Tödliche Freundschaft - Julian Letsche - E-Book

Tödliche Freundschaft E-Book

Julian Letsche

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Beschreibung

Eine Clique von jungen Männern veranstaltet alljährlich eine strapaziöse Bergtour und die Freunde loten dabei ihre Grenzen aus. Bei einer besonders anspruchsvollen Tour, die sie auf das Matterhorn führen soll, lernen die Freunde bei einem feuchtfröhlichen Hüttenabend mehrere Frauen kennen. Diese schicksalhafte Begegnung ist der Anfang von harmonischen, aber auch toxischen Partnerschaften. Die rasante Geschichte um Freundschaft, Hass, Intrigen, Liebe und Mord führt unweigerlich in die Katastrophe.

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Der Autor

Julian Letsche

wurde in Undingen geboren und begann nach der Schule eine Ausbildung als Zimmermann. Getrieben von Fernweh ging er auf die Walz und bereiste ferne Länder. Neben Familie und Holzbaubetrieb widmete er sich dem Schreiben. Es entstanden historische Romane, bevor er sich dem Genre Regionalkrimi zuwandte. Nach »Tatort Lichtenstein«, »Tod auf der Achalm« und »Mord im Fachwerk« kommt nun mit »Tödliche Freundschaft« ein weiterer Krimi heraus.

Titel

Julian Letsche

TÖDLICHE FREUNDSCHAFT

Krimi

Oertel+Spörer

Impressum

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen.Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden.Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2024Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: © AdobeStockGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Bernd StorzKorrektorat: Sabine TochtermannSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-96555-173-2

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

SOMMER 2019

Na los, Johnson, mach jetzt bloß keinen Ärger!« Jochen Wertheim zog seine englische Bulldogge, die sich offenbar etwas Besseres vorstellen konnte, hinter sich her. Ein Blick auf die Bahnhofsuhr reichte aus, um einen panischen Ausdruck auf sein Gesicht zu zaubern. Weshalb schaffte er es nie, früher loszukommen, um dann entspannt sein Ziel zu erreichen? Ihm blieben noch genau drei Minuten, und dabei musste er noch mehrere Bahnsteige überqueren. Kurz spielte er mit dem Gedanken, den Köter zu tragen, doch Johnson war mit seinem muskulösen Körperbau das genaue Gegenteil des schmalbrüstigen Jochen. Plötzlich kam ihm der rettende Gedanke und er holte im Gehen eine geräucherte Hartwurst aus seinem Rucksack. Er warf seinem Hund ein kleines Stück in die offene Lefze und hielt den Rest in gebührendem Abstand. Das Rennen des Köters wirkte etwas unkontrolliert und sein Hecheln hörte sich an, als ob es bald mit ihm zu Ende gehen würde. Doch auf diese Weise kam das ungleiche Paar einigermaßen voran. Der Schaffner setzte gerade seine Pfeife an, als Jochen seinen Fuß auf das Trittbrett stellte und mit letzter Kraft die Bulldogge mit sich ins Innere des ICE zog. Er blickte auf sein Ticket mit der Nummer des reservierten Abteils, das er nach kurzer Suche auch fand.

»Na, mein Alter, jetzt haben wir es ja doch noch geschafft«, meinte Jochen freudig und klopfte seinem Hund, der nach dem durchgeknallten englischen Politiker benannt war, an die breite Brust. Mit letzter Kraft wuchtete er den schweren Rucksack auf die Gepäckablage und setzte sich mit einem zufriedenen Seufzer nieder. Johnson legte sich zu seinen Füßen und fing nach wenigen Sekunden an zu schnarchen. Ein leichter Tritt in die Seite unterbrach das nervige Geräusch nur für kurze Zeit und Jochen fügte sich in sein Schicksal. Aus einer Tasche holte er sein Notebook und begann zu arbeiten.

»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber dieses Abteil ist für uns reserviert!«, blaffte eine resolute Frau, nachdem sie die Tür aufgerissen hatte. Jochen schreckte hoch und blickte in ein zorniges Gesicht.

»Äh, aber natürlich, setzen Sie sich doch, es sind ja noch fünf Plätze frei.« Er versuchte seine Stimme freundlich klingen zu lassen, obwohl er genervt war, denn hinter der Dame drängten mehrere Jugendliche und halbwüchsige Kinder ungeduldig in das Abteil.

»Wir sind zu sechst und nun machen Sie, dass Sie mit Ihrer Töle verschwinden!«

Ohne Worte hielt Jochen der vorlauten Tussi, die allem Anschein nach die Mutter der jungen Leute war, sein Ticket unter die Nase. Johnson hatte sich von dem Lärm nicht durcheinanderbringen lassen und schnarchte weiter.

»Das gibt’s ja nicht!«, stieß die erstaunte Frau aus und hielt nun ihrerseits das Ticket mit derselben Nummer hoch.

»Was machen wir jetzt?«

In diesem Moment kam der Schaffner vorbei und wollte die Fahrkarten kontrollieren.

»Ihr Saftladen hat zweimal dasselbe Abteil vergeben, soll ich den Typen vielleicht auf meinen Schoß nehmen? Außerdem mag ich keine Hunde.«

Der erfahrene Bahnbedienstete kratzte sich bedächtig am Kinn und ging dann auf Jochen zu.

»Es tut mir leid, mein Herr, aber könnten Sie sich mit dem Gedanken anfreunden, einen Platz im Speisewagen zu nehmen? Wie ich auf deren Ticket gesehen habe, steigt die Truppe in Frankfurt bereits wieder aus. Sie bekommen ein Essen und für Ihren Hund wird selbstverständlich auch gesorgt«, flüsterte ihm der Schaffner verschwörerisch ins Ohr.

Wie Jochen wusste, war die Bahn nicht gerade für Sterneküche bekannt, doch diese raubeinige Anführerin der sechsköpfigen Gruppe würde wohl nicht klein beigeben.

»Wenn Sie mir noch ein Glas Wein spendieren, willige ich ein.«

»Alles klar, gehen Sie schon mal vor und suchen sich einen Tisch aus. Sobald ich meine Runde gemacht habe, komme ich nach und regle das.« Der Schaffner nahm sich noch die Zeit und hielt die drängelnde Horde draußen, damit Jochen seinen geordneten Rückzug antreten konnte. Johnson war alles andere als begeistert, seinen Schlafplatz aufzugeben und kläffte die Mischpoke mit seiner tiefen Hundestimme an. Das half alles nichts und Jochen zog den aufgebrachten Rüden hinter sich her, ließ ihm jedoch noch Zeit, mit einem gezielten Strahl das Abteil zu markieren. Mit einem überlegenen Lächeln dachte Jochen daran, dass die unangenehmen Neuankömmlinge ihre Freude an dem Geruch von Johnsons Abschiedsgeschenk haben würden. Eine Handbewegung des Bahnmitarbeiters deutete an, in welche Richtung Hund und Herrchen sich begeben mussten.

Jochens Magen grummelte und im Nachhinein schien ihm die Lösung mit dem Speisewagen nicht die Schlechteste zu sein. Nachdem er jedoch die Tür geöffnet hatte, revidierte er seine Meinung. Ihm schlug ein Gebrüll entgegen, das sich nach einer hundertköpfigen Affenhorde anhörte. Hier in diesem Raum herrschte eindeutig Anarchie, denn niemand vom Zugpersonal schien diesen Kerlen in ihren Fantrikots und Schals Einhalt zu gebieten. Nichts wie weg hier!, dachte Jochen und wollte auf dem Absatz umkehren, um sich auf irgendeinem Gang einen Stehplatz zu suchen.

»Ja, wen haben wir denn da?« Aus ihm jetzt nicht mehr nachvollziehbaren Gründen hatte Jochen am Morgen ein leuchtend blaues T-Shirt angezogen, das diesen schwarz-gelben Dortmund-Fans überhaupt nicht zu gefallen schien.

Bevor er seine Flucht antreten konnte, waren auch schon zwei Hünen an seiner Seite und zerrten ihn mit sich. Anstatt sein Herrchen gegen die Männer zu verteidigen, trottete Johnson teilnahmslos hinterher.

»He, was soll das? Lasst mich los, ich habe euch doch überhaupt nichts getan!«, entrüstete sich Jochen.

»Halt die Schnauze, mit diesem Hemdchen hier anzukommen, ist fast schon Selbstmord, und glaub mir, wenn wir mit dir fertig sind, wirst du dir in Zukunft immer zweimal überlegen, was du anziehst«, brüllte ein stämmiger Glatzkopf, und beim Blick in dessen brutales, von Narben verunstaltetes Gesicht wusste Jochen, dass er aus dieser Nummer nicht unbeschadet wieder herauskommen würde.

Wann kommst du zurück, Bruno?« Liebevoll umarmte die attraktive Frau ihren Mann zum Abschied.

»Am Dienstagabend bin ich spätestens wieder bei dir. Länger als vier Tage halte ich es nicht ohne dich aus, das weißt du doch.« Der mittelgroße Mann mit den kurzen braunen Haaren gab seiner Frau einen Abschiedskuss und stieg in seinen geladenen Tesla. Auf dem riesigen Display seines Navis waren die Ladestationen eingezeichnet, die er während seiner Reise aufsuchen konnte. Er hatte lange mit sich gerungen, ob er sich einen Elektrowagen zulegen sollte. Doch der Aspekt, dass er die US-amerikanische Firma neuerdings auch mit einem seiner Produkte belieferte, hatte schließlich den Ausschlag gegeben.

Es war für Bruno immer wieder erstaunlich, wie dieses Auto beschleunigte. Man kam sich beinahe vor wie beim Abheben eines Jumbojets. Der Preis dieses Wagens war zwar exorbitant hoch, doch erstens konnte er es sich leisten und zweitens war es für Bruno ein kleines Ökodeckmäntelchen.

An diesem Pfingstsamstagmorgen gab es leider nicht sehr viele Gelegenheiten, diesem ungestümen Pferd die Sporen zu geben. Die Autobahn in Richtung Singen war eine einzige Katastrophe und Bruno benötigte deutlich mehr Strom, als ihm der Bordcomputer für diese Strecke ausgerechnet hatte. Allmählich geriet er ins Schwitzen und verfluchte seine Entscheidung pro Elektro. Sollte er hier mit dieser Karre liegenbleiben, wäre es nicht mit einem Ersatzkanister getan. Vor Singen lief der Verkehr nur noch im Stop-and-go-Modus, was Gift für seine Batterie war. Nach dem Hohentwiel-Tunnel konnte er nur noch mit vierzig über die Autobahn schleichen. Zahlreiche Autos fuhren eine kurze Strecke neben ihm her und die Fahrer grinsten ihn hämisch an. Bruno war selbstbewusst genug, um zurückzugrinsen und zu grüßen. Die Grenzbeamten winkten ihn durch und wenig später tauchte endlich eine Ladesäule auf. Kaum hatte er seinen Wagen auf einem dafür vorgesehenen Parkplatz abgestellt, als auch schon ein Angestellter des Hotelrestaurants, das dem Tesla-Ladenetzwerk angeschlossen war, herausstürmte. Bruno nickte dem Mann zu und begab sich ins Restaurant, um eine Kleinigkeit zu essen und einen Kaffee zu trinken. Das musste man dem Amerikaner lassen: Die Idee, das Aufladen der Batterie, das noch relativ viel Zeit in Anspruch nahm, zu nutzen, um der gehobenen Gastronomie zusätzliche Gäste zu bescheren, war nicht schlecht. Er entschied sich für ein Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti, und gerade als er den letzten Schluck seines wohlschmeckenden Kaffees ausgetrunken hatte, kam der für die Betankung zuständige Bedienstete. Der äußerst freundliche Mann bedeutete Bruno, dass er seine Reise fortsetzen könne. Die Kosten für den Strom und für das Restaurant wurden abgebucht. Trotzdem gab Bruno sowohl der Bedienung als auch dem Tankwart, wie er ihn insgeheim nannte, ein üppiges Trinkgeld.

Er hatte einige Zeit verloren und drückte jetzt das Gaspedal kräftig durch. Auf dem Display waren zwar hundertunddreißig Kilometer pro Stunde als Tempolimit eingeblendet, doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Kurz vor Bern konnte er zum ersten Mal den Blick auf die Alpengipfel genießen und freute sich nun richtig auf das bevorstehende Wochenende.

Auf einer scheinbar endlosen, geraden Strecke, als die Ortsschilder bereits französische Namen trugen, wurde ihm sein Hang zum Schnellfahren zum Verhängnis. An der Ausfahrt zu einem Parkplatz bei Estavayer-le-Lac standen zwei Beamte, die ihm mit ihren Kellen unmissverständlich zu verstehen gaben, dass seine Fahrt hier erst mal zu Ende war.

»Verdammte Scheiße!«, drückte er mit zusammengepressten Zähnen hervor und folgte dem Befehl zum Anhalten.

»Können Sie sich vorstellen, weshalb wir Sie angehalten haben?«, wollte ein Polizist mit einem ironischen Lächeln im Gesicht und einem französisch eingefärbten Dialekt wissen. Bruno wollte schon lospoltern, von wegen Touristenfalle und Wegelagerei, besann sich jedoch eines Besseren.

»Ich kann Ihnen ja schlecht vorlügen, dass mein Tacho versagt hat, also was bin ich Ihnen schuldig?« Trotz der blöden Situation setzte Bruno ein charmantes Lächeln auf.

»Also, Monsieur, Sie haben die Geschwindigkeitsbegrenzung um genau neunundzwanzig Kilometer überschritten, natürlich nach Abzug der Toleranz.«

Das war jetzt nicht übertrieben zu schnell, da bin ich ja noch mal glimpflich davongekommen, dachte Bruno.

»Das macht dann eintausendvierhundert Franken.«

Bruno bekam beinahe Schnappatmung, als er den Betrag hörte.

»Nehmen Sie auch Kreditkarte?«, hörte er sich mit heiserer Stimme sagen.

»Aber selbstverständlich, wenn sie gültig ist.« Der Beamte führte ihn zu einem Mercedes Sprinter, der offenbar als Einsatzzentrale diente. Er öffnete die Tür und bat Bruno, einzutreten.

»Das gibt’s ja nicht, was machst du hier?«, stieß er hervor, als er den Mann erkannte, der da ziemlich zerknirscht auf einem Sitz kauerte.

Als er vorgestern in Gundelfingen gestartet war, hatte noch ein Lächeln auf Ralf Drechslers Gesicht gelegen, doch nach zwei Tagen auf dem Rad war eine gewisse Ernüchterung bei ihm eingetreten. In Freiburg war man als Radfahrer mindestens gleichberechtigt mit der Blechlawine, aber je weiter er sich von dort entfernte, desto mehr musste er erkennen, dass die wenigsten Autofahrer Rücksicht auf ihn nahmen. Manche Lastwagen waren mit einem Abstand von gerade mal einem halben Meter an ihm vorbeigebraust. Dabei hatte sich Drechsler extra eine Route zusammengestellt, die lediglich an kleinen Kreisstraßen entlangführte. Hatte er noch geglaubt, in der Schweiz seien die Autofahrer rücksichtsvoller, so sah er sich getäuscht. Auch hier schlug ihm feindseliges Hupen und Gestikulieren entgegen, wenn er auf seine Rechte als gleichberechtigter Verkehrsteilnehmer pochte. Da er seine Reise so weit wie möglich klimaneutral führen wollte, hatte er sich abends mit seiner Isomatte und seinem Schlafsack ein wenig abseits der Straßen begeben und sich am Waldrand hingelegt. Daran, dass er hier Opfer eines Überfalls werden konnte, hatte der drahtige und sehr gut durchtrainierte Mann keinen Gedanken verschwendet. Außer Schnaken und Nacktschnecken hatte er in den beiden Nächten auch keine ungebetenen Besucher. Wenn es weiterhin so gut lief, konnte er morgen über den Grimselpass fahren und wäre seinem Ziel schon ziemlich nahe, hatte er geglaubt.

Gerade als er von Luzern kommend beinahe die Passhöhe des Brünigpasses erreicht hatte, streifte der Spiegel eines SUV seinen Lenker. Drechsler versuchte noch die Balance zu halten, verlor dann jedoch die Kontrolle über sein Rad und ging zu Boden. Offenbar hatte der Autofahrer den Zusammenstoß bemerkt und verhielt sich verantwortungsbewusst, denn er brachte sein Fahrzeug etwa hundert Meter später an einer Parkbucht zum Halten. Mit schnellen Schritten kam der stämmige Mann näher und heftete seinen besorgten Blick auf den am Boden liegenden Radfahrer.

»Um Gottes willen, ist Ihnen etwas passiert?«, fragte er in reinstem Schweizerdeutsch und wollte Drechsler aufhelfen.

»Du verdammtes Arschloch, lass mich bloß in Ruhe. Ich zeig dich an, dann bist du deinen Führerschein los!«, antwortete Ralf wütend, während er sich mühsam erhob. Sowohl sein rechtes Knie als auch sein Ellbogen waren aufgeschürft, aber sonst fehlte ihm zum Glück nichts. Der Helm hatte gleichfalls ein paar Schrammen abbekommen und an seiner Hose aus Hanffasern klaffte ein großes Loch.

»Das Fahrrad ist Schrott, das kommt dich alles teuer zu stehen, mein Freund!«

»Es tut mir leid«, quetschte der Autofahrer eine Entschuldigung hervor. »Aber können wir das alles nicht ohne Polizei regeln? Ich gebe Ihnen, sagen wir mal tausend Franken, und nehme Sie in den nächsten Ort mit. Das ist ein gutes Angebot, überlegen Sie es sich, denn ich bin nicht alleine schuld. Sie sind plötzlich nach links geschwenkt und da konnte ich nicht mehr ausweichen.«

»Bist du bescheuert, du Idiot, meinst du, ich sei käuflich? Nein, nein, so billig kommst du mir nicht davon!« Drohend blickte Drechsler auf den etwas kleineren Unfallgegner. »Wenn es in diesem Land eine Gerechtigkeit gibt, dann gehst du die nächste Zeit zu Fuß.«

»Mann, stell dich doch nicht so an!« Der Schweizer war jetzt ebenfalls zum Du übergegangen und wirkte nun nicht mehr so defensiv. »Dir fehlt nichts und dein alter rostiger Drahtesel hat eh nur noch Schrottwert. Also nimm die tausend Franken und lass mich in Ruhe.« Mit einer flüssigen Bewegung zog er ein Bündel Geldscheine aus seiner Hosentasche. Offenbar war es ihm äußerst wichtig, die Sache ohne Polizei zu regeln, aber das schien der aufgebrachte Drechsler nicht so richtig zu realisieren.

»Ich halte den nächsten Autofahrer an und lass ihn die Polizei anrufen!«

Seit geraumer Zeit war kein anderes Fahrzeug die Straße hochgekommen. Wahrscheinlich kroch ein schwerer Lastwagen den Pass hinauf und hielt den Verkehr auf.

»Hör mal zu, Kollege. Entweder nimmst du jetzt die Kohle oder ich hau ab und du schaust in die Röhre.« Die anfängliche Hilfsbereitschaft des Schweizers war nun einer greifbaren Aggressivität gewichen.

Trotzdem wollte Drechsler nicht klein beigeben.

»Ich will dein schmutziges Geld nicht und falls du versuchst zu verschwinden, dann halte ich dich auf.« Ralf Drechsler hatte klare Prinzipien und dazu gehörte der Glaube an Gerechtigkeit.

Der Mann spie vor dem aufgebrachten Radfahrer aus und ging zu seinem Wagen zurück. Trotz seines schmerzenden Knies humpelte Ralf hinterher und bekam seinen Gegner an der Schulter zu fassen. Der wirbelte herum und erst in diesem Moment wusste Drechsler, dass er einen Fehler gemacht hatte.

In dem Augenblick, da der narbige Glatzkopf sich Jochen, den vermeintlichen Schalke-Fan, zur Brust nehmen wollte, ging ein Ruck durch den Zug. Mehrere der nicht mehr ganz nüchternen Hooligans fanden sich auf dem Boden wieder und Jochen fiel ebenfalls hin. Was ist das für ein Chaos, dachte er betäubt, als er spürte, wie sich eine Hand unter seinen Arm grub und ihn wieder auf die Beine stellte.

»Los, komm mit!«, befahl eine Stimme, die er aus seinem früheren Leben zu kennen glaubte. Geistesgegenwärtig schnappte er Johnson an dessen Halsband und folgte dem Mann, der irgendwie als Einziger noch den Durchblick zu haben schien. Kurz bevor der Zug wieder anrollte, zog der Fremde sowohl Jochen als auch dessen Hund in ein Erste-Klasse-Abteil. »Du ziehst die Scheiße wohl immer noch magisch an, Spargel!«

Ungläubig betrachtete Jochen seinen stämmigen Retter mit dem deutlichen Bauchansatz und registrierte, dass er seinen alten Spitznamen schon sehr lange nicht mehr gehört hatte, aber sofort wieder darauf reagierte.

»Tom – das glaube ich ja nicht! Thomas Brennmaier, mein alter Kumpel, hat mich mal wieder aus einer misslichen Situation befreit, so wie früher!«, stieß Wertheim mit einem Lächeln auf seinem Gesicht hervor.

»Na ja, wie damals warst du wohl mal wieder zur falschen Zeit am falschen Ort, wie man so schön sagt. Als ich von meinem Schnitzel aufsah und dich in den Klauen dieser Idioten erkannte, war die Notbremse in diesem Moment die einzige Alternative. Und die habe ich dann auch gezogen. Die Kerle suchten ein Opfer, das habe ich deutlich gespürt, als die in den Speisewagen eingefallen sind. Da kamst du mit deinem – äh, Hund – gerade recht.« Sein demonstrativer Blick auf Johnson sprach Bände.

»Das war wirklich knapp. So wie die drauf waren, hätten sie Hackfleisch aus uns gemacht. Deshalb möchte ich mich vielmals bei dir bedanken. Aber das ist doch der Hammer, nachdem wir uns beinahe zwanzig Jahre nicht mehr gesehen haben, tauchst du hier auf und …« Plötzlich hielt Jochen inne und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Du hast natürlich auch eine Einladung bekommen, da hätte ich schon früher draufkommen können! Dann können wir jetzt gemeinsam in den Süden fahren und du kannst mich beschützen. Nachdem mein Wachhund so kläglich versagt hat.«

Johnson war sich keiner Schuld bewusst und schlief bereits wieder.

»Ja, ich habe mir die Zeit freigeschaufelt, wie man so schön sagt, und freue mich auf das Wochenende. Find’ ich auf jeden Fall toll, dass wir jetzt so viel Zeit haben, um die letzten zwanzig Jahre Revue passieren zu lassen. Also, wie ist es dir ergangen, nachdem wir uns aus den Augen verloren haben?«, wollte Tom scheinbar interessiert wissen.

Jochen, genannt Spargel, erinnerte sich jedoch sofort wieder daran, dass der Einzige, dem Brennmaier gern zuhörte, er selber war.

»Ach, über mich gibt’s nicht viel zu berichten, aber du bist doch jetzt eine große Nummer. Ich habe dich doch neulich mal wieder in der Glotze gesehen. In dem Bericht wurdest du als der kommende Verkehrsminister von NRW gehandelt.« Nun hatte Jochen genau das erreicht, was er beabsichtigt hatte. Es folgte ein längerer Monolog von Brennmaier, der lediglich von Johnsons gelegentlichem Grunzen unterbrochen wurde.

»Ich hab ja damals Anita kennengelernt und mein Jurastudium in Heidelberg wegen ihr unterbrochen. Wir waren ein halbes Jahr auf Tour in Europa und haben dann spontan in Venedig geheiratet. Die Verbindung zu meiner Partei habe ich natürlich nie abreißen lassen, und nachdem ich das Studium an der Ruhr-Universität in Bochum fortgesetzt und mit summa cum laude abgeschlossen habe, bin ich zum stellvertretenden Vorsitzenden unserer Jugendorganisation gewählt worden.«

Jochen erinnerte sich daran, dass er eigentlich gut mit Brennmaier klargekommen war. Lediglich dessen damals schon brennender Ehrgeiz, sich in der konservativen Partei hochzudienen, um irgendwann Berufspolitiker zu werden, und das gesteigerte Mitteilungsbedürfnis hatten ihn gestört.

»Dass Anitas Vater der einflussreiche Bezirksvorsitzende unserer Partei in Dortmund war, hat mir natürlich nicht geschadet, das kannst du dir ja denken«, meinte Tom mit einem verschwörerischen Grinsen.

Jochen erwiderte das Lächeln und fragte sich allmählich, ob es nicht besser gewesen wäre, sich von den BVB-Hooligans vermöbeln zu lassen.

»Der Job des Verkehrsministers in NRW ist für mich eminent wichtig und ich freue mich richtig auf die Aufgabe. Aber unter uns: Das ist natürlich nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Berlin. Oder meinst du, ich hätte nicht das Zeug zu einem Bundeskanzler, ha, ha!«

Das sollte wohl ironisch klingen, aber Jochen hatte schon immer gewusst, dass Brennmaier ganz hoch hinauswollte und sich von seinen Fähigkeiten her dazu berufen fühlte. Jochen hatte da so seine Zweifel, und wieder einmal wurden die Vorurteile, die er sich im Lauf der Jahre über Politiker zugelegt hatte, bestätigt. Brennmaier war sehr eloquent, um nicht zu sagen, ein Schwätzer, und dazu hätte er mit Sicherheit einen passablen Schauspieler abgegeben. Auf seinem Weg nach oben würden bildlich gesprochen jede Menge Leichen am Wegesrand zurückbleiben. Andererseits hatte in diesem Land jeder Mensch die Möglichkeit, sich in die Politik wählen zu lassen. Und irgendjemand musste den Job schließlich machen, dachte Jochen zerknirscht. Wahrscheinlich waren nicht alle so drauf, wie er es sich in seiner kleinen Welt ausmalte.

»Das musst du doch zugeben, oder?«

Jochen schreckte auf, er hatte bei den letzten Sätzen von Brennmaiers Geschwafel einfach abgeschaltet.

»Äh, aber ja, natürlich!«, stammelte Jochen.

In diesem Moment kam zum Glück der Schaffner und wollte die Fahrkarten sehen.

»Ha, so sieht man sich wieder! Hat es Ihnen im Speisewagen nicht gefallen?«

»Nun, die dort angebotenen Gerichte waren nicht ganz nach meinem Geschmack. Außerdem habe ich auf dem Weg dorthin einen Bekannten aus meinem Heimatdorf getroffen. Da in seinem Abteil noch Platz ist, hat er mich eingeladen, die Reise mit ihm fortzusetzen. Ich hoffe, da spricht nichts dagegen?«

»Nein, nein, das geht in Ordnung«, meinte der freundliche Mann und starrte dabei sekundenlang auf Tom. »Aber Sie kenne ich doch auch irgendwoher.« Der Schaffner rieb sich das Kinn. »Jetzt fällt es mir ein, neulich in den Nachrichten wurden Sie als neuer Verkehrsminister vorgestellt. Es freut mich außerordentlich, dass Sie die Verbesserung des Schienenverkehrs als Ihr vorrangiges Ziel genannt haben. Ich bin überzeugt davon, dass Sie einen super Job machen werden!«

Brennmaier ging das Kompliment runter wie Öl und sein rötliches Gesicht leuchtete.

»Wenn Sie wollen, bekommen Sie selbstverständlich ein Autogramm von mir.« Der Politiker fischte aus seinem Jackett eine Autogrammkarte heraus und signierte sie mit einem goldenen Kugelschreiber. »Und wenn Sie irgendwelche Schwierigkeiten haben, wenden Sie sich direkt an mich, ich habe für jeden ein offenes Ohr.«

Jochen wusste nicht, wie er diese Fahrt noch die restlichen fünf Stunden aushalten sollte.

Was glauben diese Arschlöcher eigentlich? Die können mir doch nicht einfach meinen Porsche konfiszieren! Ist die Schweiz denn kein Rechtsstaat?«

»Reg dich ab, Albi, du warst einfach doppelt so schnell unterwegs, wie erlaubt ist, und bei solch einem gravierenden Verstoß sind die Behörden in diesem Land einfach rigoros. Zum Glück für dich haben sie mich ebenfalls angehalten.« Bruno Bode hatte den Mann, den er von früher als sehr selbstbewussten Typen in Erinnerung hatte und der in diesem Polizeisprinter saß wie ein Häuflein Elend, sofort erkannt.

»Trotzdem, ich hätte ihnen ja ein paar Tausend von ihren scheiß Fränklis geben können und die Sache wäre erledigt gewesen.«

So uneinsichtig wie ein kleines Kind, dachte Bruno, und erinnerte sich spontan an einige Episoden aus ihrer gemeinsamen Kindheit. Bernd Albrechts, genannt Albi, war offenbar nie aus der Trotzphase rausgewachsen, und obwohl er auf der Sonnenseite des Lebens angekommen war, dachte er wohl immer noch, dass ihn alle linken wollten. Ein Wort des Dankes von Albi hatte Bruno gar nicht erwartet, nachdem er den Polizisten angeboten hatte, den zeternden Porschefahrer mitzunehmen. Er hatte mit ihnen ausgehandelt, dass Albrechts am Dienstag auf der Rückfahrt im örtlichen Präsidium vorbeikommen würde, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen. Da die Beamten den sündhaft teuren Wagen als Pfand hatten, ließen sie mit sich reden. Danach hatte Bruno gemeinsam mit dem fluchenden Albi dessen Gepäck aus dem minimalistischen Kofferraum des Sportwagens rausgezerrt und in Brunos Wagen geladen.

»Deine Karre ist aber auch nicht schlecht«, lobte Albi, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte. »Bis jetzt war ich noch nie so umweltfreundlich und emissionsfrei unterwegs. Damit kann man dann guten Gewissens über die Autobahn heizen, der Strom kommt ja aus der Steckdose, nicht wahr?«

Bruno war sich dem triefenden Spott der Aussage seines unfreiwilligen Copiloten durchaus bewusst.

»Na ja, wenn man bedenkt, welche äußerst bedenklichen Materialien in der Batterie verbaut werden, ist das Gewissen nicht mehr so rein. Aber der Hersteller bietet bei seinen Ladesäulen wenigstens die Option von alternativ gewonnenem Strom an. Doch wir reden hier über Autos, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe. Dabei haben wir uns beinahe zwanzig Jahre nicht mehr gesehen. Was hast du in dieser Zeit so getrieben, Albi?«

»Och, nichts Besonderes, nachdem mein Abi ja nicht so toll ausgefallen ist, habe ich eine Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht, aber das weißt du ja. Im Losverfahren bin ich dann ja damals ins Zahnmedizinstudium reingerutscht. Mittlerweile bin ich ein gut frequentierter Kieferorthopäde mit eigener Praxis und an die zwanzig Mitarbeiter. Dieser Laden ernährt einen ganz gut«, fügte er noch mit einem breiten Grinsen hinzu.

Davon konnte Bruno Bode ein Lied singen. Beinahe jede Woche flatterten Rechnungen ins Haus von der Praxis, die dafür sorgte, dass seine Tochter im späteren Leben schöne Zähne hatte. Wenn man davon ausging, dass viele Eltern ihren Kindern auf diese Weise ein besseres Aussehen erkaufen wollten, musste Albi beinahe zwangsläufig einen Porsche für etwa hundertzwanzigtausend Euro fahren.

In diesem Moment leuchtete das Display des Tesla auf.

»Kurz vor Montreux müsste ich mal wieder zur Ladestation. Wie ich sehe, hat es in der Nähe einen Strand. Was hältst du davon, wenn wir uns in dem herrlichen See ein wenig abkühlen?«

Wenige Kilometer vor Lausanne waren sie zum östlichen Seeufer in Richtung der Stadt, in der das alljährliche Jazzfestival stattfindet, abgebogen. Seit geraumer Zeit schon hatten sie den traumhaft schön gelegenen See mit den ihn flankierenden Alpengipfeln im Blickfeld.

»Klar, Strand ist immer gut.«

Wie bereits beim letzten Mal kam ein dienstbarer Geist herbeigeeilt, nachdem Bruno an der Station gehalten hatte, und kümmerte sich um den Ladevorgang. Die beiden nestelten jeder eine Badehose und ein Handtuch aus ihrem Gepäck und gingen gemeinsam zum nahen Strandbad. Der See hatte sich während der heißen Sommermonate ziemlich aufgeheizt, sodass er jetzt Anfang September noch angenehme Temperaturen aufwies.

»Weshalb hast du eigentlich diesen doch deutlich längeren Weg gewählt?«, fragte Albrechts, während sie sich auf der Liegewiese umzogen.

»Hm, ich muss mich nach den verfügbaren Steckdosen richten, wollte jedoch auch mal wieder den Genfersee sehen, wenn ich schon mal in der Ecke bin. Du hast diese Route bestimmt gewählt, weil hier beinahe alles Autobahn ist. Schade nur, dass man in diesem Land seinen Flitzer nicht ausfahren kann, das hast du bestimmt nicht gewusst«, konnte sich Bruno einen Seitenhieb nicht verkneifen.

»Nein, nein, ich … ich hatte in Neuchâtel noch etwas zu erledigen.«

Bruno gab sich mit der Antwort zufrieden und folgte seinem Begleiter, der als Erster zielstrebig ins Wasser ging.

»Ist das nicht herrlich!«, frohlockte Bruno und schwamm gemütlich dahin, während der sehr sportliche Albi umherkraulte, als ob es um einen Olympiasieg ginge. Nach einer Viertelstunde hatte Bode genug und legte sich in die Sonne. Wenig später kam Albrechts ebenfalls zurück. Sie unterhielten sich über Gott und die Welt, doch Bruno hatte das Gefühl, dass sein früherer Freund nicht so bei der Sache war. Als er sich einmal kurz umdrehte, konnte er auch den Grund für dessen Abwesenheit erkennen. Hinter ihnen hatten sich zwei sehr attraktive Frauen, die Bruno auf Ende zwanzig schätzte, platziert. Schmunzelnd schüttelte er leicht den Kopf. Albi hatte sich also auch in dieser Richtung nicht verändert. Es dauerte nicht lange, bis er sich erhob und mit einem gewinnenden Lächeln den Liegeplatz der beiden aufsuchte. Neidlos musste Bruno anerkennen, dass Albrechts sich sehr gut gehalten hatte. Der hochgewachsene Mann hatte schmale Hüften und breite Schultern sowie kräftige Oberarme, was diese Mädels mit Kennerblick goutierten.

»Kommst du mit was trinken, Bruno?«, rief er herüber und deutete auf das Strandcafé.

»Äh, nein … ich erwarte in wenigen Minuten einen geschäftlichen Anruf. Vielleicht komme ich nach, wenn es nicht so lange dauert«, redete er sich raus. Bruno war kein Spielverderber, doch sollte Albi mit einer der Tussis anbändeln, könnte er mit dem Zug weiterfahren.

Gerade als der renitente Autofahrer dabei war, seinen Kontrahenten so richtig zu vermöbeln, hielt ein alter Bulli aus den Sechzigerjahren. Zahlreiche Autos, die dem für heutige Verhältnisse deutlich untermotorisierten blau-weißen VW-Bus hinterherkarren mussten, fuhren laut hupend vorbei.

»Hören Sie sofort auf, den armen Mann zu schlagen! Sind Sie verrückt geworden?«

»Wenn es dir nicht passt, kriegst du auch gleich eins in die Fresse!«, antwortete der aufgebrachte Schweizer.

Diesen Moment der Unachtsamkeit nutzte Drechsler aus und trat dem Autofahrer in den Unterleib. Irritiert beobachtete der vermeintliche Streitschlichter, dass der Radfahrer, dem er hatte helfen wollen, sich nun seinerseits auf den vor Schmerzen wimmernden Unfallgegner stürzen wollte. Kopfschüttelnd drehte sich der Bulli-Fahrer um und wollte zurück zu seinem Auto.

»Einstein, bist du das?«, rief Drechsler ihm ungläubig hinterher. Der federnde Gang des hochgewachsenen, bärtigen Mannes mit der Halbglatze und den schulterlangen Resthaaren hatte Erinnerungen in ihm geweckt. Abrupt drehte sich der Gerufene um und betrachtete den derangierten Radfahrer etwas genauer.

»Mein Gott, Müsli, das hätte ich mir ja denken können! Du gehst wohl immer noch keinem Streit aus dem Weg«, meinte er grinsend.

Der Schweizer hatte sich unterdessen klammheimlich davongeschlichen und raste mit aufheulendem Motor davon.

»Scheiße, das glaube ich jetzt nicht, das Dreckschwein haut einfach ab!« Beinahe wahnsinnig vor Wut raufte sich Drechsler, so gut es ging, die Haare.

»Jetzt reg dich mal ab und erzähl mir, was passiert ist.« Beruhigend legte Walter Sachs, genannt Einstein, seine Hand auf die Schulter des Radfahrers.

»Und dann will mir der Arsch eine Art Schweigegeld geben, damit ich keine Polizei rufe«, beendete Drechsler seinen Bericht.

»Mhm, das hört sich nicht gut an. Hast du dir wenigstens die Autonummer gemerkt?«

»Vorne stand LU für Luzern und dahinter eine Nummer. Hast du mal was zu schreiben, vielleicht bekomme ich sie ja noch zusammen.«

Sachs schlappte zu seinem Oldtimer und kam mit einem Notizblock und einem Kugelschreiber zurück.

»Deine Karre ist nach ökologischen Gesichtspunkten auch nicht mehr zeitgemäß«, gab Drechsler zu bedenken.

»Jetzt hör aber mal auf, es ist sicher nicht der richtige Moment für Grundsatzdiskussionen«, entgegnete Walter Sachs kopfschüttelnd. »Konzentriere dich lieber auf die Nummer, ich rufe solange die Polizei an.«

Es dauerte etwa eine Viertelstunde, bis die Beamten eintrafen. In dieser Zeit hatte Sachs seinem alten Freund Hoffnung gemacht, der sich bei der Nummer nicht mehr hundertprozentig sicher war.

»Anhand von Lackspuren, die mit Sicherheit an deinem Fahrrad zu erkennen sind, können sie meines Wissens den Halter des Wagens auch ermitteln.«

Diese Aussage schien Drechsler ein wenig zu beruhigen. Als der Streifenwagen anhielt, versuchte Walter Sachs noch mal auf Drechsler einzuwirken. Ihm waren spontan einige Situationen von früher eingefallen, in denen Ralf die Konfrontation mit der Staatsmacht gesucht hatte und auch vor Gewalt nicht zurückgeschreckt war. Die Polizisten waren sehr verständig und voller Mitgefühl für den ramponierten Radfahrer.

»Wir kriegen den Kerl, der Ihnen das angetan hat, das verspreche ich Ihnen«, meinte der ältere der beiden Beamten bestimmt. »Es kann ja wohl nicht sein, dass man jemand umfährt und ihn danach noch verprügelt. Zum Glück haben Sie angehalten, mein Herr. Wie ich sehe, sind Sie gleichfalls Schweizer.« Er deutete auf das Basler Kennzeichen an dem Bulli von Walter Sachs.

»Na ja, nicht ganz, ich arbeite an der Universität in Basel und wohne in diesem schönen Land. Aber dieser Typ, der diesen Radler angefahren hat, war wirklich hochgradig aggressiv. Als ich dem armen Kerl zu Hilfe eilen wollte, hat er mir ebenfalls Schläge angedroht. Hoffentlich kriegen Sie ihn.«

»Wenn Ihr Loser den nicht kriegt, dann …« Drechsler wollte noch nachlegen, doch Walter Sachs gab ihm einen heftigen Rippenstoß.

»Entschuldigung, was haben Sie gesagt?«

Zum Glück war Ralf Drechsler in seine Muttersprache gewechselt und die Beamten verstanden offenbar kein Schwäbisch.

»Och, nicht so wichtig.«

»Was machen wir jetzt mit Ihnen?« Der Ältere kratzte sich hinter dem Ohr und schien zu überlegen.

»Das Beste wird sein, wir rufen die Ambulanz und die bringen Sie dann ins Spital. Das Velo nehmen wir als Beweisstück mit, damit können Sie eh nicht mehr fahren, nicht wahr?«

»Machen Sie sich keine Umstände, meine Herren. Die Blessuren sind halb so schlimm, und zufällig haben der Herr hier und ich dasselbe Ziel. Wir haben das im Vorfeld schon geklärt, Herr Sachs nimmt mich mit.«

»Na gut, aber wir müssten noch Ihre Personalien aufnehmen.«

Das Procedere nahm eine halbe Stunde in Anspruch und danach konnten die beiden endlich die Satteltaschen und Drechslers restliches Gepäck in den Bulli laden. Wenig später fuhren sie über die Passhöhe und nach einer halben Stunde legten sie eine kurze Pause am Brienzersee ein.

»Mein alter Weggefährte braucht dringend eine Verschnaufpause, bevor es über den Grimselpass geht.«

»Es geht mich ja eigentlich nichts an, aber ich verstehe nicht, weshalb du mit dieser alten Dreckschleuder die Umwelt verpestest«, meinte Drechsler tadelnd, als sie in einem Café mit Seeblick saßen.

»Du hast recht, es geht dich nichts an und mein Bulli T1 bringt dich an dein Ziel, wie du vorher schon gesagt hast. Trotzdem erzähle ich dir, weshalb ich diesen Oldtimer noch nicht verschrottet habe und seit nunmehr über zwanzig Jahren an ihm festhalte. Es wird von uns erwartet, dass wir alle drei bis vier Jahre ein neues Auto kaufen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Aber gerade du als ausgewiesener Umweltschützer musst doch sehen, dass wir damit auf einem falschen Weg sind. Ich bin Wissenschaftler und deshalb grundsätzlich auf der Seite des Fortschritts. Diese Anbetung des Autofetischs geht mir jedoch sowas von auf die Nerven. Meine Dreckschleuder, wie du dich so schön ausgedrückt hast, muss nicht mehr aufwändig hergestellt werden. Der T1 hat etwa fünfundvierzig PS und wenn ich langsam fahre, brauche ich sechs bis sieben Liter Benzin, weil der Motor von einem Spezialisten auf den neuesten Stand gebracht wurde. An meinem Wohnort betreibe ich eine Art Carsharing. Jeder, der zum Einkaufen oder zum Umziehen oder wozu auch immer ein größeres Fahrzeug braucht, kann ihn gegen einen geringen Obolus gerne benutzen. Das Wichtigste jedoch, warum ich ihn noch nicht verschrottet habe, ist meine sentimentale Ader. Der Bus hat mich durch den schönsten Sommer meines Lebens begleitet, quasi den Summer of my Life.«

Wehmütig ließ Sachs seinen Blick umherschweifen und Drechsler nickte wissend.

»Verstehe, du bist mit ihr damals auf diesem Bock durch Europa gefahren«, meinte Ralf und holte Sachs wieder in die Gegenwart.

»Lass uns zahlen und weiterfahren. Ich denke, die Ruhepause müsste ihm reichen.« Kurz bevor Sachs einstieg, tätschelte er die Motorhaube. »Dann wollen wir mal, mein Alter.«

Für diesen sentimentalen Quatsch hatte Drechsler nichts übrig, enthielt sich jedoch eines Kommentars, wenn es ihm auch schwerfiel.

Der betagte Wagen schraubte sich mit einem Schnitt von vierzig Stundenkilometern immer weiter hoch und das Panorama, das sich den beiden bot, wurde immer atemraubender. Seit Walter in der Schweiz wohnte und ein Gehalt bezog, von dem man in Deutschland nur träumen konnte, hatte er seinen Urlaub ausschließlich in diesem hochpreisigen Land verbracht. Er hatte es sich dabei zum Ziel gesetzt, sämtliche Alpenpässe wenigstens einmal mit seinem Bulli zu befahren. Etwa drei Kehren vor der Passhöhe von über zweitausendeinhundert Metern kräuselte sich eine kleine Rauchwolke aus dem Motorraum und die Temperaturanzeige stieg in den roten Bereich. Sofort fuhr Sachs rechts ran und machte den Motor aus. Blitzschnell riss er die Fahrertür und anschließend die Motorhaube auf.

Mit einem fiesen Lächeln und einer gewissen Befriedigung beobachtete Ralf Drechsler die Szenerie. Betont langsam öffnete er die Beifahrertür und trottete zu Walter.

»Doch nicht mehr ganz so gut in Schuss, der Alte«, bemerkte er bissig.

»Man könnte grad meinen, du würdest dich freuen, wenn er vollends schlappmacht. Darf ich dich daran erinnern, dass wir im selben Boot sitzen? Jetzt hilf mir lieber und hol den Kanister mit der Kühlflüssigkeit aus dem Wagen.«

Sachs musste eine Weile warten, bis sich der Motor ein wenig abgekühlt hatte. Das wusste er aus Erfahrung. Schon einmal hatte er eine unfreiwillige heiße Dusche genommen, obwohl dem Wissenschaftler die Zusammenhänge durchaus bewusst waren. Nach einer Stunde Zwangspause wagte er es und startete den Oldtimer wieder. Es brauchte mehrere Versuche, bis der Bulli wieder loshustete und die nächsten Kurven bewältigte.

»He, wo fährst du hin?«, stieß Drechsler hervor.

»Wir machen einen kleinen Umweg, aber glaub mir, es lohnt sich!«

Walter war anstelle nach Brig links abgebogen in Richtung Furkapass. Nach wenigen Kilometern, in denen es stetig bergab gegangen war, hielt er den Wagen an.

»Ich dachte, ich mache dir als grünem Urgestein eine Freude und zeige dir die dramatischen Folgen des Klimawandels.« Mit seiner ausgestreckten rechten Hand deutete er zu einem markanten Berg, dessen Gipfel trotz der sommerlichen Temperaturen schneebedeckt war.

»Wir sind in einem Ort namens Gletsch, und das da vorne ist der berühmte Rhonegletscher. Hier entspringt ein Bach, der sich zu einem mächtigen Strom entwickelt und sich später ins Mittelmeer ergießt. Man kann es sich schwer vorstellen, aber die Zunge dieses Gletschers endete im neunzehnten Jahrhundert beinahe unmittelbar an diesem ehemaligen Hotel.«

»Das müsste doch für dich Grund genug sein, diese CO2-Schleuder ein für alle Mal aus dem Verkehr zu ziehen«, entgegnete Ralf spitz.

Mit einer nonchalanten Geste überging Sachs die gehässige Bemerkung.

»Der Ort hier hat eine interessante Geschichte, die ich dir nicht vorenthalten möchte.« So nach dem Motto, hör mir zu oder lass es bleiben, referierte Sachs über die Ortsgeschichte.

»Wie du vielleicht weißt, begann Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der Tourismus. Allerdings war es nur wenigen Adeligen und reichen Bürgern vergönnt, ihre Zeit mit Müßiggang zu verbringen. Die Arbeiter und Bauern mussten schlichtweg um ihre Existenz kämpfen. Dadurch, dass dieser riesige Gletscher quasi vor der Haustür lag und Napoleon am Anfang des Jahrhunderts die Pässe für seine Truppen ausgebaut hatte, entwickelte sich das Gebiet zu einem Hotspot. Ein findiger Mensch errichtete dieses Hotel hier im Stil der Belle Époque und trotz der lebensfeindlichen Lage war es ein sehr gutes Geschäft für ihn. Die Pferdekutschen mit den reichen Leuten kamen in Scharen, um einerseits die spektakuläre Landschaft zu sehen und andererseits die Haute Cuisine, die sich hier etabliert hatte, zu genießen.«

Obwohl ihn solche Themen sonst wenig interessierten, hörte Drechsler gebannt zu.

»Der Hotelier verdiente sich eine goldene Nase und es wäre alles so weitergegangen, wenn nicht die Eisenbahn die Pferdekutschen verdrängt hätte. Nun mussten keine nächtlichen Stopps mehr gemacht werden und die Auslastung des Belvédère ging gegen null. Der Niedergang des Traditionshauses vollzog sich rapide und nach dem Ersten Weltkrieg ging das ehemalige Tophotel in die Hand des Staates über. In den Sechzigerjahren wurde das Belvédère durch einen Film unsterblich. Wie ich dich einschätze, Müsli, hast du keinen Fernseher, aber auch du kennst bestimmt das James-Bond-Movie Goldfinger. Darin spielt eine Szene am Furkapass und in Gletsch.«

»Das ist ja alles hochinteressant. In Anbetracht des dramatischen Gletscherschwundes sollten wir uns aber Gedanken darüber machen, wie wir den menschengemachten Klimawandel aufhalten können.« Drechsler machte eine Leichenbittermiene und schien darüber nachzudenken, die restlichen Kilometer zu Fuß zu gehen.

»Ich war mal oben am Gletscher wandern und es ist tatsächlich unendlich traurig, dass es so weit kommen konnte. In den letzten Jahren ist ein See entstanden, in den der Rhonegletscher kalbt, wie man so schön sagt. Daneben wurde eine riesige Fläche mit Plastikplanen abgedeckt, um das ewige Eis wenigstens noch eine Zeit lang zu retten.«

»Das ist ja die Krönung! Dieser riesige Aufwand wird betrieben, statt die Ursachen zu bekämpfen. Mich kotzt das alles so an, komm, lass uns von hier verschwinden!«

Sachs nickte betreten und marschierte zu seinem Auto zurück. Als er den Wagen startete, überkam ihn ein schlechtes Gewissen wie als kleiner Junge, als er heimlich Süßigkeiten aß, obwohl man ihm eingeschärft hatte, dass das seine Zähne ruinierte. Sie fuhren zurück zur Passhöhe des Grimsel und wandten sich dann Richtung Brig. Es hätte noch viel zu erzählen gegeben, wie etwa, dass der größte Alpengletscher, der Aletsch, sich zur Rechten befand, doch Walter schwieg die restlichen Kilometer genauso wie sein Fahrgast. Endlich kam der Abzweig ins Mattertal und Walter lenkte seinen Bulli durch die kleinen Dörfer, die auf dem Weg zu ihrem Ziel lagen. In einem Ort namens Täsch fuhr er in eine Seitenstraße und sein Mitfahrer sah ihn etwas befremdlich an.

»Musst du noch einkaufen oder willst du mir wieder ein touristisches Highlight zeigen?«, fragte Drechsler spöttisch.

»Weder … noch, wenigstens unser Auto ist am Ziel, denn Zermatt ist eine der wenigen autofreien Gemeinden auf dieser Welt. Das müsste doch einem militanten Umweltschützer wie dir eigentlich gefallen«, konnte sich Walter einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. Er löste einen Parkschein und die beiden schulterten ihre großen Rucksäcke.

»Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir wieder ein. Ist doch schon eine Zeitlang her, seit ich das letzte Mal hier war.«

Sie verließen Täsch mit der Schweizer Bundesbahn und erreichten gegen neunzehn Uhr den Bahnhof von Zermatt.

»Der Juni ist in diesem Jahr wieder deutlich zu heiß, wenn das so weitergeht, werden wir Mitte des Jahrhunderts schon die Zwei-Grad-Marke überschritten haben, und dann gnade uns Gott!«, prophezeite Drechsler und machte ein entsprechendes Gesicht dazu, was ihm beileibe nicht schwerfiel.

»Ich möchte dir deine schlechte Laune nicht verderben, aber für unser Vorhaben finde ich das Wetter optimal, zumal es die nächsten Tage so bleiben soll«, erwiderte Sachs und mischte sich in das Getümmel. Sehr viele asiatisch aussehende Menschen bevölkerten die mit Souvenirshops und Fast-Food-Restaurants vollgestopfte Fußgängerzone. Ihm war der Rummel eindeutig zu viel und seinem Begleiter, wenn er dessen Gesichtsausdruck richtig deutete, auch.

»Willst du direkt ins Hotel oder hast du Lust, dir die historischen Gebäude vom alten Dorfkern anzuschauen?«

Weder …noch …, schien diesem auf den Lippen zu liegen, doch was wollte er überhaupt? Ein gequält klingender Seufzer kam aus Drechslers Mund, was Walter als Zustimmung auffasste und die belebte Bahnhofsstraße verließ. Der alte Dorfkern bestand aus etwa dreißig äußerst pittoresken Häusern im alten Walliser Stil. Einige der Bohlenblockhäuser waren schon vor fünfhundert Jahren aus der ziemlich dauerhaften Gebirgslärche errichtet worden.

»Weshalb ruht der obere Stock auf diesen seltsamen Steinplatten?«, wollte Drechsler wissen, aus dessen anfänglichem Desinteresse wachsende Neugierde entstanden war.

Sachs quittierte diesen Sinneswandel mit einem feinen Grinsen.

»Du wirst es nicht glauben, aber der Grund dafür hat nichts mit der Statik der Häuser zu tun oder mit gestalterischen Elementen. Es handelt sich schlicht und ergreifend um sogenannte Mäuseplatten. Hierdurch wurde gewährleistet, dass die nervigen Nager nicht an den Wintervorrat rangekommen sind.«

»Verdammt, Einstein, du bist immer noch derselbe Klugscheißer wie früher. Versteh’ mich nicht falsch, das ist nicht abwertend gemeint. Im Gegenteil bin ich froh, dich bei mir zu haben, dann muss ich nicht dumm sterben.«

»Wenigstens teile ich mein Wissen und behalte es nicht für mich«, konnte Walter sich eine Replik nicht verkneifen.

Drechsler blieb vor beinahe jedem Gebäude stehen und ließ sich von seinem Begleiter so manches Detail der Baugeschichte erklären. Sie schlenderten langsam weiter und Sachs lenkte den Weg zu einer Brücke über die Matter, die sogenannte Kirchbrücke. Hier sahen sie ihn das erste Mal, seit sie in Zermatt waren, und beide blickten ehrfürchtig zu ihm hoch. Keiner sagte ein Wort, um diesen einzigartigen Anblick nicht zu stören. Nach mehreren Minuten löste sich Walter aus der Erstarrung.

»Der berühmteste Berg der Alpen, wenn nicht der ganzen Welt, nach dem Mount Everest natürlich.«

»Wahnsinn, allein dieser Anblick war es wert, hierher zu reisen!«, pflichtete Drechsler bei, dessen Augen gleichfalls ein freudiges Glänzen angenommen hatten. Die Werbung einer bekannten Schokoladenmarke hatte natürlich auch zur Berühmtheit des Gipfels beigetragen, aber ihn hier so zu sehen war einfach fantastisch.

»Werden wir wieder versuchen, das Matterhorn zu besteigen?«

Sachs fuhr sich nachdenklich durch die langen Haare, bevor er antwortete.

»Es wäre bestimmt schön, aber damals waren wir Anfang zwanzig und alle ziemlich fit. Trotzdem würde ich mich freuen, da oben zu stehen.«

Eine weitere Viertelstunde blickten sie zu dem erhabenen Bergriesen empor, bevor eine Gruppe von lärmenden amerikanischen Touristen die Idylle zerstörte. Die beiden sahen sich an und beide nickten entschlossen. Es war Zeit weiterzugehen. Sie wandten sich dem Viertel zu, in dem sich die traditionsreichen Hotels der ersten Stunde befanden. Hier, wo der Alpintourismus mit der Erstbesteigung des Matterhorns vor ungefähr hundertsiebzig Jahren begonnen hatte, standen die in der Zwischenzeit mehrfach umgebauten Grandhotels der Gründerzeit. Diese riesigen Gebäude waren beinahe genauso imposant wie der Berg, dem dieses Dorf seine Berühmtheit zu verdanken hatte. Vor dem Belle Époque blieben sie stehen und betrachteten staunend den gewaltigen Kasten.

»Da hat sich ja in den letzten zwanzig Jahren so einiges verändert«, stellte Walter fest und ging auf die zweiflügelige Eingangspforte zu. »Sollen wir da jetzt einfach so reinspazieren?« Sachs schaute zu seinem Kumpel und sein Blick blieb an dessen vom Kettenöl verdreckter Hose haften. Ein in der mehrfarbigen Hoteluniform gewandeter Bediensteter stellte sich einigen anderen Rucksacktouristen, die einen Blick ins Innere des Prachthotels werfen wollten, entschlossen in den Weg.

»Entschuldigen Sie, meine Herren, das hier ist kein Museum«, meinte der breitschulterige Mann bestimmt in beinahe akzentfreiem Englisch. Seine angsteinflößende Aura war offenbar vonnöten, denn die Leute motzten zwar, trollten sich dann jedoch. Walter und Ralf blickten sich kurz an und wollten nun ihrerseits an dem Bediensteten vorbei.

»Sind Sie taub oder rede ich etwa mongolisch?« Der Blick des Mannes verhieß nichts Gutes.

»Hör mir mal zu, mein Junge, jetzt gehst du mal ganz flott zur Seite und lässt uns da rein. Wir wohnen nämlich für ein paar Tage in dem Nobelschuppen.« Drechsler hatte sich betont provokant vor den Türsteher gestellt und funkelte ihn an.

»Was meinen Sie, wie oft ich diesen Satz täglich zu hören kriege! Die Leute sind ziemlich erfinderisch, nur um einen Blick in unser prächtiges Foyer zu werfen. Aber wenn Sie jetzt nicht augenblicklich verschwinden, sehe ich mich gezwungen, die Polizei zu rufen«, antwortete der Hotelangestellte ruhig und zückte sein Handy.

»Stell dir mal den größten Ärger deines Lebens vor und dann leg noch ’ne Schippe drauf. Denn genau das erwartet dich, wenn du uns nicht reinlässt.« Drechsler versuchte sich vorbeizudrängen, aber der Mann stand wie ein Fels in der Brandung.

»Unser Müsli wie er leibt und lebt«, rief einer der zwei gut gekleideten Gäste aus, die im Begriff waren, das Hotel zu verlassen und dabei das Geschehen beobachtet hatten.

»Ich bin zwar auch dafür, nicht jeden Dahergelaufenen hier reinzulassen, aber die zwei abgerissenen Typen haben tatsächlich ein Zimmer reserviert«, sagte Bruno Bode augenzwinkernd zu dem dienstbeflissenen Türsteher.

»Mensch Bruno, lass dich umarmen!«, rief Walter Sachs aus, als er den Mann erkannt hatte, und stürmte auf Bode zu. Die Begrüßung der anderen beiden war verhaltener. Drechsler gab dem eleganten Bernd Albrechts lediglich die Hand. Diese zwei hatten schon früher ihre Schwierigkeiten miteinander gehabt, und Ralf hatte Albrechts Hang zum Luxus und zu schnellen Autos schon damals immer wieder kritisiert. Walter hingegen konnte gut mit Bernd und schenkte dem Zahnarzt auch eine Umarmung.

»Hallo, Müsli, immer noch auf der Mission Weltrettung?«, meinte Bode lächelnd und legte Drechsler den Arm auf die Schulter. Dieser wollte etwas Bissiges erwidern, hielt sich dann aber zurück und ließ sich bereitwillig von Bruno ins Innere des Luxushotels führen. Allerdings nicht, ohne dem aufmerksamen Türsteher ein überlegenes Grinsen zu schenken.

»Wow, hier hat sich zum Glück nichts verändert!« Walter Sachs war stehengeblieben und schien dieses üppig gestaltete Eingangsfoyer in sich aufnehmen zu wollen. Was musste einen erst im Inneren des Hotels erwarten, wenn hier schon so viel Prunk war? Mehrere riesige Kronleuchter hingen von der kunstvoll gefertigten Stuckdecke herunter. Die Männer gingen laut flachsend zu der ausladenden Rezeption, hinter der mehrere Angestellte die Anmeldungen der Gäste und deren teils exotische Wünsche mit stoischer Ruhe entgegennahmen.

»Diese zwei Herren sind gleichfalls mit uns in der Whymper Suite untergebracht. Wenn Sie so freundlich wären und ihnen eine Chipkarte aushändigen würden?«, bat Bruno den distinguierten Portier, bei dem er und Albrechts auch eingecheckt hatten.

»Aber selbstverständlich, mein Herr. Wenn Sie bitte hier herüberkommen würden?« Der Empfangschef war zwar Bediensteter, trotzdem wirkte er keineswegs unterwürfig den hochgestellten Persönlichkeiten gegenüber, die in der Hauptsache dieses Haus bevölkerten. Er besaß eine gewisse Arroganz, die er besonders bei den Gästen zur Schau stellte, bei denen er meinte, sie seien hier fehl am Platz. Wie etwa bei Walter Sachs und Ralf Drechsler, von denen er annahm, dass sie von ihren reichen Freunden Bode und Albrechts eingeladen worden waren.

»Ähem, soll einer unserer Angestellten Ihre, äh … Gepäckstücke nach oben bringen?« Mit einer abfälligen Geste deutete er auf die abgewetzten Rucksäcke.

»Also ich schaffe das schon noch allein«, entgegnete Drechsler, der dieses ganze Luxusbrimborium als Teil eines ausbeuterischen Systems betrachtete.

»Mensch Müsli, stell dich nicht so an! Das gehört in solch einem Haus einfach dazu und die Angestellten sind keine Sklaven. Sie haben einen sicheren Arbeitsplatz und ein gutes Einkommen, nicht wahr, Herr Egli?«

Der Chefportier schenkte Bruno ein wohlwollendes Lächeln. In diesem Moment ging am Eingangsportal ein lauter Aufruhr los. Die vier drehten synchron ihre Köpfe zur Ursache des Spektakels. Ungläubig sahen sie, wie eine englische Bulldogge ein Bein hob und eine dezent platzierte Yuccapalme mit einem Strahl beglückte. Mehrere Hotelgäste standen pikiert daneben und eine ältere Dame, die aussah, als wäre sie einmal zu oft beim Schönheitschirurgen gewesen, stieß einen schrillen Schrei aus.

»Scheiße, Johnson, hör sofort auf damit!«, rief ein Mann verzweifelt, der offensichtlich nicht in der Lage war, dem Hund Einhalt zu gebieten, obwohl er versuchte, die angeleinte Bulldogge wegzuzerren. Ein anderer, der gemeinsam mit dem Hundehalter das Hotel betreten hatte, tat so, als ob ihn das nichts anginge, und kam lächelnd auf die vier Gaffer zu.

»Hallo, Jungs, es freut mich riesig, euch nach so langer Zeit zu sehen!«

»Hi, Tom«, antworteten die vier wie aus einem Mund. Wieder war zu beobachten, dass nicht alle aus der kleinen Gruppe den Neuankömmling gleichermaßen herzlich begrüßten. Bode, Sachs und Albrechts umarmten ihn innig, während Drechsler ihm nur zaghaft die Hand reichte.

»Ich finde, wir sollten Spargel in seiner brenzligen Situation beistehen«, befand Bruno und durchmaß mit beherzten Schritten den hallenartigen Raum.

»Mein Herr, mir scheint, Ihre Töle ist nicht stubenrein. Sie sollten schleunigst dieses noble Interieur verlassen.« Von den Umstehenden kam zustimmendes Gemurmel, doch der derart Gescholtene tat genau das Gegenteil. Er ließ die Leine los und warf sich Bode an die Brust.

»Bruno, welche Freude dich zu sehen. Ich hoffe, wir müssen nach dieser Aktion nicht das Hotel wechseln.«

»Ach was, so schnell werden die uns nicht los. Aber sag mal, seit wann bist du auf den Hund gekommen?«

»Oje, das ist eine längere Geschichte, die erzähl ich dir bei einem Gläschen Wein.«

Mittlerweile waren die anderen ebenfalls herangetreten und jetzt schienen sich alle zu freuen, den schmächtigen Mann zu sehen. Nachdem Jochen seinen eigensinnigen Hund wieder eingesammelt und ein Hotelbediensteter dessen Hinterlassenschaften entfernt hatte, gaben Tom und er ebenfalls ihre Personalien an der Rezeption an. Einträchtig gingen die Freunde danach in die angrenzende Hotelbar, die einem englischen Pub nachempfunden war. Der von edlem Kirschbaum dominierte Raum war in der Nähe von Manchester in einem älteren Dorfpub sorgfältig abgebaut und an diesem Ort originalgetreu aufgebaut worden. Selbst das auf den Zapfhähnen aus Porzellan abgebildete Bier wurde eigens aus England importiert und hier ausgeschenkt. Bruno klopfte symbolisch mit einem kleinen Löffel an sein Bierglas, als jeder ein Pint vor sich stehen hatte.

»Erlaubt mir, Freunde, dass ich die Begrüßung übernehme. Es freut mich außerordentlich, dass alle meiner Einladung gefolgt sind, damit wir uns nach beinahe zwanzig Jahren hier an diesem für uns alle so schicksalhaften Ort wieder treffen. Ich möchte keine lange Rede schwingen, ihr kennt mich eher als jemanden, der gern schnell auf den Punkt kommt. Außerdem haben wir vier Tage Zeit, uns ausgiebig zu unterhalten. Also prost!«

Wie auf ein geheimes Zeichen setzten alle ihr Glas an die Lippen und nahmen einen Schluck. Manche gierig, manche eher widerwillig. Sofort nachdem jeder getrunken hatte, entspann sich ein lebhaftes Gespräch, bei dem anfangs alle durcheinanderschrien, bevor sich einzelne Grüppchen bildeten.

»Die nächste Runde geht auf mich!« Unbemerkt war ein leger gekleideter Mann hinter die Theke getreten und hatte den Barkeeper weggeschickt. Die Freunde blickten auf und bei allen trat ein Zeichen des Wiedererkennens auf die Gesichtszüge.

»He, Alter, das glaube ich ja nicht!«, rief Bruno Bode erfreut aus. »Das ist jetzt aber eine faustdicke Überraschung, deine Sekretärin hat mir bei der Anmeldung gesagt, dass du in der Zeit unseres Aufenthalts in eurer Dependance in den USA bist.« Bode erhob sich und eilte an die Theke.

»Komm, lass dich drücken!«

Über die Holztheke umarmten sich die beiden.

Der Hoteldirektor war ein dunkelhaariger Mann, der das feine Gesicht mit dem dunklen Teint von seiner südfranzösischen Mutter und den robusten Körperbau von dem von Bergbauern abstammenden Vater geerbt hatte.

»Ich bitte dich, Bruno, als ich von deiner Buchung erfahren habe, setzte ich selbstverständlich sämtliche Hebel in Bewegung, damit ich zu der fraglichen Zeit mit euch eine kleine Tour machen kann. Wenigstens einen kleinen Vorteil sollte man als Chef schließlich haben.«

Beim Blick in die beinahe schwarzen Augen kam Bode die Erinnerung an ihre erste Begegnung.

HERBST 2000

Sofort nach dem Zivildienst hatte Bruno mit dem Elektronikstudium an der Fachhochschule in Esslingen begonnen. Sein Ziel war es, die Welt zu erobern, wenngleich sein Vater die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte, dass der Junior die kleine, aber gesunde Firma mit dreißig Angestellten, die der Senior von seinem Vater geerbt hatte, übernehmen würde. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kommilitonen war es für Bruno klar gewesen, dass ihn sein Praxissemester in die USA führen würde, und zwar am liebsten zu einem dieser Startups im Silicon Valley. Aufgrund seiner sehr guten Noten und ein wenig Vitamin B seitens eines einflussreichen Geschäftspartners seines Vaters bekam er von einer aufstrebenden Softwarefirma die Zusage.

»Ich komme mit«, hatte Andrea, seine langjährige Freundin, strahlend verkündet, und gemeinsam mit ihr flog Bruno nach New York. Der Plan war, in den Semesterferien vor Arbeitsantritt den Kontinent zu durchqueren und danach während des Praxissemesters zusammen in einem kleinen Appartement zu wohnen, so als kleiner Test für die anstehende Ehe nach der Heimkehr. Sie kauften einen sogenannten Station Wagon, einen riesigen Chevrolet Kombi, in dem sie locker übernachten konnten. Da es schon Herbst war, wählten sie eine südliche Route, die sie zuerst ins heiße Florida führte und von dort an den Golf von Mexiko. Es war eine wunderschöne Zeit, Andi und Bruno besuchten New Orleans, machten in den Sümpfen Louisianas mit ihren Fotoapparaten Jagd auf Alligatoren und waren beeindruckt von den coolen Texanern. In der Nähe von Amarillo in einer absolut menschenleeren Gegend fing plötzlich der CD-Player des Autos an, langsamer zu laufen, und wenige Augenblicke später stand die Karre still. Nach mehreren vergeblichen Startversuchen wanderte Bruno durch die sengende Hitze, bis er nach einigen Stunden Fußmarsch ein riesiges Gebäude entdeckte, an dessen Frontwand mit großen Buchstaben Longhornranch aufgemalt war. Er wollte gerade an die massive Tür klopfen, als er aus den Augenwinkeln sah, wie sich jemand näherte. Ein grimmig dreinblickender, gedrungener Mann mit einem wettergegerbten Gesicht unter seinem speckigen Cowboyhut hielt eine langläufige Flinte in der Armbeuge. Bruno versuchte daraufhin, dem Bewaffneten so harmlos wie möglich sein Anliegen vorzutragen. Mit unbeweglicher Miene hörte dieser zu und merkte wohl, dass Bruno keine bösen Absichten hegte.

»Wo kommst du her?«, wollte er auf Englisch wissen.

»Aus Deutschland«, antwortete Bruno wahrheitsgemäß und in die wie aus Stein gemeißelten Züge trat ein feines Lächeln. Es stellte sich heraus, dass der Mann seine Militärzeit in Stuttgart absolviert hatte und diese Zeit in Good old Germany sehr genossen hatte. Er startete einen verbeulten Pick-up Truck und fuhr gemeinsam mit Bruno zu dem liegengebliebenen Wagen. Beim Herannahen des fremden Trucks versuchte Andi sich zunächst zu verstecken, kam aber schließlich freudestrahlend hinter dem Auto hervor, als sie Bruno auf dem Beifahrersitz entdeckte. Der Rancher schleppte Andi und Brunos Wagen zu seiner Werkstatt, die sich in einem Nebengebäude befand. Es stellte sich schnell heraus, dass die Lichtmaschine defekt war und sie gezwungen sein würden, einige Tage hier zu verweilen. Jack Lindsey, der Boss, rief in einer Kfz-Werkstatt an und bestellte das Teil.

»Wenn ihr wollt, könnt ihr so lange bei mir arbeiten«, meinte Jack, der mit seiner Frau Sarah, seinem Sohn Ted und fünf Cowboys auf der Ranch lebte. Zu Brunos großer Überraschung entschied Andi sich spontan, der sympathischen Sarah in Küche und Haushalt zur Hand zu gehen, während er mit Jack Ausbesserungsarbeiten an dem in die Jahre gekommenen Ranchhaus durchführte. Es dauerte eine Woche, bis das Ersatzteil eingetroffen und eingebaut war, doch sowohl Andi als auch Bruno hatten großen Spaß bei der Arbeit. Andi, die als Teenager Reitstunden gehabt hatte, brachte Bruno auf einem ruhigen, betagten Pferd das nötige Rüstzeug bei. An ihrem letzten Abend wurde ein Rind geschlachtet und bereits um sechs Uhr begann man mit dem Barbecue an einem wunderschönen See auf dem Ranchgelände. Whiskey und Bier flossen in Strömen die durstigen Kehlen hinunter und die riesigen Steaks sorgten für eine gute Grundlage. Trotzdem war Bruno um elf schon so dicht, dass er sich in seinen Schlafsack verkroch. Vielleicht war in ihm aber auch noch ein letzter Funken Verantwortungsbewusstsein, weil er wusste, dass er am nächsten Morgen eine lange Strecke fahren musste.

Kurz bevor der Morgen graute, hatte er einen starken Harndrang und stand auf, um sich irgendwo zu erleichtern. Als er so dastand und fasziniert zusah, wie die Sonne hinter den Bergen langsam aufging, hörte er ein merkwürdiges Geräusch. Bruno wankte in die Richtung, aus der es kam, weil er dachte, dass vielleicht jemand in Not wäre. Doch je näher er kam, desto weniger hörte es sich nach einer Notsituation an. Vielmehr war es eindeutig das lustvolle Stöhnen seiner Sandkastenliebe, die rittlings auf Ted saß. Zuerst dachte Bruno, dass ihm sein Unterbewusstsein aufgrund des exzessiven Alkoholgenusses am Abend etwas vorgaukelte, doch auch nachdem er mehrfach heftig die Augen geschlossen und den Kopf geschüttelt hatte, blieb die Szene real. Wutentbrannt stapfte er zum nahen Seeufer und riss sich die Klamotten vom Leib. Nach mehreren Minuten in dem erfrischend kühlen Wasser hatte er wieder einen klaren Kopf und konnte so langsam ermessen, was er da gesehen hatte. Die Frau, die ihn schon mehrfach gedrängt hatte zu heiraten und die er geglaubt hatte zu lieben, vögelte mit einem dahergelaufenen Texaner. Als er seine Klamotten wieder anzog, überlegte er, ob es im Vorfeld vielleicht Anzeichen für eine Annäherung der beiden gegeben hatte, doch ihm fiel nichts ein. Es konnte höchstens sein, dass der junge Cowboy sich an Andi rangemacht hatte, während Bruno mit dessen Vater unterwegs gewesen war. Was sollte er jetzt machen? Sollte er so tun, als ob er nichts mitbekommen hatte und die ganze Sache vergessen? Oder sollte er ihr vor allen anderen eine Szene machen und sie mit sich vom Hof zerren?

Die Entscheidung wurde ihm beim Frühstück abgenommen. Sarah rührte in einer riesigen Pfanne, die auf dem Lagerfeuer drapiert war. Darin befand sich eine undefinierbare Masse aus Bohnen, Eiern, Speck und weiteren Zutaten, die er nicht identifizieren konnte. Während die anderen mit Hochgenuss aßen, musste Bruno jeden Bissen hinunterwürgen. Andi saß ihm gegenüber auf einem der um die Feuerstelle gruppierten Baumstämme und Bruno registrierte, dass der neben ihr sitzende Ted die Hand an ihrem Gesäß hatte. Die Situation war so grotesk, dass er am liebsten aufgesprungen und davongefahren wäre. So sehr er die Leute in den vergangenen Tagen schätzen gelernt hatte, so sehr widerten sie ihn nun an. Doch er machte immer noch gute Miene zum bösen Spiel.

»Wollen wir dann mal los, Andi, wir müssen heute viele Meilen machen, sonst komme ich nicht termingerecht in San José an«, meinte Bruno auf Deutsch und erhob sich demonstrativ. Er entfernte sich vom Feuer und ging davon aus, dass seine Freundin ihm folgen würde.

»Äh … Bruno, ich … äh … ich glaub, ich bleib noch ein wenig hier.«

In diesem Moment wusste er, dass aus der geplanten Hochzeit nichts mehr werden würde, und stapfte wütend davon. Er musste gut zwei Kilometer zum Haupthaus gehen und aus seiner anfänglichen Wut wuchs langsam eine Erkenntnis. Offenbar war ihre Liebe nicht so groß gewesen, dass sie einem gutgebauten Cowboy standhalten konnte. Trotzdem war Bruno enttäuscht und hoffte, dass Andi ihm hinterherrennen und ihre Entscheidung revidieren würde. Da das nicht geschah, ging er auf sein Zimmer und packte seine Sachen. Er fühlte sich zwar schäbig, doch sein Gemütszustand ließ es nicht zu, dass er zum Lagerfeuer zurückkehrte, um sich von seinen Gastgebern zu verabschieden. Das Geld für die Lichtmaschine hatte er Jack bereits am Vortag gegeben und der Rancher hatte gemeint, der Einbau sowie die Kost und Logis seien durch die Arbeit von Andi und Bruno abgegolten.