Tatort Lichtenstein - Julian Letsche - E-Book

Tatort Lichtenstein E-Book

Julian Letsche

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Beschreibung

Auf dem Märchenschloss Lichtenstein am Fuße der Schwäbischen Alb kommt die Schlossführerin Charlotte Friedrich spektakulär zu Tode, sie wird vom Hauptturm hinuntergestoßen. Bei ihren Ermittlungen treffen die Kommissare Magdalena Mertens und Sascha Gross auf eine Mauer des Schweigens … Wenig später wird auch der rücksichtslose Schloss­verwalter, der als einer der Verdächtigen galt, tot auf­gefunden. Ausgerechnet die neue Schlossführerin findet ihn während einer Führung eingezwängt in eine Ritter­rüstung. Der Kreis der Verdächtigen erweitert sich um eine obskure christliche Sekte, in deren Gewalt die Tochter der getöteten Schlossführerin ist. Die »wahren Jünger«, so nennen sich ihre Mitglieder, planen einen Anschlag auf den Parteitag einer rechtskonservativen Partei, den sie radikalen Muslimen in die Schuhe schieben wollen. Nun muss die Kommissarin und ihr junger Kollege sowohl den Mörder finden, als auch den perfiden Plan der Sekte durchkreuzen.

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Julian Letsche

wurde in Undingen bei Reutlingen geboren. Er verließ das Gymnasium nach der elften Klasse und begann eine Ausbildung zum Zimmermann. Bereits als Jugendlicher verspürte er den Drang zu reisen und so war es für ihn selbstverständlich, nach der Gesellenprüfung auf die Walz zu gehen. Er arbeitete u. a. in Frankreich, England, in der Schweiz und in verschiedenen Gegenden Deutschlands. Sein Weg führte ihn auch in die USA und nach Neuseeland, wo er als Zimmermann beschäftigt war.

Wieder in der Heimat absolvierte er die Meisterprüfung und leistete danach seinen Zivildienst in einer Einrichtung für geistig Behinderte. Mit vier Freunden eröffnete er eine Musik- und Kulturkneipe. Inspiriert durch die verschiedenen Bands, die dort auftraten, gründete er zusammen mit mehreren Mitmusikern die Irish Folk Band »Lads go Buskin«.

Seit 1991 ist er als Zimmermeister selbstständig. Schon in der Schule liebte es der Handwerkerdichter, Geschichten zu erfinden, und trug all die Jahre den Wunsch in sich, einen Roman zu schreiben.

Dank der Unterstützung und Nachsicht seiner Frau und seiner Kinder entstand nach einigen Jahren der Recherche und des Fabulierens sein erstes Buch, der historische Roman »Auf der Walz«. Danach folgte die Fortsetzung der abenteuerlichen Reise »Mit Stock und Hut«. Dazwischen wechselte Letsche ins zeitgenössische Genre und veröffentlichte seinen ersten Krimi »Höhlenmord«, um danach die mittelalterliche Trilogie mit »Gefährliche Walz« zu Ende zu bringen.

»Tatort Lichtenstein« ist sein zweiter zeitgenössischer Krimi mit den Reutlinger Kommissaren Magdalena Mertens und Sascha Gross.

Julian Letsche

Tatort Lichtenstein

Ein Schwaben-Krimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel+Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2017Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: Joachim FeistGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Elga Lehari-ReichlingSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-88627-597-7

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Lautlos strich die geschmeidige Raubkatze durch das dichte Unterholz und näherte sich ihrem ahnungslosen Opfer, einem hochgewachsenen Mann, der durch den knietiefen Fluss watete und sich offensichtlich verirrt hatte, denn er drehte immer wieder den Kopf auf der Suche nach einem Orientierungspunkt.

Worauf habe ich mich da nur wieder eingelassen, dachte der Graf wütend, während er sich mit einem durchfeuchteten Taschentuch die schweißnasse Stirn abrieb.

Bisher war bei diesem ungewöhnlichen Projekt, das ihn in eines der ärmsten Länder der Erde geführt hatte, weniger schief gelaufen, als er und seine Partner befürchtet hatten. Die von ihm mitgegründete Umweltstiftung hatte sich auf die Fahnen geschrieben, die Armen mit Wind- und Sonnenenergie zu versorgen, um auf diese Weise eine sinnvolle Entwicklungshilfe zu leisten.

Was hier in Honduras erschwerend hinzukam und seine Nerven ziemlich strapaziert hatte, war das Fehlen eines funktionierenden Staatswesens. Korruption und Vetternwirtschaft lähmten die Gesellschaft und außerdem war da noch die Allgegenwart des großen Bruders USA, die das kleine Land wie eine Kolonie behandelten. Dabei war Honduras unvergleichlich schön und hatte für jeden etwas zu bieten. Im Norden reihten sich traumhafte Karibikstrände aneinander und im Süden traf man auf den unendlichen Pazifischen Ozean. Dazwischen lag eine äußerst fruchtbare Hochebene mit einem angenehm milden Klima.

Und im Nordosten eben dieser Mosquitia genannte unberührte Dschungel, in den der Graf auf Anraten des Ansprechpartners gereist war, den die honduranische Regierung ausgewählt hatte.

Die Moskitos, die diesem Landstrich bestimmt den Namen gegeben hatten, waren mit zunehmender Dauer der Expedition zu einer ungeheuren Belastung geworden. Und auch jetzt wieder war der Graf hauptsächlich damit beschäftigt, sich die Quälgeister vom Leib zu halten.

Mit ein Grund für die Reise in diesen lebensfeindlichen Urwald war für ihn die Aussicht gewesen, einen seiner faszinierendsten Bewohner zu sehen, den Jaguar.

Diese größten Raubkatzen des amerikanischen Kontinents waren den afrikanischen Leoparden nicht unähnlich und mit ihrer Länge von bis zu einem Meter fünfzig sowie einem Gewicht von über hundert Kilogramm ziemliche imposante Tiere.

Obwohl er als deutscher Adeliger schon an vielen Treibjagden teilgenommen hatte, hatte er es vorgezogen, diesmal ohne Gewehr durch den Dschungel zu streifen.

Es wurde zwar gemunkelt, dass die Raubkatze auch schon Menschen angefallen hatte, doch diese Geschichten waren mit Vorsicht zu genießen und so hatte der Graf entgegen den Ratschlägen der Einheimischen lediglich eine Machete mitgenommen.

Gerade als er das andere Ufer des Flüsschens erreicht hatte, nahm er eine Bewegung im Unterholz war und sah im nächsten Augenblick ein schwarzgelb geflecktes Tier auf sich zufliegen.

Du bist schuld daran, dass unser einziges Kind sich auf so etwas eingelassen hat«, schrie die knochige Frau mit hochrotem Kopf. »Dein Kontrollzwang hat sie dieser Sekte in die Arme getrieben. Doch ich werde das nicht hinnehmen und meine Tochter da wieder herausholen, ob du mir hilfst oder nicht.«

Charlotte Friedrich hatte am Morgen nach langer Zeit wieder einen Anruf von Yvonne bekommen und dabei erfahren, dass ihr Kind, das sie in Heidelberg beim Theologiestudium wähnte, sich bereits vor längerer Zeit einer religiösen Landkommune angeschlossen hatte.

In Charlottes Ohren hatte dieses kurze Gespräch wie ein Hilferuf geklungen und daraufhin hatten bei ihr sämtliche Alarmsignale geleuchtet.

Mit hängenden Schultern stand Karl vor ihr und ließ die Tirade über sich ergehen.

Normalerweise war er es, der in diesem Haus das Sagen hatte, aber seit Yvonne aus dem Haus war und seine Frau durch ihre Stelle als Schlossführerin auf dem nahen Lichtenstein zunehmend an Selbstbewusstsein gewonnen hatte, war ihm immer mehr die Kontrolle entglitten.

»Warum soll ich schuld sein, wenn deine Tochter sich in einer Lebenskrise befindet. Lass sie doch machen, schließlich ist sie alt genug.«

Ihre ganze Wut verrauchte und machte einer tiefen Resignation Platz.

»Über kurz oder lang werde ich mich von dir scheiden lassen, ich kann deine mangelnde Empathie einfach nicht mehr ertragen.«

Karl öffnete den Mund und wollte etwas entgegnen, doch die deutlichen Worte seiner Frau machten ihn sprachlos.

Sie schnappte sich ihren Mantel und verließ das schön restaurierte alte Bauernhaus im Ortskern von Honau. Für Ende März war es ziemlich kühl und der schneidende Wind ließ Charlotte frösteln. Trotzdem machte sie sich zu Fuß auf den Weg zum Schloss. Wie jeden Tag passierte sie die beiden Fischspezialitätenrestaurants und nahm den Wanderweg, der sich an der steilen Bergflanke hochschlängelte.

Ihre Gedanken waren bei der offenbar gescheiterten Ehe und sie rief sich die Gründe, die ihrer Ansicht nach dafür verantwortlich waren, ins Gedächtnis.

Nach dem Studium der Mediävistik in Freiburg hatte Charlotte eigentlich nach einem Lehrstuhl an irgendeiner Uni Ausschau gehalten, doch dann war Karl in ihr Leben getreten.

Charlotte war nicht besonders attraktiv und die Anzahl ihrer Verehrer hielt sich in Grenzen. Umso mehr erstaunte es sie, dass der gutaussehende angehende Doktor der Rechtswissenschaften sich für sie zu interessieren schien.

Dass sie finanziell eine gute Partie war und einer alten Reutlinger Fabrikantendynastie entstammte, konnte er zu diesem Zeitpunkt unmöglich wissen.

Der stürmischen Anfangszeit folgten die Eheschließung und kurz danach die Geburt Yvonnes. Zu diesem Zeitpunkt waren ihr Karls schlechte Charaktereigenschaften noch nicht aufgefallen, denn er kümmerte sich rührend um Mutter und Tochter.

Erst nachdem sie die erste gemeinsame Wohnung in Reutlingen bezogen hatten und er bereits nach kurzer Zeit wegen Nichtigkeiten mit sämtlichen Nachbarn im Clinch lag, dämmerte Charlotte langsam, dass es mit Karl nicht einfach werden würde. Anstatt sich mit den Leuten einfach auszusprechen, drohte er ihnen schriftlich an, die in seinen Augen ernsthaften Verfehlungen mit der vollen Härte des Gesetzes verfolgen zu lassen.

Danach mussten sie im Durchschnitt alle zwei Jahre umziehen, bis sie schließlich dieses Bauernhaus in Honau erwarben. Dass sie in dem seiner Ansicht nach »elendigen Kaff« gelandet waren, war ihr zu verdanken, denn ein einziges Mal während ihrer Ehe hatte sich Charlotte durchgesetzt und dabei durchblicken lassen, dass in der Hauptsache sie durch ihr beträchtliches Erbe für den Unterhalt der Familie aufkam.

Die Anwaltskanzlei, die Karl mittlerweile betrieb, war nur mäßig erfolgreich, was mit seiner wenig umgänglichen Art zu tun hatte. Doch auch in diesem Fall sah er die Schuld nur bei anderen und nicht bei sich selbst. Selbstkritik gehörte absolut nicht zu seinen Stärken.

Ausschlaggebend für diesen Wohnsitz war für Charlotte die Nähe und die Sicht auf das spektakulär auf einem Felsvorsprung thronende Schloss Lichtenstein gewesen. Mindestens einmal in der Woche lief sie seither den Albaufstieg empor und ergötzte sich danach an der grandiosen Sicht ins Echaztal.

Yvonne hatte sie anfangs im Tragetuch nach oben geschleppt, doch als das Kind selber laufen konnte, wurde es immer schwieriger, sie für den anstrengenden Marsch zu motivieren.

Das Mädchen entwickelte sich gut, war intelligent und hatte ein freundliches Wesen. Als die Pubertät einsetzte, stellte ihr Vater allerdings immer strengere Regeln auf und spionierte ihr in der Schule und in der Freizeit nach. Das ging so weit, dass Karl den Eltern potenzieller Verehrer seiner hübschen Tochter Drohbriefe zusandte.

Hatte sich Yvonne anfangs dagegen aufgelehnt, so schien sie sich mit der Zeit mit dieser Situation zu arrangieren. Allerdings ließ sie ihre Eltern nicht mehr an sich heran und auch Charlotte, die immer gut mit ihr ausgekommen war, fand keinen Zugang mehr zu ihrer Tochter.

Und das ist jetzt die unausweichliche Konsequenz, dachte Charlotte verbittert, als sie keuchend den Albtrauf erreichte. Doch so schnell wollte sie nicht aufgeben und beschloss, gleich morgen an ihrem freien Tag der Sekte, wie sie diese Kommune insgeheim nannte, einen Besuch abzustatten.

Sobald sie das Schloss sah, waren ihre Sorgen und ihre schlechte Laune wie weggeblasen. Es machte Charlotte ungeheuren Spaß, den Touristen von der wechselvollen Geschichte des Lichtensteins zu erzählen und ihnen die einzelnen Räume und deren zum Teil sehr wertvolles Interieur zu erklären.

Allerdings hatte ihre Euphorie kürzlich einen kleinen Dämpfer bekommen. Grund dafür war der neue Verwalter, der seit einigen Wochen die Geschicke des Schlosses bestimmte.

Eugen Maier, der sie eingestellt hatte, war ein solide wirtschaftender Mann von altem Schrot und Korn und mit dem Status quo zufrieden gewesen. Charlotte sowie die meisten anderen Mitarbeiter hätten es lieber gesehen, wenn dessen Sohn die Verwaltung übernommen hätte.

Ihr neuer, sehr ehrgeiziger Vorgesetzter hingegen wollte aus dem putzigen Schlösschen und seinen markanten Nebengebäuden eine Art Disneyland machen und dementsprechend vermarkten.

Offenbar hatte er von der Besitzerfamilie freie Hand bekommen, denn die Veränderungen waren bereits sichtbar. Die Merchandisingartikel, die es in dem kleinen Schlosslädchen gegeben hatte, waren durch modernen Kitsch ersetzt worden und der Bau eines deutlich größeren Giftshops vor den Toren des Schlosseingangs, in dem jede Führung dann enden sollte, schien bereits beschlossene Sache.

Freundlich grüßte Charlotte den Verkäufer der Eintrittskarten in seinem kleinen Kabuff, nachdem sie den Schlosshof durch das eisengitterbewehrte Eingangstor betreten hatte.

Sie ließ ihren Blick umherschweifen und stellte zufrieden fest, dass das weitläufige Gelände gut besucht war. Nach der langen Winterpause war es schön, dass an diesem zwar kühlen, aber doch strahlenden Frühlingstag so viele Menschen hierhergefunden hatten. Zielsicher betrat sie den mit gotischen Spitz- und romanischen Rundbögen geschmückten Fürstenbau, in dem sich in einer früheren Gesindekammer der Aufenthaltsraum der Schlossführer befand.

»Haben Sie endlich ausgeschlafen? Ich hatte Sie heute doch früher einbestellt, Sie sehen ja wohl, was da draußen los ist«, herrschte Markus Sailer, der neue Verwalter, sie an.

Sailer war ein kräftiger Mann mit kantigen Gesichtszügen und wasserblauen Augen und sein erklärtes Ziel war es, die Besucherzahlen des Schlosses deutlich anzuheben.

Bevor ihm die Geschicke dieses Juwels unter den schwäbischen Bauwerken anvertraut worden waren, hatte Sailer in einem Autokonzern gearbeitet und sich dort trotz seiner erst fünfunddreißig Jahre bereits ziemlich oben auf der Karriereleiter befunden.

Wegen seiner rüden Methoden der Menschenführung rasselte er jedoch mehrfach mit der mächtigen Gewerkschaft zusammen und letztlich führte ein besonders schwerwiegender Fall von Mobbing dazu, dass ihn selbst seine Gönner in den höchsten Etagen nicht mehr vor einem Rauswurf schützen konnten.

Zum Verhängnis wurde ihm eine junge Controllerin, die gerade ihren Master gemacht hatte und frisch von der Uni in seine Abteilung gekommen war.

Mit Händen und Füßen widerstand die hübsche Frau seinen Annäherungsversuchen. Er griff deshalb zu subtileren Methoden und wies daraufhin, wie wichtig die Beurteilung ihrer Probezeit sei. Doch bei ihr biss er auf Granit und seine Einschüchterungsversuche scheiterten, weil sie sich sofort an den Betriebsrat wandte.

Sailer wurde nun massiv. Nachdem er nicht bekommen hatte, was ihm seiner Ansicht nach zustand, wollte er wenigstens dafür sorgen, dass die Zicke, wie er die junge Frau bei seinen anderen Mitarbeitern mittlerweile nannte, in dem Unternehmen nicht mehr Fuß fassen konnte. An einem arbeitsfreien Sonntag verschaffte er sich Zugang zu ihrem Computer und vertauschte ein paar Zahlenreihen, um die renitente Controllerin als unfähig dastehen zu lassen.

Leider hatte er nicht bedacht, dass sie eine Dokumentationssoftware installiert hatte, die jeden Arbeitsschritt auf ihrem Rechner aufzeichnete.

Nun wurde es ganz bitter für Sailer, denn der Betriebsratsvorsitzende machte es zu seinem persönlichen Anliegen, dem aufstrebenden Manager, der ihm bereits mehrfach negativ aufgefallen war, das Grab zu schaufeln. Auch die einflussreichen Männer an der Spitze des Konzerns, die Sailer wegen seiner rücksichtslosen Art protegiert hatten, wandten sich von ihm ab. Man bot ihm zwar eine sechsstellige Summe als Abfindung an, damit alle das Gesicht wahren konnten, doch gleichzeitig wurde ihm unmissverständlich klargemacht, dass man ihn so oder so rausschmeißen würde.

Einer der Aufsichtsräte hatte mit Sailers Vater die Schulbank gedrückt und fühlte sich aus diesem Grund ein wenig verantwortlich für ihn. Ein Anruf bei dem ihm persönlich bekannten Schlossbesitzer genügte, um Sailer zu diesem Verwalterjob zu verhelfen, den dieser nur widerwillig annahm.

War er anfangs noch reichlich unzufrieden mit diesem in seinen Augen beruflichen Abstieg gewesen, so erkannte er mittlerweile die Möglichkeiten und das Potenzial, die sich ihm hier boten. Zudem streichelten die mit dem Job verbundenen öffentlichen Auftritte sein angekratztes Ego.

»Sie könnten mich wenigstens anständig begrüßen, bevor Sie mir einen Einlauf verpassen«, antwortete Charlotte kühl auf Sailers Rüffel. »Außerdem steht auf dem Dienstplan mein Name für exakt die jetzige Uhrzeit drin.«

Entschlossen zeigte sie auf den an der Wand hängenden Plan, sie würde sich von diesem Ehrgeizling nichts gefallen lassen.

»Das mag ja sein, aber ich habe gestern Abend mit Ihrem Mann telefoniert und ihn gebeten, Ihnen auszurichten, früher zu kommen«, entgegnete Sailer gefährlich leise.

»Äh …, nun, das hat er dann wahrscheinlich vergessen, mir auszurichten«, musste Charlotte kleinlaut eingestehen und verfluchte Karl insgeheim.

»Genug jetzt, machen Sie sich an die Arbeit, draußen wartet bereits eine größere Gruppe auf Sie.«

Mit einem letzten Blick auf diesen unsympathischen Kerl verließ Charlotte den Raum und ging auf die Besucher zu, die auf der Zugbrücke warteten.

»Hallo meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte Sie recht herzlich begrüßen. Mein Name ist Charlotte Friedrich und ich habe die Ehre, Ihnen dieses schöne Schloss zu zeigen.«

Lächelnd deutete sie auf den imposanten Hauptturm der Burg.

»So wie diese Brücke ist der gesamte Lichtenstein eine romantisierte Nachbildung einer mittelalterlichen Wehrburg. Der Erbauer, Wilhelm Graf von Württemberg und später auch Herzog von Urach, ließ sich von Wilhelm Hauff, dem Verfasser des historischen Romans ›Lichtenstein‹, zum Bau dieses Schlosses inspirieren. Das Buch handelt von dem tragischen Schicksal des Herzogs Ulrich, der vor ungefähr fünfhundert Jahren auf der Flucht vor seinen Verfolgern hier Asyl gefunden hat. Natürlich nicht genau hier, denn unser Schloss wurde ja erst in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts erbaut, aber unweit von dieser Stelle stand im Mittelalter eine wehrhafte Burganlage, in der der flüchtige Herzog Unterschlupf bekommen hat.«

Sie erzählte noch ein wenig aus der wechselhaften Geschichte des alten Lichtensteins, wobei sie immer wieder durch neunmalkluge Kommentare eines Zuhörers unterbrochen wurde. Endlich kam die andere Gruppe zum Ausgang und Charlotte stellte sich vorne hin, um die Karten abzureißen.

»Wenn Sie hinter dem Eingang bitte auf mich warten würden?«

Der erste Raum der Besichtigung war die gut bestückte Waffenkammer.

»Hier sehen Sie allerhand Hau- und Stechwaffen, mit denen die mittelalterlichen Ritter aufeinander losgegangen sind. Sämtliche Stücke sind Originale aus der damaligen Zeit.«

Interessiert betrachteten vor allem die Männer der Gruppe die todbringenden Waffen.

»Dieser Degen ist doch nie und nimmer aus dem Mittelalter!«, rief derselbe Tourist, der ihr schon auf der Zugbrücke aufgefallen war.

Na schön, Freundchen, du kommst mir gerade recht, dachte sie gehässig.

»Wenn Sie gerne die Führung an meiner Stelle weitermachen wollen, nur zu. In diesem Fall werde ich mich zu den Zuhörern gesellen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das ein oder andere Mal eine Korrektur vornehmen müsste.«

Wie auf ein Zeichen starrten alle anderen empört auf den kleingewachsenen Mann, dessen Gesicht nun eine rote Tönung bekam. Man sah ihm an, dass er sich am liebsten in ein Mausloch verkrochen hätte.

»Hat sonst noch jemand eine Frage?«

Als sich niemand meldete, fuhr Charlotte mit der Führung fort.

»Wir betreten als nächstes die reich ausgestatteten Wohnräume des Schlosses … ach, übrigens wurde von Experten mit Hilfe einer sehr sicheren Methode das Alter des Degens auf mindestens fünfhundertdreißig Jahre bestimmt.«

Die schön hergerichteten Zimmer waren originalgetreu aus der Zeit des Erbauers erhalten, farbenfrohe Tapeten und Gobelins wechselten sich an den Wänden mit heroischen Ahnenbildern des Herzogs ab.

An den Decken gingen herrlich gearbeitete Fresken in kunstvoll verzierte Stuckarbeiten über und in die Holzböden hatten versierte Handwerker filigrane Intarsien eingesetzt.

Alle Räume waren komplett möbliert und bis ins Detail liebevoll hergerichtet. Tische, Stühle und Betten stammten gleichfalls aus der Zeit der Romantik und verliehen den Zimmern einen wohnlichen Charakter.

»Wie Sie sehen, könnte man hier sofort einziehen, allerdings entspricht das Schloss wahrscheinlich nicht der neuesten Energieeinsparverordnung.«

Die Besucher schmunzelten und Charlotte konnte sich einen Blick auf den neunmalklugen Herrn nicht verkneifen.

»Trotzdem könnte man es sich hier dank der Öfen richtig gemütlich machen«, meinte sie und strich über die fein ziselierten Kacheln.

Im Treppenhaus trafen sie auf das wohl berühmteste Gemälde im Schloss.

»Schauen Sie sich den Armbrustschützen genau an und jetzt gehen Sie weiter. Bei einem Blick zurück werden Sie merken, dass er Sie weiterhin aus jeder Perspektive anvisiert.«

Es war immer wieder faszinierend für die Schlossführerin zu sehen, wie die Touristen um das beeindruckende Bild herum pirschten.

»Ein Höhepunkt unserer Führung ist natürlich die sogenannte Trinkstube, die wir jetzt betreten, und ich bitte Sie eindringlich, keines der wertvollen Trinkgefäße zu berühren.«

Die wuchtige Holzbalkendecke und die Wandvertäfelungen sorgten im Einklang mit den Wirtshausmöbeln für eine gemütliche Atmosphäre, die durch den schönen Kachelofen noch verstärkt wurde.

»Hier pflegte der Herzog nach erfolgreicher Jagd mit seinen Gefährten zu zechen.«

Genau in diesem Augenblick ertönte eine infernalische Sirene und die Besucher zuckten erschrocken zusammen.

»Keine Angst, meine Damen und Herren, es ist lediglich die Alarmanlage. Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, fassen Sie bitte keines der Gefäße an, sie sind alle elektronisch gesichert.«

Schnell zückte sie ihr Handy und wählte eine Nummer. Nach einem kurzen Gespräch verstummte der Alarm.

»Wir kommen jetzt langsam zum Ende der Führung und ich entlasse Sie nach draußen. Wie Sie vielleicht schon gesehen haben, gibt es in dem Lädchen an der Eintrittskasse zahlreiche Dinge rund um unser wunderschönes Schloss Lichtenstein zu kaufen. Ich hoffe, Sie waren mit meiner Arbeit zufrieden, und ich würde mich freuen, Sie einmal wieder hier begrüßen zu können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.«

Charlotte stellte sich an die Seite, sodass ihre Besuchergruppe an ihr vorbeidefilieren konnte. Die meisten drückten sich mit einem gemurmelten Dankeschön an ihr vorbei, doch einige blieben auch stehen, um sich zu bedanken und ihr ein kleines Trinkgeld in die Hand zu geben.

»Es tut mir leid, wenn ich Sie genervt habe.«

Oha, Mister Besserwisser möchte sich entschuldigen, dachte Charlotte und unterdrückte ein zufriedenes Grinsen.

»Nehmen Sie es nicht persönlich, aber wenn ich die Gruppe nicht im Griff habe, tanzt sie mir auf der Nase herum«, meinte sie mit einer entschuldigenden Geste und nahm das Trinkgeld des Mannes dankend entgegen.

An diesem Nachmittag hatte Charlotte noch vier weitere Führungen und sie war heilfroh, als es schließlich siebzehn Uhr dreißig war. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit ging sie nach Feierabend noch in den Aufenthaltsraum, um mit ihren Kollegen einen Prosecco zu trinken und den Tag Revue passieren zu lassen.

Sämtliche vier Schlossführer waren an diesem Tag eingeteilt gewesen und mit den drei anderen verstand Charlotte sich ausgezeichnet.

Da war zum einen Berthold, klein und kompakt, mit einem deutlich sichtbaren Bauchansatz, ein pensionierter Realschullehrer, der eigentlich den Job angesichts seiner guten Rente nicht nötig gehabt hätte.

Zu Hause falle ihm die Decke auf den Kopf und bei dieser Tätigkeit könne er wenigstens seine pädagogischen Kenntnisse einsetzen, hatte er Charlotte gegenüber einmal erwähnt.

Seine Frau hatte zeitlebens den Haushalt und den kleinen Garten versorgt und hatte ihr Terrain gegenüber dem Eindringling Berthold, der nach seiner Pensionierung alles ändern wollte, vehement verteidigt. Als er dann von der freien Stelle auf dem Schloss erfahren hatte, hatte er sofort zugegriffen und sie auch nach dem Tod seiner Frau behalten.

Der jüngste unter ihnen war Kai, ein Archäologiestudent, der stets einen lockeren Spruch auf den Lippen hatte und den noch keiner der Anwesenden jemals mit schlechter Laune erlebt hatte. Außerdem war er immer wie aus dem Ei gepellt und Charlotte fragte sich, wie er sich die teuren Klamotten leisten konnte.

Bestimmt nicht mit dem Lohn als Schlossführer und dem Trinkgeld, das es manchmal dazu gab. Gegenüber Berthold hatte er einmal geäußert, seine Eltern seien nicht unvermögend, verlangten aber, dass er ein wenig dazu verdiene, um den Schein zu wahren.

Er arbeitete erst drei Monate hier, war davor jedoch bereits am Hohenzollern und auf Schloss Sigmaringen als Schlossführer angestellt gewesen.

Die vierte im Bunde war Karin, mit der sich Charlotte am besten verstand. Sie hatte eine schlanke Gestalt und wirkte, wie Charlotte fand, mit ihren langen dunklen Haaren, den geheimnisvollen braunen Augen und dem fein geschnittenen Gesicht sehr attraktiv. Wie Charlotte wusste, wohnte die alleinerziehende, junge Frau im Nachbarort Genkingen und war auf jeden Cent angewiesen.

Ihr hatte Charlotte auch in der Pause nach ihrer ersten Führung von der dubiosen Gemeinschaft erzählt, in die ihre Tochter hineingeraten war, und auch von ihrem Vorhaben, der Sekte einen Besuch abzustatten.

»Wir sollten uns mal über unseren neuen Chef unterhalten«, meinte Berthold ungehalten.

Sofort hielt Karin sich den Zeigefinger vor den Mund und deutete auf mögliche Überwachungskameras.

»Also ich finde ihn ganz nett«, log sie und wechselte das Thema. »Hoffentlich ist dieser lange Winter jetzt vorbei und der Frühling kehrt ein. Wo ist eigentlich Kai, ist er schon gegangen?«

»Er wollte sich noch mit seinen Eltern treffen«, sagte Berthold und rieb mit einer eindeutigen Geste Daumen und Zeigefinger aneinander.

Sie unterhielten sich weiter über Belangloses und versandten gegenseitig Nachrichten auf ihre Handys, um ein Treffen in einer Kneipe in Pfullingen für die nächste Woche zu vereinbaren.

»Mist, wo ist mein Telefon!«, rief Charlotte aus und durchsuchte dabei gründlich ihre Hosen- und Manteltaschen sowie die Handtasche.

»Hast du überhaupt eines dabeigehabt?«, wollte Karin wissen.

»Hm«, antwortete Charlotte nachdenklich. »Aber natürlich, ich habe doch heute Nachmittag bei der Technik angerufen, nachdem eines meiner Schäfchen ein wertvolles Trinkhorn betatscht hat. Ich muss es in der Trinkstube liegen gelassen haben. Das ist jetzt aber ärgerlich, da komme ich jetzt ja überhaupt nicht mehr rein.«

»Du kannst es dir doch morgen früh holen«, meinte Berthold gelangweilt, doch Charlotte reagierte beinahe panisch.

»Ich brauche es aber sofort, meine Tochter hat mich nach langer Zeit wieder kontaktiert und ich spüre deutlich, dass sie gerade in einer schwierigen Situation ist, deshalb möchte ich jederzeit erreichbar sein.«

Berthold, dessen Kinder bereits erwachsen waren, schüttelte unverständig den Kopf.

»Aber du hast doch zu Hause auch einen Telefonanschluss.«

»Da wird sie nie und nimmer anrufen, weil sie Angst hat, dass ihr Vater rangeht. Es hilft nichts, ich muss noch mal ins Schloss.«

Charlotte zog sich ihre Jacke an und eilte hinaus, wobei sie keinen Plan hatte, wie sie in das hermetisch abgeriegelte Gebäude hineinkommen würde.

»Du könntest es beim Hausmeister versuchen, er hat vielleicht am ehesten Verständnis für deine Lage, mehr jedenfalls als Sailer.«

Karin war ihr gefolgt, da sie zum einen Mutter einer zwölfjährigen Tochter war und aus eigener Erfahrung wusste, dass man immer erreichbar sein sollte, und zum anderen, weil sie sich mit Charlotte sehr gut verstand.

»Okay, das ist eine gute Idee, ich geh gleich mal rüber zu ihm.«

»Was ist mit deinem Mann, will er dir nicht dabei helfen, eure Tochter da rauszuholen?«

Schon mehrfach hatte sie sich bei Karin ausgeweint, wenn es wieder Probleme mit Karl gegeben hatte.

Doch jetzt winkte Charlotte nur resigniert mit der Hand ab und wandte sich zum sogenannten Fremdenbau, in dem der Hausmeister mit seiner Familie eine Wohnung hatte. Der Schlosshof war gut beleuchtet, aber Charlotte hätte sich hier auch blind zurechtgefunden.

Nach mehrmaligem Klingeln öffnete Trude Hartmann die Türe.

»Hallo Charlotte, was kann ich für dich tun?«

»Ist Erich da? Mir ist ein dummes Missgeschick passiert, ich habe mein Handy während einer Führung im Schloss liegen gelassen und dabei bräuchte ich es dringend.«

»Ich verstehe, aber mein Mann ist leider nicht zu Hause.«

Es entstand eine längere Pause, in der Charlotte die Ehefrau des Hausmeisters flehend anschaute.

»Na gut, ich kann mir vorstellen, wie dir zumute ist. Ich darf es zwar offiziell nicht, aber in deinem Fall mache ich eine Ausnahme.«

Die rundliche Frau gab Charlotte den Generalschlüssel und eine Taschenlampe.

»Du kennst dich ja im Schloss bestens aus, Licht möchte ich keines anmachen, man weiß ja nie, ob Sailer noch herumschleicht. Die Alarmanlage schalte ich noch ab. Viel Glück.«

Dankbar nahm Charlotte den Schlüssel und die Lampe entgegen und ging über die Zugbrücke.

Es war ein eigenartiges Gefühl, bei Dunkelheit durch das Gebäude zu schleichen, und die erfahrene Schlossführerin bekam eine Gänsehaut. Sie hatte eigentlich keine Angst bei Nacht, doch kamen ihr jetzt allerlei Geschichten über Schlossgespenster in den Sinn und bei jedem noch so kleinen Geräusch zuckte sie zusammen.

Endlich kam sie zu der Pforte, hinter der sich die Trinkhalle befand, und drückte den Türgriff. Knarrend öffnete sich die alte Holztüre und Charlotte leuchtete hinein. In diesem Augenblick nahm sie eine Bewegung wahr und das Blut drohte in ihren Adern zu gefrieren.

Begleitet von einem Schmatzen ließ Miriam den Wein in ihrem Mundraum hin- und herrollen und spie ihn dann in die bereitstehende Karaffe.

»Das ist ein edler Tropfen, Sie haben nicht übertrieben, doch über den Preis sollten wir noch mal reden.«

Seit dem Tod ihres Vaters hatte sich die hübsche Frau in den letzten Monaten so gut es ging in die Materie eingearbeitet. Ihrer Entscheidung, die Weinhandlung »Chez Rudi« weiterzuführen, waren viele schlaflose Nächte vorausgegangen.

Die Trauer um ihren geliebten Vater hatte sie beinahe um den Verstand gebracht und nur dank des neuen Mannes an ihrer Seite war sie überhaupt wieder zu Kräften gekommen.

Dass Rudi es gewesen war, der ihren früheren Ehemann umgebracht hatte, war völlig an Miriam vorübergegangen und sie bewahrte den Vater nach wie vor in bester Erinnerung. Ihr Vater hatte sein Leben für das seiner Tochter geopfert, das allein zählte für sie.

»Na schön, ich gebe Ihnen bei Abnahme von zwei Paletten zwanzig Prozent Rabatt, das ist aber hauptsächlich Ihrem verstorbenen Vater geschuldet, mit dem mich eine tiefe Freundschaft verband«, entgegnete der ölige Großhändler genervt.

Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Rudi mit diesem Menschen auch nur zum Essen gegangen wäre, doch Miriam machte gute Miene zum bösen Spiel. Ihrem Vater hätte er bestimmt einen deutlich höheren Preisnachlass gewährt.

Seit sie den Laden übernommen hatte, meldeten sich zahlreiche Kunden und fragten irritiert, ob sie ihren Wein auch weiterhin von »Chez Rudi« beziehen könnten.

Auch Winzer und Zwischenhändler wie dieser schmierige Typ sorgten sich um den Fortbestand der Weinhandlung, die unter Rudi Neuburg eine Institution in Stuttgart-Bad Cannstatt gewesen war.

Mit seinem fast schon sprichwörtlichen Riecher für gute Tropfen hatte er auch die anspruchsvollsten Weinkenner immer wieder aufs Neueste entzückt. Durch seine Kontakte, besonders in Frankreich, war er auch meistens up to date gewesen, was die heißesten Trends in Sachen Wein anbelangte.

Was Miriam das meiste Kopfzerbrechen bereitete, war ihr mangelndes Wissen, das sie sich derzeit mit harter Arbeit erst noch erwerben musste, und dann natürlich der Instinkt von Rudi, den man hatte oder nicht.

Der ganze Hype um den Wein war eine Wissenschaft für sich und Miriam hatte sich bis vor wenigen Jahren überhaupt nichts aus dem sauren Getränk gemacht.

Erst seit ihr Exmann tot war und sie wieder öfter bei ihren Eltern zu Gast gewesen war, hatte ihr Vater sie behutsam an das in seinen Augen göttliche Getränk herangeführt. Sie hatte dann auch gelegentlich den Laden geschmissen, wenn Rudi mal wieder einen französischen Winzer hatte besuchen müssen, und dadurch ein geringes Maß an Fachwissen gesammelt.

Hätte ich mich nur zu seinen Lebzeiten entschieden, das Geschäft zu übernehmen, dachte die junge Frau verbittert. Aber alles Hadern nützte ihr nichts, sie würde entweder grandios scheitern oder aber ihren Weg machen.

Der unaufdringliche Klingelton ihres Telefons holte sie in die Wirklichkeit zurück.

»Hallo Sascha.«

Die ersten Takte des Songs »Blaue Augen« von Ideal verrieten Miriam, dass am anderen Ende der Leitung der Mann ihrer Träume war.

»Hallo Miriam, ich wollte mich nur noch mal vergewissern, ob es bei dem Termin für die Weinprobe heute Abend bleibt.«

»Das ist nett, dass du anrufst, Sascha, und ja, ich freue mich darauf, dich am Abend zu sehen. Du bist meine Stütze und mein Halt und sollte jemandem mein Wein nicht schmecken, so darfst du ihn in den Knast stecken.«

Beide mussten bei dieser kleinen Anspielung auf den Beruf von Sascha Gross lachen. Er war Kriminalkommissar in Reutlingen und die beiden waren einander auf verschlungenen Wegen bei seinem letzten Mordfall, bei dem Miriam eine entscheidende Rolle gespielt hatte, näher gekommen.

Sie unterhielten sich noch über Dies und Jenes und Miriam stellte wieder mal erfreut fest, dass sie mit diesem Mann über alles reden konnte.

»Tut mir leid, Sascha, aber ich muss jetzt aufhören. Du kannst dir ja denken, dass ich noch viel zu tun habe und ziemlich aufgeregt bin. Dieses Event heute Abend ist ja für mich so eine Art Initiationsritual und das will ich nicht vermasseln.«

»Das verstehe ich sehr gut, mein Schatz, und ich will dir dabei helfen, dass es ein voller Erfolg wird und sämtliche Kritiker verstummen.«

Ein Blick auf die Uhr, nachdem sie sich verabschiedet hatten, genügte, dass Miriam plötzlich in Hektik verfiel. Einmal mehr hatte sie die Zeit, die ihr noch zur Verfügung stand, falsch eingeschätzt.

Sie rannte aus dem Haus und stieg in den geräumigen Citroën-Lieferwagen, den sie von ihrem verstorbenen Vater übernommen hatte, nachdem ihr klappriger Passat bei einem Unfall das Zeitliche gesegnet hatte. Als Erstes musste sie beim Bäcker, der gleich um die Ecke war, die vorbestellten Backwaren abholen.

Die freundliche Bäckereiverkäuferin half Miriam dabei, mehrere rote Plastikkisten in ihren Kofferraum einzuladen.

»Das macht 160 Euro, Frau Neuburg.«

Hektisch suchte Miriam in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie und durchwühlte danach ihren Mantel. Nichts.

»Es …, es tut mir leid, aber offenbar habe ich in der Eile meine Brieftasche zu Hause vergessen«, entgegnete sie kleinlaut und mit hochrotem Kopf.

»Das macht doch nichts, Ihr Vater war ein sehr guter Kunde und selbstverständlich haben Sie Kredit bei uns.«

»Danke«, stieß die junge Frau erleichtert hervor. »Ich bringe Ihnen das Geld morgen früh gemeinsam mit den Kisten.«

Wie kann man nur so verpeilt sein, schalt sich Miriam, als sie wieder auf dem Nachhauseweg war, um den Geldbeutel zu holen.

Zum Glück lag der Markt, der für seine gut sortierte Käsetheke weithin bekannt war, gleichfalls nicht weit weg. Wie heißen noch die Sorten, die wenig aufdringlich schmecken und am ehesten zu einer exquisiten Weinprobe passen, überlegte Miriam angestrengt, nachdem die Verkäuferin sie nach ihren Wünschen gefragt hatte und bereits ein wenig genervt zu sein schien. Dabei hatte sie erst am Morgen mit ihrer Mutter darüber geredet.

»Wenn Sie es sich noch eine Zeitlang überlegen müssen, lassen Sie mich doch zuerst ran, ich habe es nämlich eilig«, erbot sich eine Stimme aus der zweiten Reihe.

»Hören Sie zu, Ihre Käseabteilung hat einen guten Ruf und meine Weinhandlung ebenfalls«, beschloss Miriam in die Offensive zu gehen, wobei sie die ungeduldige Dame hinter ihr geflissentlich ignorierte. »Wenn also bei meiner Weinprobe heute Abend jemand den guten Käse loben wird, den ich dazu reiche, haben Sie eine kostenlose Werbung erhalten. Also, was empfehlen Sie mir zur Begleitung folgender Weine?«

Miriam zählte einige ihrer edlen Tropfen auf und die dickliche Frau schien nur auf Miriam gewartet zu haben, um ihre Fachkompetenz zu zeigen.

»Diesen Reblochon würde ich Ihnen auf jeden Fall empfehlen«, meinte die Verkäuferin und reichte Miriam ein kleines Stück zum Probieren.

»Mmh, sehr gut.«

»Dann haben wir hier noch einen Comté, außerdem wäre da noch ein sehr milder Brie.«

Um die immer größer werdende Schar an Wartenden zu besänftigen, reichte die gewitzte Verkäuferin einen Teller mit Probierstückchen herum.

»Haben Sie vielen Dank, so wird meine Veranstaltung bestimmt ein Erfolg!«, rief Miriam beim Hinausgehen.

Lächelnd verließ sie den Markt, doch als sie die Zeitansage in ihrem Autoradio hörte, verging ihr das Lachen. Ihre beiden Töchter warteten seit einer halben Stunde darauf, von der Schule abgeholt zu werden.

Sämtliche Geschwindigkeitsregeln missachtend raste sie zu der Ganztagesschule in Cannstatt. Mit einem Satz sprang sie aus ihrem Auto und hetzte zum Eingang, an dem die beiden immer auf ihre Mutter warteten. Doch die zehnjährige Anne und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Sylvie waren nirgends zu sehen.

Sie schob die wuchtige Tür auf und betrat das Gebäude, aber hier waren weder Schüler noch Lehrer zu sehen. Lediglich die Putzfrauen hielten kurz in ihrer Tätigkeit inne.

Sofort griff Miriam nach ihrem Handy und wählte die Nummer von Susi Schuster, ihrer besten Freundin, deren zwölfjähriger Sohn auf dieselbe Schule ging.

»Hallo Miri, ist etwas wegen heute Abend?«

»Nein, nein, es ist wegen meiner Mädels, hast du sie zufällig an der Schule aufgelesen und mitgenommen?«, wollte Miriam erwartungsfroh wissen.

»Äh, nein, Mario hatte heute Nachmittag überhaupt keinen Unterricht. Wieso fragst du, sind sie verschwunden?«

»Sie sind auf jeden Fall nicht am ausgemachten Treffpunkt, aber bestimmt hat meine Mutter sie abgeholt. Ich ruf sie gleich mal an, also bis nachher.«

Mit einem mulmigen Gefühl durchsuchte sie ihre Adressenliste und drückte auf Gerda Neuburg.

»Ja?«

»Mutti, hallo, ich bin es, sind Sylvie und Anne bei dir?«

»Hallo Liebes, äh, hast du mich gebeten, sie zu holen?«, antwortete Gerda unsicher mit einer Gegenfrage.

»Eigentlich nicht, aber da ich sie an der Schule nicht vorgefunden habe, dachte ich dass du …«

»Du warst wahrscheinlich wieder viel zu spät dran, Miriam«, tadelte ihre Mutter. »Dann sind die beiden sicher mit einer Freundin mitgegangen. Aber nächstes Mal, wenn du eine Weinprobe machst, gibst du mir bitte Bescheid und ich hole sie ab.«

»Bestimmt hast du recht, Mutti, also bis heute Abend.«

Jetzt war sie aber doch deutlich beunruhigt, dennoch versuchte sie, die aufkommende Furcht zu unterdrücken. Miriam zwang sich zur Ruhe und überlegte, bei wem ihre Kinder sein könnten. Nach weiteren vergeblichen Anrufen bei Müttern von Klassenkameradinnen geriet sie vollends in Panik.

Bitte nicht meine Mädchen, flehte sie und schickte ein Stoßgebet gen Himmel.

Es gab jetzt nur noch eine Möglichkeit, sie musste die Polizei alarmieren.

Fieberhaft versuchte sich Miriam zu erinnern, wo das nächste Revier lag. Nachdem ihr eingefallen war, dass es drei Querstraßen weiter eines geben müsste, stieg sie in ihren Wagen und kam schließlich mit quietschenden Reifen direkt vor dem Polizeirevier mitten auf der Straße zum Stehen, ohne sich um die hupenden Autofahrer zu kümmern. Miriam ließ den Schlüssel stecken und rannte zu der Eingangstüre.

In diesem Moment klingelte ihr Telefon.

Gerade als das Licht von Charlottes Taschenlampe in den Raum hineinstrahlte, machte sich das vermeintliche Gespenst an den wertvollen Trinkpokalen zu schaffen. Sie konnte noch kurz das Gesicht im Profil erkennen und beschloss dann, den Rückzug anzutreten.

Das darf doch nicht wahr sein, dachte sie erschrocken und rannte so schnell wie noch niemals in ihrem Leben in Richtung Ausgang davon.

Es war ihr großes Glück, dass sie das Schloss Lichtenstein kannte wie ihre sprichwörtliche Westentasche. Nachdem Charlotte das Hauptportal passiert hatte, schloss sie dieses mit zitternden Fingern ab, um etwas Zeit zu gewinnen.

Mit schnellen Schritten eilte sie zu der Hausmeisterwohnung und klingelte Sturm.

»Charlotte, du bist es, hast du dein Handy gefunden?«, fragte Trude nach, als sie den Schlüssel entgegennahm.

Sollte sie der Frau, die sie gut kannte, von dem Einbrecher erzählen? Charlotte entschied sich dagegen.

»Äh, wahrscheinlich habe ich es woanders liegen gelassen, na ja, trotzdem vielen Dank für deine Hilfe.«

Sie ging zurück zum Aufenthaltsraum und drehte sich dabei verstohlen immer wieder um.

Hatte die Person sie auch erkannt und vor allem, was sollte sie jetzt tun?

Als sie die Tür zu dem Raum öffnete, war es dunkel.

»Verdammt«, entfuhr es Charlotte.

Ihre Kollegen waren schon nach Hause gegangen und somit war auch die Möglichkeit für sie dahin, in einem Auto mitzufahren. Sie blieb kurz stehen, um zu überlegen. Sollte sie wirklich bei Nacht den steilen Weg hinuntergehen und damit einem eventuellen Verfolger hilflos ausgeliefert sein oder vielleicht doch lieber ein Taxi rufen?

Das Festnetztelefon stand auf einem kleinen Tisch neben dem Lichtschalter und Charlotte nahm den Hörer in die Hand. Zögerlich wählte sie die Nummer der Taxizentrale, schüttelte dann aber entschlossen den Kopf und legte das Telefon wieder auf seinen Platz. Sie entschied sich dafür, den Fußweg zu nehmen, denn zum einen war der Mond halb voll, sodass sie nicht vollkommen in der Dunkelheit umhertappen musste, und zum anderen wollte sie ihrer Angst nicht nachgeben. Wenn sie jetzt den bequemeren Weg wählte, würde sie vielleicht niemals mehr nachts nach Honau zu Fuß gehen.

Charlottes Herz klopfte wie wild, als sie den schmalen Fußweg erreichte, und sie musste immer wieder stehen bleiben, um sich zu beruhigen. Sollte ihr hier jemand auflauern und sie in die Tiefe stoßen, so wäre es um sie geschehen. Diese Erkenntnis trug nicht gerade dazu bei, ihre Nerven zu beruhigen.

Warum hatte sie nicht einfach Trude gebeten, die Polizei zu rufen?

Der Wald hatte Augen und Ohren und Charlotte zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Sie rechnete fest damit, dass ihr hinter einem Baum jemand auflauerte, um sie zum Schweigen zu bringen. Durch ihre beinahe panische Angst vor einem Überfall achtete sie zu wenig auf das unwegsame Gelände, in dem sie talwärts wanderte, und rutschte mehrfach auf dem Schotterbelag aus.

Sie konnte später nicht mehr sagen, wie sie es ohne größere Blessuren geschafft hatte, den Höhenweg hinabzugehen. Aber eines war gewiss, Charlotte hatte sich noch niemals so sehr über die Lichter, die das »Rössle« hell erleuchteten, gefreut.

Spontan beschloss sie, einzukehren und eine der weithin geschätzten Forellen mit Rahmkartoffeln zu essen, deren Rezept beinahe so gut gehütet wurde wie das von Coca-Cola.

Der aufmerksame Ober kannte Charlotte und betrachtete das blasse Gesicht und den ängstlichen Ausdruck darin. Er bemerkte sofort, dass etwas mit ihr nicht stimmte.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Frau Friedrich?«

»Oh, ja, ja, wahrscheinlich bin ich nur zu schnell von da oben runtergelaufen, schließlich bin ich auch nicht mehr die Jüngste«, meinte sie und versuchte ein Lächeln.

»Darf ich Ihnen ein Glas von unserem beliebten badischen Spätburgunder bringen, Frau Friedrich?«

»Das wäre nett, danke.«

Gedankenverloren starrte Charlotte in die Nacht hinaus.

»Bitte sehr.«

Der Ober stellte das bauchige Weinglas gekonnt auf den Tisch und Charlotte nahm einen Schluck. Als ihr der vollmundige Rote die Kehle hinunterrann, fühlte sie sich gleich viel besser.

Morgen muss ich in aller Frühe zum Schloss, alles andere ist nebensächlich, dachte sie beherzt.

Leider besaßen sie und ihr Mann nur ein Auto, doch in diesem Fall musste er zurückstehen, egal welche wichtigen Dinge er vorgab, erledigen zu müssen.

Das erste Glas war bereits leer, als das Essen kam.

»Ich würde ja gerne noch etwas von dem Spätburgunder nehmen, aber passt der überhaupt zu Fisch?«

»Keine Sorge, man sieht es nicht mehr so eng, mittlerweile wird Rotwein genauso oft dazu getrunken wie Weißer.«

Der Ober nahm das leere Glas und entfernte sich.

Wie jedes Mal war die Regenbogenforelle ausgezeichnet und die Rahmkartoffeln spielten sowieso in einer eigenen Liga.

»Hat es Ihnen nicht geschmeckt?«, meinte der Ober mit Blick auf den halbvollen Teller und riss Charlotte aus ihren Tagträumen.

»Doch, doch, hervorragend wie immer, allerdings habe ich heute keinen so großen Appetit.«

Nachdem sie ihr Glas geleert und die Rechnung beglichen hatte, machte sie sich mit gemischten Gefühlen auf den Heimweg.

Eigentlich wollte sie ihrem Mann heute nicht mehr begegnen, aber das ließ sich wohl nicht vermeiden. Wie würde Karl sich nach dem Disput am Morgen verhalten?

Charlotte hatte ihm schließlich mit Scheidung gedroht und das wäre für ihn beinahe existenzbedrohend, denn sie hatten auf sein Betreiben hin nach der Hochzeit einen Ehevertrag geschlossen. Sie müsste ihm danach keinerlei Zahlungen aus ihrem Vermögen leisten und das hieße für ihn wahrscheinlich Hartz IV. Dass er mit seinem schlechten Ruf in irgendeiner Kanzlei unterkommen würde, hielt Charlotte für ausgeschlossen.

Betont leise drehte sie den Schlüssel im Schloss und trat ein. Vielleicht schläft er ja schon, dachte Charlotte hoffnungsvoll und schlich durch das geräumige Treppenhaus.

Tatsächlich lag Karl auf dem weißen Sofa, das ihm sonst immer so heilig war, und schnarchte lauthals. Auf dem Holztisch stand eine leere Flasche Whiskey und in der sonst so penibel aufgeräumten Wohnung lagen seine Kleidungsstücke wild verstreut herum.

Das war also seine Antwort auf ihre Drohung, sich scheiden zu lassen.

Geschockt betrachtete sie die völlig betrunkene Gestalt und ließ in Gedanken die gemeinsamen Jahre Revue passieren. Doch so sehr Charlotte auch nachdachte, sie erinnerte sich nicht an ein einziges Mal, in dem Karl dermaßen die Kontrolle über sich verloren hatte wie heute.

Es hatte ihn offensichtlich tief getroffen und Charlotte überlegte schon, ob sie ihre Aussage revidieren sollte.

Nein, dachte sie entschlossen, ich gebe nicht mehr nach, lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Obwohl sie nicht damit rechnete, dass Karl sich in der Nacht noch einmal aufraffen würde, schloss sie das gemeinsame Schlafzimmer von innen ab. Sie konnte lange nicht einschlafen und rief sich wieder und wieder die Ereignisse des heutigen Tages ins Gedächtnis.

Als sie endlich in einen unruhigen Schlummer fiel, dauerte es nicht sehr lange, bis ihr sowohl Karl als auch die Gestalt, die sie im Jagdzimmer des Schlosses überrascht hatte, in einem völlig abgedrehten Albtraum begegneten.

Heftiges Klopfen an die Türe riss Charlotte aus dem schrecklichen Traum und sie stellte fest, dass sie schweißgebadet war.

»Bitte, lass mich rein, ich verspreche dir hoch und heilig mich zu ändern«, lallte Karl und Charlotte hielt sich mit ihrem Kissen die Ohren zu.

»Das wird dir noch leidtun«, meinte er nach einiger Zeit des Wartens, sein Ton hatte sich deutlich verschärft. »Du kannst dich nicht einfach so von mir trennen, das lasse ich niemals zu!«

Er begann, gegen die massive Tür zu schlagen, und Charlotte bekam nun richtig Angst vor ihrem Ehemann.

Sie öffnete das Fenster und wollte gerade um Hilfe rufen, als das Pochen abrupt endete. Zitternd erwartete sie, dass das Türblatt im nächsten Augenblick in den Raum hineinfallen würde, doch ihre Angst war unbegründet, denn wenig später hörte sie sich entfernende Schritte. Es mochte etwa eine Stunde vergangen sein, in der Charlotte wie ein Häufchen Elend in einer Ecke kauerte, bevor sie all ihren Mut zusammennahm und sich aufraffte. Schnell schlüpfte sie in ihre Kleider vom Vortag, die Schuhe standen leider im Erdgeschoss. Vorsichtig drückte sie den Türgriff nach unten und spähte hinaus. Es rührte sich nichts und sie wurde mutiger. Auf Zehenspitzen schlich sie bis zur Treppe, die, wie sie wusste, ziemlich laut knarrte.

Bestimmt hat er sich oben irgendwo versteckt und wird gleich über mich herfallen, dachte sie ängstlich, oder mich die Treppe hinunterstürzen und es wie einen Unfall aussehen lassen, dann wären seine Probleme mit einem Schlag gelöst.

Charlottes Herz klopfte wie wild, während sie behutsam Stufe um Stufe hinunterstieg. Beim kleinsten Geräusch zuckte sie zusammen und blieb stehen.

Am liebsten hätte sie laut aufgeheult. Was war nur aus ihrem Leben geworden? Der Mann den sie geliebt hatte, entpuppte sich als durchgeknallter Psychopath und ihr einziges Kind war in die Fänge einer religiösen Sekte geraten.

Plötzlich hörte sie ein lautes Atmen und ihr Herzschlag setzte für mehrere Sekunden aus, bevor sie begriff, dass es sich nur um das gleichmäßige Schnarchen ihres Mannes handelte.

Im Hausgang standen ihre bequemen Freizeitschuhe und der Autoschlüssel hing neben der Garderobe. Sie schnappte sich noch ihre Handtasche und verließ geräuschlos das Haus.

Der Morgen graute bereits. Als Charlotte die frische, kühle Luft tief in ihre Lungen einsog, fühlte sie sich deutlich besser.

Leise begann der Motor des BMW-Kombi zu schnurren. Charlotte schaute auf die Tankanzeige und war beruhigt. Während sie die Serpentinen der Honauer Steige hinauffuhr, war sie froh, dass sich Karl letztes Jahr durchgesetzt hatte und sie ihren alten in die Jahre gekommenen Renault ersetzt hatten.

Es war noch zu früh, um in das Schloss zu gelangen, und so beschloss Charlotte spontan, an diesem herrlichen Frühlingstag noch etwas über die Alb zu fahren.

In Münsingen fand sie eine Bäckerei mit einer angeschlossenen Kaffeetheke und sie genehmigte sich eine Butterbrezel und ein Nusshörnchen zum Cappuccino. Charlotte war völlig entspannt, als sie den Laden wieder verließ, sie hatte sich von dem geschäftigen Lärm um sie herum nicht ablenken lassen und sich eine Strategie sowohl für den weiteren Umgang mit ihrem Noch-Ehemann als auch für das Vorgehen in der Sektengeschichte zurechtgelegt.

Von Karl würde sie sich nicht weiter gängeln lassen und endlich ihr eigenes Leben führen. Gewiss, es würde nicht leicht werden, doch allein die Aussicht darauf bescherte Charlotte gute Laune. Sie würde Yvonne aus den Klauen dieser Sektierer befreien und das in den letzten Jahren Versäumte an ihrer Tochter nachholen.

Der Wagen glitt über die Landstraße und wenig später stand sie auf dem Parkplatz am Lichtenstein.

Als sie den Schlosshof betrat, ging sie weiter zur Zugbrücke und sah freudig, dass Karin die erste Führung hatte.

»Hallo Charlotte!«, begrüßte die junge Frau sie. »Ich dachte, du hast heute deinen freien Tag?«

Mit einer beiläufigen Geste strich Karin durch ihr weiches Haar, während die braunen Augen fragend auf ihre Kollegin gerichtet waren.

»Ja, da hast du recht, aber ich habe mein Handy gestern Nacht nicht gefunden und würde gern bei Tag noch mal suchen.«

Die Gruppe war noch nicht vollzählig, sodass die Schlossführerin noch auf Nachzügler warten musste.

»Entschuldige, wenn ich das sage, aber du siehst schlecht aus heute Morgen.«

Charlotte druckste herum, aber schließlich erzählte sie der Freundin von ihrer nächtlichen Auseinandersetzung mit Karl.

»Du musst diesen Kerl verlassen, vorher findest du keine Ruhe mehr«, meinte die junge Frau nachdrücklich.

»Irgendetwas muss sich in meinem Leben ändern, da hast du vollkommen recht, doch zuerst muss ich mich jetzt um mein Kind kümmern.«

Mit einem Taschentuch wischte sie sich die Tränen ab.

»Genauso würde ich auch vorgehen. Du weißt ja, solltest du Hilfe brauchen, kannst du dich jederzeit an mich wenden.«

Karin legte den Arm um Charlotte und zog die ältere Kollegin zu sich heran.

»Wo sagtest du, hast du dein Handy verlegt, in der Trinkstube? Da müsste Hartmann bereits aufgesperrt haben.«

»Danke, Karin, und viel Vergnügen«, sagte Charlotte sarkastisch mit Blick auf die lärmende Schulklasse.

Die sehr attraktive junge Frau aus Genkingen war ihre Lieblingskollegin und sie bewunderte deren unerschütterliches Selbstvertrauen. Ein Kind ohne Vater aufzuziehen, rief bei Charlotte großen Respekt hervor. Das Mädchen war aus der inzwischen geschiedenen Ehe mit einer Sandkastenliebe hervorgegangen und nach der Trennung musste Karin die kleine Familie mit drei verschiedenen Jobs alleine durchbringen.

Ihre toughe Art kam auch bei den meisten Schlossbesuchern gut an und Karin war sehr beliebt. Aber auch dem neuen Verwalter blieb ihre Attraktivität nicht verborgen und die aufmerksame Charlotte hatte einmal zufällig beobachtet, wie Sailer die junge Frau auf eindeutige Weise betrachtet hatte. Markus Sailer war, wie alle wussten, verheiratet und hatte ein kleines Kind, doch das schien kein Hinderungsgrund für den in jeder Beziehung ehrgeizigen Mann zu sein.

Wenig später stand Charlotte alleine in der gemütlichen Trinkstube und suchte ihr Handy. Sie fand es tatsächlich auf dem Tisch neben dem Kachelofen, dabei fiel ihr Blick auf die wertvollen Trinkgefäße.

»Das gibt es doch nicht!«, stieß sie hervor.

Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach weiteren Krügen, Gläsern oder Zinnbechern, aber es fehlte nichts, da war Charlotte sich sicher. Dabei hätte sie schwören können, dass der Dieb gerade, als sie in den Raum eingetreten war, ein Gefäß in seiner Tasche hatte verschwinden lassen.

Oder habe ich das Ganze etwa nur geträumt, fragte sie sich unsicher.

Vor sich hinmurmelnd lief sie durch das Schloss und überquerte die Zugbrücke. Im Hof sah sie, wie Sailer sich mit einem vornehm gekleideten Herrn, den sie noch nie zuvor gesehen hatte, unterhielt. Der Verwalter schien keinerlei Notiz von seiner Mitarbeiterin zu nehmen und Charlotte rauschte schnell hinaus.

Sie bemerkte nicht, wie Sailer sich umdrehte und ihr einen hasserfüllten Blick hinterherschickte.

Charlotte war erleichtert, als sie in ihrem BMW saß, und fuhr davon.

Heute Morgen in der Bäckerei war ihr alles noch so klar vorgekommen: Sie würde zu dieser dubiosen Gemeinschaft fahren und ihre Tochter dort rausholen. Was aber, wenn Yvonne das gar nicht wollte? Vor dem Einsteigen hatte sie auf dem Display ihres Mobiltelefons vergeblich nach einer Nachricht oder einem entgangenen Anruf ihres Kindes gesucht.

Egal, sie ist mein Kind, das ich wieder gerne einmal sehen möchte, dachte Charlotte und bog am Kreisverkehr in Richtung Honauer Steige ab.

Ein komisches Gefühl beschlich sie, als sie durch das kleine Dorf fuhr und an ihrem Haus vorbeikam. Konnte sie heute Abend einfach so nach Hause gehen und so tun, als ob nichts geschehen wäre?

Nein, entschied Charlotte, sie würde irgendwo unterwegs ein Zimmer nehmen und sich für ihren Mann eine fadenscheinige Erklärung einfallen lassen. Dabei kam ihr auch die Sache mit ihrem geänderten Testament wieder in den Sinn, das unterschriftsreif beim Notar lag. An der nächsten Ausbuchtung hielt sie an und schrieb eine Notiz auf einen Zettel.

Froh über das Navi in ihrem Wagen, das sie sicher durch die Gegend leitete und ihre schlechte Orientierung ausglich, kam sie nach zwei Stunden im Allgäu an. Die hügelige Landschaft gefiel ihr ausnehmend gut. Spontan beschloss sie, in dem kleinen Städtchen Lindenberg anzuhalten, um eine Kleinigkeit zu essen.

Beim Gedanken daran, dass sie den Aufenthaltsort ihrer Tochter in wenigen Minuten erreicht haben würde, begann ihr Herz wild zu pochen. Lustlos stocherte sie in dem Teller mit den ausgezeichnet schmeckenden Kässpätzle herum und zwang sich, wenigstens die Hälfte davon zu essen.

Seufzend erhob sich Charlotte schließlich, den Moment weiterzufahren hatte sie so lange wie möglich hinausgezögert.

Der Weg führte sie in eine ziemliche Einöde und die Straßen wurden immer schmaler. Hier ist ja der sprichwörtliche Hund begraben, dachte Charlotte.

Kurze Zeit später zeigte ihr Navi an, das sie den Bestimmungsort erreicht hatte. In einiger Entfernung sah sie eine Ansiedlung mit mehreren Häusern, die zu Yvonnes Beschreibung passte.

Am Wegesrand stellte sie den Wagen ab und ging zu Fuß auf der geschotterten Straße bis zu dem Aussiedlerhof. Er bestand aus mehreren Gebäuden sowie eingezäunten Weideflächen, auf denen Kühe und Schafe friedlich weideten.

Gerade als Charlotte das schmiedeeiserne Tor öffnen wollte, kam laut bellend ein riesiger Hund auf sie zu. Schnell knallte sie die Pforte wieder zu und trat einen Schritt zurück aus Angst davor, der Köter könnte seinen Kopf durch die Eisenstangen drücken. Angesichts des Gebells eilte ein hoch aufgeschossener Mann in eigentümlichen Kleidern herbei, um das Tier zu beruhigen.

»Ruhig Benno, die Frau will bestimmt nichts Schlimmes von uns.«

Die Stimme des Mannes wirkte Wunder, denn der Hund trollte sich mit eingeklemmtem Schwanz.

»Was kann ich für Sie tun?« Er machte keinerlei Anstalten, Charlotte hereinzubitten. »Unseren schmackhaften Käse gibt es leider nicht hier zu kaufen, da müssen Sie entweder nach Lindau oder nach Lindenberg auf den Markt gehen.«

Trotz der freundlich gemeinten Auskunft spürte Charlotte eine gewisse Feindseligkeit im Auftreten des Mannes. Sie nahm ihren Mut zusammen, schließlich war sie nicht umsonst so weit gefahren.

»Entschuldigen Sie, ich bin nicht wegen Ihrer bestimmt erstklassigen Produkte hier. Ich, äh …, ich wollte meine Tochter besuchen, wenn das möglich wäre. Ihr Name ist Yvonne, Yvonne Friedrich. Sie wohnt doch hier, nicht wahr?«

Erwartungsvoll blickte Charlotte ihn an.

»Das ist leider absolut unmöglich, Fremde haben hier keinen Zutritt. Auf Wiedersehen.«

Ohne ein weiteres Wort stapfte er davon und ließ die verblüffte Charlotte allein.

»Aber, so warten Sie doch, ich möchte doch nur kurz Hallo zu Yvonne sagen«, rief sie verzweifelt hinterher und rüttelte wild an dem Tor, woraufhin Benno knurrend seine Zähne fletschte.

»Wenn Sie nicht augenblicklich verschwinden, lasse ich ihn raus und dann gnade Ihnen Gott.«

Andächtig schlürfte Sailer den 93er Margaux und genoss den perfekten Abgang des teuren Weines. Solch einen guten Tropfen bekam er seit einiger Zeit nicht mehr alle Tage zu trinken.