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Manchmal ist die Liebe nur einen Herzschlag entfernt
Wenn dein Herz einmal gebrochen wurde, dann passiert dir das kein zweites Mal – das hat sich Millie geschworen. Seitdem behält sie all ihre Gefühle für sich. Zumindest beinahe. Denn sie schreibt E-Mails, die sie jedoch sicher verwahrt und niemals abschicken würde: sarkastische Antworten an ihren unfreundlichen Chef, harte Wahrheiten an ihre Freunde – und eine lange Liebeserklärung an ihren Ex, der kurz davor steht, eine andere Frau zu heiraten. Doch eines Tages wacht Millie auf und muss feststellen, dass all ihre E-Mails versendet wurden. Jede. Einzelne.
Während Millie so lange versucht hat, ihre Gedanken und Emotionen für sich zu behalten, um niemanden zu verletzen und vor allem, um selbst nicht verletzt zu werden, muss sie sich nun der Wirklichkeit stellen. Wird Millie die Kraft finden, endlich ihr Herz zu öffnen?
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»Jedes Jahr im Juni«
»Acht perfekte Stunden«
»Unser Lied für immer«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 566
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lia Louis lebt mit ihrer großen Liebe und ihren drei kleinen Kindern in England. Bevor sie sich voll und ganz dem Schreiben widmete, arbeitete sie freiberuflich als Werbetexterin und Bloggerin. Nach ihrem sensationellen Debüt Jedes Jahr im Juni, das sich in vierzehn Länder verkauft hat und wochenlang in den Top Ten der SPIEGEL-Bestsellerliste stand, begeisterte sie ihre Leser*innen mit Acht perfekte Stunden und Unser Lied für immer. Ihr neuester Roman wird von ihren Fans bereits sehnsüchtig erwartet.
Begeisterte Stimmen zu den Büchern von Lia Louis:
»Die Romane von Lia Louis machen einfach glücklich.«
Beth O’Leary
»Der internationale Bestseller ist ein Muss für Liebesroman-Fans!«
OK! über Jedes Jahr im Juni
»Romantisch, raffiniert.«
Für Sie über Jedes Jahr im Juni
»Ein wunderschönes, nachdenkliches Liebesbuch, aus dem man viel lernen kann: darüber, wann man nur denkt, in jemanden verliebt zu sein, und wann man wirklich liebt.« Weltbild Magazin über Jedes Jahr im Juni
Außerdem von Lia Louis lieferbar:
Jedes Jahr im Juni
Acht perfekte Stunden
Unser Lied für immer
www.penguin-verlag.de
Lia Louis
Roman
Aus dem Englischen von Veronika Dünninger
Die Originalausgabe erschien 2024
unter dem Titel Better Left Unsent
bei Zaffre, London.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright © 2024 der Originalausgabe by Lia Louis
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Covergestaltung: Favoritbuero
Covermotiv: © Shutterstock / lavendertime, vectorpouch
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-29642-1V001
www.penguin-verlag.de
Für meine geliebte Mum, die ein Herz aus Gold hat.
Danke für die Tagträumereien mit mir auf windigen Spaziergängen durch Leigh-on-Sea.
Jetzt wird es für immer unser Ort sein.
Von: [email protected]
Betreff: Weihnachtsparty
Hallo! Schönen guten Morgen, Jack! Ich schicke dir nur eine kurze Nachricht, bevor du weggehst, so wie du es mir gesagt hast. Das hast du doch gesagt, oder? (Ich bin mir ziemlich sicher, dass es so war, aber andererseits hatten wir beide auf der Party eine MENGE von diesen abscheulichen vanillepuddinggelben »Boss-Man-Michael«-Cocktails, und ich persönlich fühle mich, als ob die Drinks meine Biochemie für immer verändert hätten. Dass statt Blut jetzt Eierflip und Rosmarin und Nasenhaare und weiß Gott, was wir noch alles an Zutaten im Verdacht hatten, in mir herumschwappen?! Ich fühle mich NOCHIMMER ganz ekelhaft.)
Jedenfalls wollte ich nur sagen, ich hatte so viel Spaß dabei, auf der Party mit dir abzuhängen, und wie lachhaft es doch ist, dass wir diese ganze Zeit zusammengearbeitet haben und erst jetzt, in der WOCHE bevor du die Firma auf unbestimmte Zeit verlässt, entschieden haben, uns blendend zu verstehen!? Und … ahhhhhhh, ich werde das hier auf gar keinen Fall abschicken, oder? Natürlich werde ich das hier nicht abschicken. Ich dachte wirklich, das würde ich vielleicht tun, aber jetzt habe ich viel zu viel Angst davor, denn du bist cool, und ich bin eine Pfeife. Ein Feigling. Auf bestem Weg, mich in ein Mauerblümchen zu verwandeln, in letzter Zeit. Und ich nehme an, weil ich das hier nie, nie, nie abschicken werde und niemand es je, je, je sehen wird, kann ich jetzt sagen, was ich will. Also! Jack Shurlock, du bist wirklich heiß. Und ich meine, wirklich. Und wir waren … kurz davor, uns zu küssen? OMG, ich habe das Gefühl, das waren wir!? In diesem Moment im Dunkeln, als wir zusammen in dieser Nische saßen. Als wir beide aufhörten zu reden und du irgendwie näher an mich herangerutscht bist und mir dieses langsame Lächeln geschenkt hast. Nur eine Millisekunde, bevor sich die betrunkene Cherry zwischen uns aufgerichtet, gewürgt und schlicht gesagt hat: »Ich habe eben einen Riesenhaufen Erbrochenes geschluckt.« Ich glaube, so war das, oder? Und ich wünschte, wir hätten es getan. Gestern Nacht hatte ich sogar einen wahrhaft filmreifen, eindeutig nicht für die Arbeit geeigneten Traum davon – abzüglich störender betrunkener Kolleginnen –, und jetzt kriege ich ihn nicht mehr aus dem Kopf. Im Ernst. Zehn von zehn Punkten, Jack Shurlock. Fünf Sterne. 100 Prozent auf dem Tomatometer.
(OMG, LOLLLLLL, jetzt werde ich das hier garantiert nie, nie, nie abschicken.)
Gute Reise und viele Grüße an den Mann, der das hier nie lesen wird!
Millie x
Ich werde mich übergeben. Ich werde einen Herzinfarkt kriegen, genau hier, auf einem kratzigen Bürostuhl in Konferenzraum 2, in dem es aus irgendeinem Grund immer leicht nach Pecorinokäse riecht. Vielleicht werde ich sogar … sterben? Ich meine, das ist sicher gut möglich angesichts der Umstände und der Tatsache, dass mein armes Herz so hart und schnell hämmert, dass mein Körper überzeugt sein muss, dass ich völlig untrainiert einen Marathon laufe. Bei Marathons kommt es doch ständig zu Todesfällen, oder nicht? Das ist der Grund, weshalb ich nicht laufe. (Das und die Tatsache, dass sich mein Kopf vom Schwitzen immer in einen glänzenden, peinlichen, preisgekrönten Rotkohl verwandelt.)
Aber jetzt – jetzt ziehe ich es ernsthaft in Betracht zu laufen. Zu laufen und nicht mehr stehen zu bleiben. Zu laufen, bis dieser stickige Konferenzraum nur noch ein winziger, nicht identifizierbarer Punkt in der Ferne ist. Zu laufen, bis ich an die Landesgrenze komme, bis ich einen namenlosen Mann mit einer dunklen Sonnenbrille treffe, der mir einen gefälschten Pass in die Hand drücken wird, zusammen mit einem falschen Bart und einem One-Way-Ticket in eine kleine, entlegene Wüstenstadt irgendwo im Outback.
Denn – Gott, das hier ist grauenhaft. Mein wirklich absolut schlimmster Albtraum. Wahrscheinlich jedermanns schlimmster Albtraum, wenn man darüber nachdenkt, aber mit Sicherheit, ohne jeden Zweifel, meiner – und er passiert. Genau jetzt. Genau mir. Millie Chandler. Live und in Stereo.
Und niemand hat es bis jetzt auch nur laut ausgesprochen – warum ich mich, an einem scheinbar stinknormalen Nullachtfünfzehn-Donnerstagmorgen um Viertel nach neun, hier wiederfinde. In einem Konferenzraum voller Leute, die bloße Empfangsangestellte wie ich grundsätzlich nur dann zu sehen bekommen, wenn Entlassungen ausgesprochen werden (oder wenn sie bei After-Work-Drinks betrunken einen Balanceakt an der Grenze zu sexueller Belästigung vollführen). Aber ich weiß es bereits. Ohne dass irgendjemand auch nur ein einziges Wort gesagt hat, weiß ich, warum ich hier sitze, vor dreien meiner Bosse, plus Ann-Christin, unserer inkompetenten, aber charmanten Personalchefin, deren ausdrucksloses Gesicht von einem Laptopbildschirm starrt wie ein Star-Trek-Schurke. Ich wusste es fast in der Sekunde, in der ich vor ein paar Augenblicken den Raum betrat, hinter Petra, meiner Vorgesetzten (und, wie ich hoffe, noch immer meiner Freundin) herschlurfend, und meinen Namen von einem Computer auf die Leinwand an der Wand projiziert sah. Einen ganzen einförmigen Stapel mit meinem Namen. Millie Chandler. Millie Chandler. Millie Chandler. Millie Chandler.
Denn wie es aussieht, wurden, irgendwie, E-Mails, die nicht hätten verschickt werden sollen, eben doch verschickt.
Jede Menge.
So, so, so viele E-Mails.
E-Mails, die ich geschrieben, aber nie verschickt habe. Und »nie verschickt« ist, was sie auf immer und ewig hätten bleiben sollen.
O mein Gott, ich werde mich wirklich übergeben. Oder in Ohnmacht fallen. Oder beides zusammen. (Andererseits – mit einer Ohnmacht würde ich garantiert aus dieser Sache herauskommen, oder? Und ich will so unbedingt aus dieser verdammten Sache herauskommen.)
»Wir warten nur noch auf Paul«, seufzt Michael Waterstreet, eher knallharter Cop als Geschäftsführer, und obwohl ich ein Nicken zustande bringe und ein zitteriges, leises »Okay« wimmere, sitze ich so stocksteif auf diesem Stuhl, dass sich schwer sagen lässt, ob ich mich überhaupt bewegt habe oder ob ich mich vielleicht, vor lauter Scham und Angst und absoluter Verlegenheit, in Stein verwandelt habe wie ein urzeitliches Fossil.
Wie konnte das hier überhaupt passieren? Wie? Ich arbeite seit fünf Jahren hier bei Flye TV, einem kleinen, leicht desorganisierten (aber größtenteils erfolgreichen) Sport-TV-Sender. Seit fünf ganzen Jahren gebe ich dafür mein Bestes, wie ein liebenswürdiger Roboter, eine aufmerksame, lächelnde Jasagerin, stets mit einem »Aber selbstverständlich!« und »Oh, absolut!« und »Natürlich werde ich Ihr Paket nach Übersee schicken und so tun, als ob ich Ihnen absolut glaube, wenn Sie sagen, dass es für die Firma ist und nicht schon wieder für Ihre Tante in Neuseeland, die, wie es aussieht und sich anfühlt, Monstertruckreifen sammelt«. Und doch bin ich jetzt hier. Hier bin ich, vor einer, wie ich nur vermuten kann, disziplinarischen Maßnahme und etwas, was vielleicht als einer der schlimmsten Momente meines ganzen neunundzwanzig Jahre langen Lebens in die Geschichte eingehen wird.
»Könnten Sie, ähm, mir bitte s-sagen, worum es … es hier geht?«, frage ich benommen, obwohl ich mir natürlich zu neunundneunzig Prozent sicher bin, worum es hier geht. »Geht es um die E-Mails? Geht es um … meine E-Mails?«
Aber Michael hebt eine große, fleischige Hand. »Wir werden das erörtern, sobald alle anwesend sind.«
Oh, so schlimm, ja? Das hier fühlt sich unbestreitbar richtig, richtig, richtig schlimm an.
Und ich hätte wissen sollen, dass über dem heutigen Tag der Schatten einer Katastrophe liegt. Die Anzeichen waren alle da, und ich bin in letzter Zeit so gut darin, auf Anzeichen zu achten; kleine Vorboten schlimmer Dinge, die am Horizont heraufziehen und denen ich unter Umständen ausweichen muss. Aber heute habe ich sie übersehen. Komplett. Der Verkehr, der am Morgen ungewöhnlich schlimm war (ein winziger Hinweis). Mein Lieblingsbürobecher – riesig, faultierförmig, mit so einem drolligen Gesicht –, der nicht im Büroküchenschrank war (ein etwas größerer Hinweis). Und die Tatsache, dass Quasselstrippen-Martin von der Finanzabteilung, als ich ihn fragte, ob er ihn gesehen hätte, mich wie Luft behandelte. Oh, ja. Ausgerechnet Quasselstrippen-Martin – der Mann, der, als er an einer schlimmen Mandelentzündung litt, seinen Laptop auf einer Text-zu-Sprache-Website geöffnet mit sich herumtrug, über die er mit uns kommunizierte wie ein ausdrucksloser KI-Roboter – ignorierte mich. (Das allergrößte Omen von allen.)
Und jetzt sitze ich hier. Und starre auf diese Leinwand.
Auf meine Entwürfe.
Meine E-Mail-Entwürfe, die nicht länger »nur Entwürfe« sind.
Alle.
All die Dinge, die ich sagen will, mich aber nie zu sagen traue. All die Dinge, die ich stattdessen tippe, um sie mir von der Seele zu schreiben, um sie herauszulassen, ohne dass es irgendjemand erfährt, ohne irgendwelche … na ja, Kollateralschäden.
O Gott, das hier ist wirklich wie ein entsetzlicher Albtraum. Eines dieser beklemmenden »Was wäre, wenn«-Szenarien, von denen man um zwei Uhr morgens fantasiert, wenn man sich traurig und allein auf der Welt fühlt. Nur dass das hier kein »Was wäre, wenn« und auch kein Albtraum ist. Das hier passiert. Das hier ist das wirkliche Leben – mein wirkliches Leben.
Die Tür des Konferenzraums klickt hinter mir zu, und das Herz rutscht mir in die Hose. Paul Foot, unser aller Chef, steht da, in einem Nadelstreifenanzug, der ihm zwei Nummern zu groß ist. Er richtet langsam den Blick auf mich, sieht dann zu allen anderen und schließlich zu der Leinwand an der Wand – zu diesem zutiefst beschämenden Jengaturm aus »Von: Millie Chandler«, jedes einzelne ein kleines Fenster in die Person, die ich wirklich bin. Schimpfkanonaden, Beschwerden, meine idiotischen Insiderwitze, meine Wahrheiten, meine … Geheimnisse.
»Okay, Leute«, sagt er, und – ah. Da ist es also. Das Faultier, voreingenommen lächelnd, in seiner pummeligen Hand. Mein Lieblingsbecher. Ganz klar ein symbolträchtiger Augenblick.
Denn das hier ist es.
Das hier ist »der Moment«. Und wie soll ich überhaupt hier herauskommen? Der Schaden ist bereits angerichtet. Das Schlimmste ist bereits passiert.
All meine E-Mail-Entwürfe wurden irgendwie verschickt.
Jeder einzelne von ihnen.
***
Von: Millie Chandler
Betreff: Millie, Konferenzraum herrichten asap
Ähmmmm, eine leere E-Mail und eine Anweisung im Betreff, ohne ein einziges Bitte oder Danke?????? Natürlich, nicht dass ich irgendetwas anderes erwartet hätte, denn ich höre ja, wie Sie mit anderen Leuten reden, die hier arbeiten. SIESINDWIRKLICHDERUNHÖFLICHSTEMENSCHALLERZEITEN!!!!
Mit freundlichen Grüßen
Millie Chandler
Empfang
Flye TV, Progress Road, Essex
***
Von: Millie Chandler
Betreff: Sorry, schaffe es nicht zum Dinner, Kunden aus Schweden hier, kann nicht nach Hause, bevor ich den Verkauf abgeschlossen habe!!!
Gut so. Ehrlich gesagt, bin ich irgendwie erleichtert, Lex. Das Kino letzte Woche war schon eine harte Nummer. Ich wünschte, es wäre nicht so gewesen, aber das war es, und ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass du sauer auf mich warst. Du warst so sturköpfig und streitlustig!? Es war, als ob du mit allem, was ich von mir gab, ein Problem hättest. In letzter Zeit fühlt es sich wirklich an, als ob wir auseinanderdriften würden, und ich sage es ja nur ungern, aber manchmal denke ich, dass das etwas Gutes ist.
***
Von: Millie Chandler
Cc: Ganzes Büro
Betreff: Update vom Team Indien, Woche 16!
Es ist vier Monate her, seit wir uns getrennt haben, und ich vermisse dich noch immer so sehr, Owen. So sehr, dass es manchmal physisch wehtut. Ich weiß einfach nicht, wie ich dich vergessen soll.
»Millie, gestern Abend haben Sie eine große Anzahl E-Mails verschickt«, sagt Paul, mein Boss, mir gegenüber am Konferenztisch, »und wir würden sehr gern darüber diskutieren.«
Paul wirkt ruhig und nüchtern, während ein winziger panischer Kampf in meiner Brust stattfindet. Denn das ist es jetzt wirklich. Mein schlimmster Albtraum: bestätigt. Erwiesen. Und ich weiß, manche Leute würden es vielleicht nur als ein kleines Ärgernis ansehen, wenn ihre E-Mail-Entwürfe verschickt würden, wenn überhaupt, ein »Ach du Scheiße, das wird ein paar Gemüter erhitzen, oder? Ha, ha, ha«-Drama, auf das sie gern verzichten könnten. Aber ich bin nicht manche Leute. Denn meine E-Mail-Entwürfe sind nicht einfach nur E-Mail-Entwürfe. In den letzten paar Jahren sind meine Entwürfe … mein Tagebuch geworden. Ein Beichtstuhl. Eine unheimliche Gruft ungesagter Dinge; Dinge, von denen ich wünschte, ich könnte sie sagen, Dinge, die ich wirklich, wirklich sagen will, aber nicht ausspreche, um ein friedliches Leben zu führen. Ohne Drama. Ohne Risiko. Ohne Blicke auf mich zu ziehen. Ohne Liebeskummer (und das ist ein sehr wichtiger Punkt). Ein Leben, in dem ich einfach nur gedankenvolle, ziellose Spaziergänge mit meinen Freundinnen unternehme, koche, häkele (oder es zumindest versuche) und mich viel zu emotional in Reality-TV verstricke. Ein bisschen unter dem Radar. Manche würden vielleicht sogar »zurückgezogen« sagen, vor allem in letzter Zeit.
Aber jetzt, oder zumindest nach dem, was ich von der Leinwand, die über und über mit meinem Namen bedeckt ist, nur vermuten kann, ist es … dort draußen. Alles. Alles, was ich denke und fühle, aber streng für mich behalte. All meine E-Mail-Entwürfe, verschickt, an echte Leute. Und ja, ein paar an Kollegen, aber schlimmer als das sind – die anderen.
Oh, die anderen.
Die E-Mails, die ich an wichtige Leute in meinem Leben geschrieben habe. Leute, die mir wirklich etwas bedeuten; Leute, die ich liebe.
Scheiße.
Und jetzt muss ich es erklären. Irgendwie muss ich das Was, das Warum, das Wie (und das Wie ist, was ich im Moment nicht einmal annähernd begreifen kann) drei schweigenden Bossen und Ann-Christins Sci-Fi-Kopf, der aussieht, als steckte er in einem Einmachglas, logisch erklären.
»Ich weiß, manchmal werden E-Mails versehentlich verschickt«, fährt Paul fort. »Eine Antwort an alle statt einer Antwort an einen einzigen Empfänger, zum Beispiel. Aber das hier … Sie haben viele verschickt, Millie, und dazu verschiedene firmenweite E-Mails. Ein paar davon sind sehr … persönlich.«
»Die Sache ist die«, beginne ich. Ich. Darf. Nicht. Weinen. »I-ich habe sie nicht wirklich verschickt.«
»Sie haben sie nicht verschickt«, wiederholt Michael langsam, während er eine buschige Augenbraue hochzieht. Jetzt hat er voll auf Cop-Modus geschaltet. Voll auf Kommandeur-Modus. Ich hätte es wissen sollen. Michael ist einmal zu einem winterlichen Schlammrennen der Firma in Tierfelle gewickelt und mit Schmalz eingerieben erschienen, während alle anderen in wasserdichten Jacken und ungeeigneten Turnschuhen gerannt sind. Die Art Typ ist er. Außerdem habe ich im Laufe der Zeit eindeutig ein oder zwei dumme, biestige E-Mail-Entwürfe an Michael geschrieben, daher hat er sie vermutlich gesehen und hasst mich jetzt verständlicherweise bis aufs Blut. »Sie sind von Ihrer E-Mail-Adresse gekommen, Millie.«
»Ja, j-ja, ich weiß, aber …«
»Und Sie erkennen sie?« Er weist mit seinem Quadratschädel zu der Leinwand, zu den Reihen über Reihen von E-Mails, und auf einmal scheint das alles so lächerlich. Dass das überhaupt passiert ist – denn wie kann so etwas einfach passieren? –, aber noch mehr, dass sie mich alle anstarren, meine Kollegen seit mehr als fünf Jahren, als wäre ich soeben mit einer Leiche erwischt worden, die ich in meine Matratze eingenäht hatte. Bitte, Sie müssen wissen, dass ich wirklich ein netter Mensch bin!, will ich am liebsten rufen. Ihre nette, normale, gewissenhafte, leicht chaotische Empfangsangestellte, die einfach nur zur Arbeit kommen und wieder nach Hause gehen wollte (und sich vielleicht ein raffiniertes, abgepacktes Krabbensandwich zum Lunch kaufen wollte, denn so risikofreudig ist sie dann doch!). Aber es ist, als ob ich auf einmal eine Verbrecherin wäre. Eine Firmenverbrecherin in einer schicken Hose mit einer Mehrweg-(Love Island-)Wasserflasche.
»Ja«, stammele ich. »Das tue ich. Ich erkenne sie. Und es tut mir so, so leid. Ich bin … ich bin … zutiefst beschämt.«
»Hm«, knurrt Michael, und ich kann Petra kaum ansehen, die steif und mit weit aufgerissenen Augen dasitzt, als wäre sie ausgestopft worden.
»Aber es waren nur Entwürfe«, fahre ich fort, mit kaum einer Pause zwischen meinen winzigen gestammelten Worten. »Ich … ich habe sie geschrieben, aber sie sollten nie, aber auch nie verschickt werden. Und ich … ich habe sie auch nicht verschickt, und ich würde sie auch niemals verschicken wollen, daher verstehe ich nicht, warum sie überhaupt verschickt wurden …« Meine Stimme stockt, und ich schlucke und sehe zu ihnen hinüber wie ein dummer, gescholtener, verlorener Welpe. »Es tut mir leid. Ich bin einfach … richtig nervös. Das hier ist alles so ernst und förmlich, oder? Wie … wie Hawaii Fünf-Null oder so.« Und jetzt lache ich. Total gekünstelt. Und nicht eine Menschenseele lacht oder lächelt auch nur. Jetzt will ich mich am liebsten in Tränen auflösen und auf den Boden sinken. Vielleicht sogar durch den Boden fallen, in ein angenehmes dunkles Nichts?
»Millie«, seufzt Paul, und ich mag Paul. Paul ist freundlich, wie ein fröhlicher Postbote; als ob ihm jemand den Job als Firmenchef angedreht hätte, indem er ihm erzählte, er beinhalte nur ein bisschen Geplauder und nette Lunchtreffen, und er bliebe nur deshalb, um niemanden hängen zu lassen. »Sie verstehen, dass wir nur offiziell festhalten wollen, dass Sie die E-Mails auf der Leinwand erkennen.«
»Ja«, sage ich. »Ich erkenne sie.«
»Und Sie waren gestern wie gewohnt in der Arbeit, an Ihrem Schreibtisch, und haben an dem Ihnen zugewiesenen Firmenlaptop gearbeitet …«
»Ja«, sage ich und nicke dazu wie eine Irre. »Ja, ja, das ist korrekt, alles wie gewohnt. Ich war an meinem Schreibtisch, wie gewohnt, den ganzen Tag …« Außer. Oh. Die Server. Ja! Gestern gab es bei Flye TV einen massiven Serverausfall. Den schlimmsten, den wir je hatten. »Wir kämpfen die verdammte Schlacht am Boyne da oben«, sagte Steve von der IT, als er am Empfangstresen vorbeikam mit geröteten Wangen und wild abstehenden Haaren.
»Die Server waren den ganzen Tag ausgefallen!«, platze ich vor Paul, dem fröhlichen Postboten, heraus. »Könnte … könnte damit irgendetwas passiert sein? Dass Entwürfe und Postausgangsfächer geleert wurden? Eine Überspannung? Das … das klingt doch einleuchtend, oder?«
»Das wissen wir nicht, Millie«, erwidert Paul in einem bedächtigen Ton. »Die IT ist gestern zusammengekommen und bis spätabends geblieben, um dieses spezielle Problem zu beheben«, fährt er fort, und irgendetwas an der Sekunde der Stille, die auf seinen nüchternen, allzu professionellen Ton folgt, sorgt dafür, dass mir der Magen in die Kniekehlen sackt wie eine Bowlingkugel.
Werde ich … gefeuert werden? Von einem Posten enthoben, zu dem ich seit fünf ganzen Jahren zuverlässig erschienen bin wie die menschliche Entsprechung eines Saugroboters? Das letzte Mal, dass ich so viele Leute in einem Raum gesehen habe, war vergangenen Monat, als Gareth vom Lager gefeuert wurde (sein riesiger Skateschuh wurde – irgendwie – durch die Windschutzscheibe eines Übertragungstrucks geschleudert). Er tat mir so leid, als er den Konferenzraum verließ, schlaksig und gebeugt vor Scham, während Jack Shurlock, der Operations Manager, ihn zu seinem Wagen eskortierte. Werde das ich sein? Bin ich im Begriff, das zu sein?
Obwohl – Jack ist im Moment nicht hier, oder? Vielleicht ist das ja ein gutes Zeichen. Seit Jack von seiner Rucksacktour zurück ist, scheint er tatsächlich bei weniger Meetings anwesend zu sein als früher, aber … na ja, wie auch immer, es ist auf jeden Fall gut, dass er nicht dabei ist. (Wenn auch nur deshalb, weil es nur eines gibt, was noch schlimmer ist, als für so etwas wie das hier gemaßregelt zu werden: vor dem heißen, selbstbewussten Operations Manager gemaßregelt zu werden, für den man früher geschwärmt hat. Und – o mein Gott. Habe ich je eine E-Mail an ihn geschrieben? An Jack? Nach dieser Weihnachtsparty. Habe ich das? Oh, neinneinneinnein.)
»Die IT wird jedem Warnhinweis nachgehen«, seufzt Michael. Er sieht aus, als ob er lieber irgendwo anders wäre als hier, bei mir und meinem traurigen, seltsamen, verwirrenden E-Mail-Problem. »Dass irgendetwas kompromittiert wurde. Gehackt und das alles? Ich werde auch das firmenweite Serverproblem noch einmal ansprechen. Aber, nur damit wir uns recht verstehen …« Jetzt sieht er zu mir hoch, einen grünen Kugelschreiber in seiner Schaufelhand in der Schwebe. »Diese E-Mails, sie wurden von Ihnen geschrieben.«
»… ja.«
»Und Sie nehmen Ihren Arbeitslaptop oft mit nach Hause. Richtig?«
Jetzt beginnen meine Wangen zu glühen, denn ja, ich nehme meinen Arbeitslaptop tatsächlich oft mit nach Hause. Offiziell, weil ich ein paar zusätzliche Dinge zu erledigen habe, meistens wenn Petra mich darum bittet (aber inoffiziell, weil ich ihn manchmal gern als kleinen Fernseher benutze, auf dem ich YouTube-Tutorials folgen oder mir Hochzeit auf den ersten Blick – Australien ansehen kann, während ich das Abendessen koche). Aber worauf will er eigentlich hinaus? Dass ich sie verschickt habe? Absichtlich?
»Ja, das ist korrekt«, antwortet Petra für mich, und oh, Petra. Die entzückende, entzückende Petra. Ich wünschte so sehr, wir könnten in diesem Augenblick miteinander kommunizieren – durch Telepathie oder so. Einen Hauch von Morsecode. Was ist der Morsecode für »OMG, Petra, es ist schlimmer, als du denkst, denn ich befürchte, ich habe aus Versehen mein ganzes Leben in Brand gesetzt, verstehst du? PS, wirst du immer noch meine Freundin sein?«?
»Millie arbeitet oft mehr als ihre vereinbarten Stunden«, fährt Petra fort. »Und nimmt ihren Laptop daher auf meine Anweisung hin mit nach Hause. Sie ist kürzlich auch bei Marshal Chandra vom Kamerateam mitgelaufen, beim Darts-Finale. Er war sehr beeindruckt von ihr.«
»Hören Sie«, wirft Paul, der fröhliche Postbote, ein. »Ich denke, wir sind uns alle einig, dass es, abgesehen von allem anderen, unterm Strich schlichtweg unprofessionell ist. Probleme, die Sie offiziell – verantwortungsbewusst – gegenüber Kollegen oder sogar der Personalabteilung hätten ansprechen können.«
»Ich weiß«, erwidere ich, während ich die Tränen hinunterschlucke. »Ich weiß, und es tut mir so, so leid. Sie waren ganz ehrlich nie, nie dafür bestimmt, gelesen zu werden.«
»Verstehe«, sinniert Paul.
»Es ist wie … es ist wie etwas, was ich tue, um … mir Dinge von der Seele zu schreiben, wissen Sie?« Sei menschlich. Richtig? Sei im Zweifelsfall ehrlich und menschlich, dann wirst du in jedem den Menschen ansprechen. (Das habe ich einmal gehört, auf DIYSOS, glaube ich, und mein Mitbewohner Ralph schniefte emotional und sagte: »Handwerker sind wirklich die Philosophen unter den Menschen, oder?«) »Und ich weiß, es entschuldigt gar nichts«, fahre ich fort, »aber die E-Mails … Ich würde niemals irgendjemanden vor den Kopf stoßen wollen. Ich habe es nicht einmal ernst gemeint. Kein Wort davon. Ich … schreibe nur, um … es herauszulassen?«
»Ja, Paul«, sagt Ann-Christins Sci-Fi-Kopf im Einmachglas, als hätte ich mich, zusammen mit meiner DIY-SOS-Weisheit, einfach in Luft aufgelöst. »Nach den Firmenrichtlinien befinden wir uns streng genommen nicht wirklich im Bereich von grobem Fehlverhalten, und Millie hat ihren Laptop angemessen gesichert, ebenfalls entsprechend den Firmenrichtlinien, das heißt, solange wir keine offiziellen Beschwerden von anderen Mitarbeitern erhalten …« Und dann erstarrt ihr Gesicht auf dem Bildschirm, bevor ihr Kopf in zwei Pac-Man-Hälften zerschnitten wird. Gott sei Dank, denn … Beschwerden? Ich will mir gar nicht ausdenken, dass es Beschwerden geben könnte. Über mich.
»Ja«, ergänzt Petra steif. »Ich denke, hier haben wir es nur mit ein paar Gesprächen unter Erwachsenen zu tun. Ich meine, wer wollte nicht schon gewisse Dinge zu Kollegen, zu Freunden sagen …«
»Hm«, brummt Michael.
»Okay«, sagt Paul.
Und das Schweigen, das darauf folgt, ist wie ein riesiger Punkt am Satzende, der in den Raum rollt. Paul nippt seinen Tee aus dem selbstgefällig lächelnden Faultier. Michael entfernt sich mit zwei Fingern aggressiv ein Nasenhaar. Petra nickt.
Endlich ist es vorbei. Und alles, was ich denken kann, während nervöser Schweiß an meinem Rücken klebt, ist, dass meine Arbeit jetzt wirklich die geringste meiner Sorgen ist, denn … was? Und wer? Was habe ich im Laufe der letzten zwei Jahre geschrieben? Wer in meinem Leben öffnet in genau diesem Moment eine unerwartete E-Mail von mir?
Michael steht auf, seufzt, als wäre er enttäuscht, dass das Meeting nicht mit meiner Festnahme geendet hat, und öffnet die Tür des Konferenzraums. Ich folge Petra, die Paul folgt, der von Michael flankiert wird, und wir laufen alle irgendwie schief hintereinanderher, wie eine Art chaotische Hochzeitsprozession.
Und auf dem Weg zur Toilette, über den dünnen, gerippten Teppich, durch den Mief von Kaffee und dem heißen Plastik von Geräten, wahre ich mein Lächeln. Als ich die hinterste Toilettenkabine erreiche, schließe ich die Tür hinter mir ab und breche, endlich, in Tränen aus.
***
Von: Millie Chandler
Betreff: Sponser mich!
Lieber Steve,
ich würde dich ja sehr gern sponsern, aber man erzählt sich, dass du gesagt hättest, mein Arsch sei »fett, aber flach«, als ich vorbeiging (was zum Teufel?), und dass die entzückende neue Aushilfe »auf sich achten sollte, wenn sie verheiratet bleiben will«, was schon ein starkes Stück ist von einem Typen, der aussieht wie eine Sellerieknolle. Du hast gedacht, ich hätte es nicht gehört, aber das habe ich. Wir alle hören es übrigens jedes Mal, wenn du deine dummen Machosprüche klopfst. Das heißt, von mir gibt es ein Nein, Kumpel. Ich werde getrennt spenden, fernab von deinem sexistischen Bad in diesen gebackenen Bohnen, das du als Charity-Event planst.
Mit den allerfreundlichsten Grüßen
Millie (und ihr fetter, aber flacher Arsch)
***
Von: Millie Chandler
An: (Dad) Mitchell Chandler
Betreff: E-Mail an deine Gmail wird nicht zugestellt?
Entschuldige, Dad, doch, ich habe deine E-Mail bekommen, ich dachte, ich hätte noch am selben Tag geantwortet! War nur ein bisschen verwirrt, weil ich am Karfreitag nicht mit Mum zusammen war. Da war ich mit Cate in Suffolk. Ich habe sie zu einem Imkerei-Erlebnistag mitgeschleift (sie hat viel geschrien, haha). Bist du sicher, dass Mum gesagt hat, sie sei mit mir zusammen gewesen …?
***
Von: Millie Chandler
Betreff: Danke für gestern Abend! Tut mir leid, dass ich losstürzen und dich allein lassen musste!
Oh, Cate, ich liebe dich so sehr. Du bist meine beste Freundin und die beste und freundlichste und wundervollste Person auf der ganzen Welt. Aber ich hasse, wie nervös Nicholas dich macht. Ich hasse, wie du so tust, als ob er das nicht tut. Ich hasse, wie er deine Entscheidungen kritisiert. Ich hasse, dass er dich dazu bringt, zu ihm nach Hause zu fahren, bevor du selbst bereit dazu bist, und das alles unter dem Deckmantel von »Ich mache mir nur Sorgen um dich«. Ich hasse, wie er dich kontrolliert. (Dein Telefon überwacht, um »sich zu vergewissern«, dass du auch wirklich dort bist, wo du gesagt hast!?! Er hat dich nicht verdient, und du hast alles verdient. Und ich könnte das hier niemals laut sagen, aber ich wünschte so sehr, du würdest ihn verlassen.)
Einhundertundsieben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das die Anzahl der E-Mails ist, die zuletzt in meinen Entwürfen waren, was heißt – und ich kann es noch immer nicht glauben –, dass das die Anzahl der E-Mails ist, die ohne meine Erlaubnis verschickt wurden. Die in die Welt hinausgezischt sind wie Feuerwerksraketen. Mein ruhiges und größtenteils harmonisches Leben hat sich mit einem Schlag verändert. Wurde ruiniert, gestern Abend, während ich in der kleinen Küche unserer Wohnung stand und glücklich und nichts ahnend Gyoza-Klöße aus einer Kochbox faltete, die ich mir auf Instagram bestellt hatte. Ich redete sogar über meine E-Mails, bevor ich zu Bett ging, was sich jetzt auf eine grausame Weise anfühlt, als hätte ich diesen ganzen Albtraum vielleicht selbst heraufbeschworen. Ein zufälliger Zauber oder so, während einer seltenen Mondphase, über die ich von diesen ganzen coolen und attraktiven YouTube-Astrologen etwas zu lernen versuche.
»Ich hoffe nur, die Server laufen bis morgen früh wieder«, sagte ich beiläufig zu meinem Mitbewohner und Vermieter, Ralph. »Am Anfang war es ja ganz nett. Eine Art verlängerte Mittagspause für alle. Aber dann wurden die Leute allmählich mürrisch und gelangweilt, und es zog und zog sich hin. Noch so einen Tag halte ich nicht aus. Kein Internet. Keine E-Mail.« Und das war, offenbar, ungefähr die Zeit gestern Abend, zu der die Server wieder zum Leben erwachten und eine Art, wie ich nur vermuten kann – Überspannung verursachten? Eine Störung? Eine technische Panne, die irgendetwas ausgelöst hat, was ein bisschen seltsam und schräg war und einfach … mein ganzes Leben, wie ich es kenne, auf den Kopf gestellt hat? (Und das alles, während ich mir zu Hause das Gesicht gewaschen und nichts ahnend Gyoza aus den Zähnen geschrubbt habe.)
Jetzt stöhne ich vor mich hin, in der hallenden oberen Bürotoilette, nachdem ich die letzten fünf Minuten zitternd auf dem Toilettendeckel gesessen habe, den Kopf in die Hände gestützt wie eine armselige, traurige Comicfigur.
Wie konnte das passieren?
Meine E-Mails.
Meine privaten E-Mails.
Die jetzt in den Postfächern anderer Leute warten. O Gott, ich kann es nicht ertragen, dass sich dieser Gedanke auch nur für eine Sekunde in meinem Kopf festsetzt. Denn ja, ein paar E-Mails wurden an unfreundliche, gehässige Kollegen verschickt, die es vielleicht ein klein wenig verdient haben, aber … da waren auch andere dabei, und das sind die, die mir keine Ruhe lassen, die mir durch den Kopf spuken wie Gespenster. Die E-Mails an all die Leute, die nicht in meiner Arbeit sind, die Leute, die nicht in diesem Gebäude sind, und jetzt landen diese E-Mails in ihrem Leben wie Granaten voller Worte. Die E-Mails an meine entzückenden Freundinnen, an meine Familie, an …
Der Geruch von Zitronenbleiche dringt in meine Kehle, als ich in der Stille aufstöhne und … nein. Nein, nein, ich darf mich nicht übergeben, das hier ist kein ITV-Drama, Herrgott noch mal. Ich muss mich zusammenreißen. Nicht mehr weinen. Mich nicht übergeben. Was sagt mein Dad immer? Ein schlechter Tag ist nur ein einziger schlechter Tag, unter Tausenden und Abertausenden anderen. Wie Städte auf einer Weltkarte, sagt er immer. »Eine schlechte Stadt macht keine schlechte Welt, Millie.« Und genau das ist diese Sache wahrscheinlich, oder? Ja. Ein schlechter Tag. Ein winziger Punkt einer zwielichtigen, grässlichen, beängstigenden Stadt, die ich durchqueren muss. Nur bis ich auf der anderen Seite wieder herauskomme.
Mein Telefon vibriert in meiner Hosentasche. Die Hose ist neu. Mit weitem Bein und einem Gürtel, dunkelkaki. Etwas, was ich selbst niemals auswählen würde, aber meine beste Freundin Cate hatte mich überzeugt, sie zu kaufen, nachdem eine gründlich danebengegangene Bestellung von Bürokleidung bei mir eintraf. Ich habe ihr heute Morgen über WhatsApp ein Spiegelfoto von mir in dieser Hose geschickt. »Du bist und bleibst ein müheloses Modetalent, Cate Mancinelli-Grant«, habe ich dazugeschrieben, und sie hat sieben Flammen-Emojis und ein »Du siehst umwerfend aus!« zurückgeschickt. Oh, ich wünschte, ich könnte dorthin zurückkehren. Die Uhr zurückdrehen, zu dem Leben vor diesem Meeting. Ich habe ja keine Ahnung gehabt, dass das hier auf mich wartete. Dieser – Schlamassel.
Ich zücke mein Handy mit zitternden Händen.
Drei entgangene Anrufe.
Dad. Cate. Eine Handynummer, die ich nicht erkenne, die sich besonders unheilvoll anfühlt.
Ich starre sie an. Was soll ich nur tun, was soll ich nur tun?
Ralph.
Ich werde Ralph anrufen. Den süßen, süßen, süßen, vernünftigen Ralph. Er wird wissen, was zu tun ist; er weiß immer, was zu tun ist. Er ist logisch veranlagt. Optimistisch. Und so lächerlich schlau. (Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob er mit dem Problem, was zu tun ist, wenn deine privaten E-Mails aus Versehen von der ganzen Welt gelesen wurden, genauso clever umgehen kann, wie er es mit seinen diversen Pilzarten tut, aber Cleverness ist schließlich eine übertragbare Fähigkeit, oder?)
Ralph geht an sein Telefon, flüstert durch die Leitung wie jemand, der sich bei einem Banküberfall versteckt. »Millie? Ich komme gerade zur Arbeit.«
»Ich weiß, aber …«
»Wir dürfen unsere Handys nicht benutzen, sobald wir die Geschäftsräume betreten haben, hast du das vergessen? Mein Boss, der mit der künstlichen Hüfte …«
»Ralph, es ist ein Notfall«, platze ich heraus. »Und ich meine … riesig. Gigantisch.«
Eine Pause. »Gott, wirklich?« Im Hintergrund kann ich tiefes, dumpfes Hundegebell hören. (Ralph arbeitet als Kassierer in einer riesigen Tierbedarfshandlung mit hauseigenen Tierfriseuren. Er nennt die Hunde seine Kunden. »Walter, einer unserer Kunden, schwärmt wirklich für unsere Schweineohren …«) »Millie, geht es dir gut?«
»Nein«, antworte ich. »Ich glaube wirklich nicht, dass es mir gut geht, Ralph, und ich weiß nicht, was ich tun soll.« Ich stelle mir Ralphs rundes, bebrilltes Gesicht am anderen Ende der Leitung vor, seine besorgt gefurchte Stirn, seine glänzende Regenjacke, wie immer bis zum Adamsapfel zugezogen, mit Regentropfen besprenkelt. Oh, armer Ralph. Vor wenigen Momenten ist er noch zur Arbeit gestapft, hat vermutlich diesen Tee-und-Pilze-Podcast gehört, den er immer hört, und hier komme ich und rolle wie eine Dampfwalze in sein einfaches, geordnetes Leben aus Schwimmgruppen und gepflegten Tupperware-Lunches und feuere Leuchtraketen in den Himmel. »Ralph, es geht um meine E-Mails.«
»Wie, ist bei euch immer noch alles offline?«
»Nein. Nein, die Server laufen wieder, aber … meine E-Mails. Sie sind weg. Sie wurden alle verschickt.«
»Was?«
»Als die Server wieder liefen, wurden meine ganzen E-Mails irgendwie verschickt. Meine ganzen … Entwürfe.«
»Deine Entwürfe? Deine – oh.« Der Groschen fällt, und Ralph macht ein unheilvoll klingendes Geräusch – ein leises Todesröcheln, das dafür sorgt, dass ich ein »Ich weiß!« durch die Leitung stöhne. Ralph ist so ziemlich der Einzige auf der Welt, der von »den Entwürfen« weiß. Na ja. Und Lin vom Sales-Team, natürlich. Es war ursprünglich Lin – das unkonventionelle, prinzipientreue Girl’s Girl Lin Kye –, die die ganze Geschichte vor zwei Jahren beiläufig vorschlug. »Versuch, eine E-Mail zu schreiben, und schick sie dem Scheißkerl einfach nicht«, sagte sie, als sie mich, ein paar Wochen nachdem Owen Schluss gemacht hatte, mit verquollenen Augen in der Büroküche antraf. »Es hilft, sie einfach nur zu schreiben. Trickst das Gehirn aus, weißt du? Hilft dir, das alles zu verarbeiten.«
Und nachdem ich sie ein paar Wochen lang geschrieben hatte, erzählte ich Ralph stolz davon. Ich war erst kurz zuvor bei ihm eingezogen, als seine Mieterin, und es war eines der ersten tiefen nächtlichen Gespräche, die unsere Freundschaft zementierten. Ich werde es nie vergessen. Ich und Ralph, im Stehen am Frühstückstresen plaudernd, vor mitternächtlichen Tassen mit Tee, im weichen, malzfarbenen Schimmer der tief hängenden Pendelleuchten, Ralph schläfrig lächelnd, während ich spürte, wie sich ein Gewicht von mir zu heben begann. Und ich erzählte es ihm, weil es tatsächlich half, sie zu schreiben, und ich so erleichtert war, dass etwas geholfen hatte. Es fühlte sich nach Fortschritt an. Diese E-Mails, still und heimlich verwahrt in diesem geschützten Ordner, den sie niemals verlassen würden. Und doch sind wir jetzt hier. Und doch sind wir verdammt noch mal jetzt hier.
»Wie viele?«, fragt Ralph schlicht.
»So viele.«
»Wie viele sind so viele?«
»Einhundertund…« Ich schlucke, kneife die Augen zusammen. »Einhundertundsieben, Ralph.« Und die Zahl platzt mir über die Lippen wie ein Last-Minute-Geständnis bei einer dieser Krimiserien im Tagesfernsehen, die mein Dad so liebt. Es war nicht Father Frederick, der das Geld der Kirche gestohlen hat. Es war … ich!
»Gott, Millie. Scheiße.«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, wimmere ich, und jetzt sammeln sich erneut Tränen in meinen Augenwinkeln. »Ich bin in der Hölle. Ich meine, in der absoluten Hölle, und ich weiß nicht einmal, wie oder warum das überhaupt passiert ist. Ich meine, ich bin doch ein guter Mensch, oder? Du redest ständig von Karma und davon, positive Energie auszustrahlen, und ich … ich lächele Hunde an. Ich versuche, nie zu tratschen. Ich … ich spüle meinen Recyclingabfall aus!«
Und während ich auf dem Toilettendeckel kauere und ein Abluftventilator an der Wand über mir rasselt wie ein Aufzieh-Klappergebiss, gebe ich Ralph eine leicht hysterische Kurzversion von dem, was heute Morgen passiert ist. Wie ich zur Arbeit gekommen und hochgegangen bin, um mir eine Tasse Tee zu machen, bis hin zu diesem unheilverkündenden »Millie, können wir Sie bitte sprechen?« und dem quälenden, peinlichen Meeting im Konferenzraum mit dem Nasenhaar und den Seufzern und dem enttäuschten, nadelgestreiften Paul Foot.
»Okay, Millie, hör mir jetzt gut zu«, sagt Ralph ruhig. »Alles … alles wird gut.«
»Wird es das?«
»Ich … ich meine, ja«, sagt Ralph verwirrt. »Genau genommen ist es das doch schon jetzt, irgendwie – oder? Du wurdest von deinen Bossen ohne Konsequenzen weggeschickt, richtig?«
Ich nicke sinnloserweise auf meinem Toilettendeckel vor mich hin.
»Und Petra hat völlig recht. Wer wollte nicht schon gewisse Dinge zu Kollegen sagen?«
Ich stöhne auf. »Aber es sind auch alle anderen, Ralph. Es sind alle außerhalb der Arbeit, die mir Kopfschmerzen bereiten. Außerdem, Wollen und Tun sind zwei verschiedene Paar Schuhe, oder? Wir alle denken jeden Tag Dinge, bei denen wir lieber sterben würden, als sie tatsächlich zu sagen. Und ich habe sie … einfach gesagt. Alle. Auf einmal. Einfach so. Würg. Dort draußen.«
»Ja«, sagt Ralph. »Ja, Millie, das verstehe ich.« Und ich kann hören, dass sogar Ralph sich fragt, wie in aller Welt ich hier gelandet bin; dass er alles im Kopf durchgeht, es von allen Seiten betrachtet, methodisch, wie er es tut, wenn eine seiner Pflanzen nicht das macht, was er erwartet. Das hier würde Ralph niemals passieren. Er ist viel zu vernünftig, um Entwürfe voller ungesagter Dinge zu haben; viel zu eigenverantwortlich und geradlinig. Unproblematisch. Das ist vermutlich der Grund, weshalb ich ihm nie eine E-Mail geschrieben habe. Ich kenne Ralph vielleicht erst seit zwei Jahren, aber er ist einer der tollsten Freunde, die ich je hatte. Einer dieser Menschen, die sich wie »für dich bestimmt« anfühlen, dass du überzeugt bist, die Jahre vor eurer Begegnung seien eine Zeit gewesen, in der du dich ein bisschen verloren hättest.
»Sag mir, was ich tun soll. Im Ernst, Ralph, sag mir, was ich tun soll. Ich flippe hier wirklich aus.«
Ralph stößt einen langen, nachdenklichen Atemzug aus. »Na ja, erstens einmal, lass uns versuchen, nicht auszuflippen. Und ich denke, ein Schritt nach dem anderen ist immer ein vernünftiger Ansatz, in jeder Situation.«
Ich nicke, klammere mich verzweifelt an jedes seiner Worte. Ralph, der Gebirgsranger, ich, die Idiotin, verloren in der Wildnis.
»Ich würde sagen, lass das Management der Sache weiter auf den Grund gehen, zieh es in Betracht, dich zu entschuldigen, wo es nötig ist, und bis dir irgendetwas anderes gesagt wird, nehme ich an, ist alles, was du tun kannst … deinen Arbeitstag zu Ende zu bringen?«
»Oh, aber Ralph, wie soll ich das denn hinkriegen?«
»Na ja, das wirst du einfach müssen, Millie«, sagt er seelenruhig. »Nimm dir eine Minute Zeit, mach dir eine Tasse Tee, und dann geh in aller Ruhe zurück zu deinem Schreibtisch …«
Ich richte den Blick zur Decke, als ob ich … wer bin? Tom Cruise? Was glaube ich, das ich stattdessen tun werde? Eine Fliese hochschieben und mich in den Entlüftungsschacht verkriechen?
»Ich weiß, diese Sache ist unangenehm, Millie«, fährt Ralph fort. »Aber du musst dich dementsprechend verhalten. Du hast doch die Wahrheit gesagt, oder? Und sie haben die Wahrheit akzeptiert …«
»Bis ein Mitarbeiter eine offizielle Beschwerde einreicht und ich für immer gefeuert und auf die schwarze Liste gesetzt werde.«
»Mutmaßungen«, stellt Ralph nüchtern fest, als hätte er nicht die Absicht, auf meine Schwarzmalerei näher einzugehen.
In diesem Moment kommt jemand auf die Toilette, Heels auf Fliesen, und schließt eine der anderen Kabinen ab, während mein Telefon in mein Ohr piepst wie eine leise Sirene. Ich sehe auf das Display – Cate ruft an. Schon wieder. Und ihr Name steht über einem Selfie von uns beiden, und ich will schon wieder in Tränen ausbrechen.
Cate. Meine mütterliche, geistreiche, hoffnungslose Romantikerin von einer besten Freundin. Wir haben dieses Foto letztes Jahr aufgenommen, beim alljährlichen Kurzurlaub, den wir immer zusammen mit unserer gemeinsamen Freundin Alexis unternehmen (diesmal war es in einer Jurte in Gloucester, und es war eiskalt und katastrophal und endete damit, dass Cate ihr Geschäft in einer Sainsbury’s-Tüte verrichten musste, was es eindeutig nicht auf Alexis’ pastellfarbene Instagram-Seite schaffte). Und ich weiß, dass ich ihr E-Mails geschrieben habe. Alles über ihren Freund, den Vollpfosten Nicholas, der sie mikromanagt, sie kontrolliert, und das alles unter dem Vorwand von »Aber das tu ich doch nur, weil ich dich liebe!«. Cate wird mich hassen. Wie könnte sie ihre beste Freundin nicht hassen, die insgeheim – oder jetzt nicht mehr so insgeheim – ihren Freund hasst?
Und was Alexis angeht … Oh, ich kann nicht einmal an Alexis denken …
»Hör zu«, sagt Ralph, während ein Händetrockner auf der anderen Seite der Tür surrend zum Leben erwacht. »Ich werde da sein, wenn du nach Hause kommst. Dann können wir alles klären. Aber das ist nur ein … ein kleines Missgeschick, Millie. Eine Panne, wenn du so willst. Mit Sicherheit nicht lebensbeendend.«
»Wirklich?« Ich klammere mich an seinen Optimismus wie an eine Rettungsboje. »Meinst du wirklich?«
»Ja. Ein Patzer.«
»Ein Patzer …«, wiederhole ich mit einem wehmütigen Seufzer. »Oh, ich hoffe wirklich, du hast recht.«
Ein Patzer. Eine Panne. Hat Ralph recht? Ist das hier nur ein Patzer? Denn es fühlt sich nicht wie ein Patzer an, während ich hier stehe und mir die Hände wasche. Es fühlt sich an wie das Ende der Welt. Das Ende meiner Welt, wie ich sie kenne. Als ob alles auf den Kopf gestellt wurde und ich nie wieder dieselbe sein werde. Als ob das ganze Universum mich beobachtet; als ob ich durch den Spiegel getreten bin. Für immer. Ich trockne mir die Hände ab. Zweimal.
Okay.
Okay, ein Schritt nach dem anderen, hat Ralph gesagt, oder? Und ich nehme an, Schritt eins wäre: zum Schreibtisch gehen. Zum. Schreibtisch. Gehen. Das kann ich, oder?
Ich hole einmal tief Luft und – jetzt oder nie! – drücke die Tür zum Hauptbüro auf. Leises gemurmeltes Geplauder, klingelnde Telefone, klappernde Computertastaturen, der Geruch von Kaffee und verbranntem Toast.
Zum Schreibtisch gehen. Zum Schreibtisch gehen.
Ich durchquere das Büro rasch und so leise wie möglich. Zehn Schritte, oder so ungefähr, mehr braucht es nicht, aber – ach du Scheiße. Ich kann sie fühlen: diese schwere, unangenehme Atmosphäre, die wie Dampf langsam in den Raum strömt. Köpfe drehen sich am Rande meines Blickfelds um, Stimmen verstummen, und als ich den Ausgang erreiche und die Hand auf die kühle Metallklinke lege … kann ich einfach nicht anders.
Ich sehe auf.
Nur ein klitzekleiner Blick, und … ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Denn Leute sehen mich an. Die meisten sehen mich an, tun aber so, als ob sie es nicht tun, hinter Trennwänden und Computerbildschirmen hervor, aber manche glotzen einfach nur, als ob ich irgendeine tragische Kunstinstallation wäre und sie gutes Geld bezahlt haben, um sie zu sehen, schönen Dank auch.
Und während peinliche Hitze an meinem Rücken hochkriecht und mein Blick langsam zurück zum Ausgang wandert, landet er zuerst auf Leona von der IT, die mich nur eiskalt anstarrt, und dann, neben ihr, Jack. Der heiße Jack Shurlock, der an einen Schreibtisch gelehnt dasteht, ein iPhone am Ohr, seine breiten Schultern entspannt und kantig weiße Hemdsärmel hochgekrempelt. Und seine ernsten Augen huschen ebenfalls, nur für eine Sekunde, hoch, um mich anzusehen.
Jemand flüstert. Jemand anders lacht.
Ich drücke die Tür auf, stürme die Wendeltreppe hinunter.
Sie müssen es wissen. Inzwischen müssen es alle wissen. Auch wenn sie selbst keine E-Mail bekommen haben – E-Mails können geteilt und weitergeleitet und sogar ausgedruckt und dazu verwendet werden, um einen verdammten Raum zu tapezieren, falls jemandem danach ist.
Ein Patzer. Das hier fühlt sich nicht wie ein Patzer an, Ralph Nobleman. Ein Patzer ist eine Fehlbestellung von Bürokleidung. Ein Patzer ist, wenn man einen nackten Schaulustigen entdeckt, der zufällig im Hintergrund einer Hochzeit auf den ersten Blick-Folge gefilmt wurde. Das hier ist so viel mehr als nur ein Patzer.
»Da bist du ja!« Petra steht an meinem Empfangstresen, wie immer gertenschlank und wunderschön und zuverlässig, ihre glänzenden braunen Locken könnten direkt von einer ganzseitigen Vogue-Anzeige stammen. Ich könnte losheulen bei ihrem Anblick. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
Ich erreiche das Erdgeschoss. »Oh, Petra«, sage ich.
Aber irgendetwas ist mit ihrem Gesicht. Sie blickt besorgt. Die braunen Augen zwei beunruhigte Ringe, die Lippen geteilt. Fast so, wie sie an dem Morgen aussah, nachdem sie diese flirtende »Petra ist toll, aber sie ist nicht du«-Ausgangsnachricht auf dem Telefon ihrer Ex, Maria, entdeckt hatte, mit der sie ein ganzes Jahr zusammen gewesen war.
»Hattest du … hattest du die Gelegenheit, alles zu sehen, was verschickt wurde?«, fragt Petra leise.
»Nein. Nein, ich habe meinen Computer noch gar nicht hochgefahren. Gott, Petra, wie zum Teufel ist das alles überhaupt passiert?«
Jetzt schließt Petra die Augen, ihre Hand landet sanft auf meinem Arm, und mir bleibt nicht einmal Zeit, mich darauf gefasst zu machen, dass irgendwie, verblüffenderweise, alles noch schlimmer wird, bevor sie das Wort ergreift. »Millie, da ist eine Antwort, die du auf Owens Verlobungsanzeige geschrieben hast«, sagt sie. »Und sie wurde an alle verschickt. Die ganze Firma. Einschließlich Chloe.«
Von: Millie Chandler
An: Owen Kalimeris; ganzes UK-Büro
Betreff: Persönliche Neuigkeit
Lieber Owen,
ich kann nicht glauben, was ich eben gelesen habe. Du heiratest. Du und Chloe, ihr heiratet. Und der Gedanke, dass du mir erst vor ein paar Wochen gesagt hast, es sei nichts Ernstes, und mich dann um ein Date gebeten hast.
Ich habe angefangen, diese Zeilen hier zu schreiben, in der Hoffnung, dass es mir helfen würde, mir über meine Gefühle klar zu werden, aus diesem traurigen, düsteren Tornado in meiner Brust schlau zu werden, aber ich weiß es noch immer nicht. Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll. Ich weiß nur, dass ich geweint habe. Ich habe versucht, es nicht zu tun, habe versucht, es für mich zu behalten, es hinunterzuschlucken, aber es ist fast in der Sekunde passiert, in der ich die E-Mail geöffnet und die Anzeige gesehen habe. Wir sind seit zwei ganzen Jahren getrennt, und ich habe einfach losgeheult – bin auf die Bürotoilette gestürzt wie ein perfektes Klischee und habe drinnen eine Sonnenbrille getragen wie der verdammte Bono, in einem Maxikleid, bis Feierabend war. Ich habe eine Migräne vorgeschoben. Aber alle in der Arbeit haben es gewusst, denn sie haben deine E-Mail auch gekriegt. Ich hoffe, niemand erzählt es dir. Es ist mir so peinlich. Argh, verdammt, ich schäme mich so.
Jetzt ist es Mitternacht, und ich kann nicht schlafen. Ich habe eben dein altes T-Shirt aus meinem Kleiderschrank gezogen, um zu sehen, ob es noch immer nach dir riecht. (Dieses schwarze Vegas-Teil, das du mir zum Anziehen dagelassen hast, als du für eine Weile weggegangen bist, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten? Das Teil, über das ich mich lustig gemacht, dir aber nie zurückgegeben habe.) Und nein, das tut es nicht. Es riecht nach … nichts. Ha. Eine Metapher, wie sie im Buche steht. Und Gott, was tue ich hier überhaupt? WAS tue ich hier? Ich schreibe dir im Pyjama, allein, während du nur ein paar Meilen entfernt bist, zusammengekuschelt, nichts ahnend und glücklich mit Chloe. Deiner Verlobten, Chloe Katz, vom Produktionsteam. Natürlich Chloe. Sie hat dich immer zum Lachen gebracht.
Der Trennungsschmerz wurde aber leichter. Das Beschissene, Ironische war, dass er endlich leichter wurde. ENDLICH. Ich habe weniger an dich gedacht, hatte weniger Angst davor, diese Arbeits-Updates von deinem Team in Indien zu kriegen. Habe dich weniger vermisst. Und dann hat Petra mir gesagt, der Launch des Senders in Indien sei abgeschlossen, und ich war gefasst. Gefasst, da ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis ich dich wiedersehen würde – bis du in der Arbeit aufschlagen würdest.
Und dann warst du da.
Und es war gar nicht so grauenhaft, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war … nett? So wie damals, als wir uns kennenlernten. Aber die Art, wie du von Chloe geredet hast, Owen. Das war, weshalb sich diese E-Mail eher wie eine Bombe angefühlt hat, die auf meinem Schreibtisch gelandet ist, denn vor zwei Wochen hast du noch gesagt, es sei »nichts Ernstes«. Du hast gesagt, ihre Familie sei für dich »befremdlich« und »zu heftig«. Und dann hast du mich um ein Date gebeten. Mich. Deine Ex-Freundin. Die Frau, mit der du bei deinem Abschiedsdinner Schluss gemacht hast – ich kann noch immer nicht glauben, dass du das getan hast. Kannst du glauben, dass du das getan hast? –, bevor du dich mit einem neuen Job und einem neuen Leben nach Indien verpisst hast.
Und ich habe mich gefragt, ob dieses Lunchdate nur ein Scherz oder so war. Aber dann hast du am nächsten Tag eine E-Mail geschickt und einen Tag und eine Uhrzeit und dieses neue Thailokal in Westcliff vorgeschlagen, als wäre es das Normalste auf der Welt. Und ich war so verwirrt. Aber hauptsächlich, und ich schäme mich SO, das zuzugeben, habe ich mich gefragt, ob wir vielleicht eines dieser Paare sein könnten, die sich trennen, für eine Weile weggehen, erwachsen werden und dann wieder zusammenkommen. Eine »Füreinander-bestimmt«-Geschichte. (Wie Jen und Ben. Peyton und Lucas. Nathan und Cara von LoveIsland, Staffel 2.)
Und dann … das hier. Das hier landet in meinem Postfach. Ich lese es immer wieder, vergewissere mich, ob es wirklich echt ist, denn du reservierst für uns einen Tisch, wir schreiben uns, und dann das hier!?!?! Nicht nur eine Verlobungsanzeige, sondern ein ganzes Hochzeitsdatum. Aber andererseits ist das einfach so typisch du, oder? Du warst schon immer so von null auf hundert. Das ist der Grund, weshalb ich mich damals in dich verliebt habe. Das ist der Grund, weshalb du dich getrennt hast. Ich hätte nicht diesen Drive, hast du gesagt. Diesen Ehrgeiz.
Ich bin so froh, dass du diese Zeilen hier niemals sehen wirst. Ich bin so froh, dass du niemals wissen wirst, wie wütend ich auf dich bin, weil du mich verletzt hast. Weil du mich so schnell weggeworfen hast. Weil du dich sogar noch schneller wieder verliebt hast. Ich bin froh, dass du niemals wissen wirst, dass ich dich vermisse. Und dass ich dich immer noch liebe, Owen. Das tue ich. Und ich weiß, dass ich das hier gefahrlos sagen kann, denn du wirst das hier niemals sehen. Diese Worte werden immer nur für mich und mein dummes, naives Herz sein. Diese E-Mail wird niemals verschickt werden.
Alles Liebe
Millie x
»Oh, Ralph, ich kann nicht viel mehr verkraften.«
»Aber du musst wissen, was Sache ist, Millie«, entgegnet Ralph. »Noch einunddreißig zu lesen, dann wirst du keine Überraschungen erleben. Wissen ist Macht. Vor allem bei Vorfällen dieser Art.«
»Vorfällen dieser Art? Ralph, es gab nie einen Vorfall dieser Art. Nenn mir einen einzigen vergleichbaren Vorfall.«
Ralph sagt nichts, tippt nur auf das nächste »gesendete Objekt«, während ich neben ihm auf dem Sofa meinen Rotwein hinunterkippe und in mein Glas stöhne.
Als ich vor zwei Stunden von der Arbeit nach Hause kam und in die Wohnung stolperte, hatte ich einen Plan: im Bett weinen. Viel weinen. Ein langes, hässliches, rotznasiges, wimmerndes »Weh mir, mein Leben ist vorbei«-Weinen. Weinen und weinen und dann in irgendetwas absolut Immersives eintauchen, das mir keinen Raum zum Nachdenken lässt. Irgendetwas Neues und Kompliziertes kochen, bis die Spüle überquillt und der Kühlschrank so randvoll mit Essen gefüllt ist, dass Ralph sich besorgt fragt, ob damit nicht wieder »das Entlüftungssystem überstrapaziert« wird. Ich dachte sogar daran, mich für eine Stunde in diesen Duolingo-Deutschkurs zu vertiefen, mit dem ich eben erst angefangen habe, und vielleicht herauszufinden, wie man »Ich habe mein Leben in den Sand gesetzt und brauche bitte eine neue Identität« zweisprachig sagt. Love Island oder Hochzeit auf den ersten Blick standen jedenfalls nicht auf dem Plan. Nach heute will ich nie wieder eine Sendung sehen müssen, die auch nur annähernd etwas mit Liebe zu tun hat. In diesem Augenblick hasse ich die Liebe. Die Liebe hat mich heute hintergangen. Die Liebe hat mich in die Falle gelockt, hat mich gründlich verarscht, hat sichergestellt, dass mein düsterer, bitterer Liebeskummer von all meinen Arbeitskollegen gesehen wurde. Ich kann noch immer nicht glauben, dass wirklich jeder es mitbekommen hat. Zu wissen, dass jeder diese riesige E-Mail an Owen gelesen hat, dass Chloe sie gelesen hat, fühlt sich an, als ob die Welt mich nackt gesehen hätte. Ohne einen Fetzen Haut …
Das mit dem Weinen habe ich tatsächlich durchgezogen, aber ich habe es stattdessen auf dem Sofa getan, neben Ralph, der meinen traurigen, einsamen Plan bereits vorhergesehen und mich mit meiner Stuffed-Crust-Lieblingspizza als Köder hierhergelockt hat, sobald ich zur Tür hereingekommen bin. Mein angeschlagenes Herz ist bei dem Anblick aufgeblüht. Meine Lieblingspizza mit einem meiner Lieblingsmenschen, in meiner gemütlichen Wohngemeinschaft (mit der herrlichsten Aussicht in Leigh-on-Sea, die es meiner Meinung nach gibt) war genau das, was ich brauchte. Aber das war, bevor ich Ralphs Laptop auf dem Couchtisch sah, zwischen zwei flackernden Kerzen, als sollte er gesegnet werden, bevor er eingeschaltet wurde, um eine Flut von E-Mail-Dämonen – einhundertundsieben, um genau zu sein – loszulassen.
Und dort haben wir die letzten eineinhalb Stunden gesessen: an dem Couchtisch, auf Ralphs lächerlich vornehmem Chesterfieldsofa – ein ungebetenes und ungewolltes Geschenk von seinen reichen Eltern, denen diese Wohnung gehört –, wo wir das schwelende Ödland meines Gesendete-Objekte-Ordners der Reihe nach durchgehen. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie viele Abende ich in den vergangenen zwei Jahren hier verbracht habe, mit Ralph auf dem Sofa; mit Fernsehen und Take-aways und mitternächtlichem Weihnachtsgeschenkeverpacken. Aber nichts – und ich meine nichts – hatte je den Vibe von heute Abend. Ich fluche die meiste Zeit, zucke manchmal krampfhaft zusammen oder starre völlig fassungslos an die Decke, während Ralph meine E-Mails laut vorliest und mich beobachtet, als wäre ich eine Feuersbrunst, die im Begriff ist, die ganze Stadt zu verschlingen.
Und Gott sei Dank waren einige der E-Mails absolut und euphorisch wohlwollend. Als würde man irgendeine Art düsteren Adventskalender öffnen und ein Stück Schokolade anstelle eines rasenden Feuerballs finden. Harmlose E-Mails, die ich angefangen und nie beendet habe (»Hi, das klingt to-«), und E-Mails, die nicht einmal zugestellt wurden, wie zum Beispiel das Geständnis, das ich eindeutig an Jack Shurlock geschrieben habe, nachdem wir auf der Weihnachtsparty diesen frechen, flirtenden Plausch geführt und diesen Beinahekuss getauscht hatten, bevor er auf Reisen ging. (Er ist jetzt ein Shurlock dot Jack, und ich war nie dankbarer für eine »Diese E-Mail-Adresse wird nicht mehr verwendet, bitte schreiben Sie stattdessen an diese Adresse«-Nachricht.)
Aber manche E-Mails – oh, manche. Manche waren alles andere als wohlwollend.
Da sind all die sprachlichen Ergüsse an Cate, hauptsächlich entnervte E-Mails über den Vollpfosten Nicholas, darunter die, in der ich ihr sagte, ich würde am liebsten ein Bild von ihm auf eine Packung Haferflocken kleben und mit einer Schaufel darauf einschlagen. Da sind dumme Fast-Einzeiler an meine ach so süße und unbekümmerte Cousine Rhiannon, die buchstäblich nur aus »zzzzzz« und »Lolllllll, warum ist dieses Kompliment so fragwürdig und zweifelhaft?« bestehen und die meine Mum und meine versnobte Tante Vye eindeutig vor den Kopf stoßen werden. Und da ist auch eine, die Prue von der Buchhaltung eine »gefährliche Bigotte« nennt (aber das ist sie wirklich).
Aber das Schlimmste von allem – na ja, abgesehen von dieser quälenden Owens-Verlobungs-E-Mail natürlich, die meine Lebenserwartung um Jahre verkürzt hat – sind die vielen verletzenden »Allmählich graut mir davor, dich zu sehen«-E-Mails an eine meiner engsten Freundinnen, Alexis, bei denen mir jedes Mal das Herz in die Hose rutscht (und ich in ein Kissen kreische). Dabei liebe ich Alexis, wirklich. Ich liebe sie seit jenem Tag vor sieben Jahren, als ich sie kennenlernte, was sich anfühlte, als würde ich einer Rakete vorgestellt werden. Ich hatte damals angefangen, in einem quirligen, billigen Bier-und-Curry-Pub in Southend zu kellnern, und sie arbeitete an der Bar (ein zweiter Abendjob für sie, nachdem sie bereits den ganzen Tag als Praktikantin bei einer Medizintechnikfirma in Canary Wharf verbracht hatte). Ich hatte eben die Uni abgebrochen und war wieder nach Hause gezogen, mit der Folge, dass Mums Enttäuschung wie ein schwerer Schal um meine Schultern lag, und Alexis war einfach … Energie. Eine gezündete Feuerwerksrakete auf zwei Beinen, sprühend vor hungriger, entschlossener Nichts-zu-verlieren-Energie, die den Leuten entweder gegen den Strich zu gehen oder auf sie abzufärben schien. In meinem Fall war sie immer nur ansteckend. Alexis ist empowernd. Ein Genie. Absolut selbstbestimmt, aber loyal. So loyal, dass sie sich für dich hinlegen und sterben würde. Aber in letzter Zeit ist sie das … nun ja. Nicht. Absolut nicht. Sie ist streitlustig. Kratzbürstig, ohne jeden Grund, egal, ob ich von der Arbeit oder Kochrezepten rede oder sogar davon, dass Owen wieder da ist. Zu Cate ist sie genauso. Fast schon … gemein, und ich frage sie immer wieder, ob es ihr gut geht, aber nachdem ich sie gesehen habe, frage ich mich jedes Mal nur, was wir falsch gemacht haben. (Nur dass diesmal ich es bin, die tatsächlich etwas entsetzlich falsch gemacht hat, und bei dem Gedanken, wie Alexis’ Reaktion ausfallen könnte, wird mir schwer ums Herz, während es gleichzeitig panisch zu rasen beginnt.)
»Ralph, können wir bitte aufhören?«
»Millie …«
»Bitte«, sage ich, das Gesicht in ein Kissen vergraben. »Nur für eine kleine Weile, Ralph. Oder eine große. Oder für immer? Unser Geheimnis.« Mein einziges Geheimnis, angesichts der Tatsache, dass ich jetzt offenbar null habe.
»Aber die hier ist harmlos«, fährt Ralph fort, seine Stimme so ruhig wie immer, seine freundlichen grünen Augen interessiert auf den Bildschirm geheftet, wie ein Lehrer, der Aufsätze benotet. »Hier sagst du nur Mark M vom Vertrieb, dass er dir deinen Lunch nicht hätte klauen sollen, weil die Tupperware mit deinem Namen beschriftet war. Berechtigt, würde ich sagen.«
»Berechtigt, ja, aber jetzt wird er mich hassen«, seufze ich und drücke das Gesicht wieder in Ralphs Kissen mit dem schwarz-blauen Batik-Pilzmuster, natürlich. »Ich glaube, das ist die einzige E-Mail, die ich ihm je geschickt habe.«
»Und das hier ist eine an deine Mum, in der schlicht steht: ›Ich musste einfach fragen.‹«
Ich löse mein Gesicht von der Oberfläche des Kissens und sehe ihn an. »Wirklich?«
»Ja. Nur das. Siehst du. Und in der nächsten hier«, fährt Ralph optimistisch fort, »steht … Oh.«
»Oh?«
Sein Adamsapfel bewegt sich wie ein Bumerang in seiner Kehle. »Sie ist … sie ist wieder an deine Mum, und da steht, ›Ich musste einfach fragen …‹«
»Das hast du schon gesagt.«
»Nein, in dieser … in dieser hier steht noch mehr. Und zwar: ›Ich musste einfach fragen … Mum, liebst du mich, obwohl du nichts hast, was du bei deinen Brunchtreffen mit deinen Freundinnen oder in Tante Vyes Wintergarten über mich berichten kannst? All die Dinge, die mein Bruder tut und von denen du so verdammt entzückt zu sein scheinst …‹«
»O nein. Hör auf.«
Aber natürlich hört er nicht auf, denn Ralph weiß, dass wir das hier tun müssen. Ich weiß, dass wir das hier tun müssen. Ich will es nur nicht tun. Ich will mein altes Leben wiederhaben. Mein Leben vor den E-Mails.
»›Weil ich nicht weiß, ob ich je so sein werde wie Kieran oder ob ich mich wieder verlieben oder Kinder haben werde, oder ob ich meinen Kredit-Score kennen werde oder auch nur mein Studiendarlehen zurückzahlen können werde. Hashtag abgebrochenes Studium der Geisteswissenschaften.‹«
»Warum habe ich Hashtag geschrieben?« Meine Stimme klingt jetzt annähernd so wie ein Heliumballon. »Sonst noch etwas?«
»Nur … ›Du gibst mir das Gefühl, eine Versagerin zu sein. LOL.‹«
»LOL. Richtig. Natürlich.«
Ralph legt mir sanft eine Hand auf den Rücken und lehnt sich dann mit mir zusammen auf dem Sofa zurück, das unter uns quietscht wie eine Lederjacke. Er trägt den Stranger-Things