Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende - Weert Canzler - E-Book

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende E-Book

Weert Canzler

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Beschreibung

Das private Auto war für lange Zeit das Sehnsuchtsobjekt und Symbol eines glücklichen Lebens. Es war eine kollektive Liebe der Mittelschicht und derjenigen, die dort hinstrebten. Doch diese affektive Bindung verliert vor allem in der Stadt zunehmend an Kraft. Wenigstens dort ist bereits klar geworden: Die Grenzen des fossilen Automobilismus sind erreicht. Es gibt einfach zu viele Autos. Die Verkehrswende ist nun auf der Agenda. Zukunftsfähig sind nur solche Verkehrsangebote, die auch unter Ressourcenknappheit individualisierbar bleiben. Autos nutzen statt besitzen wird - in Verbindung mit digitalen Plattformen - attraktiv, das Radfahren gewinnt gerade in den Städten an Popularität. Mobilitätsdienstleistungen kommen aus der Nische und können dank Echtzeitinformationen flexibel und zugleich routinemäßig genutzt werden. Der herrschende Rechtsrahmen jedoch privilegiert nach wie vor private Autos. Dagegen deuten die Präferenzen der vorwiegend städtischen Bevölkerung und auch die digitalen Optionen in eine andere Richtung: Die fortschreitende Individualisierung findet andere Wege als den privaten Besitz von Autos.

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Seitenzahl: 215

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WEERT CANZLER, ANDREAS KNIE, LISA RUHRORT, CHRISTIAN SCHERF

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende

Soziologische Deutungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, BielefeldDie Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Covergestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Korrektorat: Mandy Fleer, Bielefeld Print-ISBN 978-3-8376-4568-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB-ISBN 978-3-7328-4568-2

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Inhalt

1.Einleitung: Das Auto ist politisch
2.Das Auto als Freiheitsversprechen
2.1Die automobile Freiheit und ihre Grenzen
Glaubwürdigkeit verloren
Das Auto als Raumfresser
Zu viele und zu große Fahrzeuge
Exkurs: Mobilität und Raum
Vor einem Paradigmenwechsel?
2.2Die politische Herstellung der deutschen Autogesellschaft
Deutschland – ein Spätzünder?
Die Liebe beginnt in Paris
Das Fahrrad – der unscheinbare Wegbereiter
In Vorleistung für die Massenmotorisierung
Die Verkehrswende des frühen 20. Jahrhunderts – der Weg zur Autogesellschaft
1957 – das Jahr des Durchbruchs
Steuerpolitik als Hebel
Liebe mit Hindernissen – Privatautos in der DDR
Der ÖPNV als Schattenseite des motorisierten Individualverkehrs
3.Gesellschaft im Wandel
3.1Individualisierung und Digitalisierung
Von der Eisenbahn- zur Autogesellschaft
Von der Autogesellschaft zur Multimodalitätsgesellschaft?
Werden wir zu individuell für das (private) Auto?
Neue Möglichkeiten der Digitalisierung im Verkehr
Erweiterte individuelle Möglichkeitsräume
In unterschiedlichen Lebensphasen …
… und verschiedenen Räumen
… und auf dem Land?
3.2Konturen einer neuen Verkehrswelt
Busse und Bahnen
Das Fahrrad feiert seine Renaissance
Neue Optionen in der urbanen Mobilität
Nachfrageseite: Wer ist heute schon multioptional?
Die verkehrspolitischen Weichenstellungen
Wer darf die öffentlichen Straßen nutzen und wozu?
Parken als Gemeingebrauch
Tanz um die Stellplätze
Öffentliche Räume und das Straßenverkehrsrecht
3.3Die Neuerfindung des öffentlichen Verkehrs
Der öffentliche Verkehr als Teil der staatlichen Daseinsvorsorge
Goldene Handschellen
4.Herrschendes Recht
Veränderte Einstellungen
Die Technik der Gesellschaft ist ein Produkt von sozialen Aushandlungsprozessen
Neue Akteure und das Personenbeförderungsgesetz
Feinheiten des Personenbeförderungsrechts
Die neue Definition des Schutzgutes
5.Ausblick: Neue Freiheiten nach dem privaten Auto
Die Digitalisierung ändert alles
Blockaden im Kopf
Plädoyer für ein technisches Feldexperiment
Literatur

1.Einleitung: Das Auto ist politisch

Verkehr war in den letzten Jahrzehnten kein wirklich bewegendes Thema. Über Verkehr dachte man nicht nach, Verkehr funktionierte, er war gleichsam eine Basisfunktionalität. Schlagzeilen produzierte das Thema Verkehr immer nur dann, wenn über Megastaus, spektakuläre Unfälle oder über die Eröffnung gigantischer Brücken oder Tunnel zu berichten war. Und es schien immer alles schon so gewesen zu sein. Dass in den Städten die Zahl der Autos beständig wuchs, der Verkehr immer mehr stockte und Lärm und Luftverschmutzung verursachte, gehörte seit den 1970ern zur Alltagserfahrung. Es war ärgerlich, aber politisch nicht wirklich relevant, die jeweiligen Regierungen empfahlen in einem immer wiederkehrenden rhetorischen Ritual der Bevölkerung, doch öfter Busse und Bahnen zu benutzen.

Verkehr war nicht wirklich ein gesellschaftspolitischer Gegenstand und das, obwohl das Bundesverkehrsministerium den größten Investitionshaushalt verwaltete. Das Ringen um Finanzierungsstrategien für die verkehrlichen Infrastrukturen und um Entscheidungen, für welche Straße das Geld nun wirklich fließen sollte, blieb einem kleinen Kreis von Fachleuten vorbehalten. Den Bundesverkehrswegeplan, das größte Investitionspaket Deutschlands, durch den die verkehrspolitischen Weichen für die kommenden zehn bis fünfzehn Jahre gestellt werden, kennt bis heute kaum einer, und schon gar nicht streitet eine breite Öffentlichkeit darüber.

Verkehrspolitik zu betreiben war auch für eine Politikerkarriere1 nicht förderlich, sie blieb damit eine Angelegenheit der zweiten und dritten Reihe. Die Dinge lagen klar. Besonders in Deutschland, dem vermeintlichen Automobilland. Alle konnten eigene Autos fahren, auf dem Lande, in den Siedlungs – und Agglo- merationsgebieten und sogar in den Städten. In West und Ost liebten die Deutschen ihre Autos, entwickelten bisweilen sogar eine eigene Identität als Daimler-, Ford-, BMW- oder Opel-Fahrer. Viele Deutsche in Ost und West schätzten ihr Auto so sehr, dass sie um dieses technische Gerät herum ganze Biographien aufbauten. Das Auto im Kopf machte ein Leben möglich, das eine Befreiung von bisher wahrgenommenen Abhängigkeiten erlaubte. Man war nicht mehr unmittelbar an die Örtlichkeit gebunden und konnte sich aus räumlichen und sozialen Zwängen gleichermaßen befreien. Alles ganz selbstverständlich.

Wer nicht fahren durfte oder wollte, konnte auf den öffentlichen Personennah- und Fernverkehr als Alternative zurückgreifen, der in Deutschland als Teil der staatlichen Daseinsvorsorge galt – und nach wie vor gilt – und daher fast flächendeckend verfügbar ist. Für alle war gesorgt, alle konnten sich bewegen und die meisten mit dem Auto kleine und große Welten erkunden.

Dabei war die Geschichte des privaten Automobils keineswegs eine ununterbrochene Erfolgsstory. Kaum noch präsent im kollektiven Gedächtnis des geeinten Deutschlands ist die Ölkrise von 1973. Die damals arabisch dominierte Organisation erdölexportierender Länder, kurz OPEC, das Kartell der Ölförderländer, hatte deutlich gemacht, dass der westdeutsche Volkswohlstand nur durch die Versorgung mit billigem Öl aus dem Nahen Osten funktionierte. Alleine die Andeutung eines möglichen Ölboykotts versetzte die Westdeutschen damals in Panik. Immerhin bescherte die dann tatsächlich vorgenommene leichte Drosselung der Öllieferungen den Menschen ein Experiment: An vier Sonntagen im November und Dezember 1973 galt ein Fahrverbot für alle privaten Autos, was die Gesellschaft im Übrigen schadlos überstand. Den Autoherstellern führte dies erstmals vor Augen, wie groß die Abhängigkeit von der Verbrennungsmotorentechnologie war. Die Suche nach alternativen Antrieben begann, sie wurde systematisch in einem bisher nicht gekannten Umfang und – für die Branche bis dato nicht üblich – in neu gegründeten Forschungsinstituten betrieben. Doch nur wenige Jahre später wurde der antriebstechnische Aufbruch schon wieder abgeblasen, denn der Ölpreis war nicht wie befürchtet gestiegen und auch die OPEC wurde nicht mehr als so bedrohlich wahrgenommen, weil sie weniger geschlossen auftrat als erwartet.

Trotz solcher Irritationen funktionierten Alltag und Politik reibungslos. Die Menschen konnten sich bewegen, das politische System generierte genügend finanzielle Mittel, um sicherzustellen, dass die soziale Mobilität jedenfalls nicht an fehlenden Möglichkeiten räumlicher Beweglichkeit scheitern würde. Es gab praktisch keinen Streit, keine politische Debatte um diesen Weg. Das Auto war gesetzt. Die Förderung dieses Fortbewegungsmittels beruhte auf einem langen und stabilen gesellschaftlichen Konsens. Der Verkehr insgesamt, seine Infrastrukturen, die Verkehrsmittel und ihr Verhältnis zueinander, und die Art und Weise, wie diese zu finanzieren und zu betreiben waren, waren offenkundig kein Thema für die politische Debatte. Dies änderte sich auch nach der Wiedervereinigung nicht. Die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit sollten vielmehr garantieren, dass die neuen Bundesländer in Sachen Verkehrsinfrastruktur schnell Westniveau erreichen.

Verkehr war über Jahrzehnte auch kein Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung. Eine Verkehrssoziologie hat sich als akademisches Fach bis heute nicht behaupten können. Bei so vielen Selbstverständlichkeiten und stabilen sozialen und politischen Übereinkünften gab es wenig Gründe, hinter die Kulissen zu schauen und Konflikte oder Interessenkämpfe zu analysieren und zu deuten. So war das jedenfalls viele Jahre lang, und es gab in dieser Frage auch zwischen Ost und West keine prinzipiellen, sondern lediglich – freilich deutlich sichtbare – graduelle Unterschiede. Das Auto und der Verkehr waren daher mehr Gegenstand von historischen und kulturwissenschaftlichen Forschungen wie beispielsweise die viel beachteten Arbeiten »Die Liebe zum Automobil« von Wolfgang Sachs (1984) oder »Geschichte der Eisenbahnreise« von Wolfgang Schivelbusch (1977).

Der Dieselskandal als Zäsur?

Mittlerweile bewegt sich etwas. Schon seit den 2000er Jahren wird deutlich, dass die unhinterfragte, scheinbare Stabilität des Systems zu bröckeln beginnt. Es ist die stetig wachsende Zahl der Autos auf den Straßen, die zum Problem wird. Die eingefahrenen und etablierten Lösungsmuster versagen angesichts der Automassen. Eine Politik, die auf Appelle als Politikersatz setzt, reicht auf Dauer eben doch nicht aus. Dem automobilen Massenverkehr immer mehr Platz einzuräumen und neue Straßen zu bauen oder alte zu verbreitern, dieses Reaktionsmuster stößt ebenfalls an seine Grenzen. Die Belastung durch Lärm und Abgase lassen sich nicht mehr leugnen oder wegdiskutieren. Die Folgen der Massenmotorisierung werden sichtbar und mehr und mehr auch öffentlich diskutiert. In vielen Städten gründen sich Bürgerinitiativen, die mehr Platz für andere Verkehrsmittel, insbesondere für das Fahrrad fordern.

Die beobachtbaren Legitimationsprobleme des Autos haben nicht nur, aber auch mit seiner vorherrschenden Antriebstechnik zu tun. Denn fast alle verfügen über Verbrennungsmotoren, die trotz moderner Abgasreinigung in Summe die Luftqualität so sehr belasten, dass die Grenzwerte der Europäischen Union (EU) in mehr als 80 Städten regelmäßig überschritten werden. Als sich dann im September 2016 herausstellte, dass VW nicht nur in den Vereinigten Staaten unerlaubte Manipulationen an Abgasreinigungsanlagen vorgenommen hatte, sondern dass dies auch in Deutschland bei allen Herstellern praktiziert wurde, verlor die Autoindustrie als Garant wirtschaftlicher Stabilität in Deutschland an Ansehen. Der Dieselskandal mit seinen Folgen bedroht nicht nur die Gesundheit vieler Menschen, sondern er ist auch ein Vertrauensproblem. Denn mit der Entpolitisierung der Verkehrspolitik, wie sie Deutschland erlebt hat, geht eigentlich die Gewissheit einher, dass Automobilhersteller über genügend Innovationsfähigkeit und entsprechende wirtschaftliche Kraft verfügen, um mit neuester Technik die Folgen der Massenmotorisierung immer wieder kompensieren zu können. Jetzt wird deutlich, dass es den Vorständen dieser Kernindustrie an moralischer Integrität mangelt. Das Grundvertrauen in die Autoindustrie ist zerstört. Erstmals in der Nachkriegsgeschichte sitzen Vorstände im Gefängnis. Waren Autobesitzer bislang durch ihre Technikbegeisterung und ihre Liebe zum Auto mit den Herstellern und Marken verbunden, drohen Käufer nun zu Komplizen von Betrügern zu werden.

Seit dem Dieselskandal wird deutlich, wie eingefroren die Verkehrspolitik tatsächlich ist und wie die herrschenden Verhältnisse als geradezu natürlich gegeben fest in den Köpfen verankert sind. Als das Bundesverwaltungsgericht im Februar 2018 verkündete, dass das Recht auf gesundheitliche Unversehrtheit höher zu bewerten sei als die Freiheit, jederzeit und überall mit einem Dieselfahrzeug unterwegs zu sein, reagierten manche in Medien und Politik, als drohte das Abendland unterzugehen.

Ein Beispiel für die Unfähigkeit der Politik zeigte sich ausgerechnet in der Berliner Landespolitik. Im Sommer 2018 verabschiedete der Senat als erste Landesregierung ein Mobilitätsgesetz, in dem die Absicht formuliert ist, dem Verkehrsmittel Fahrrad mehr Fläche als bisher einzuräumen und zukünftig die Entwicklung des Nahverkehrs stärker zu unterstützen. Bei der Opposition und bei Teilen der Sozialdemokratie brach ein Sturm der Entrüstung los. Das Gesetz würde dem Auto zu wenig Aufmerksamkeit widmen, so lautete der Vorwurf. Das Automobil gilt noch immer als das Maß aller Dinge in der Verkehrspolitik. Politisch Verantwortliche tun so, als ob Deutschland das Automobil in die DNAeingeschrieben, die Liebe zum Auto geradezu naturgegeben ist. So als hätte es nie eine Alternative gegeben und werde auch keine geben.

Dabei ist dieser Zustand das Resultat eines politisch hergestellten Prozesses. Straßen mussten gebaut, Rechtsordnungen geschaffen, eine Bau- und Raumgestaltung, die die Bevorrechtigung im Straßenverkehr sicherstellt, angepasst und Finanzierungs- und Steuermodelle zur Popularisierung des Autos etabliert werden. Das ungehinderte Fahren und Abstellen von privaten Autos, ganz gleich ob auf dem Land oder in der Stadt, ist also keineswegs entstanden, sondern absichtsvoll und aktiv erzeugt worden.

Wer allerdings heute in einer Stadt in Deutschland das Ende des freien Parkens privater Autos diskutieren möchte, wird angesehen wie jemand, der die Gesetze der Thermodynamik in Frage stellt.

Das Auto – so ein erstes Zwischenfazit – ist tief in den mentalen Strukturen der Deutschen eingebrannt und dem politischen Diskurs als unhinterfragte Selbstverständlichkeit gleichsam entzogen. Die Gewissheiten sind jedoch erschüttert, da mit dem Auto im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat mehr zu machen ist. Die einst so stolzen Fahrzeugmodelle sind technologisch offenkundig nicht mehr maßgebend, die schiere Menge an Autos auf den Straßen nicht mehr zu bändigen, realistische Alternativen scheinbar auch nicht in Sicht.

Aber ist das wirklich so? Begreifen wir das Auto als einen wichtigen Teil unserer familiären Welt, eng verbunden mit dem eigenen Häuschen und dem eigenen Garten? Oder steht das eigene Auto als Symbol für einen Traum vom gelungenen Leben, der längst ausgeträumt ist? War im eigenen Auto – techniksoziologisch ausgedrückt – das Narrativ einer Nachkriegsordnung vom glücklichen privaten Leben eingeschrieben, das mittlerweile jedoch seine Überzeugungskraft verloren hat? Zunächst ist zu konstatieren: Selbst wenn die Liebe zum Automobil erkaltet oder gar erloschen ist, ist für die Mehrheit der Bevölkerung ein Leben ohne eigenes Auto schwer vorstellbar.

Wir werden heute mit den Folgen politischer Entscheidungen aus früheren Jahrzehnten konfrontiert. Der Wunsch nach einem privaten Auto als Teil des vollkommenen Familienglücks wurde viele Jahrzehnte durch eine Reihe weitreichender Gesetzeswerke und Finanzierungsformen ermöglicht und stabilisiert. Während sich aber die Familienbilder und Lebensformen veränderten, blieb das Automobil als geschützter und gehegter materialisierter Kern dieses Politikversprechens unangetastet. Wenn sich längst Selbstverständnisse, Glücksversprechen und die Werteordnung verschoben haben, wir in der post-materialistischen Gesellschaft angekommen sind oder gar in einer Zweiten Moderne leben, in der sich die Lebensentwürfe individueller und pluraler entwickeln und die gesellschaftliche Differenzierung weiter voranschreitet, könnte das Haltbarkeitsdatum einer auf das Auto fixierten Verkehrspolitik abgelaufen sein. In der Praxis wird dies aber nicht zur Kenntnis genommen. Alle Gesetze, Verordnungen und Unterstützungsstrukturen zur Dominanzwerdung des Autos sind weiter ungebrochen wirksam. Diese Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Realität und gesetzlichen Regelungen wird jedoch politisch nicht diskutiert, weil die ursprüngliche Absicht ihrer politischen Implementierung nicht erkennbar ist.

Andererseits könnte man einwenden: Wenn heute eine andere, vielfältigere, mehrdeutige Gesellschaft existiert, deren Werte- vorstellungen und Lebensentwürfe sich gegenüber der Nachkriegsgesellschaft gewandelt haben, dann müssten sich auch Alternativen zum privaten Automobil entdecken und politikfähig machen lassen. Denn mit diesem Wandel wachsen mutmaßlich auch die Gruppen in der Gesellschaft, die sich von einer automobilfixierten Verkehrspolitik nicht mehr angesprochen fühlen, die mehr Grün in den Städten wollen, mehr Platz für Fußgänger und Fahrradfahrer einklagen und die den Lärm und Gestank an den Durchgangsstraßen nicht hinnehmen wollen.

Dieses Buch handelt von der Liebe der Deutschen zum Automobil und wie sie langsam erlischt. Diese Liebe, die es einmal gab, ist nicht zufällig und keineswegs spontan zustande gekommen, sondern das Ergebnis eines langfristigen politischen Projektes und eines lange wirksamen gesellschaftlichen Leitbildes. Damit wurde eine Flut von Automobilen produziert, die zur Belastung wurde und aus dem Liebesverhältnis mittlerweile eine Alltagsbeziehung gemacht hat, die sich langsam zu einem Problem entwickelt.

Soweit die Ist-Diagnose. Doch wie wandlungsfähig ist die deutsche Gesellschaft vor diesem Hintergrund betrachtet? Und wie kann die Verkehrspolitik aus ihrer institutionellen Verkrustung und strukturellen Politikunfähigkeit wieder zu einem gesellschaftspolitischen Gestaltungsfeld werden? Lassen sich zeitgemäße Verkehrsformen finden, die die hohe räumliche Beweglichkeit der Menschen sozial gerecht und nachhaltig gestalten und die Vielfalt der Verkehrsoptionen auch in einem entsprechend neu ausgestalteten Ordnungs- und Finanzierungsrahmen widerspiegeln? Hätte ein solcher Politikentwurf die Kraft, über das Auto als Fixpunkt hinauszukommen?

Wie wandlungsfähig ist Deutschland?

Im Sommer 2018 scheint eine Art Götterdämmerung heraufzuziehen. Lange Unhinterfragtes und scheinbar Hochstabiles gerät plötzlich über Nacht ins Wanken. Deutschland ist kein gefühlter Fußball-Dauer-Weltmeister mehr, die Kanzlerin scheint nicht bis in alle Ewigkeit regieren zu können und die Union als Fraktionsgemeinschaft nicht für immer zu existieren. Vielleicht gilt dies ja auch für das private Auto.

Betrachtet man die schiere Menge und die immer noch weiter steigende Zahl an Autos, erscheint es schwer vorstellbar, dass überhaupt ein Wandel stattfinden könnte. Die Denkblockaden setzen immer noch sehr schnell ein. Wenn weniger Autos verkauft würden, was wäre dann mit den Arbeitsplätzen? Wie würde man von seinem Einfamilienhaus im Grünen zu seiner Arbeitsstelle kommen oder in den Urlaub und was ist mit dem Wochenendeinkauf? Wer sollte ein alternatives Verkehrsangebot im großen Stil überhaupt aufbauen? Und wie könnte dies funktionieren? Es sind diese Fragen und Zweifel, die sofort aufkommen, sobald Zukunftsvisionen von einer Mobilität mit deutlich weniger privatem Autoverkehr entwickelt werden. Unsere kollektive Phantasie ist bisher nicht darauf eingestellt, sich eine andere Realität als die der ständig wachsenden Menge an Autos vorzustellen. Die Schere im Kopf ist ständig da und hat scharfe Klingen.

Und es stimmt: Der Wandel eines großen technischen Systems wie des Verkehrssystems ist extrem voraussetzungsvoll – er kommt nicht automatisch und nicht von heute auf morgen. Zur Entpolitisierung der Verkehrspolitik gehörte es ja gerade, dass Alternativen als undenkbar und damit auch als nicht verhandelbar galten. Dies gilt im Übrigen für jede Veränderung sozialer Strukturen, nicht nur für die technisch-materiellen Infrastrukturen der Gesellschaft. Sozialer Wandel passiert nur dann, wenn genügend Druck entsteht, um Veränderungen der bisher gültigen Strukturen herbeizuführen. Oftmals entsteht dieser Druck durch soziale Bewegungen – man denke an die Frauenbewegung, die langsam aber sicher die Geschlechterverhältnisse verändert hat. Oder an die Umweltbewegung, die über Jahrzehnte dazu beigetragen hat, dass ökologische Belange überhaupt zum Bestandteil des kollektiv akzeptierten politisch-gesellschaftlichen Zielkanons geworden sind.

Große Infrastruktursysteme, zu denen auch der Verkehr und das Auto gehören, sind schon aufgrund ihres Umfangs und ihrer Komplexität durch eine hohe Pfadabhängigkeit und Stabilität geprägt. Als techniksoziologischer Gegenstand wurden diese Systeme auch durchaus in den Sozialwissenschaften erforscht. Beispielsweise haben Renate Mayntz (1993) oder auch Bernward Joerges (1992) große technische Systemwelten untersucht, die, einmal installiert, durch eine Reihe von gleichsam eingebauten Stabilisatoren kaum mehr ins Wanken zu bringen sind. Sie gehören zum institutionellen Erbe einer Gesellschaft. Klaus Kuhm (1999) bezeichnete speziell die Automobilität in Anlehnung an die luhmannsche Systemtheorie sogar als »autopoietisches System«, das sich selbst reproduziert. Frank Geels (2012) spricht von einem »sozio-technischen Regime« der Automobilität und betont damit, dass es sich hierbei um ein verfestigtes Produkt sozialer Aushandlungsprozesse handelt.

Das Auto ist ja nicht nur ein einzelnes Fahrzeug, sondern es ist Teil eines vielfältigen, mehrfach vernetzten und räumlich tief gestaffelten Systems, zu dem materielle Infrastrukturen wie Autobahnen, Autostraßen und Verkehrsregelungen bis hin zu Ampelschaltungen wie auch die auf das Auto ausgerichteten Raumstrukturen gehören: Einfamilienhaussiedlungen am Stadtrand, Gewerbegebiete und Shopping-Center auf der grünen Wiese sowie ganze Ballungsräume mit weitläufigen Einzugsgebieten. Strukturen, die über viele Jahre gewachsen, gelebt und durch die dazugehörigen Anreizmechanismen wie Eigenheimzulage, Entfernungspauschale und zweckgebundener Mineralölsteuer stabilisiert wurden. Dazu gesellen sich noch weitere Stabilisatoren: von den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Gewerkschaften, die auf das private Auto fokussiert sind, bis zu sozialen Erwartungen und Normen, die wie schon beschrieben als »mentale Infrastrukturen« (Welzer 2011) das bauliche und rechtliche Fundament noch weiter zementieren. Explizite Vorstellungen darüber, wie Fortbewegung technisch ermöglicht werden sollte, existieren gar nicht, jedenfalls nicht als gesellschaftspolitisch zu debattierende mögliche Alternativen.

Frank Geels hat nun eine Erklärung geliefert, unter welchen Bedingungen die starren Strukturen dennoch wieder in Bewegung geraten können. In seinem Modell gibt es neben der jeweils dominanten technischen Formation, zum Beispiel dem Automobil, zwei weitere Ebenen, von denen wirksame Impulse zur Veränderung ausgehen können: Auf der einen Seite muss eine umfassende und langfristige Entwicklung auf der gesellschaftlichen Makroebene entstehen, die nach und nach die Bedingungen für die Stabilität eines etablierten »Regimes« verändern können. Dies sind zum Beispiel langfristige Trends wie die Individualisierung und die Pluralisierung von Lebensstilen und -modellen, der demographische Wandel oder der Klimawandel und dessen politische Implikationen. Auf der anderen Seite stehen für Geels die Bemühungen von verschiedenen kleineren und größeren Akteuren, die abseits des etablierten Regimes stehen und dessen Veränderung anstreben. Geels spricht dabei von »Nischen«, in denen immer wieder Alternativen zum Bestehenden entwickelt, getestet und am Markt erprobt werden – in der Hoffnung, dass die Nischeninnovation zum neuen Mainstream und damit das vorhandene »Regime« mit seinen festgefügten Interessens- und Akteursstrukturen verändert wird. In der Regel bleiben diese Nischenimpulse lange Zeit ohne erkennbare Effekte, da diese Innovationen nicht auf breiter Basis sichtbar und nicht als Teil der kollektiven Strukturen gelten können (vgl. Geels 1992). Denn die Mechanismen des Regimes bleiben auf die Förderung und Erhaltung des Bestehenden fixiert: Elektroautos zum Beispiel haben es noch immer schwer, weil die technische Basis für deren massenhafte Produktion und durchgängigen Betrieb nicht verfügbar ist. Die gesamte Infrastruktur ist auf den Betrieb von Autos mit Verbrennungsmotor ausgerichtet: vom Tankstellennetz bis hin zur Subvention für Dieselkraftstoff. Selbst das bei den Nutzern vorherrschende Bild der Rennreiselimousine, nämlich die Vorstellung von einem Auto, das alle Verwendungen in einem Gerät abdeckt und im Falle eines Falles auch mehrere hundert Kilometer fahren kann, feiert weiterhin fröhlich Urständ.

Innovative Nischenimpulse haben es unter den herrschenden Regime-Bedingungen also immer schwer, selbst wenn sie, wie im Fall von Tesla oder Uber, von Akteuren mit beträchtlichen finanziellen Mitteln gepusht werden und auch Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit genießen. Geels geht davon aus, dass es dennoch Chancen für einen Wandel gibt. Nämlich dann, wenn sich Möglichkeitsfenster öffnen, die für einen begrenzten Zeitraum besonders günstige Bedingungen für eine Nischeninnovation schaffen (ebd.). Ein solches Möglichkeitsfenster kann sich zum Beispiel durch ein besonders einschneidendes Ereignis öffnen. Der Atomunfall von Fukushima wird immer wieder als Beispiel dafür angeführt, wie ein unerwartetes Ereignis plötzlich die Voraussetzungen für politische Schlüsselentscheidungen – in diesem Fall den Ausstieg aus der Atomkraft und die Aufwertung der Erneuerbaren Energien – verändern kann. Allerdings müssen im Fall des Automobils die Nischenanwendungen zu dem Zeitpunkt, zu dem sich das Möglichkeitsfenster öffnet, dann auch in einer Art und Weise entwickelt und verfügbar sein, dass sie skalierbar sind, ihren tipping point erreichen und damit aus der Nische heraus- treten.

Ganz ähnlich argumentiert der britische Soziologe John Urry. Nach seiner These kann sich das Verkehrssystem nur dann grundlegend wandeln, wenn mehrere Faktoren zusammenkommen und sich gegenseitig verstärken (vgl. Urry 2007). Das ist der Fall, wenn neue technische Optionen nutzbar sind, die von potenten Akteuren in den Markt geschoben und angeboten werden können, und wenn gleichzeitig der Druck auf der politischen Ebene zur Regulierung der Folgen des Massenverkehrs zunimmt und sich kulturelle Prägungen und Präferenzen gegenüber den Alternativen zum Auto verändern.

Die – bisher überschaubare – sozialwissenschaftliche Literatur zur Verkehrswende beschreibt also nicht nur die sich selbst stabilisierenden Elemente, sondern stärkt durchaus auch Aussichten auf Chancen für Veränderungen. Es muss auf politischer, technischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebene gleichzeitig eine Bereitschaft zum Wandel vorhanden und es müssen Alternativen präsent und verfügbar sein. Es braucht also Druck auf das System und Optionen im System selbst, die dann auf eine Bereitschaft zu Veränderungen von Routinen treffen müssen. Allen Vorschlägen gemeinsam ist jedenfalls die Bedingung, dass es überhaupt Alternativen gibt, über deren Wert und Durchsetzungschancen man dann auch politisch streiten kann, die aber auch in sozialen Praktiken neu stabilisiert werden können. Prüft man dahingehend die Situation in Deutschland, wie sie sich im Sommer 2018 zeigt, dann scheinen die wichtigsten Ingredienzien für einen Wandel vorhanden zu sein. Die Werteordnung hat sich genauso verändert wie die Sozialstruktur. Seit Jahren existieren verkehrliche Alternativen, ob es das E-Auto ist, das Rad, diverse Sharing-Angebote sowie generell die auf digitalen Plattformen angebotenen Services. Neben dem Auto gibt es nach wie vor Busse und Bahnen im Nah- und Fernverkehr. Hinzu kommt ein steigender Druck, mehr für die Absenkung der Schadstoffgrenzwerte zu tun, und die generelle Erkenntnis, dass sich die zur Rettung des Weltklimas notwendigen CO2-Einsparungen mit der bisher herrschenden Technik nicht erreichen lassen. Schließlich haben sich Garanten des Status quo wie die deutschen Autohersteller durch ihr Verhalten moralisch diskreditiert. Es wäre also angerichtet für eine Wende. Aber wie kann sie in Gang kommen?

Verkehrswende und gesellschaftliche Modernisierung

Eine re-politisierte Verkehrspolitik würde bedeuten, dass die Frage des politischen Auftrags und des dahinterliegenden Narrativs neu zu stellen ist: Wie sieht der Traum vom guten Leben heute aus? Abgeleitet aus einem gesellschaftlichen Wertekonsens, könnte das Ziel der Verkehrspolitik zukünftig darin bestehen, dass sich Menschen, unabhängig von Herkunft, Status und Vermögen, frei bewegen können. Im Unterschied zu den vergangenen fünf Jahrzehnten kann dies vielfältiger geschehen und die für den Verkehr eingesetzten Ressourcen sind sorgfältiger daraufhin zu prüfen, wie sie klima- und umweltverträglich verwendet werden können. An die Stelle des paternalistischen Daseinsvorsorgekonzepts aus den 1930er Jahren tritt die Idee der staatlichen Gewährleistung. Dieses Verständnis setzt stärker auf Eigeninitiative und Selbstregulierung, ohne die Schutzbedürftigkeit Schwacher aufzugeben. Auch der Gewährleistungsstaat ist kein neoliberaler Nachtwächterstaat, sondern ein organisiertes Gemeinwesen, das politische Fragen neu stellt, die Suche nach Antworten aber nicht ausschließlich als staatliche Intervention begreift. Die zentralen Fragen in diesem Zusammenhang sind: Wem gehört die Stadt, wer beherrscht den öffentlichen Raum, was ist das Schutzgut bei der Regelung der Verkehrsverhältnisse?

Die Veränderung im Verkehr, die Verkehrswende, müsste also eingebettet sein in eine gesellschaftspolitische Reformbewegung, von dieser zehren und diese im Gegenzug auch wieder unterstützen. Es geht um nicht weniger als um das Projekt der Moderne. Es würde weitergetrieben, indem die Verbindung von Freiheit, Vielfalt und Nachhaltigkeit fortentwickelt würde und durch Aufteilung des öffentlichen Raumes und die Bereitstellung von Zugängen im verkehrlichen Bereich die Basis dafür geschaffen würde, dass sich auch die soziale Mobilität erhöht, sich die gesellschaftlichen Verkrustungen auflösen und die Durchlässigkeit zwischen Schichten und Klassen zunimmt.

Die Herausbildung moderner Gesellschaften war eng mit dem Verkehr und der durch ihn einfacheren Raumüberwindung verbunden. Der Verkehr hat schon einmal die Bedingungen für eine soziale Differenzierung und eine gesellschaftliche Modernisierung geschaffen, warum sollten eine neue multioptionale, digital vernetzte, regenerativ betriebene und kollektiv nutzbare Verkehrslandschaft nicht erneut der Ausgangspunkt für eine gesellschaftliche Modernisierung sein? Wie kann ein solcher Entwurf auf die Alltagswelt der Menschen heruntergebrochen und in den Büros eines Tiefbauamtes realisiert werden, in denen bekanntlich jede Vision endet? Berücksichtigt man die verfügbaren Optionen und die herrschenden Machtverhältnisse, wird es bei jeder Zukunftsvision notwendigerweise wieder an erster Stelle um das Automobil gehen. Doch die Verfügbarkeit und die Nutzungsmuster werden sich durch und durch verändern. Die private Aneignung und die Zugehörigkeit eines privaten Autos zu einem Haushalt als Eigentum werden obsolet. Autos werden zu Gebrauchsgegenständen. Die Politik realisiert als Norm das, was das Auto jetzt schon in Ansätzen ist: eine Commodity, eine markenlose Ware wie Gas, Wasser, Strom. Was markenfähig ist und bleibt, ist die Art und Weise der Bereitstellung und der Integration in intermodale Angebote und Dienstleistungen. Dies gilt nicht nur für die große Stadt. Auch in den für Deutschland so typischen kleinstädtischen Siedlungsgebieten und ländlichen Räumen ist das Automobil zukünftig nicht mehr automatisch Privatbesitz. Dem Auto wird das Exklusive genommen, es wird Teil einer kollektiven Verfügungsmasse.