Taschkent, die brotreiche Stadt - Alexander S. Newerow - E-Book

Taschkent, die brotreiche Stadt E-Book

Alexander S. Newerow

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Beschreibung

Alexander Sergejewitsch Newerows (* 1886, † 1923) Erzählungen stehen in der Tradition der revolutionären Narodniki (»Volkstümler«). Während der Revolution stand er den Sozialrevolutionären nahe, ging 1919 zu den Bolschewisten über und bekleidete Posten in staatlichen und kulturellen Institutionen. Erst nach dem frühen Herztod dieses Provinzdichters erhöht sich das Interesse an seinem literarischen Schaffen. Sein 1923 erscheinender Roman »Taschkent, die brotreiche Stadt« wird eines der populärsten Jugendbücher der 20er Jahre. Newerow schildert hier die grauenhafte nachrevolutionäre Hungerkatastrophe in Rußland aus der Perspektive eines Zwölfjährigen, der mit dem beklemmenden Ernst eines Kindes Elend, Gewalt und Tod miterlebt. Die deutsche Übersetzung des Romans erschien 1925.

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Seitenzahl: 156

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Alexander S. Newerow

Taschkent, die brotreiche Stadt

Titel

 

 

 

 

 

 

 

Taschkent,

die brotreiche Stadt

 

 

 

 

 

 

 

Alexander Newerow

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright: NDV im vss-verlag

Jahr: 2022

 

 

 

Lektorat/ Korrektorat: Hermann Schladt

Covergestaltung: Ulf Marquardt

Übersetzung: Igor Tubnik

 

Verlagsportal: www-vss-verlag.de

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig.

Für Fjodor Wassiljewitsch Gladkow

I

Großvater gestorben, Großmutter gestorben, dann auch Vater. Mischka ist nun allein mit der Mutter und zwei kleinen Brüdern. Der Jüngste zählt vier Jahre, der Mittlere acht. Mischka ist zwölf. Die Bürschchen sind Taugenichtse. Der eine bettelt nach Grütze, der andere schnitzt mit dem Messer eine Windmühle für den Dachfirst. Anderes Spielzeug hat er nicht. Mutter kränkelt vom Hungern. Geht sie zum Fluss nach Wasser, kommt sie mit knapper Not wieder. Heute weint sie, morgen weint sie, doch der Hunger kennt kein Erbarmen. Bald trägt man einen Bauern auf den Friedhof, bald gleich zwei. Gestorben ist Onkel Michailo, gestorben Tante Marina. In jedem Hause ist man auf einen Toten gefasst. Pferde und Kühe hatten sie, die haben sie aufgegessen. Jetzt machen sie Jagd auf Hunde und Katzen.

Mischka quält sich mit Gedanken.

Groß ist die Familie, klein die Zahl der Arbeitsfähigen. Er ist der Zuverlässigste. Das hat auch Vater vor dem Tode gesagt: »Jetzt musst du Hausherr sein, Mischka.«

Auf die Straße ist Mischka gegangen, da reden die Bauern von Taschkent. Das Brot ist dort sehr billig, nur schwer ist’s, hinzukommen. Zweitausend Werst sind es, zurück wieder zweitausend. Ohne Geld ist nichts zu machen. Die Fahrkarte muss bezahlt werden und auch der Passierschein.

Lange hört Mischka zu, fragt dann:

»Dürfen auch Kinder dorthin?«

»Du willst fahren?«

»Na, und wenn? Ich krieche in eine Ritze, da sieht mich keiner.«

Die Bauern lachen.

»Nein, Mischka, du musst zu Hause bleiben. So einer wie du findet noch nicht wieder zurück. Wachse erst mal fünf Jährchen, dann kannst du fahren.«

Aber Mischka glaubt den Bauern nicht. Er weiß, Taschkent ist eine brotreiche Stadt; er fürchtet sich nicht. Wird ihm ein bisschen bange, macht er sich gleich Mut: »Versuch’s doch, bist doch kein Mädchen. Gibt man dir nichts, nimmst du Arbeit an. Hast den ganzen Sommer für Vater gepflügt, die Pferde anspannen, das kannst du. Fehlen dir auch ein paar Jahre, in der Arbeit holt dich ein Großer nicht ein.« Mischka quält sich mit Gedanken.

Sie geht ihm nicht aus dem Sinn, die brotreiche Stadt Taschkent. Er hat’s vor Augen: zweitausend Werst, das ist gar nicht weit. Zu Fuß, freilich, ist es weit, aber sitzt man in der Eisenbahn, kommt man in drei Tagen hin. Ein Passierschein ist ganz über-flüssig. Man sieht’s doch, ein kleiner Junge fährt, wird sagen: Lasst ihn, Genossen, das ist der hungrige Mischka. Was wiegt er denn schon? Ein halbes Pud wird er haben mit allen Eingeweiden. Verjagen sie ihn aus dem Wagen, kann er auf dem Dach schon zwei Tage aushalten. Ist doch auf Bäume nach Krähennestern geklettert - das ist schlimmer als so ein Dach - und trotzdem nicht heruntergefallen ... Er hat seinen Freund Serjoshka Karpuchin entdeckt; der ist ein Jahr jünger. Er ist froh.

»Los, wir fahren beide!«

»Wohin?«

»Nach Taschkent um Brot. Zu zweit macht’s mehr Spaß. Wenn dir etwas passiert, helfe ich dir, und passiert mir etwas, hilfst du mir. Hier kommen wir sowieso nicht zurecht.« Serjoshka glaubt ihm nicht gleich.

»Und wenn es regnet?«

»Im Sommer ist der Regen warm.«

»Und wenn die Soldaten uns verjagen?«

»Wir gehen ihnen aus dem Wege.«

Serjoshka ist unschlüssig. Er bohrt zweimal in der Nase, dann sagt er:

»Nein, Mischka, da kommen wir nicht hin.«

Mischka beteuert ihm:

»Bei Gott, wir kommen hin, nur musst du keine Angst haben.

Jetzt sind überall Rotarmisten, die verjagen uns nicht. Wenn sie hören, dass wir Hunger haben, schenken sie uns Brot.« »Wir sind so klein, wir werden uns nicht trauen.«

Mischka beweist ihm: Sie sind überhaupt nicht klein. Dass Serjoshka jünger ist, macht gar nichts. Besorgen wird Mischka alles: wird einen Platz in der Eisenbahn suchen und die Leute bitten. Sie sind doch keine Mädchen! Kommt es auch schlimm, sie werden’s schon überstehen. Verjagt man sie aus der Eisenbahn, zu zweit ist das kein Unglück. Sie übernachten irgendwo und gehen ein Stückchen zu Fuß. Dann schlüpfen sie wieder hinein, wenn die Beamten nicht aufpassen. »Und wann kommen wir zurück?« fragt Serjoshka.

»Zurück kommen wir bald. Hin sind es höchstens vier Tage und zurück auch. Wir besorgen uns zwanzig Pfund, das reicht, sonst wird es zu schwer!«

Serjoshkas Augen leuchten vor Freude:

»Ich schaffe ein Pud!«

»Ein Pud geht nicht, das ist zu viel, das nehmen sie uns weg. Lieber fahren wir zweimal, wenn wir erst den Weg kennen.« »Dass du aber keinem etwas sagst, Mischka!« »Bestimmt nicht!«

»Wir zwei wissen davon, sonst keiner. Koska und Wanka werden mitwollen. Die fürchten sich doch vor Gespenstern. Wo kommst du mit denen schon hin!«

»Hast du nicht Angst?«

»Ich Angst? Ich gehe um Mitternacht auf den Friedhof.«

2

 

Die Mutter lag stöhnend im Bett. Fedka, der Jüngste, zupfte ihr am Rocksaum, steckte den Finger in den Mund und bettelte nach Brot. Jaschka, der Mittlere, bastelte an einem Holzgewehr. Er wollte Spatzen fürs Essen schießen, dachte sich: >Wenn ich drei schieße, esse ich mich satt. Fedka und Mama gebe ich etwas ab. Ach, eine Taube müsste man schießen!< Mischka trat in die trostlose, hungernde Hütte, drückte die Mütze in die Stirn und runzelte die Brauen. Wie ein richtiger, erwachsener Bauer sah er aus, stellte sich auch breitbeinig wie ein Bauer hin.

»Mama, was ist? Du liegst?«

»Mir ist heute nicht gut, Jungchen.«

»Ich fahre nach Taschkent, Brot holen.«

»Was für ein Taschkent?«

»Das ist so eine Stadt, zweitausend Werst von hier, da ist das Brot sehr billig ...«

Mischka sprach ruhig und selbstbewusst, wie ein richtiger, erwachsener Bauer.

Verwundert sah ihn die Mutter an.

»Was redest du da? Ich verstehe nicht!«

Mischka erzählte der Reihe nach. Viele Beeren gibt es da, mit Brot kann sich jeder vollstopfen. Zunächst kann man dreißig Pfund heranschaffen. (Er legte absichtlich zehn Pfund zu, damit die Mutter ihm eher Glauben schenkte.) Er redete in einem Fluss, wie ein Buch. Was er von den Bauern gehört und was er sich selbst ausgedacht hatte, alles trug er ihr vor. Hin dauere es höchstens vier Tage und zurück auch.

»Mach dir keine Sorgen, Mama!«

»Und wenn du nicht wieder nach Hause kommst?«

»Ich komme wieder.«

»Ach, Jungchen, keine Nacht mehr werde ich schlafen, immer nur werde ich an dich denken. Die Bauern sind erwachsene Menschen, sie fahren trotzdem nicht.«

»Für die Bauern ist es schwerer, Mama. Sie brauchen eine Fahrkarte, einen Passierschein, aber Serjoshka und ich, wir werden uns vor allen verstecken. Jedenfalls, wer außer mir sollte sich wohl um euch kümmern? Was willst du denn mit Fedka und Jaschka anfangen? Selber hab ich keine Angst.« »Gib acht, Mischka! Ich bitte dich um Christi willen, steig nicht aufs Dach! Gott bewahre dich davor, du fällst in der Nacht herunter, dann bist du verloren! Lieber bitte jemand, dass er dir ein sicheres Plätzchen gibt. Was soll ich nur ma­chen, wenn ich ganz allein bin?«

»Mach dir keine Sorgen, Mama, ich falle schon nicht.« Mischka probierte seine Bastschuhe. An den Hacken waren sie zerrissen. Er runzelte die Stirn.

»Teufel, ihr Hungerleider!«

Aber gleich kam er zu sich:

»Jetzt ist ja nicht kalt, man kann barfuß gehen.«

An einem Ziegel schärfte er sein Taschenmesser, bohrte mit einer Ahle ein Loch in den Griff und hängte es, um es nicht zu verlieren, an seinen Ledergurt. In einen Lappen schüttete er Salz, knotete ihn fest zusammen, damit kein Körnchen verstreut wurde. Für den Notfall rollte er sich eine Hanfschnur zusammen. Was kann unterwegs nicht alles passieren! Der Vater hatte es immer so gehalten: Wenn er zum Markt fuhr, nahm er eine Reserveachse, ein Rad und eine Gabeldeichsel mit. Ein Rad brauchte Mischka nicht, doch die Schnur wird ihm von Nutzen sein.

Die Mutter holte einen Pud-Sack hervor und setzte auf beiden Seiten Flicken auf.

»Wird einer genügen, Mischka?«

»Gib mir zwei mit, doppelt ist besser. Vielleicht geben sie uns lauter einzelne Stücke.«

Die Mutter vertraute ihm.

»Hast recht, Mischka. Nimm alles, was du kriegen kannst. Vielleicht bringst du auch ein bisschen Korn mit, das säen wir dann aus.«

In der Kammer zog sich die Mutter das Hemd aus und schnitt einen roten Streifen für einen zweiten Sack aus.

Jaschka hielt mit dem Basteln am Holzgewehr ein und starrte seinen Bruder staunend an.

»Mischka!«

»Na?«

»Fährt Serjoshka auch mit?«

Mischka gab ihm keine Antwort. Er trat in den Hof hinaus, sah sich um.

So ist das mit dem Hunger!

Ein Rad liegt da herum, dort das Kumt, aber kein Pferd, keine Kuh ist da. Früher gackerten hier die Hühner, schrie aus voller Kehle der Hahn - jetzt stehen nur die Pfosten noch und das löchrige Dach. Na, macht nichts. Gelingt es ihm, heil nach Taschkent zu kommen, wird das anders. Die Hauptsache ist, er hat keine Angst. Wenn andere fahren, kann es auch Mischka versuchen. Ihm fehlen zwar ein paar Jahre, in der Arbeit aber holt ihn kein Großer ein.

 

3

 

Wieder sprachen die Bauern auf der Straße von Taschkent, drehten sich ihre Gedanken um diese nie gesehene Stadt, hörten sie von den Weingärten, hänselten sie sich mit den beiden Weizensorten: dem für bewässerten und dem für unbewässerten Boden. Die Preise sind gar nicht hoch. Ein Paradies ! Aber man kommt schwer hin, man braucht eine Fahrkarte, braucht einen Passierschein.

Mischka hatte keine Furcht.

Wie im Märchen lag Taschkent vor ihm - die brotreiche Stadt. Weingärten - nicht vorzustellen! Mühelos kann man sich da die Taschen voller Aprikosen stopfen. Sieht sowieso keiner, wenn man auf dem Bauch kriecht.

Die Luft, sagten die Bauern, sei dort sehr heiß, stickig, aber auch davor hatte Mischka keine Furcht. Sicher gibt es da Flüsse wie bei uns. Und gibt es Flüsse, kann man auch baden.

Als Serjoshka an die Kirgisen erinnerte, durch deren Gebiet sie reisen mussten, ließ Mischka sich auch dadurch nicht erschüttern :

»Die Kirgisen sind doch auch Menschen, warum soll man Angst vor ihnen haben?«

»Aber vielleicht sind sie keine Menschen?«

»Das werden wir ja sehen. Was wird jetzt nicht alles geredet!«

 

4

 

In den Feldern herrschte Stille. Am blauen Himmel trällerten Lerchen. Weiter unten summte der Draht an den Telegrafenmasten, die in langer Reihe dahinzogen. Am Ende der Mastenreihe lag der Bahnhof, und im Bahnhof stand die Eisenbahn. Zweimal schon hatte sie Mischka gesehen, als er mit dem Vater nach Samara gefahren war. Interessant! Langsam macht sie fast fünfzig Sachen, aus dem Schornstein steigt der Qualm, sie wird wie ein Ofen geheizt und tutet mit einer Pfeife.

Mischka schritt in Vaters Jacke, gegürtet mit einem Soldatenriemen, ausholend schwang er seinen Stock. Auf dem Rücken trug er den Sack. Darin steckte der andere, den Mutter ihm aus ihrem roten Stoff genäht hatte. In dem roten Sack steckten eine Blechflasche, der Lappen mit Salz, ein Stück Grasbrot und ein alter Rock von Großmutter, den er den Städtern verkaufen will.

Serjoshka lief barfuß an seiner Linken. Große Bastschuhe an langen Frauenstrümpfen hingen ihm über die Schulter. An die Bastschuhe waren zwei zusammengerollte Säcke gebunden.

Während sie gingen, verabredeten sie, sich nie im Stich zu lassen. Wird der eine krank, soll ihn der andere pflegen, wer zuerst etwas geschenkt bekommt, soll es mit dem andern teilen.

Als der kleine Bahnhof in Sicht war, sagte Serjoshka:

»Sieh mal, Mischka, ich sehe Rauch. Ist das nicht unsere Eisenbahn?«

Mischka schirmte mit der Hand die Augen ab.

»Jetzt ist jede Eisenbahn unsere. Die wir zuerst schaffen, mit der werden wir fahren.«

»Gibt es denn viele?«

»Na, vielleicht zwanzig.«

»Gehst du voran?«

»Hm.«

Serjoshka lächelte.

»Ich habe trotzdem keine Angst. So viele Werst sind wir schon gelaufen, aber die Füße tun mir nicht weh. Los, wir zählen die Schritte.«

»Meine Schritte sind länger als deine.«

»Ich werde auch lange machen.«

Mischka riet ihm:

»Hetz dich nicht so ab, du wirst sonst eher müde.«

Auf einer kleinen Anhöhe setzten sie sich, um auszuruhen, zogen ihre Lappen mit Salz hervor und breiteten sie im Grase aus.

Serjoshka meinte:

»Ich habe mehr Salz als du.«

»Aber hast du Brot?«

»Mama hat mir vier Kartoffeln mitgegeben.«

»Von Kartoffeln wirst du nicht satt, dazu braucht man Brot.« »Woher soll ich’s nehmen?«

Mischkas Gesicht verfinsterte sich.

In seinem Sack lag ein Stück Grasbrot. Es wäre schön, läge auch in Serjoshkas Sack ein Stück Grasbrot. Da hätten sie beide gleich viel; so aber ist es schlimm. Wenn jeder dreimal abbeißt, bleibt nur noch die Hälfte.

»Warum hast du nicht ein Stückchen Brot mitgenommen?« Serjoshka lag auf dem Bauch und sog an einem Grashalm. Seine Augen wurden trübe, weinerlich verzog er die Obetlippe. Er blickte in die Richtung, wo das Dorf lag. Nicht einmal der Kirchturm war noch zu sehen. Ringsum nur Feld und Telegrafenmaste. Bis zum Abend schafft man es nicht, will man umkehren.

Mischka tat der Gefährte leid. Ihr Versprechen fiel ihm ein, sich gegenseitig zu helfen, und er brach ein Stück vom Brot ab.

»Da hast du! Auf dem Bahnhof gibst du’s mir wieder. Denkst du etwa, mir ist es um das Brot leid?« Serjoshka schwieg.

Mehr als ein Pfund hätte er essen können, aber Mischka gab ihm nur einen winzigen Bissen. Wenn sie ihm auf dem Bahnhof nichts gaben, musste er bis zum Morgen warten. Wenn sie ihm am Morgen nichts gaben, musste er bis zum Abend warten. Noch einmal blickte er in die Richtung, wo das Dorf lag, und seufzte.

»Was hast du?«

»Ach, bloß so.«

»Angst gekriegt?«

»Angst! Wovor sollte ich Angst haben?«

»Jetzt kommst du jedenfalls bis Abend nicht mehr nach Hause. Abends kommen die Wölfe...«

Serjoshka sah sich nach allen Seiten um, aber Mischka quälte ihn weiter mit schrecklichen Geschichten.

»Kommst du an die Jefimowschlucht, lauern da nachts die Räuber. Vor kurzem haben sie einem Bauern sein Pferd weggenommen und ihn selber beinahe totgeschlagen.« Serjoshka erhob sich, rollte sich wie ein Igel zusammen und starrte seinen Gefährten entsetzt an.

»Wie viele Tage kannst du ohne Essen aushalten?« fragte Mischka.

»Und du?«

»Drei Tage.«

Serjoshka seufzte:

»Länger als zwei Tage halte ich’s nicht aus.«

»Und wie lange hältst du ohne Wasser aus?«

»Einen Tag.«

»Das ist zuwenig. Ich halte einen Tag und noch einen halben aus.«

Als sie die kleine Anhöhe verließen, sagte Serjoshka plötzlich:

»Ich halte es auch einen Tag und noch ein bisschen aus.«

5

 

Da also ist die Eisenbahn, die märchenhafte. Häuser, eine ganze Straße, stehen auf Rädern, aus jedem Haus schauen Leute. Eng ist es in den Häusern, die Bauern klettern mit ihren Frauen aufs Dach, helfen sich hinauf, schieben von unten nach. Säcke fliegen von oben herab, Teekessel, Leinenbeutel. Ein Soldat mit Gewehr geht über das Dach und schnauzt die Frauen und Männer laut an: »Verboten hier!« Verjagt er sie von dem einen Dach, klettern sie auf ein anderes. Wieder fliegen Säcke herab, wieder brüllt ein Soldat mit Gewehr: »Verboten hier!«

Auch Mischka wollte auf ein Dach zu den anderen klettern, aber da es verboten ist, lässt er es bleiben. Man muss die Vorschriften beachten. Serjoshka begreift nicht. Er starrt ins Leere und rührt sich nicht vom Fleck.

»Warum stoßen sie die Leute herunter?«

»Weil’s verboten ist - vom Staat. Siehst nicht den Soldaten mit dem Gewehr?«

Ein Bauer mit zwei Säcken ist auch völlig ratlos. Er schiebt die Mütze in den Nacken und überlegt: »Wo komme ich nur hinauf?«

Auf drei Dächern war er schon, überall ist es verboten. Er rennt zu einem entfernten Wagen, hinter dem Pumpenhaus noch. Dort wird es wohl gehen. Mischka stürzt dem Bauern nach und treibt Serjoshka zur Eile:

»Mach doch schneller, bleib nicht zurück!«

Aber Serjoshka vermag überhaupt nichts mehr zu fassen.

Rechts Dinge, die er nie gesehen, links Dinge, die er nie gesehen. Bei ihnen im Dorf sind an den Telegrafenmasten drei Drähte, hier sind es acht in zwei Reihen. Da hängen gläserne Kugeln. Signalhörner werden geblasen. Zwei Männer mit Laternen laufen vorbei. Die Schienen sind überall mit Schrauben festgemacht. Serjoshka stolpert über eine Schiene, und so ein Haus ohne Fenster kommt direkt auf ihn zu, knirscht mit den Rädern.

»Wirst überfahren, Junge, beeil dich!«

Der Bauer mit den beiden Säcken steigt auf ein Wagendach, Mischka wie eine Katze ihm hinterher.

»Wo willst du hin?«

»Nach Taschkent will ich mit Serjoshka.«

»Dann mach, dass du ’runterkommst, der fährt nicht nach Taschkent!«

»Wohin fährt er denn, Onkelchen?«

»Nach Sibirien, nach Sibirien! Spring ab!«

Mischkas Herz pocht, die Haare sträuben sich ihm. Wo liegt Sibirien? Was für ein Sibirien? Er sitzt auf dem Dach, Serjoshka läuft neben dem Rad her.

»Komm rauf, Serjoshka, komm rauf!«

Serjoshka will sich ans Trittbrett klammern, aber der Wagen ist schon in voller Fahrt.

»Heiliger Vater!«

Immer noch läuft Serjoshka neben dem Rad, bleibt nicht zurück. Ihm stockt der Atem, dröhnt der Kopf, er kann nichts mehr sehen.

»Du schaffst es nicht!«

Mischkas Herz krampft sich zusammen, der Gefährte tut ihm leid. Mit dem ist es aus, und nach Hause wird er sich nicht trauen. Wenn er im Fahren abspringt, bricht er sich die Knochen. Der Wagen fährt ganz schnell, das Dach wankt, die Räder rattern.

Serjoshka stolpert über die eigenen Beine und fällt aufs Gesicht.

»Jetzt ist er verloren!«

Mischka schaut zum Bahnhof, schaut auf den gestürzten Serjoshka; da fällt ihm ihr Versprechen ein, sich nicht im Stich zu lassen. Was tun? Er wird vom nächsten Bahnhof zurückfahren müssen. Plötzlich aber fährt der Wagen langsamer und bleibt stehen, hat wahrscheinlich etwas vergessen. Er ruckt einmal an, fährt auf einem anderen Gleis zurück. Dann ruckt er noch einmal an, fährt wieder auf ein anderes Gleis. Fünfmal fährt er hin und zurück, dann fährt er mitten in die Felder hinter dem Bahnhof, hält da an. Der Lokomotive ist die Luft ausgegangen, darum ist sie auf ein Nebengleis gefahren.

Der Bauer mit den beiden Säcken tobt.

»Verfluchter Misti Ich habe gedacht, das ist der richtige, der mich nach Sibirien bringt...«

Mischka freut sich maßlos.

Er rennt zum Bahnhof, aber Serjoshka ist nicht da. Er läuft zu der Stelle, wo Serjoshka gestürzt ist, kann sie nicht finden. Bald glaubt er sie hier, bald scheint sie ihm dort. Kopflos jagt er hin und her und findet schließlich den Gefährten nach vieler Mühe an einem Weichenstellerhäuschen. Serjoshka hat den Kopf auf die Knie gelegt und weint.

Das gefällt Mischka nicht. »Warum weinst du?«

»Du hast mich im Stich gelassen.«

»Wir wollen uns aneinander festhalten und uns genau nach dem Weg erkundigen, auf dem wir nach Taschkent kommen. Verkehrt steigen wir nicht wieder ein. Warte hier, ich lauf inzwischen zum Bahnhof, höre mir mal an, was die Bauern sagen. Dass du dich nicht vom Fleck rührst!«

An Widerspruch ist nicht zu denken, denn Mischka ist der Führer.