafen zu bringen, manche aber auch, um sich etwas zu borgen und nicht mehr zurückzugeben, und manches auch, um seine Freunde zu necken.“
Taron legt eine ärgerliche Miene auf.
„Dein Vater war ein großartiger Mann und ich vermisse ihn jeden Tag. Doch niemand ist perfekt. Ich denke, du tust gut daran, seine Geschichten zu vergessen und dich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.“
Taron verschränkt die Arme auf dem Tisch und blickt verdrießlich auf seinen leeren Teller. Er wünscht sich, dass Silva noch etwas ergänzt, um ihn aufzuheitern. Doch sie steht auf, räumt die Teller zusammen und steuert den Kochbereich an.
„Ich gehe noch etwas spazieren.“ Im Gehen greift er die Felljacke, die er von seinem Vater geerbt hat, und verlässt das Haus durch die Vordertür.
… tust gut daran, seine Geschichten zu vergessen …
Er kickt ärgerlich einen Stein aus dem Weg und beobachtet dessen kurzen Flug ins Unterholz des angrenzenden Waldes.
Der Herbstwind spielt ein leises Lied in den Baumkronen und fordert sie zum Tanz.
Taron blickt die langen Stämme empor und beobachtet im Dunkel des Abends ihre Bewegungen. Der Himmel ist sternenklar und das Ensemble der nächtlichen Himmelslichter strahlt auf das Dorf herab.
„Was es da oben wohl noch alles zu entdecken gibt?“, fragt er sich leise selbst und erschreckt heftig, als er die Gegenwart einer anderen Person neben sich spürt.
„Vielleicht sollten wir erstmal hier unten bleiben, bevor wir dort oben weitersuchen.“
Taras Stimme dringt wie das liebliche Schwingen einer Engelsharfe an sein Ohr.
Der Schreck weicht schnell einer jugendlichen Verlegenheit.
„Oh. Ähem.“ Er räuspert sich kräftig und nimmt Haltung an.
„Was machst du denn noch so spät hier draußen?“
„Ich könnte dich das Gleiche fragen“, erwidert sie schelmisch.
„Ich mache einen Spaziergang.“
„Ich auch.“
„Das glaube ich dir nicht.“
Sie verdreht die Augen und blickt ihn hinreißend an, als wolle sie, dass er ihr ein Geheimnis entlocke. Sie lehnt sich leicht vor und wiegt sich verführerisch, während sie hinter ihrem Rücken etwas zu verstecken scheint. Doch Taron nimmt den offensichtlichen Flirt nicht wahr.
Enttäuscht lehnt sie sich wieder zurück und holt ihre Hände hinter dem Rücken hervor.
„Ich habe im Wald Pilze gesammelt. Hier.
Schau.“ Sie zeigt auf den Inhalt ihres Korbes. Eine Handvoll große Steinpilze und Pfifferlinge befinden sich darin.
„Nicht schlecht. Hast du lange gebraucht dafür?“
Nicht so lange, wie du für manche Dinge brauchst …, denkt sie und antwortet: „Ich war schon ein paar Stunden unterwegs, glaube ich. Ich muss wohl die Zeit vergessen haben.“ Sie blickt strahlend zum Himmel empor. „Wunderschön, nicht wahr?“
Taron folgt für einen kurzen Moment ihrem Blick, doch bemerkt er in diesem Moment etwas noch viel Schöneres, was ihm zuvor nie so recht aufgefallen ist.
„Ja …“, sagt er leise und beobachtet Tara, während ihr Blick an den leuchtenden Sternen hängt.
„Ich mag es, dass du so viele Fragen stellst“, sagt sie plötzlich und ertappt Taron dabei, der sie nunmehr beinahe unhöflich anstarrt.
„Ach, echt?“ Seine Stimme gibt ein merkwürdiges Glucksen von sich. Sein Hals ist trocken. Er kratzt sich verlegen am Hinterkopf.
Was ist nur auf einmal mit mir los? Fällt mir da nichts Besseres ein? Komm schon Taron, du alter Fischer, was hat Pa noch immer gesagt?
„Deine Augen leuchten wie tausend Sterne.“
„Wie bitte?“
Sie blickt ihn hoffnungsvoll an und errötet. Damit hat sie nicht gerechnet.
„Ach nichts … vergiss es …“
Sie geht einen Schritt auf ihn zu. Beinahe eine halbe Armlänge trennt die beiden nur noch.
„Nein. Bitte. Sag noch mal, was du gerade gesagt hast.“ Ihre Augen strahlen ihn schüchtern an in Erwartung der romantischen Geste.
Die beiden jungen Erwachsenen kosten die ersten Früchte ihrer unschuldigen Verliebtheit. Taron und Tara gehören zu einer kleinen Gruppe von acht Dorfbewohnern, die in etwa der gleichen Altersgruppe angehören. Natürlich sind sie zusammen aufgewachsen, haben als Kinder miteinander gespielt und haben den Unterricht der Alten und Weisen besucht. Tara ist gerade neunzehn geworden und ein Jahr älter als Taron, doch der Altersunterschied wird mehr und mehr zu einer Nebensache, je maskuliner und kräftiger der junge Mann in den letzten Jahren geworden ist.
Er räuspert sich abermals und nimmt seinen Mut zusammen. Geschützt unter einer dicken, gefütterten Kapuze ist Taras Gesicht kaum zu sehen. Mit ihrer Annäherung jedoch ist sie gezwungen, den Kopf etwas emporzurecken – Taron ist beinahe einen Kopf größer – und so rutscht die Kapuze in ihren Nacken.
Die tiefroten Haare sind zu einem geflochtenen Zopf um den Kopf herumgebunden. Ihre Haut glänzt vor jugendlicher Schönheit.
Sie öffnet ihre Lippen einen winzigen Spalt. Tarons Herz schlägt schneller und schneller.
„Ich sagte …“ Er atmet tief ein und aus.
„Deine Augen leuchten wie tausend Sterne.“
Seine Worte zaubern ein winziges Lächeln auf ihre Mundwinkel. Sie neigt den Kopf ganz leicht zur Seite, schließt die Augen und lehnt ihren Oberkörper vor.
Zuerst huschen Tarons Augen unsicher durch die anbrechende Nacht, doch findet er seine Urinstinkte in sich und küsst Tara unter dem Licht des Sternenhimmels.
Als sich ihre Lippen lösen, entflieht ihr ein genussvolles Wimmern und Taron spürt eine unbekannte Wärme in sich aufsteigen.
„Machen wir das nochmal?“, fragt Tara neckisch und schenkt ihm einen verführerischen Augenaufschlag.
Tarons Hals ist noch immer wie ausgetrocknet. Erneut räuspert er sich und müht sich, seine Stimme männlich klingen zu lassen.
„Unbedingt. Ähem. Wie wäre es morgen?“,
fragt er unbeholfen, ohne wirklich darüber nachzudenken.
„Sehr gut! Morgen also. Wollen wir uns wieder hier treffen? Vielleicht etwas früher, wenn es noch nicht so dunkel ist. Wir könnten zusammen Pilze sammeln.“
Sie lächelt glücklich und verliebt.
„Ja. Das machen wir.“
„Ich freue mich darauf! Ich muss nun nach Hause. Meine Eltern warten auf mich.“
Sie steigt auf die Zehenspitzen und drückt ihm hastig einen Kuss auf die Wange.
„Bis morgen!“ Sie winkt ein paar Mal und entfernt sich.
Taron steht wie angewurzelt immer noch an Ort und Stelle. Sein ungelenkes Winken ärgert ihn spätestens beim fünften Mal und er stellt es ein.
„Tara …“, flüstert er leise in die Nacht.
Mit den Fingern streicht er über seine Lippen und ist elektrisiert von den Gefühlen, die ihn durchströmen.
„Taron und Tara … klingt gut …“
Plötzlich überkommt ihn ein Gedanke.
Sind wir jetzt versprochen? Werden wir nun heiraten und Kinder kriegen? Ich muss ein Haus bauen! Wo bekomme ich im Winter das Holz her? Was hat Ma noch zuletzt gesagt: Die Familien mit den Töchtern organisieren immer die Hochzeit, während die Familien mit den Söhnen für Haus und Hof zu sorgen haben!
Taron wird schwindelig. Die Realität holt ihn von Wolke sieben brutal herunter auf den Boden.
Während sein Herz noch immer aus dem Takt ist, beginnt sein Magen zu grummeln und der Kopf sich zu drehen. Stirnrunzelnd entfernt er sich vom Waldrand und geht nach Hause.
Am nächsten Morgen weckt ein lautes Geräusch Taron aus seinem Schlaf. Kaum dem Moment gewahr, steigt er aus dem Bett und verlässt sein Zimmer. Gleich fällt sein Blick auf Silva, die halb angezogen zur Eingangstür prescht.
„Was ist passiert?“, ruft er hinter ihr her.
„Ein Baum“, muffelt sie knapp und tritt nach draußen.
Taron rennt hinterher und erblickt beim Hinaustreten eine riesige Kiefer, die zur Hälfte quer auf dem einzigen Pfad liegt, der durch Hangosvaan führt. Ihre Krone ist zu dünn gewesen, um dem Haus, auf dem sie gelandet ist, wirklich zu schaden. Der letzte Meter ist nach oben gedrückt und sieht wie ein kümmerlicher Weihnachtsbaum aus.
„Puh. Nochmal Glück gehabt“, bemerkt Taron und legt einen Arm um seine Mutter.
„Alles okay bei dir?“
„Ja. Ich bin nur aufgeschreckt von diesem lauten Knacken und dem Geheule des Sturms.“
Um sie herum knarren und knarzen die Bäume, bewegen sich ruhelos in dem ersten Herbststurm des Jahres.
„Ein Tee?“, fragt Silva ruhig.
„Wieso nicht? Schlafen kann ich nun sowieso nicht mehr. Wir werden sehen, was ich heute mache. Bei diesem Sturm wird kein Boot rausfahren.“
Er tritt ins Haus hinein und schließt die Tür hinter sich.
Immer wieder hören sie das Pfeifen des Windes und das Geräusch einzelner Zweige, die auf das Dach fallen.
„Pa hat das Dach verstärkt, ja?“
Taron blickt in einem Anflug von Unsicherheit nach oben und nimmt die Teetasse in die Hand.
„Das hat er. Wenn er etwas gut konnte, dann mit Holz arbeiten. Ich glaube, kein Haus im Dorf ist sicherer als unseres.“
Silva nippt an ihrer Tasse und legt Holz in den Ofen. Sie reibt sich die Arme und versucht, aus der Glut wieder ein Feuer zu entfachen.
„Ich hab` gestern Tara geküsst.“
Silva richtet sich ruckartig auf und verschüttet einen guten Schwung Tee, während sie versucht, sich zu sammeln.
„Du hast eine Freundin?“
Mit großen Augen blickt sie über den Tisch hinweg auf Taron.
„Was? Ist das so abwegig?“
Augenblicklich fährt ein leuchtendes Strahlen in Silvas Gesicht. Ihre Mundwinkel gehen hoch und sie stürzt beinahe überschwänglich auf ihren Sohn zu.
„Oh, das ist wundervoll! Komm her, lass dich drücken!“
Sie lässt sich nicht bitten und umarmt ihren Sohn liebevoll und glücklich.
„Ma … bitte … wir haben uns nur geküsst …
ich will sie nicht heiraten …“
Oder doch? Tara ist eine schöne Frau geworden. Lange her, dass wir noch Kinder waren und zusammen gespielt haben …
„Ach!“ Silva winkt energisch ab. „So haben dein Vater und ich auch zueinander gefunden. Irgendwann haben wir uns geküsst und bald führte eins zum anderen.“ Sie stemmt die Arme in die Hüfte und strahlt noch immer.
„Sicher wirst du sie heiraten. Vielleicht nicht morgen oder in einem Monat. Aber möglicherweise in einem Jahr. Du wirst sehen. Das ist der Lauf der Dinge.“
Taron verdreht die Augen.
„Was?“
„Dieser Satz … ich hasse ihn … Es klingt so, als würde sich alles immer gleich entwickeln. Schrecklich!“
„Was ist daran so schlimm, wenn alles so bleibt, wie wir es gewohnt sind? Das gibt Sicherheit, schafft Zuversicht. Beständigkeit ist eine gute Sache.“
Taron beobachtet Silvas Blick und in seinem Kopf entwickeln sich zwei Szenarien. Im ersten bricht er einen Streit vom Zaun über das Für und Wider von Beständigkeit und im zweiten nickt er und nippt an seinem Tee ohne ein weiteres Wort.
Taron nickt.
„Sieht aus, als ließe der Sturm etwas nach“, sagt er mit einem kurzen Blick zum Fenster hinaus.
„Du hast Recht. So sieht es wirklich aus.
Komm, Junge, zieh dir was an. Wir gehen im Dorf herum und sehen, wer Hilfe braucht.
Sicher hatten nicht alle so viel Glück wie wir.“
Was hat es mit Glück zu tun, dass Pa einfach nur das Dach verstärkt hat?
Taron geht in sein Zimmer und zieht sich an.
Kurz darauf verlassen Mutter und Sohn erneut das sichere Heim und wählen zunächst den Pfad in Richtung der Berge. Hier stehen ein paar Häuser recht nah am Waldrand.
Nach wenigen hundert Metern – hinter einem kleinen Hügel – fällt ihr beider Blick auf einen Baum, den der Sturm komplett entwurzelt hat. In ganzer Länge ist er auf das nächste Haus eingeschlagen. Das Dach ist völlig zertrümmert und die ausladenden Zweige bedecken beinahe das ganze Haus.
„Das ist das Haus von Kay!“
Taron rennt schlagartig los und nähert sich dem zerstörten Gebäude.
„Kay?! Kay! Na komm schon, mein alter Freund, sicher bist du hier drin!“
Taron hämmert gegen die Holzwand des Hauses und ruft kraftvoll in das Haus hinein. Die Tür ist aus den Angeln gerissen, im Inneren liegen Balken und Äste kreuz und quer. Das Dach wurde so stark eingedrückt, dass es über die ganze Länge des Hauses heruntergebrochen ist.
Tränen schießen in Tarons Augen. Er wischt sich mit dem Handrücken über die laufende Nase.
„Kay?“
Das Pfeifen des Windes ist die einzige Antwort, die er bekommt.
Vielleicht war er ja nicht im Haus? Er ist alt … alte Menschen werden nachts oft wach, oder?
Taron tritt aus dem Haus hinaus, während er sich Mut zuredet. Neben Silva stehen Siggurd, der Bäcker, und Benj, der Schmied. Beiden ist die traurige Miene schon von Weitem anzusehen. Sie stellen ihre Unterhaltung ein, als Taron sich nähert.
„Was ist los? Warum schaut ihr so?“
Benj ist ein Baum von einem Kerl, doch nah am Wasser gebaut. Mit einem kurzen Schniefen kullern Tränen seine Wange hinunter.
„Ich … kann das nicht …“ Er wendet sich ab und bricht nach ein paar Metern bitterlich in Tränen aus.
„Was ist denn los?“, fragt Taron ungeduldig.
„Wir haben ihn schon weggebracht …“, sagt Siggurd.
Tarons Augen wandern unruhig zwischen den Anwesenden hin und her.
„Er war alt, Taron. Er hatte keine Chance.“ Siggurd zeigt auf das hinabgestürzte Dach und jetzt begreift Taron endgültig, dass all das Mut zureden und Ignorieren nichts bringen und sein Gefühl von Anfang an richtig war: Kay wurde des Nachts vom Dach seines Hauses erschlagen.
Während Taron an die vielen Male zurückdenkt, bei denen er einträchtig mit dem alten Zausel auf der Bank am Kai saß und auf das Meer hinausgesehen hat, vernimmt er nur dumpf einzelne Wortfetzen von Siggurd: „… ging schnell … hohes Alter … gute Seele …“ Taron wendet sich kurz an seine Mutter: „Ich geh` spazieren.“
„Ist gut.“ Sie nickt sorgenvoll und streicht tröstend über Tarons Schulter, während der Junge sich entfernt.
Der Sturm hat merklich nachgelassen und die Bäume wiegen nur noch leicht hin und her. Wenige Meter von Kays Haus entfernt liegt die alte Mine des Dorfes. Nach einem Einsturz im letzten Jahr hat man noch nicht wieder begonnen sie freizuräumen. Taron stapft über den weichen Waldboden und hängt seinen Gedanken nach. Am Eingang zur Mine setzt er sich auf die Felsen und fängt an zu weinen.
Die Knie angezogen und mit den Armen umschlungen, sinkt sein Kopf hinunter und er schluchzt einige Sekunden haltlos. Ganz für sich und mit sich, lässt er den Gefühlen freien Lauf. Immer schon sah er sich selbst als sonderlich oder anders. Nie wollte er sich recht anfreunden mit den alten Sitten und Gebräuchen, mit Traditionen und dem ständigen Das-ist-der-Lauf-der-Dinge seiner Mutter. Bei Kay fand er das Ohr, das er so sehr gebraucht hat. Ein Ohr, welches sich Zeit nahm für Träume und Visionen, Reisen und Abenteuer. Ein Ohr, welches ihm das Gefühl gab, nicht alleine auf der Welt zu sein.
Ein Stein löst sich und poltert in den Schacht hinein. Taron erschrickt und späht in die Finsternis.
Nichts zu sehen …
Nach ein paar weiteren Minuten der Stille beschließt der junge Fischer, zurückzukehren zu seiner Mutter und sich der trauernden Dorfgemeinde auszusetzen.
Keiner kannte ihn wirklich … von wegen „gute Seele“ …
Zerknirscht stößt er einen Stein mit dem Fuß und stapft missmutig zurück zu Kays Haus.
Wie erwartet, hat sich nun beinahe das ganze Dorf versammelt. Auch Tara ist da und trocknet sich das Auge mit einem Tuch. Mit der anderen Hand umklammert sie ein Buch und drückt es an ihre Brust. Als sie Taron erblickt, zwingt sie sich ein Lächeln auf die Lippen.
Nach ein paar salbungsvollen Worten des Sehers prozessieren die Versammelten zur Taverne. Der Hafen ist nicht weit und so beobachtet Taron, wie bereits der Leichnam von Kay auf einem Boot aufgebahrt und für seine letzte Reise vorbereitet wird.
Das Wetter scheint sich einen Spaß zu machen, denkt Taron und schaut auf die sanft wiegenden Wellen des Meeres.
„Heute arbeiten wir nicht, Junge.“
Ein fester Griff reißt beinahe Tarons Schulter entzwei. Laas kippt einen Schwall Met in sich hinein und mustert Taron ernst. „Alles in Ordnung, Junge? Du mochtest den Alten, nicht wahr? Hab euch immer auf der Bank sitzen sehen.“ Er nickt in die entsprechende Richtung.
Blitzmerker …
„Ja …“
Wieder lässt Laas seine riesige Pranke auf Tarons Schulter rauschen, die dieses Mal ein leichtes Knacken von sich gibt.
„Kopf hoch! Irgendwann ist Ende für alle!“ Er macht kehrt, trinkt den Met aus und stimmt zum Gesang an: „Nehmt fort den Laib, gebt her das Weib, im Tanz uns eint, was sonst verneint.“
Laas dreht sich um die eigene Achse und sein riesiger Körper wäre beinahe mit einem anderen Dorfbewohner kollidiert.
Durch die Bewegung öffnet sich ein Spalt in der Menge und Tarons Blick fällt auf Tara, die an der Theke am anderen Ende des Raumes steht und an einem Becher nippt.
Für einen kurzen Augenblick treffen sich ihre Blicke und Taron winkt unschuldig mit dem dümmlichsten Grinsen auf dem Gesicht, zu dem er gerade fähig ist. Eine weitere Bewegung der Menge schließt den Spalt wieder. Erleichtert atmet Taron auf und geht zum Ausgang.
Sein Weg führt ihn geradewegs zur Bank am Kai. Er setzt sich nieder und schaut den Helfern bei den Vorbereitungen der Seebestattung zu.
„Darf ich mich setzen?“
Er erschrickt und erblickt Tara neben der Bank. Sie trägt einen Umhang um ihre Schulter und ihre Haare hat sie zu einem langen Zopf gebunden. Ihre so gezähmte, wilde, rote Mähne reicht bis zur Mitte ihres Rückens. Ihre Augen sind gerötet und wirken müde.
Taron nickt.
Sie nimmt Platz und legt die Hände auf ihren Schoß. Das Buch, welches Taron zuvor erblickte, hält sie mit beiden Händen fest.
„Du mochtest ihn wirklich sehr, stimmt`s?“ Verständig und beinahe liebevoll streicht sie über seinen Rücken. Ein wohliger Schauer rauscht durch Taron hindurch. Ihre Berührung ist angenehm vertraut und hinterlässt Spuren.
War der Einzige hier, der mich verstanden hat …
Er blickt weiter gebannt auf das Meer hinaus und hängt seinen eigenen Gedanken nach. Taras Hand liegt wärmend auf seiner Schulter. Sie rückt ein Stück näher an ihn heran und legt den Arm nun ganz um ihn. Tarons Kopf dreht Pirouetten.
Eine Hochzeit? Sicher muss ich dann ein Haus bauen! Und was, wenn sie Kinder haben will? Bestimmt will sie das! Alle Frauen wollen das, oder?
Die Helfer entfernen sich langsam vom Kai und gehen an der Bank vorbei in Richtung Taverne. Ihre Blicke streifen das junge Paar und ein schelmisches Lächeln zeichnet sich auf ihren Gesichtern ab.
War ja klar, denkt Taron und springt plötzlich auf.
Erschrocken zieht Tara ihren Arm zurück und schaut ihn fragend an.
„Also … Kinder sind einfach nicht mein Ding!“
Er geht schnurstracks zum Kai und hält auf den aufgebahrten Leichnam zu.
Wie es die Tradition verlangt, liegt er in ganzer Länge auf dem Boot. Unter ihm eine Schicht aus Holz. Vor dem Boot sind bereits Öl und Fackel vorbereitet. Ein paar Meter zur Rechten steht ein größerer Feuerkorb, in dem die Flammen züngeln.
Der Seher eines jeden Dorfes vollzieht die Zeremonie, an deren Ende das Boot auf das Meer hinausgeschoben und mit Hilfe der Fackel – oder manchmal auch mit einem brennenden Pfeil – entzündet wird.
„Hab` ich was Falsches gesagt?“
Taras freundliche und fürsorgliche Zuwendung hätte in jedem anderen Moment, an jedem anderen Tag, sicher das Herz des jungen Fischers erweichen können. Doch hier und jetzt …
Taron greift zum Ölkrug und zerschlägt ihn am aufgeschichteten Holz. Das Öl verteilt sich schnell. Ist jedoch auch zäh genug, um nicht sofort über das ganze Boot zu fließen.
„Taron! Halt! Warte! Das darfst du nicht!“ Während Tara zum Boot eilt und im Laufen ihren Umhang verliert, packt Taron zwei Ruder, die am Boden liegen, entzündet die Fackel am Feuerkorb und steckt sie in den Bügel, der üblicherweise für das Steuerruder gedacht wäre. Doch wird dieses bei einer solchen Bahre nicht benötigt und vorher entfernt.
„Was machst du da? Du wirst eine Menge Ärger kriegen!“
Taron ignoriert Taras begründete Warnung und löst das Seil vom Kai. Das Boot wankt auf den nunmehr leichten Wellen und Tarons Blick packt Tara mächtig. Wilde Entschlossenheit, Tatendrang und Abenteuergeist sind ihm ins Gesicht geschrieben. Der Junge von einst ist zum Mann geworden und Tara fühlt eine starke Anziehung.
„Kommst du mit?“
Er reicht ihr die Hand.
Unsicher blickt die junge Frau sich um. Einzelne Dorfbewohner haben offenbar ihre Rufe gehört und treten aus der Taverne heraus. Mit aufgerissenen Augen und ausgestreckten Armen machen sie ihrer Empörung Luft.
Tarons Blick streift kurz die Bewohner, während er bereits mit einem Bein im Boot steht.
„Rein oder raus?“
Seine Stimme ist kräftig und lässt keinen Zweifel zu, dass er tun wird, was auch immer er vor hat zu tun. Ob sie nun mitkommt, oder nicht.
Tara streckt ihre Hand aus und greift zu. Er packt sie fest und sicher und hilft ihr in das Boot hinein. Ein kräftiger Tritt schiebt die Bahre vom Kai weg.
Gleich schiebt der Fischer versiert die Ruder ein und legt an.
Tara wirkt etwas unsicher, bleibt zunächst im Boot stehen und stützt sich am Scheit ab. Mit dem aufgebahrten Leichnam darin ist nicht allzu viel Platz im Boot – schon gar nicht für zwei weitere Passagiere.
Taron legt sich richtig in die Riemen. Das Boot nimmt Fahrt auf und Tara hält sich gut fest. Ihr Blick wandert über seine Arme, die auffallend muskulös sind. Sie errötet und wendet sich schüchtern ab.
„Ha! Na, da guckt ihr, was?“
Taron nickt in Richtung Hafen. Mehrere Bewohner stehen fingerzeigend am Hafen und gestikulieren nervös. Einer möchte einen brennenden Pfeil abschießen, ein anderer schlägt ihm den Bogen aus der Hand und verteilt eine heftige Ohrfeige.
Taron lacht amüsiert auf und ist bereits ein paar hundert Meter rausgerudert, als er um die Mole steuert und hinter den nachgelagerten Felsen außer Sicht ist.
„Wo fahren wir hin?“, fragt Tara ängstlich. Sie blickt sich um und reibt sich die Arme. Der zurückgelassene Umhang gibt den Blick frei auf ihre blasse Haut und ihre zarten Schultern. Taron schluckt kurz und schüttelt nicht hilfreiche Gedanken ab, während er versiert um die Felsen steuert.
„Keine Sorge. Ich weiß, was ich tue.“
Zweifelnd zieht Tara die Brauen hoch und verschränkt ihre Arme, während sie zur Seite blickt.
Mehr Körpersprache geht nicht, denkt Taron und schmunzelt.
Er blickt sich kurz um, orientiert sich und steuert dann zielgerichtet auf die Felsen zu.
„Willst du uns umbringen, du Verrückter?“, schreit Tara plötzlich laut. Erschrocken blickt sie auf die schroffen Felsen und zerklüfteten Vorsprünge vor ihnen.
Taron verdreht die Augen und antwortet dieses Mal nicht.
Tara blickt zu ihm und wieder zu den Felsen. Sie sieht die Sicherheit in seinen Bewegungen, sucht nach dem kleinsten Hauch Wahnsinn in seinen Augen. Doch findet sie nur Mut und Entschlossenheit.
Langsam entspannt sich ihr Körper und sie stützt sich wieder am Scheitholz ab. Sie beginnt, ihm zu vertrauen.
Wenige Meter vor den Felsen, zeigt sich dann das Ziel für Tarons irrwitzige Fahrt: eine Höhle. Gut versteckt zwischen den Felsen, ist sie durch einen schmalen Zugang zu erreichen - kaum breiter als das Boot. Taron zieht die Ruder ein und nutzt nur noch eines, um sich von den Felswänden abzustoßen und auf Kurs zu bleiben. Das Boot wankt plötzlich heftig und Tara verliert das Gleichgewicht. Sofort reagiert der Ruderer und hält einen kräftigen Arm hin, an dem sich Tara dankend klammert und abstützt.
„Alles okay?“
Die Röte ihrer Wangen ist für sie deutlich spürbar und für Taron kaum zu übersehen. Als sie sich aufrichtet, kreuzen sich ihre Blicke und ihre Köpfe sind kaum eine Handbreit voneinander entfernt. Nach einem nicht enden wollenden Augenblick räuspert Tara sich und stellt sich wieder hin.
Den Blick emporgerichtet, weiten sich ihre Augen und können doch nicht die ganze Schönheit dieses Ortes erfassen. Ihr Mund öffnet sich vor Staunen.
„Schön, oder?“, fragt Taron grinsend, legt die Ruder wieder ein und steuert das Boot tiefer in die Höhle.
In gut hundert Metern Entfernung ist ein kleiner Sandstrand zu sehen. Das Wasser bricht in winzigen Wellen am Ufer und plätschert sanft. An den Felswänden wachsen Flechten, Farne und andere Pflanzen - sogar welche mit Blüten sind zu sehen. Durch ein rundes Loch in der Höhlendecke dringt Tageslicht nach unten und erhellt den darunterliegenden Strand. Nicht mehr als ein Haus von normaler Größe könnte auf ihm gebaut werden.
Das Boot läuft auf dem Ufer auf und gerät leicht ins Kippen. Dieses Mal behält Tara das Gleichgewicht.
Behände springt der junge Abenteurer aus dem Boot und hilft seiner Begleiterin galant heraus.
Auf dem Boden angelangt, legt Tara den Kopf in den Nacken und späht nach oben. Durch das Loch sind vorbeiziehende Wolken zu sehen, ein kleiner Vogelschwarm passiert.
„Nachts ist es hier wirklich herrlich. Man kann wunderbar die Sterne beobachten und das Allerbeste …“, Tara lauscht gebannt, „… hier wachsen Pflanzen, die nachts leuchten.“
Mit einer Mischung aus ungläubiger Faszination und begeisterter Schwärmerei staunt Tara und saugt den Moment in sich ein.
Der flüchtende Fischer sammelt ein paar Steine vom Ufer, setzt sich an die Felswand und beginnt, die Steine nachdenklich ins Wasser zu werfen.
Tara sieht ihm einen Moment zu und kommt ins Grübeln.
„Warum hast du mich mitgenommen?“
Sie steht ihm gegenüber und stemmt die Hände in die Hüften. Die Tochter des Schmieds hat die grazile Figur ihrer Mutter, sie sieht eher wie eine Amazone aus, denn wie eine Walküre.
Ein Blick voller Wehmut und Schwere, Ratlosigkeit und Fragen trifft sie unvorbereitet. Mehr und mehr wird ihr bewusst, dass Taron viel mehr ist, als ein einfacher Fischer, der hübsch anzusehen ist und den sie von Kindheit an kennt.
Sie nähert sich ihm, nimmt neben ihm Platz, beobachtet seine Würfe und wartet geduldig auf eine Antwort.
„Ich dachte, du verstehst mich vielleicht oder willst es wenigstens versuchen.“
Tara zieht ihre Beine heran und legt die Arme herum. Sie zittert.
Aufmerksam bemerkt Taron ihre Haltung.
„Ich habe keinen Mantel oder so … tut mir leid. Ich könnte dich wärmen …“, sagt er frei heraus, ohne auch nur wirklich vorher über seine Worte nachgedacht zu haben.
Wieder steigt Tara eine Röte auf ihre Wangen. Sie schluckt. Sie ist allein in einer abgelegenen Höhle mit einem Jungen, den sie mag und begehrt. Doch ist es echt? Ist es eine Verliebtheit oder kann es mehr sein?