Taumelnde Giganten - Weert Canzler - E-Book

Taumelnde Giganten E-Book

Weert Canzler

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Beschreibung

Dieselskandal, Betrügereien bei der Typenzulassung, Preis- und Strategieabsprachen: Die Zweifel daran, ob der Wille zur Reform bei den Autoherstellern überhaupt vorhanden ist und die Industrie den versprochenen Transfer der Antriebsformen oder gar die Entwicklung neuer Mobilitätsangebote schafft, mehren sich. ... Denn der deutschen Autoindustrie gefällt es so, wie es jetzt ist, eigentlich sehr gut: Sie ist eine mächtige Branche mit vielen Industriearbeitsplätzen, politisch hervorragend vernetzt und seit Jahrzehnten vom Erfolg verwöhnt. ... Um in der Mobilität der Zukunft zu überleben, müssen sich die Unternehmen komplett neu erfinden. Aber dies gelingt der Branche wohl nicht von selbst. Veränderte politische Rahmenbedingungen, neue Bündnisse und die Konsumenten werden die Unternehmen zu ihrem Glück zwingen müssen. »Taumelnde Giganten. Gelingt der Autoindustrie die Neuerfindung?« zeigt, welche Weichen gestellt werden müssen, um die Wende doch noch zu schaffen.

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Weert Canzler, Andreas Knie
TaumelndeGiganten
Gelingt der Autoindustriedie Neuerfindung?
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Anke Oxenfarth, oekom verlagKorrektorat: Silvia Stammen, MünchenUmschlaggestaltung: Elisabeth Fürnstein, oekom verlagUmschlagillustration: © pingebat – shutterstock.comSatz: Reihs Satzstudio, Lohmar
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-86581-452-4
Einleitung
1  Wie das Auto in die Welt kam
2  Die Unfähigkeit zum Wandel
3  Erosionen des alten Traumes
4  Kontrollierte Selbstzerlegung als Ausweg in die Zukunft
5  Bewahrung oder Transformation?
6  Theorie und Praxis des Wandels
Referenzen und Literatur: Ein kommentierender Überblick
Über die Autoren

Einleitung

Autos, Autos, Autos – so weit das Auge reicht. In der Stadt, auf dem Land, in Deutschland, in Europa, eigentlich fast überall auf der Welt. In der Bundesrepublik gibt es 2017 einen neuen Rekord – schon wieder. Bald sind es 50 Millionen Pkw, die in einem Land mit etwas mehr als 80 Millionen Einwohnern1) zugelassen sind. Und das ist nicht nur hier so. Im Jahre 2016 sind weltweit mehr als 81 Millionen Fahrzeuge neu auf der Straße, der Gesamtbestand beträgt mittlerweile weit mehr als eine Milliarde. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie die Welt wohl ohne aussehen könnte.
Diese enorme Flut von Fahrzeugen hat Schattenseiten. Das Auto wird mehr und mehr zu einem riesigen ungelösten Umweltproblem. Vor allem, aber nicht nur für den Klimaschutz. Es emittiert verschiedene Luftschadstoffe und Lärm, verbraucht viel Platz, zerstört den öffentlichen Raum und macht viele Wohnlagen durch ein hohes Verkehrsaufkommen unattraktiv. Es ist die schiere Masse an Autos. Es gibt einfach viel zu viel vom Gleichen. Aber wer ist für dieses Wachstum verantwortlich, wer kümmert sich um eine angemessene Regulierung? Lassen sich mit technischen Innovationen die Umweltauswirkungen mildern, sind neue Verkehrskonzepte mit weniger Fahrzeugen denkbar und wer realisiert sie?
Die Autoindustrie – insbesondere die deutsche – meint jedenfalls, nicht verantwortlich zu sein. Der Dieselskandal aus den Jahren 2016 und 2017 hat schmerzhaft gezeigt, wie wenig Anpassung und Flexibilität es in der deutschen Autobranche gibt. Wie ein störrischer Esel hält die Branche weiter am Dieselmotor fest, komme was wolle. Und wenn damit Vorschriften oder Grenzwerte nicht zu schaffen sind, dann wird nicht an der technischen Lösung, sondern an den Vorschriften etwas geändert, ganz nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht. Egal, ob der US-Bundesstaat Kalifornien, China oder die EU bislang versuchten, Grenzwerte abzusenken, Quoten für E-Fahrzeuge einzuführen oder Verbrauchsmessmethoden an realistische Bedingungen anzupassen – die deutschen Autohersteller stehen immer sofort protestierend auf der Matte. Sie preisen die angeblichen Umweltvorteile des Dieselmotors und drohen mit der Intervention durch die deutsche Kanzlerin.
Die deutschen Autokonzerne haben sich damit in eine hohe Abhängigkeit begeben. Sie können und wollen offenkundig vom Verbrennungsmotor nicht lassen. Sie bauen wohl tatsächlich die besten Autos, hochwertige Karossen mit otto- und dieselmotorischen Antrieben von höchster Leistungskraft. Was aber ist, wenn die Welt keine Autos mit Verbrennungsmotoren mehr gebrauchen kann? Dies ist umso dramatischer, weil die Kfz-Industrie zu den wichtigsten Industriezweigen in Deutschland gehört. Die Wertschöpfung ist hoch, die Exportanteile sind riesig und die Beschäftigtenzahlen beeindruckend. In kaum einer Branche gibt es so viele gut bezahlte Jobs wie in den hochmodernen Fabriken der bisher so profitablen Hersteller und ihrer Systemzulieferer. Kann die Industrie auf die wichtigsten Probleme keine plausiblen Antworten in Form attraktiver und zukunftsfähiger Produkte geben, beginnt das Trudeln und die Giganten der Branche geraten ins Taumeln.
Der Dieselskandal zeigt deutlich, dass mit zusätzlichen Reinigungsverfahren und einer optimierten Steuerungssoftware die weltweit diskutierten und in Teilen der Welt bereits eingeführten Verbrauchs- und Emissionsgrenzwerte nicht zu schaffen sind. Nicht nur die zukünftigen Grenzwerte lassen sich nicht erreichen. Die bereits bestehenden Vorschriften konnten von der Branche nur durch einen legalen Trick unterboten werden, denn eigentlich funktioniert die Abgasnachbehandlung überhaupt nicht. Die Hersteller hatten mit dem Umweltministerium und dem zuständigen Umweltbundesamt schon vor geraumer Zeit einen Deal ausgehandelt. Immer wenn es zu kalt oder zu warm wurde, durfte sich die Abgasreinigungsanlage schonen, damit am Motor kein Schaden entsteht. Man verzichtete schlauerweise auch noch darauf, diese Ausnahmen genau zu spezifizieren. Im Ergebnis waren die Autohersteller bei der Definition, was denn wohl gefährlich für den Motor sein könnte, frei. So konnten bereits Außentemperaturen von zehn Grad Celsius als Problem identifiziert werden. Die Anlagen schalteten sich dann einfach ab. Das sparte der Autoindustrie enormen Aufwand, da die komplizierten Reinigungssysteme nur unter idealen äußeren Bedingungen tatsächlich funktionieren mussten, die aber alltagspraktisch kaum vorkommen. Welcher Hersteller genau wie und unter welchen Umständen dieses sogenannte Thermofenster – der Begriff wurde erst im Sommer 2016 erfunden – ausgenutzt hat, ist bis heute nicht bekannt. Aber die Branche hat sich insgesamt darauf eingelassen und die Ausnahme zur Regel gemacht. Den Herstellern kam dabei zupass, dass dies keiner überprüfen konnte, weil keine mobilen Messgeräte auf dem Markt verfügbar waren. Die vom Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) in Flensburg vorgenommenen Typenprüfungen, die ja Voraussetzung für die Zulassungen sind, fanden immer nur auf dem Rollenprüfstand bei idealen Bedingungen statt und da funktionierten die Reinigungssysteme natürlich einwandfrei. Selbst wenn der Bundesverkehrsminister es gewollt hätte, wäre er gar nicht in der Lage gewesen, mit Rückrufen oder gar mit der Entziehung der Betriebserlaubnis zu drohen. Die gegenseitigen Verstrickungen und die extrem hohe Toleranz gegenüber den Autoherstellern sind schon verblüffend.
Die Unternehmen konnten also strengeren Grenzwerten trotz ritualisierter Protesthaltung tatsächlich gelassen entgegensehen, solange so großzügige Ausnahmen möglich waren. Kein Wunder also, dass man für neue Antriebe kein wirkliches Interesse aufbrachte, wenn man mit der bestehenden Technik alle Auflagen erfüllen konnte. Erst seit 2017 ist bei Neuzulassungen dieses Thermofenster geschlossen und die Hersteller müssen sich verpflichten, keine Abschaltautomatik mehr einzubauen. Sollten sie es dennoch tun, kann das Kraftfahrt-Bundesamt die Typgenehmigung sofort entziehen und die betroffenen Modelle stilllegen.
Zum Vertrauensverlust trägt auch bei, dass die Verbrauchswerte der einzelnen Fahrzeugtypen seit Jahrzehnten systematisch falsch angegeben werden. Mittlerweile beträgt die Differenz zwischen den Herstellerangaben und den tatsächlichen Verbrauchswerten im Durchschnitt mehr als 40 Prozent. Die allgemeine Empörung darüber hält sich allerdings in Grenzen. Es gibt wohl kein anderes Konsumprodukt, dem gegenüber die Verbraucher und die öffentliche Meinung so tolerant sind wie gegenüber dem Auto.
Keiner Branche wurde bislang mit so viel Nachsicht begegnet wie der Fahrzeugindustrie. Der Grund könnte darin liegen, dass über viele Jahre ein allgemeiner Konsens darüber herrschte, dass die Beweglichkeit der Menschen im Raum vor allen Dingen mit dem Auto möglich werden sollte. Der private Besitz eines Kraftwagens galt als das zentrale gesellschaftspolitische Versprechen in beiden deutschen Staaten. Seit Jahrzehnten besteht daher eine Art Komplizenschaft zwischen Herstellern und Konsumenten, die vom Staat sorgfältig eingeleitet wurde, um auch anschließend weiter gehegt und gepflegt zu werden. Diese Komplizenschaft hält bis heute an, und sie erklärt auch, warum der Branche so wenig Wind entgegenweht. Die klima- und industriepolitische Kardinalfrage ist, ob angesichts dieser gegenseitigen Abhängigkeiten genügend Innovationspotenziale generiert werden können?
Die Starrheit der Hersteller in der Antriebsfrage ist dabei keine gute Ausgangsbedingung, die Branche zukunftsfähig zu machen. Denn angesichts der gigantischen Blechlawinen braucht eine zukünftige Mobilität nicht nur Fahrzeuge mit anderen Antrieben. Das Verkehrssystem insgesamt muss sich ändern. Die bisher gelebte Praxis verbraucht viel zu viel Platz und lässt sich bereits jetzt in den Metropolen der Welt nicht mehr wirklich ausleben. Kern des Problems ist die über viele Jahrzehnte versprochene private Verfügung über ein Fahrzeug. Jeder Mensch darf – so jedenfalls die ursprüngliche Idee – ein eigenes Auto besitzen und es auch noch im öffentlichen Raum einfach abstellen. Dieses Versprechen kann nicht unbegrenzt gelten. Wir können die Oberfläche der Erde nicht vergrößern. Zu viele Geräte stehen einfach nur herum und kosten wertvollen Platz. Es stockt und staut sich überall, das System erstickt an sich selbst. Die Durchschnittsgeschwindigkeit im städtischen Straßenverkehr beispielsweise ist in London und Paris wieder auf die Werte der 1920er-Jahre abgesunken.
Es ist daher immer wieder die gleiche Frage, die sich stellt: Wieweit sind Autoindustrie, Kunden und Staat angesichts ihrer bisherigen Komplizenschaft in der Lage, die Herausforderungen der bevorstehenden Verkehrswende anzugehen? Es scheint wenig aussichtsreich, an überkommenen technischen Lösungen oder klassischen Verwendungsformen von Automobilen wie bisher festzuhalten, insbesondere dann, wenn man auch die Märkte von morgen erfolgreich bedienen möchte. Eine Aufkündigung dieser Komplizenschaft scheint daher in erster Linie eine Frage der industriepolitischen Vernunft und der unternehmerischen Vorsorge zu sein.
Die Botschaft ist daher eine schlichte: Die Stadt der Zukunft mit einer hohen Aufenthaltsqualität gibt es nur mit weniger, saubereren und leiseren Autos. Die gigantischen Mengen an Verkehrsgeräten müssen kleiner werden und sie brauchen in Zukunft eine völlig andere Orchestrierung. Die Zeiten, in denen den Menschen die Nutzung eines privaten Automobils als der große Traum vom Glück an die Hand gegeben wurde und der Staat wie selbstverständlich die dafür notwendige Infrastruktur schuf, sind vorbei. Die Zukunft braucht einen systemischen Denk- und Handlungsansatz, der Verkehrsmittel als Teil einer urbanen Infrastruktur versteht, die Optionen der Digitalwirtschaft nutzt und die Bevölkerung in ihrer Vielfalt und Buntheit als produktive Ressource begreift. Es braucht nichts weniger als eine umfassende Verkehrswende mit einer neuen Geschichte.

Der Argumentationsgang des Buches

Vor dem Hintergrund der beschriebenen klima-, verkehrs- und industriepolitischen Probleme verläuft unsere Argumentation wie folgt: Im nächsten Kapitel wird die Erfolgsgeschichte des Autos beleuchtet und hergeleitet, wie die bis heute übermächtige Dominanz dieses Gerätes überhaupt entstehen konnte. Denn auch Autos sind ja in ihrer massenhaften Zahl nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern die Folge eines über Jahrzehnte angelegten Planes, in dessen Mittelpunkt das Versprechen von einem eigenen Auto als wichtiger Teil des privaten Glücks steht. Dieses sogenannte »Narrativ« wurde grenz- und systemüberschreitend zum Fixpunkt und über eine Reihe von verkehrspolitischen Programmen abgesichert. Der materielle Kern des Narrativs war das Auto mit Verbrennungsmotor, der als herrschender Stand der Technik von der Branche entwickelt und durch gegenseitige Verständigung immer wieder verteidigt wurde. Solange die Geschichte vom privaten Automobil attraktiv ist, solange gilt der erreichte Stand der Automobiltechnik als das Maß der Dinge. Alternativen kommen nur als Inszenierungen vor. Doch damit könnte schneller Schluss sein, als allen lieb ist, denn der Erfolg und die ungeheure Größe der Autoindustrie werden zum Problem, wenn das Hauptprodukt und die darauf aufbauenden Geschäftsmodelle nicht mehr zeitgemäß sind und einen ordnungspolitischen Ablaufstempel erhalten. Denn was passiert, wenn das Narrativ nicht mehr zieht und die sozialen Milieus, für die das Auto einmal gedacht war, sich langsam aufzulösen beginnen?
Die hohe technische Perfektion haben insbesondere die deutschen Hersteller mit einer völligen Fixierung auf diesen Stand der Technik bezahlt, der keine Veränderungen innerhalb der Branche erlaubt. Die Optionen des mobilen Internets und die Entstehung von Geschäftsmodellen mit digitalen Plattformen drohen daher die Branche zu spalten, weil in der Welt des Digitalen nach anderen Regeln gearbeitet wird als im deutschen Maschinenbau. Qualitätsstandards und Beteiligungsmodelle sind hier völlig anders organisiert. Im darauffolgenden dritten Kapitel geht es daher um die Prüfung dieser bereits sichtbaren Erosionen und um die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß möglicher Brüche des Narrativs. Sind bereits Praktiken und Lebensformen jenseits des privaten Autobesitzes erkennbar? Die in Deutschland besonders ausgeprägte Komplizenschaft zwischen Herstellern, Verbrauchern und Staat hat sich zu einer Art Gefangenendilemma entwickelt. Dieses Dilemma ist das Thema des vierten Kapitels. Die Konzerne verweigern eine proaktive Selbstzerlegung, der Staat scheut das Risiko der Transformation und die Mehrheit der Bevölkerung verharrt in ihren täglichen Routinen.
Wie man dennoch einen kontrollierten Umbau schaffen kann, davon handeln die abschließenden Kapitel. Im Mittelpunkt stehen regulatorische Experimentierräume, in denen die Chancen für postautomobile Mobilitätsmodelle erprobt werden können. Denn die Starrheit des Bestehenden lässt sich nicht einfach abschütteln. Es braucht Räume und Gelegenheiten, in denen zumindest zeitweise und örtlich begrenzt die stabilisierenden Rahmenbedingungen des Alten außer Kraft gesetzt werden können, damit etwas Neues in die Welt kommen kann. Es bedarf Chancen zum Experimentieren, es bedarf einer Kultur des Versuchs und des Irrtums, an der alle nicht nur als Bremser und Mahner, sondern als Gestalter beteiligt sind.
Die Quellen sowie die Nachweise der Zitate und weitere Hinweise zur vertiefenden Lektüre finden sich in einer kommentierten Referenz- und Literaturzusammenfassung am Ende des Buches.
1)  Wir verzichten aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf eine durchgehend geschlechtsneutrale Schreibweise. Die verwendete männliche Form schließt selbstverständlich alle anderen Geschlechter gedanklich mit ein.
1
Wie das Auto in die Welt kam
Wenn man sich heute die weltweite Autoflotte vergegenwärtigt, dann fällt es schwer zu glauben, dass Automobile ein vergleichsweise neues Phänomen in der Menschheitsgeschichte sind. Um 1900 war die Zahl noch auf wenige Tausend Exemplare begrenzt und es schien zu diesem Zeitpunkt auch noch keineswegs klar, dass aus diesen knatternden, stinkenden und gefährlichen Gerätschaften einmal eine Massenbewegung werden sollte.
Deutschland steht für ein besonders krasses Entwicklungsmuster. Mit Blick auf die heute so starke deutsche Kraftfahrzeugindustrie könnte man annehmen, dass das Auto gleichsam in die DNA der Deutschen eingeschrieben wäre. Doch dem ist nicht so. Deutschland war lange das Land der Reichsbahn, das Land der Fahrräder, Mopeds und Motorräder. Bis ins Jahr 1957 war die schwäbische Firma NSU Motorenwerke AG – die später zusammen mit der Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem Osten in den Westen geflüchteten Auto-Union zur Audi AG verschmolzen wurde – der Weltmarktführer im Zweiradgeschäft mit Fahrrädern und Mopeds. Im Jahre 1938 gebührte der Deutschen Reichsbahn die Auszeichnung, mit mehr als 1,2 Millionen Beschäftigten das größte Unternehmen der Welt zu sein. Das Unternehmen war weit verzweigt, Anteile an der Lufthansa gehörten genauso dazu wie der lange geheim gehaltene Kauf des größten deutschen Speditionsunternehmens Schenker. Was kaum bekannt ist: Die Reichsbahn war bis 1941 für die Reichsautobahnen verantwortlich, finanzierte und organisierte den Bau durch eine eigene Tochtergesellschaft. Der Begriff der »Autobahn« ist daher kein Zufall, sondern wurde von den Initiatoren der Idee Ende 1928 ganz bewusst als Reminiszenz an die damals als übermächtig empfundene Reichsbahn gewählt. Die Reichsbahn diente den Alliierten des Ersten Weltkrieges bis 1933 auch als Faustpfand. Immer dann, wenn das Reich mit seinen Reparationszahlungen in Rückstand geriet, konnten die Einnahmen gepfändet werden. Die Reichsbahn beherrschte den Güter-, Waren- und Personenverkehr. Sie setzte zeitig auf moderne Triebfahrzeuge, bereitete bereits den Abschied von der Dampfmaschinentechnik vor und experimentierte wie beim Schienenzeppelin – eine Art Flugzeug auf Schienen – mit modernster Technologie.
Die deutschen Autohersteller waren zu dieser Zeit dagegen nicht mehr als eine Randerscheinung ohne eine relevante industriepolitische Bedeutung. Das größte Unternehmen der Autobranche, die Adam Opel AG, war schon 1929 an den US-amerikanischen Konzern General Motors verkauft worden. Die ehemals unabhängigen Unternehmen Horch, Wanderer, Audi und DKW (Dampf-Kraft-Wagen) vereinigten sich kurz vor der Insolvenz unter der Regie deutscher Großbanken zur Auto-Union. Daimler musste bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg mit Benz fusionieren und mottete das Werk in Berlin Anfang der 1930er-Jahre gleich ganz ein, und das alles, weil kaum einer in Deutschland Autos kaufte. Zeitgenössische Beobachter wie der nationalkonservative Autor Ferdinand Fried prognostizierten 1931 sogar das Ende der gesamten Industrie.
Die Zahlen zur Motorisierung in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren spiegeln diese Lage deutlich wider (vgl. Abbildung 1). Während in Deutschland im Jahre 1932 knapp acht Autos auf 1000 Einwohner kamen, waren es in Frankreich und vor allem in den USA längst wesentlich mehr. In den USA gab es im gleichen Jahr bereits mehr als 200 Autos je 1000 Einwohner. Das hatte auch gute Gründe. Der Kauf eines Fahrzeuges war in Deutschland zu jener Zeit unerschwinglich, die Fahrzeuge wurden praktisch alle in Handarbeit und in einer großen Variabilität gefertigt, eine standardisierte Serienfertigung war kaum verbreitet. Ein Mittelklassewagen kostete rund das Fünfzigfache eines Arbeiterjahreslohnes, in den USA dagegen konnte sich bereits jeder mittlere Angestellte ein Fahrzeug leisten, auch wenn es überall das gleiche war: das Modell T von Ford in Schwarz.
Abbildung 1: Kfz-Dichte im internationalen Vergleich
Quelle: InnoZ Mobilitätsmonitor (2017), Grafik: Christian Scherf
Vielleicht weil es so selten und daher auch so exklusiv war, entwickelte sich das Auto in den 1920er-Jahren mehr und mehr zu einer Stilikone und zum Symbol für Fortschritt und moderne Lebensformen. Die es sich leisten konnten, hatten einen eigenen Wagen und ließen sich chauffieren. Die ganz besonders Modernen fuhren selbst. Die Reichen und die Schönen der Kulturwelt gehörten dazu, der Reigen der Selbstfahrenden reichte von Bertolt Brecht über Leni Riefenstahl bis zu Max Schmeling. Albert Speer verdankte seinen kometenhaften Aufstieg innerhalb der NSDAP in den frühen 1930er-Jahren unter anderem der Tatsache, dass er – von Hause aus bereits vermögend – über ein eigenes Auto verfügte und selbst fuhr.

Das Auto und die moderne Stadt