Unser Lied für immer - Lia Louis - E-Book
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Unser Lied für immer E-Book

Lia Louis

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Beschreibung

Für alle Leserinnen, die sich nach den ganz großen Gefühlen und der perfekten Dosis Humor sehnen: zum Schmunzeln und zu Tränen rührend!

Für Natalie ist Musik mehr als nur eine schöne Melodie. Zweimal die Woche spielt die 32-jährige an einem belebten Londoner Bahnhofsklavier – nur für sich und für ihren verstorbenen Mann. Denn seit seinem Tod vor zwei Jahren, ist dies die einzige Zeit, in der sie vergisst, wie einsam sie sich fühlt. Als Natalie eines Tages im Deckel des Klavierstuhls Notenblätter findet, traut sie kaum ihren Augen: Es sind genau die Lieder, die sie nur für ihren Mann gespielt hat und die nur er kennen kann. Hat er geheime Botschaften für sie verstecken lassen oder ist alles nur ein großer Zufall? Oder hält das Schicksal viel mehr für sie bereit, als sie ahnt?

Eine hinreißend romantische Geschichte über einen großen Verlust und das Wiederfinden der Liebe.
Der romantische dritte Roman von SPIEGEL-Bestsellerautorin Lia Louis.

»Ein Buch von Lia Louis zu lesen, ist pure Freude.« Lindsey Kelk

Gleich weiterlesen: Entdecken Sie auch Lia Louis' romantische Bestseller »Jedes Jahr im Juni« und »Acht perfekte Stunden«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 539

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Lia Louis lebt mit ihrer großen Liebe und ihren drei kleinen Kindern in England. Bevor sie sich voll und ganz dem Schreiben widmete, arbeitete sie freiberuflich als Werbetexterin und Bloggerin. Nach ihrem sensationellen Debüt Jedes Jahr im Juni, das sich in vierzehn Länder verkauft hat und wochenlang in den Top Ten der SPIEGEL-Bestsellerliste stand, begeisterte sie ihre Leser*innen auch mit ihrem zweiten Roman Acht perfekte Stunden, der ebenfalls kurz nach Erscheinen die Top 20 stürmte. Unser Lied für immer wird von ihren Fans bereits sehnsüchtig erwartet.

Lia Louis in der Presse:

»Die Romane von Lia Louis machen einfach glücklich.« Beth O’Leary

»Von Lia Louis muss ich einfach jedes Buch kaufen.« Jodi Picoult

»Der internationale Bestseller ist ein Muss für Liebesroman-Fans!« OK! über »Jedes Jahr im Juni«

Außerdem von Lia Louis lieferbar:

Jedes Jahr im Juni

Acht perfekte Stunden

Lia Louis

Roman

Aus dem Englischen von Veronika Dünninger

Die Originalausgabe erschien 2022

unter dem Titel The Key to My Heart

bei Trapeze, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2023 der Originalausgabe by Lia Louis

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung: Favoritbuero

Coverabbildung: © Shutterstock / vectorpouch, momo sama, Lauritta

Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29641-4V001

www.penguin-verlag.de

Für dich, Dad.

Denn durch all das hindurch hatten wir immer die Musik.

Kapitel 1

Ich weiß genau, wen Lucy wählen wird. Ich weiß es seit einer halben Stunde, um genau zu sein – könnte es auf eine verdammte Meile riechen. Noch bevor die dritte Runde Drinks unsicher zurück an den Tisch gebracht wurde und noch bevor Roxanne, wie sie es nach ungefähr zwei Cocktails und einem Appetizer jedes Mal tut, angefangen hat, von den verschiedenen Arten zu schwafeln, auf die sie ihren Boss umbringen würde, wenn es nur legal wäre. Denn meine Freundinnen suchen immer die gleichen Typen für mich aus. Dunkelhaarig, da meine drei Ex-Freunde allesamt dunkelhaarig waren. Hochgewachsen, da fast jeder Schwarm, den ich je hatte, seit ich vierzehn war, hochgewachsen war, und mit der Größe-Schultern-Kombo, die eine anständige Rettung bei einem Hausbrand verspricht, sollte man sie je brauchen – Adam Driver, Vince Vaughn, dieser massige Kleiderschrank von einem Kerl, der auf Roxannes Halloweenparty 2007 als Lurch aus The Addams Family verkleidet aufkreuzte. »Nicht gesichtsmäßig«, erinnere ich mich, in seine ausdruckslose Miene gelallt zu haben, »aber dein Körperbau, Sir. C’est parfait. Du bist robust. Du weißt schon. Wie ein Schiff. Wie ein … ein Megabus.« Und sehr lebendig. Das gibt immer den Ausschlag, um genau zu sein. Der Mann, den sie wählen, muss lebendig sein und den Plan haben, es noch viele, viele Jahre lang zu sein (falls möglich).

»Siehst du den Typen da drüben, Natalie?«, brüllt Lucy über die Musik hinweg, während sie das klebrige runde Tablett auf dem Tisch abstellt. Vier Cocktails auf seiner Oberfläche schwanken wie Betrunkene. »Der mit den Armen, an der Bar. Wuschelige Haare, weißes T-Shirt …«

»Oh ja«, sage ich und werfe zur Betonung sogar einen gekünstelten Blick über die Schulter. »Arme, Haare, Kleider, oh ja, und ob ich ihn sehe.«

»Heißt Tom. Ist single. Und das seit acht Monaten.«

Neben mir macht Roxanne ein Geräusch in der Kehle – ein einziges Hm, das so viel sagt wie: »Na bitte, da haben wir’s doch, nehme ich an« –, und über einem Berg Guacamole ergänzt Priya: »Oh, ich würde ja. Na ja, ich würde, wenn ich, ihr wisst schon, mein Leben nicht eben erst der ehelichen Monogamie geopfert hätte.«

»Und einer Schwangerschaft«, wirft Roxanne ein.

»Oh, Scheiße, ja, das auch«, stöhnt Priya, während Lucy neben ihr in die Sitznische rutscht und mich strahlend ansieht.

»Du solltest da rübergehen, Natalie«, sagt sie. »Er war so gesprächig und nett. Und schöne Zähne. Ich habe gesagt, ich schick dich rüber!«

Und es ist immer um diese Zeit des Abends, dass ich den Drang unterdrücken muss, zu tun, was ich wirklich tun will, wenn ich mit meinen Freundinnen unterwegs bin: wegrennen. Reißaus nehmen. Mir eine Rakete in den Hintern stecken, mich hochkatapultieren, durch die Decke schießen. Oder, zumindest, Lucy am Kragen packen, sie über den Tisch zerren und sie anschreien: »Wann wirst du damit aufhören? Wann wirst du endlich aufhören, mich zu beäugen wie ein schmieriger Gebrauchtwagenverkäufer, der weiß, dass er im Begriff ist, diesen Van mit der halben Stoßstange und einer Leiche im Kofferraum endlich an den Mann zu kriegen? Wann wirst du mich in Ruhe vor mich hin verwesen lassen? Ich bin nicht interessiert an Dates. Ich werde nie mehr daran interessiert sein.« Und heute Abend ist der Drang sogar noch heftiger. Ich wusste, dass er es sein würde, sobald ich heute Morgen aufwachte und nur an Russ denken konnte. Es waren diese Musiknoten von gestern – dieses einzelne, seltsam glänzende Blatt Papier mit tröstlichen Symbolen und Zeichen, anonym hinterlassen, am Klavier. Für mich. Oder für jemand anders. Oder, natürlich, für absolut niemanden und ohne irgendeinen Grund. Deshalb habe ich es auch nicht erwähnt. Es könnte gar nichts sein – vermutlich ist es absolut gar nichts. Außerdem bin ich mir sicher, wenn ich es erwähnen würde, wenn ich bei Cocktails und Tortillas ein beiläufiges »Also, jemand hat mir ein Blatt mit Musiknoten an dem öffentlichen Klavier hinterlassen, an dem ich heimlich spiele, und ich glaube, es könnte von meinem Ehemann sein. Ja, genau! Russ! Dem toten!« fallen lassen würde, dann würde Lucy prompt Rauchzeichen hochschicken, um meine Eltern zu warnen, dass ich jetzt restlos durchgeknallt bin. Und Roxanne würde mir vermutlich wieder diesen Trauertherapeuten empfehlen – den mit den Bongotrommeln.

»Habe ich euch erzählt, dass ich einen Orgasmus hatte?«, fragt Priya, über die Musik hinweg. »Wieder im Schlaf.« Gott (und Priya) sei Dank für den filmklappenmäßigen Themawechsel. »Das müssen die Hormone sein. Ich habe von dem Gerüstbauer geträumt.«

»Schon wieder?«, lache ich.

»Oh ja. Dem von nebenan. Clive. Und ich hätte ja gar nichts dagegen, aber er ist nicht mal heiß. Ehrlich gesagt hat er richtig gehässige Gesichtszüge, der arme Kerl. Ich meine, dagegen kann man nichts machen, oder? Die Gesichtszüge, die man zugeteilt kriegt. Jedenfalls, trotzdem, in diesem Traum, Gott, ihr hättet ihn sehen sollen. Er war so …«

»Natalie, willst du nicht gehen?«, platzt Lucy dazwischen.

»Will ich nicht …?«

»Gehen. Da rübergehen, zur Bar?«

»Zu Tom«, ergänzt Roxanne.

»Oh. Okay. Ähm …« Sie starren mich an, meine Freundinnen. Sechs Augen, rund und hoffnungsvoll. Und ich werfe ihnen ein Lächeln zu. Ein Knochen für drei hungrige Hunde. Ein breites, strahlendes, durch und durch überzeugendes »Was für eine tolle Idee«-Lächeln. »Na ja, ich nehme an, ich könnte einfach rübergehen und noch einen Drink bestellen …«

»Ja«, nickt Lucy.

»Hi sagen, ihn abchecken …«

»Total.«

Und ich stehe auf und kippe meinen Cocktail, und meine Freundinnen sehen stolz zu mir hoch, als wäre ich eben auf die Bühne gebeten worden, um einen Brit Award entgegenzunehmen. Bester internationaler Durchbruch. Beste britische Single.

»Ach du Scheiße, er sieht rüber«, kichert Priya, während ich, leicht stolpernd, aus der Sitznische rutsche. Die Margarita, die ich gekippt habe, startet bereits ihren Frontalangriff auf meine Gehirnzellen.

»Oh mein Gott, guck ihn dir an. Das tut er wirklich«, zischelt Lucy, und ich werfe den dreien noch ein Lächeln zu, das mir vom Gesicht rutscht und auf dem Boden aufschlägt, sobald ich ihnen den Rücken zukehre.

Ich will nicht da rübergehen. Ich will wirklich nicht zu dieser klebrigen, quirligen Bar gehen und mit irgendeinem verdammten hochgewachsenen Typen namens Tom reden, der vermutlich um zwei Uhr morgens Dating-App-Konversationen mit »Hi Babe, hast du irgendwelche Kinks lol« startet. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen. Na ja, um genau zu sein, kann ich das durchaus. Viele Dinge. Mit einigen von ihnen stehe ich heutzutage auf Du und Du. Aber die Sache ist die: Die Alternative ist noch schlimmer – so viel schlimmer. Denn wenn ich jetzt nicht zu diesem für mich auserkorenen Typen mit den Haaren und den Armen rübergehe, werden sie mir wieder diesen Blick zuwerfen. Diesen Blick, mit dem sie mich manchmal bedenken, meine Freundinnen, als ob ich ein brandneuer Stoffpavillon wäre, der auf einer Gartenparty langsam und traurig immer weiter durchhängt und durch den es auf die Käsescones regnet. Diesen »Oh, Natalie, was sollen wir nur mit dir machen?«-Blick. Den, der wortlos, aber so offensichtlich besagt: »Wir alle haben Russ geliebt, wirklich, doch es ist jetzt über zwei Jahre her. Er ist nicht mehr. Und wir machen uns Sorgen um dich. Wir alle machen uns große Sorgen.« Und dieser Blick ist etwas, was ich noch weitaus mehr hasse, als an den klebrigen, quirligen Bars abgeschmackter mexikanischer Restaurants perversen Singles zuzuhören. Und daher wähle ich heute Abend das kleinere Übel. Ich wähle Tom.

Ich bahne mir einen Weg zwischen zu eng zusammenstehenden Tischen, abgehetzten Bedienungen und Scharen von Essensgästen mit parfümierter Haut und Knoblauchatem hindurch, und jetzt dreht sich mir ein bisschen der Kopf. Das müssen die drei Margaritas sein, ganz bestimmt, zweifellos. Aber es ist auch zu heiß hier drinnen und viel zu fröhlich, wenn man mich fragt, für einen Laden, in dem sie fünfzehn Pfund für eine Schale Guacamole verlangen, die in der Bauchhöhle einer grinsenden Keramik-Avocadofigur serviert wird. Oh Gott. Ich hätte heute Abend nicht mitkommen sollen. Ich hätte absagen, mir irgendeine ekelhaft klingende Magengrippe einfallen lassen sollen. (Oder ein paar Schuhsohlen ablecken und mir absichtlich eine einfangen.)

»Entschuldigung.« Ein Kellner tritt zur Seite, macht mir Platz, und ich nicke zum Dank und schlüpfe an ihm vorbei, ihm und der riesigen Platte, die er auf seiner flachen Hand balanciert. Ein einsames, verstümmeltes, abgenagtes Hühnchengerippe liegt darauf. Ich weiß, wie du dich fühlst, erledigtes, abgenagtes kleines Hühnchengerippe. Ich fühle mich ganz genauso.

»Warum gehst du denn überhaupt mit ihnen aus, wenn es dir so widerstrebt?«, fragte mich meine Schwester Jodie vor ein paar Wochen, und ich tat es kurz ab und sagte: »Ach, hör nicht auf mich, Jode, manchmal habe ich ja wirklich Spaß.« Die wahre Antwort auf diese Frage ist die gleiche wie darauf, warum ich jetzt auf diesen Fremden an der Bar zugehe. Weil die Alternative noch schlimmer ist. Die Alternative sind diese mitleidvollen Blicke, die ich meide wie Risse im Gehsteig und Chips, die aus irgendetwas anderem als Kartoffeln gemacht sind. Die Alternative ist, mit dem Kater zu Hause zu sitzen und Frozen Cocktails zu schlürfen, um die trostlose »Ich bin allein«-Weltuntergangsstimmung zu betäuben, die in einer Endlosschleife in meinem Magen rumort. Die Alternative ist, ganze Abende damit zu verplempern, mir Wiederholungen von Fernsehserien reinzuziehen, die ich schon gesehen habe, um mich nicht konzentrieren zu müssen, und mich zu fragen, ob der Kater mich vermissen würde, wenn ich mich unter seinem pummeligen, pelzigen Körper einfach in Luft auflösen würde.

In dem Gedränge an der Bar tut sich eine Lücke auf, und ich schlüpfe hinein, genau neben Tom mit den Haaren und den Armen und dem T-Shirt, und wie ein Schauspieler auf sein Stichwort sieht er mich an und lächelt.

»Hi«, sagt er und beugt sich leicht hinunter, als die Musik an Lautstärke zunimmt. Lucy hat recht, auch wenn es ärgerlich ist, sie hat fast immer recht. Er sieht tatsächlich gut aus, diese arme Zielscheibe von einem Mann, der von Lucy dazu auserwählt wurde, den zerquetschten, überfahrenen Holzapfel, der mein Herz ist, zu heilen. Und die Zähne – so weiß und ebenmäßig wie ein Colgate-Reklamelächeln. Der Glückspilz. »Natalie, richtig?«

»Richtig.«

»Cool.« Er streckt eine große Hand aus, und ich ergreife sie. Kräftig, glatt, nicht schmutzig, nicht schwitzig wie ein Sack feuchter Rüben. Das ist immerhin etwas. »Ich bin Tom.«

»Tom.«

Er neigt den Kopf zu einem Nicken. »Also, äh, deine Freundin hat gesagt, ihr seid hier, weil eine von euch geheiratet hat?«

»Ja«, antworte ich, während sich jemand an mir vorbeizwängt und meine Rippen gegen die Kante der hölzernen Bar rammt. »Ja, das ist … das ist richtig. Priya. Sie hat vor ein paar Monaten geheiratet, und dann ist sie in die längsten Flitterwochen aller Zeiten abgerauscht. Es war eine Weihnachtshochzeit. Mit allem Drum und Dran.«

»Interessant.« Das Zucken eines Lächelns huscht über Toms Gesicht. »Gab’s irgendwelchen Schnee?«

»Kunstschnee. Jede Menge.«

»Großer Gott.« Er stößt einen Atemzug durch die Lippen aus. »Ich hatte ein Nein erwartet, aber – Kunstschnee. Dann haben sie’s wohl ernst gemeint, die beiden.«

»Auf jeden Fall. Haben sogar ein Flitterwochen-Baby gemacht.«

»Sehr produktiv.«

Eine Frau hinter der Bar lehnt sich über den Tresen, nickt mit dem Kinn in meine Richtung. Zwei riesige Acryl-Ananasfrüchte baumeln als Ohrringe wie Pendel zu beiden Seiten ihres Kopfes.

»Margarita, bitte«, bestelle ich laut, und sie nickt, während noch ein lächerlicher Tanzsong einsetzt, und das zum Jubel von Essensgästen – seltsam unpassend für ein Restaurant mit einer Malecke und einem Bild von einem sonnenbadenden Grillhähnchen im Fenster. »Ich verstehe diesen Laden nicht«, sagte ich zu Lucy, als wir ankamen, und sie erwiderte: »Na ja, warum müssen Restaurants denn überhaupt verstanden werden, Natalie?« Ich wende mich wieder zu Tom mit den Zähnen um. »Und, mit wem bist du hier?«

»Ein paar Kumpeln«, sagt er und schwenkt den Drink in seinem Glas. Seine Augen sind blau, und seine dunklen Wimpern sind so gebogen, wie sie es nur bei Leuten sind, die nicht darauf achten. Zähne. Wimpern. Der doppelte Glückspilz. »Einer von ihnen, Si, er ist von seinen Reisen zurückgekehrt. Wurde geschieden und hat einen auf Eat Pray Love gemacht. Haben ihn nicht gesehen seit – vielleicht zwei Jahren, bis heute Abend?«

»Oh. Das ist ja nett.«

»Irgendwie«, sagt er mit einem Schulterzucken.

»Irgendwie?«

»Na ja, er ist als eine Art Russell Brand zurückgekommen. Weißt du, was ich meine? Voller Weisheit. Hat sich einen Bart stehen lassen. Einen Teppich als Umhang getragen.«

Ich lache. Na ja, wenigstens ist er witzig. Als ich mich das letzte Mal in einer Bar wie dieser wiederfand, zückte der Typ ein Blatt Papier aus seiner Brieftasche, auf dem ein Behandlungsplan für seinen eingewachsenen Zehennagel aufgelistet war.

»Ach, na ja, das passiert leider jedem von uns, Tom«, sage ich. »Ich habe meine Freundin Lucy auch für eine Weile verloren – an Weisheit und Teppiche.«

»Ach wirklich?«

»Oh ja. Sie war sechs Monate auf Reisen. Kam besessen von ätherischen Ölen und Einläufen zurück. Hat nonstop meditiert. Eine beängstigende Menge gerösteter Süßkartoffeln ausgehöhlt.«

Tom lacht, und ich weiß prompt, dass es ein Lachen ist, von dem Priya behaupten würde, es hätte ihre Vagina zum Platzen gebracht, wenn sie statt mir hier sitzen würde. Es ist tief, warm, leicht kratzig. Und er riecht nett. Frisch, nach Dusche, nach warmem, zitrusartigem Aftershave.

»Sechs neunundneunzig.« Die Barfrau mit den Ohrringen stellt einen Drink auf den Tresen, auf eine winzige schwarze Serviette. Sie hält mir ein Kartenlesegerät hin, ohne zu lächeln.

»Danke.«

»Ah, Scheiße, ich …« Tom taucht eine Hand in seine Gesäßtasche, und ich ziehe meine Karte über das Leuchtdisplay, bevor er sich die Rechnung schnappen kann.

»Schon gut«, sage ich, nehme einen Riesenschluck und dann gleich noch einen hinterher, und er starrt mich an, als würde er Zeuge, wie sich jemand neben ihm mit bloßen Händen über eine ganze Pekingente hermacht. »Ich hab’s schon.«

»O-kay, aber ich wollte eigentlich …«

»Hör zu, Tom.« Jetzt ducke ich mich, als ob ich Klartext mit diesem armen Kerl reden wollte, der mich hier am Hals hat. »Es tut mir leid – und danke. Doch ich will nicht, dass du mir einen Drink ausgibst. Wirklich nicht. Das ist sehr lieb von dir. Aber nein.«

Zielscheiben-Tom starrt mich an.

»Aber ich wäre dir sehr dankbar, wenn du das hier … du weißt schon, einfach noch ein bisschen länger durchziehen könntest? Zehn Minuten mit mir reden, ab und zu mal lachen, und dann, ich weiß nicht, kannst du sagen, dass dir langweilig geworden ist oder so …«

Jetzt lacht Tom, zieht verblüfft eine Augenbraue hoch und holt sein Handy aus der Gesäßtasche. Er hält es vor mich hin wie ein Sommelier, der eine Flasche Wein präsentiert. »Mein, äh … mein Handy hat geklingelt.« Er schneidet eine Grimasse. »Ich hatte nicht vor … dir einen Drink auszugeben.«

»Ah. Na dann. Alles klar. Verstehe.« Verdammt.

»Aber hör zu, ich rede gern ein bisschen mit dir.« Er fährt sich mit einer Hand durch das dunkle Haar, zuckt die Schultern. »Lache auch dann und wann. Als deine … ich weiß nicht. Wie würdest du es nennen? Marionette? Schachfigur? Dein Lückenfüller?«

»Entschuldige«, stoße ich hervor, und ich kann nicht sagen, ob es Scham oder Alkohol ist, was meine Wangen jetzt in zwei glühend heiße, brutzelnde Lammkoteletts verwandelt. »Es tut mir leid … dass ich da eben so vorgeprescht bin. Ich bin einfach …«

»Hey.« Tom tut es mit einer Handbewegung ab. »Im Ernst, schon gut, vergiss es einfach.«

Ich beende meinen Satz nicht. Stattdessen trinke ich. Hauptsächlich, weil ich nicht weiß, wie ich ihn beenden soll. Ich bin einfach – was? Was bin ich? Abgestumpft mit zweiunddreißig? Ein Häuflein Elend? Nicht mehr geübt darin, Leute zu treffen? Neue Leute. Alte Leute. Um in Zuneigung zu verfallen oder in Lust, geschweige denn je wieder in richtige Liebe? Und traurig genug, um ständig an irgendwelche mysteriösen Musiknoten zu denken, die irgendjemand an einem Bahnhofsklavier hinterlassen hat, wie diese Leute, die sich auf die Jagd nach Außerirdischen machen, sobald sie ein bisschen flach gedrückten Weizen in einem Feld neben der A12 entdecken? Ich weiß es nicht. Genau das ist es ja. Seit Russ gestorben ist, weiß ich gar nichts mehr. Was ich fühle, wer ich bin, was noch Spaß macht, was ich will. Mein Leben ist nichts als ein Wirrwarr unbeendeter Sätze. Ich bin ein Wirrwarr unbeendeter Sätze.

»Würde es dir etwas ausmachen?«, frage ich. »Mein … sagen wir, Lückenfüller zu sein? Nur für ein paar Minuten.«

Tom grinst, zuckt wieder mit den Schultern und führt das kleine Whiskyglas an seine Lippen.

»Soll mir recht sein.« Er trinkt einen Schluck. »Außerdem hat Si irgendeine seltsam glotzende Fremde an Land gezogen, und Phan – er telefoniert draußen mit seiner Frau. Sie traut ihm kein bisschen über den Weg.«

»Sollte sie das denn?«

»Scheiße, nein. Ich tu’s jedenfalls nicht.« Er trinkt noch einen Schluck und grinst mich an. »Also dann, ich gehöre ganz dir. Schieß los. Was ist mein erster Job? Als Natalies Lückenfüller.«

Ich lache – und Gott sei Dank. Gott sei Dank ist Zielscheiben-Tom normal und entspannt und so ziemlich ohne diesen Blick in den Augen, der besagt, dass ich für ihn bloß eine schwer zu knackende Nuss bin. Ich bin diesen Blick gewohnt. Diesen »Haha, sie sagt vielleicht, sie ist nicht interessiert, aber ein paar Drinks, ein paar alberne kleine Komplimente, und sie wird ihre Meinung bald ändern und Wachs in deinen Händen sein, Kumpel«-Blick.

»Einfach nur dastehen«, antworte ich, »und wie ich bereits sagte, einfach ein bisschen lachen, ein bisschen quatschen …«

»Leicht genug.«

»… ab und zu nicken.«

»Okay. Und du wirst …«

»Oh, ich werde so tun, als ob ich eine schöne Zeit hätte. Als Bezahlung.«

»Mach eine wirklich schöne Zeit draus«, ergänzt Tom. »Du weißt nie, wer zusieht.«

»Abgemacht. Und ich werde es so aussehen lassen, als ob ich wirklich froh bin, dass wir uns kennengelernt haben, wenn du willst? Dass sich jede Stunde wie eine Minute anfühlt, weil es einfach so leichtfällt, mit dir zu reden …«

»Natürlich.«

»So viel Chemie …«

»Unmengen.«

»Und ich werde so tun, als ob ich wirklich, wirklich, wirklich unglaublich auf dich …« Und dann erstarre ich, die Lippen geteilt wie ein gespenstisches Porträt. Die vierte Margarita hat bereits ganze Arbeit geleistet – hat mich dieses klitzekleine bisschen zu weit geschubst. Mein Schutzwall und mein Filter liegen als kleiner Schutthaufen zu unseren Füßen. Ich stehe nicht auf ihn. Weil ich auf niemanden mehr stehe, offenbar. Aber »Ich werde so tun müssen, als ob ich auf dich stehe« zu einem entspannten und freundlichen Fremden in einer Bar zu sagen, ist nun wirklich nichts, was der barmherzige Samariter gutheißen würde, oder?

Tom zieht eine dunkle Augenbraue hoch. »Als ob du …?«

»Ach, nichts.«

»Ach, nichts«, wiederholt er belustigt, mit einem Lächeln, das fast ein Lachanfall ist, und diesmal ist es Tom, der sich duckt. »Wenn ich hier bloß eine Marionette – Entschuldigung, ein Lückenfüller – sein werde, dann ist es, denke ich, nur fair, dass du diesen Satz beendest.«

Ich verziehe hinter meinem Glas das Gesicht. »Oh Gott. Na schön. Ich … ich wollte sagen … auf dich stehe«, gebe ich beschämt zu, und dann sprudele ich hervor, mit kaum einer Pause zwischen jedem Wort, »aber was ich eigentlich meine, ist, ich stehe heutzutage auf niemanden. Im Ernst, das tue ich nicht. Und du könntest – du könntest, ich meine, Adam Driver sein oder Vince Vaughn oder …« Ich breche ab, als ich spüre, wie sich die Worte »dieser Lurch-Typ mit den Schultern auf Roxannes Party« in meiner Kehle sammeln. »Ich bin einfach … Es ist einfach etwas, was ich eigentlich nicht tue. Nicht mehr. Dieser Zug … ist abgefahren. In die Luft gesprengt. Ein Wrack am Boden eines Abgrunds. Bedeckt mit … Moos.«

Tom sieht mich einen Moment an, dann breitet sich ein Lächeln auf seinem attraktiven Gesicht aus. »Na ja, das ist … das ist gut.« Dann beugt er sich vor und ergänzt: »Denn ich stehe eigentlich auch nicht auf dich.«

»Gut!«

»Bin selbst ein bisschen moosbedeckt, um genau zu sein …«

»Perfekt.«

Tom lacht, wirft einen Blick über die Schulter. »Okay, also … Was ist das erste Thema? Deine Freundinnen sehen übrigens rüber.«

»Natürlich tun sie das«, erwidere ich, und ich spüre eine seltsame Zuneigung für Zielscheiben-Tom in mir aufblühen, weil er so schön mitspielt, weil er mein Komplize ist. »Thema? Keine Ahnung. Wie wär’s, wenn du … von deinem Job schwafelst? Sagen wir, zehn Minuten. Das dürfte reichen.«

»Okay, das ist leicht. Fotograf.«

»Interessant.«

»Interessant.« Tom stöhnt, verzieht den Mund zu einer Grimasse. »Gott, Natalie, hab Nachsicht mit mir …«

»Im Ernst!« lache ich. »Es ist interessant. Ehrlich.«

»Oje, du warst aufrichtig.«

»Ja.«

Tom lacht, rutscht näher heran, ein Arm, warm und straff unter seinem Hemd, berührt meinen, und ich weiß, dass die Mädchen aus der Ferne zusehen werden, sich siegreich fühlen, einander anstoßen, voller Hoffnung, dass es das ist, und bei dem Gedanken will ich am liebsten über den Tresen hechten und mich in einem Bierfass ertränken, um Monate später gefunden zu werden, wie ein überdimensionaler Tequilawurm. »Soll ich mit Fotoausrüstung anfangen? Oder soll es lieber etwas von Begegnungen mit coolen Prominenten sein oder …«

»Oh, eindeutig coole Promis.«

»Ich habe sogar eine Adam-Driver-Story.«

»Wirklich?«

Tom grinst. »Sie haben mich klug gewählt, deine Freundinnen, oder?«

Kapitel 2

»Sycamore 3, richtig?«

»Bitte. Hinter der Dark Lane.«

Der Taxifahrer nickt mir aus dem trüben, verschwommenen Dunkel des Vordersitzes zu, und der Wagen rumpelt davon, während der goldene Streifen erhellter Pubs und Bars vor dem Fenster verschwimmt wie ferne Suchscheinwerfer. Gott sei Dank ist es vorbei. Wieder ein Ausgehabend – geschafft. Ein großes Kästchen – abgehakt. Und dieser war sogar so erfolgreich, dass er sie mindestens für ein paar Wochen in Schach halten dürfte. Sechs, vielleicht sogar bis in die Zwei-Monats-Zone. Gott. Wie verdammt deprimierend bin ich eigentlich? Früher habe ich diese Abende mit meinen Freundinnen geliebt. Früher habe ich geliebt, wie wir alle ein solch beschäftigtes Leben führten, dass sich unsere Ausgehabende eher wie eine Herausforderung dafür anfühlten, wie viele Worte und Neuigkeiten wir in einen Vier-Stunden-Slot quetschen konnten. Ich habe es geliebt zuzuhören. Ich habe es geliebt zu lachen. Ich habe es geliebt, am Ende des Abends bereits den nächsten zu planen, wir alle mit unseren Handys vor der Nase, unsere Kalender-Apps geöffnet, der kleine Freudentaumel, wenn ein Termin uns allen passte. Jetzt verbringe ich sie nur noch damit, meine Flucht zu planen wie eine Margarita-befeuerte Geisel.

Natürlich haben sie es mir abgenommen. Lucy, Roxanne und Priya haben die ganze Tom-Geschichte samt und sonders geschluckt, und ich denke, vielleicht hätte sogar ich sie geschluckt, wäre ich nicht diejenige gewesen, die an dieser Bar saß. Letztendlich wurden wir noch ein richtig tolles Team – die beste britische Single und Zielscheiben-Tom mit den Zähnen. Wir waren das perfekte Duett. Wir redeten nonstop und länger als die vereinbarten paar Minuten, und er brachte mich tatsächlich zum Lachen. Und zwar so richtig zum Lachen – nicht nur zu einem dieser gekünstelten, grunzenden Schnauber, die ich im Allgemeinen jedes Mal lahm durch die Nasenlöcher ausprusten muss, wenn Lucy beschließt, ihre lächerliche Verkupplungsnummer abzuziehen. Dann leuchtete sein Handy in seiner Hand auf, sein Blick huschte hinunter, und ich verspürte einen Anfall von Erleichterung. Endlich konnte ich nach Hause gehen; das Avocado Clash und seine Hühnchengerippe und überteuerte Guacamole hinter mir lassen.

»Ah. Ich muss gehen und den betrunkenen Si in einen Bus nach Hause verfrachten«, sagte er und leerte seinen Drink. »Er ist mit dieser glotzenden Frau rausgegangen, und jetzt hängt er irgendwie draußen vor dem Burger King an der Ecke und … kotzt? Aber hör zu, ich kann wiederkommen. Oder auch nicht, dann darfst du mir die Schuld zuschieben. Sagen, ich hätte … gekniffen oder so?«

»Bist aufs Klo gegangen«, ergänzte ich.

»Nie zurückgekommen.«

»Ja. Ein perfektes Arschloch. Tom, das perfekte Arschloch.«

»Das bin ich«, lachte er und ließ diese entzückenden geraden Zähne aufblitzen. »Na dann, wir sehen uns, Natalie?«

Ich neigte kurz den Kopf, ein dankbares Nicken.

»Na ja, dann gehe ich jetzt besser mal und äh … lasse dich sitzen.«

Er zögerte kurz, berührte meinen Arm, nur ein ganz sanftes Streifen mit den Fingern, und verschwand in den quirligen, knoblauchgeschwängerten Dunst des Restaurants. Ich blieb noch ein bisschen länger an der Bar sitzen, zerrupfte die Ränder einer feuchten Serviette, schluckte die Tränen hinunter, die sich sammelten, verzweifelt bemüht, freizukommen, mein Gesicht ein bisschen früher als geplant in ein verrotztes, verquollenes Kuddelmuddel zu verwandeln. Natürlich, als ich mich zu meinen Freundinnen umwandte, war ihre geballte Aufmerksamkeit längst auf mich gerichtet. Drei sesshafte Frauen, die sich für einen Abend eine Auszeit von ihrem ach so beschäftigten, ausgefüllten Leben nahmen, um Zeuginnen einer Tragödie zu werden. In der Hauptrolle: ich.

»Hat mich sitzen lassen«, hauchte ich ihnen mit einem theatralischen Schulterzucken zu, dann leerte ich meinen Cocktail, gab Erschöpfung vor und entschuldigte mich, um auf die verregnete Straße hinauszutreten und auf mein Uber zu warten. Und ich bin froh, dass ich Priya überreden konnte, bei den anderen drinnen zu bleiben, denn die Tränen kamen, noch bevor ich auch nur draußen auf dem Gehsteig war, und jetzt fließen sie in Strömen. Heiße, dicke Tränen. Eimerweise und endlos laufen sie mir übers Gesicht, wie der Regen aus der undichten Dachrinne vor unserem Schlafzimmer zu Hause. Tom, das perfekte Arschloch, und ich, das perfekte Klischee – betrunken und weinend an einem Freitagabend in einer Pendlerstadt, die versucht, mehr zu sein, als sie ist. Und es war der Margarita-Effekt, na klar, aber natürlich war er das auch nicht, beides auf einmal. Es war die Bar, wimmelnd von glücklichen Leuten. Es war Priya, seit Neuestem verheiratet, seit Neuestem schwanger, Roxanne, die Ian eine SMS schrieb, wann sie nach Hause kommen würde, ein winziges, selbstzufriedenes Lächeln im Gesicht. Es war der Moment, als ich Russ’ Lieblingsessen auf der Spezialitätenkarte sah. Es war das Wissen, dass diese leere Taxifahrt auf mich wartete. Es war Tom. Der liebenswürdige, freundliche, normale, gut aussehende, witzige Tom – und wie ich nichts gefühlt habe. Und es war dieses Notenblatt – dieser einzelne Song, den ich gestern bei dem Klavier am Bahnhof gefunden habe. Ein Song, den ich im Laufe der Jahre unzählige Male für Russ gespielt habe. Auf dem Keyboard in meiner winzigen Studentenbude, während er aufrecht in meinem Bett saß und mir zusah, zerzauste Haare, schläfriges Grinsen im Gesicht. Zu Hause. An einem Hotelpiano auf Kreta, während wir auf unser Taxi zum Flughafen warteten. Im Krankenhaus, bevor er starb. Und ich weiß, dass es vermutlich nichts zu bedeuten hat. Aber andererseits, warum war dieses Notenblatt da? War es für mich bestimmt? In der ganzen Zeit, die ich schon dort spiele, ist das noch nie vorgekommen …

Der Verkehrsfunk plätschert im Taxi vor sich hin – Verzögerungen auf der M25, eine Straßensperrung, eine Umleitung –, und der Wagen scheint zu viele Abzweigungen zu nehmen, während er die quirlige Stadt hinter uns lässt und auf die dunklen grünen Vororte zusteuert. Mein Kopf rumpelt gegen das feuchte, kalte Fenster, und Regentropfen schlängeln sich über die Scheibe wie Flüsse auf einer Landkarte. Ich kann nicht mehr zählen, wie viele Taxifahrten wir unternommen haben, Russ und ich, zusammengequetscht auf der Rückbank, während er mir das Haar aus dem Gesicht strich, der Geruch unseres Weichspülers genau derselbe – ein Beweis unseres geteilten Lebens. Russ’ Arbeitshemden und meine Tops und unsere Pyjamas, die sich zusammen in der Waschmaschine drehten und drehten, ineinander verheddert. Und ich wünschte so sehr, ich könnte mich jetzt selbst in ihm verheddern. Ich wünschte, ich würde zu ihm nach Hause fahren. Ich wünschte, ich wäre ein paar Meilen davor, zur Haustür hereinzustolpern, um ihn auf dem Sofa anzutreffen, schlafend, vor einem Netflix-Anime, das noch immer läuft, vor niemandem, unser Kater Toast zusammengerollt auf seiner Brust.

»Ist es Ihnen zu heiß da hinten?«, fragt der Fahrer, einen Finger über einem orange schimmernden Knopf auf dem Armaturenbrett in der Schwebe.

»Nein. Schon gut«, antworte ich mit belegter Stimme.

»Alles klar.« Während er das sagt, wabert ein Schwall warmer Luft um meine Füße.

Letzten Monat war es zweieinhalb Jahre her, dass Russ gestorben ist. Dreißig ganze Monate. Na ja, einunddreißig jetzt. Und meine Freundinnen sprechen es nie laut aus, aber ich weiß, dass sie es denken. Warum ist sie noch immer nicht darüber hinweg? Warum will sie nicht nach vorn schauen? Es ist über zwei Jahre her. Zwei! Und ich weiß, wie sie sich fühlen, weil ich die Frustration auch fühle. In einem Post in einem Forum habe ich einmal gelesen, dass es bei einer Frau – und sie war in meinem Alter – zwei Jahre dauerte, bis sie plötzlich merkte, dass sie nicht mehr morgens aufwachte und als Erstes an ihren Ehemann dachte. Und da ich unser gleiches Alter als Beweis dafür ansah, dass es mir genauso gehen würde, wartete ich darauf. Ich wartete darauf, so wie jemand auf eine Pause wartet, auf einen Urlaub, auf das Ende einer Kündigungsfrist, um einen beschissenen, toxischen Job an den Nagel zu hängen. Aber der Zwei-Jahre-Meilenstein kam und ging, verstrich wie eine Jahreszeit, und die Gedanken sind noch immer die gleichen. Ein bisschen verwässert, aber die gleichen. Manchmal denke ich sogar, dass sie schlimmer geworden sind, was ich nicht laut auszusprechen wage, aus Angst, dass Mum mich zu irgendeiner Art Einrichtung karrt, während sie kreischt: »Sie kann nicht nach vorne blicken! Wir haben alles versucht! Sie kriegt es einfach nicht hin, Doktor.«

Ich glaube, die Sorge, dass ich etwas vergessen könnte, ist noch schlimmer. Russ’ Geruch, die tiefe Narbe an seinen wunderschönen Händen, die sanfte dunkle Stimme, das schüchterne Kichern und die Röte auf seinen Wangen, wenn ich irgendetwas zu laut sagte oder ihn vor zu vielen Leuten küsste. Manchmal teste ich mich selbst, und ich bin jedes Mal erleichtert, wenn ich mich noch an alles erinnern kann – als würde ich bei irgendeinem düsteren, schrägen Pub-Quiz alle Fragen richtig beantworten können.

Der Fahrer räuspert sich. »Sycamore 3, richtig?«, fragt er noch einmal, und als ich mit »Ja, bitte« antworte, wird mir bewusst, wie viel ich tatsächlich geweint habe. Ich klinge wie Brian Blessed. Aber irgendwie noch schlimmer. Brian Blessed mit einer Erkältung. Brian Blessed nach einer Mandel-OP (und vielleicht mit einer bedauerlichen postoperativen Infektion noch dazu).

Der Wagen biegt in die vertraute und, wie der Name schon sagt, dunkle Dark Lane ein, und ich sehe durchs Fenster zu, wie die Landschaft verschwommen an mir vorbeizieht. Bäume, Bäume, Bäume, ein idyllisches, zurückgesetztes Reetdachhaus, Feld, Feld, Bäume, noch ein idyllisches Bilderbuch-Cottage. Es fällt mir nach wie vor schwer zu glauben, dass wir das tatsächlich geschafft haben: hier ein Haus zu kaufen, in diesem entzückenden kleinen Bournebridge, mit seiner eigenen Furt und der Farm und den efeubewachsenen Häusern, mit Vertrauenskassen und Gärten, die auf BBC2 gezeigt werden. Und egal, wie erschöpft und ernüchtert mein Herz sich fühlt, diese Tatsache sorgt jedes Mal dafür, dass es ein klein wenig stolzer schlägt, selbst an den schlimmsten Tagen. Wir haben ein Haus gekauft. Russ und ich haben ein Haus gekauft. In einem richtigen Dorf, wie normale Erwachsene. Mit einem Kamin, der echtes Holz braucht. Mit einer Komposttonne und Blumenbeeten und in einer der Straßen, die von mehr Pferdeäpfeln als parkenden Autos gesäumt sind.

»Gleich hier«, sage ich überflüssigerweise, denn die Sycamore ist nur ein winzig kleiner Bogen mit drei zurückgesetzten Cottages an einer Landstraße, und er könnte eigentlich nirgends halten außer genau vor ihnen oder dem tiefen, dunklen, verdammten Wald. Aber ich sage es trotzdem, denn es nicht zu tun, ist, als würde man gegen irgendein ungeschriebenes Taxigesetz verstoßen.

Er fährt vor dem Haus vor – unserer Nummer 3. Ein warmes gelbliches Licht schimmert durch die Rauten des nur ein klein wenig wackeligen Bleiglasfensters. Erleichterung. Grauen. Beides auf einmal.

Ich bezahle den Fahrer, gebe ihm mehr Trinkgeld, als ich es normalerweise tun würde. Hauptsächlich, weil ich in seinem Wagen geweint habe und weil er nicht gefragt hat, warum oder ob es mir gut geht.

»Danke, meine Liebe«, seufzt er. »Passen Sie auf sich auf.« Dann fährt er los, sobald ich die Wagentür hinter mir zugeschlagen habe, und seine Reifen spritzen über den nassen Asphalt, bis er verschwunden ist.

Und im nächsten Moment sind da nur noch ich und die kalte pechschwarze Dunkelheit. Das ist etwas, was einem am Leben auf dem Land – und ich denke, wir können dieses kleine Dorf fernab der Stadt mit ihrem ganzen Trubel durchaus Land nennen – nicht bewusst ist, bis man dorthin zieht. Wie verdammt dunkel es ist. So dunkel, dass deine Augen dir Streiche spielen, Gestalten erschaffen, sich Bewegung einbilden, wo keine ist. Das ist der Grund, weshalb ich immer ein Licht brennen lasse. Das und damit ich, falls ich je ein komisches Gefühl in einem Wagen mit einem Taxifahrer haben sollte, der mir ein bisschen unheimlich ist, sagen kann, mein Mann ist zu Hause, und das Licht, das schon brennt, meine Geschichte umso realistischer macht. Und manchmal höre ich die Worte einfach gern aus meinem Mund. Mein Mann ist zu Hause. Gegenwartsform.

Ich greife in meiner Tasche nach den Hausschlüsseln, und meine Schuhe knirschen auf dem gepflasterten Gartenweg – den uralten terrakottafarbenen Rauten, in die Russ sich still und heimlich verliebte, als wir das Cottage vor vier Jahren besichtigten. Er fotografierte sie unauffällig mit seinem Handy wie ein Paparazzo auf einer Mission: um eine einzige perfekte Aufnahme historischer Originaldetails zu bekommen.

»Wir können doch nicht einfach ein ganzes Cottage nur wegen des Gartenwegs kaufen«, flüsterte ich, während der Makler uns herumführte.

»Ja, aber es ist nicht nur der Weg, oder, Nat? Es sind die Balken und die Fenster und … hey, sieh dir das an. Sieh dir diesen kleinen alten Bilderbuchmann vor dem Fenster an – der Nachbar. Er pflanzt irgendetwas.«

»Das tut er nicht wirklich, oder?«

Russ grinste. »Das ist es, was sie auf dem Land tun, Nat. Sie leben vom Land. Wie dieser Typ, auf den deine Schwester steht. Hugh Fearnley-Thingybob. Sie machen Chutney und Suppe und Pies und das alles, aus ihren eigenen Karotten. Das könnten wir sein. Wir könnten ein Gewächshaus haben. Ich kenne Anbieter von der Arbeit, wir könnten ein richtig tolles kriegen …«

»Russ. Selbst Kakteen gehen unter meinen Händen ein«, erwiderte ich und stellte mich zu ihm ans Fenster. »Ich kaufe Suppe, und dann schütte ich sie nach dem ersten Löffel weg, weil mir wieder einfällt, dass ich Suppe hasse und nur wünschte, ich wäre jemand, der Suppe mag. Ich habe es einfach nicht in mir, auch nur ein einziges Gemüse anzubauen.«

Nachdem unser Makler den Raum verlassen hatte, flüsterte Russ lächelnd: »Ich meine, um fair zu sein, woher wollen wir wissen, dass es wirklich Gemüse ist? Woher wollen wir wissen, dass er nicht eben eine Leiche verbuddelt hat? Dieses ganze Geld, und wir kriegen Patrick Bateman als Nachbarn …«

Und in dem Augenblick wusste ich, wegen seines Lächelns, wegen der Art, wie er über Gewächshäuser und Chutney redete, der Art, wie er Nachbar sagte, dass das Haus bereits unseres war, dass wir es tun würden. Dass wir dieses windschiefe, baufällige kleine Cottage mit den Fliesen und Balken und der Feuchtigkeit und dem bröckelnden Putz neben dem niedlichen alten Mann in dem Pullover kaufen würden. (Roy, so heißt er. Und es war Lauch, wie wir später herausfanden. Keine einzige Leiche. Auch wenn er so verbittert ist, dass ich oft denke, es könnte ihn vielleicht aufmuntern, ihm eine schöne frische Leiche oder auch zwei zu präsentieren.)

Die Haustür wimmert traurig und gequält auf, als ich sie öffne, wie sie es immer tut, wenn es regnet und das Holz im Rahmen quillt, und sie tut es wieder, als ich sie schließe und hinter mir absperre.

Ich pinkle, mache mir nicht die Mühe, mich abzuschminken, schlüpfe in einen Fleecepyjama, den ich schon zu viele Nächte hintereinander trage, und dank zu vieler Margaritas und zu vieler Tränen falle ich rasch in den Schlaf, und wie immer, seit Russ gestorben ist, auf seiner Seite des Bettes.

Kapitel 3

Shauna kommt durch die Tür hinter Goode’s Ladentheke wie eine Schauspielerin aus den Kulissen für ihren Auftritt auf der Bühne – die Schultern durchgedrückt, die Hände in die runden Hüften gestemmt, die Lippen leicht geöffnet, im Begriff, die erste Zeile der Szene zu sprechen. Aber beim Anblick von Jason schrumpft ihr Gesicht zusammen wie eine Walnuss.

»Was stehst du denn hier rum? Wartest du darauf, dass sie einen verdammten Tanz aufführt? Mach ihr wenigstens einen Kaffee. Entschuldige, Natalie.«

»Kann nicht, Shauna«, sagt Jason. »Wir sind mitten in unserem Ratespiel.«

»Oh Gott, nicht schon wieder.«

»Oh doch.« Jason schiebt die Hände in seine Barista-Schürze, strafft die Schultern, als machte er sich auf eine Schlägerei in einem Pub gefasst. »Natalie muss raten, zu welcher Band ich dieses Wochenende gegangen bin, und ich muss raten, welchen Song sie eben unten gespielt hat. Den letzten.«

»Wie, und dann wird sie bedient?«, fragt Shauna.

Ich nicke ihr zu. »Ja. Und er kriegt einen Brownie. Das ist der Deal.«

»Ich halt’s nicht aus.« Shaunas runde Augen huschen zur Decke, aber ein leises Lächeln zupft an einem Winkel ihres rosigen Mundes, wie bei einer Mutter, die ihre ungezogenen Kinder erwürgen und ihnen durch die Haare fahren will, beides auf einmal. »Nur damit du es weißt, er kriegt schon genug Brownies, Natalie«, sagt sie. »Isst die ganzen schief gebackenen. Diejenigen, die ich den Kunden nicht verkaufen kann. Er braucht nicht noch mehr. Oder? Verdammter Drückeberger.«

Es ist Dienstag, vier Tage seit dem Dinner und den Margaritas im Avocado Clash, und wie so oft sind Shauna und Jason die ersten Menschen, mit denen ich seitdem persönlich spreche. Das erste Mal, dass ich hierher, zu Goode’s, kam, einem winzig kleinen Coffeeshop in der St Pancras Station, war ein paar Monate, nachdem ich Russ verloren hatte. Genau wie heute war es ein bitterkalter Tag in London, der Bahnhof ein einziger riesiger Kühlschrank, und ich war nach einer knappen Stunde von einem quälenden Lunchtreff mit Lucy und ein paar alten Unifreundinnen geflüchtet. Es war eine Weste, die mir den Rest gab, ausgerechnet. Eine verdammte ärmellose Weste an einem Mann am Nebentisch – und die Sekunde des Zögerns, die folgte, als ich darüber nachgedacht hatte, ob es sich lohnte, Russ eine zum Geburtstag zu kaufen. Er trug sie gern zur Arbeit – Gärtnern. Grundstückspflege hauptsächlich, für riesige Häuser mit noch riesigeren Gärten – denn der Mann war ein Brennofen auf zwei Beinen. Immer heiß, nie mit Jacke, aber im tiefsten Winter trug er eine Weste, bis sie auseinanderfiel. Ich kann mich nicht an vieles von jenem Tag erinnern, nur dass ich mich entschuldigte und in der U-Bahn weinte, neben einem Mann, der als Charlie Chaplin verkleidet war (komplett mit einem schmalen aufgemalten Schnurrbart) und der mir ein Stück Küchenpapier aus seiner Jackentasche anbot, damit ich mir die Nase putzen konnte. Und dort, in St Pancras, während ich auf meinen Zug nach Hause wartete, das Herz in Trümmern, sah ich das Klavier.

Ich wusste, dass es dort stand. Ich war so oft an ihm vorbeigelaufen, früher, als ich mit meiner Freundin Edie in der City arbeitete und wir an einer kleinen Musikschule unterrichteten, aber an jenem Tag war es, als sähe ich es zum ersten Mal. Leer und reglos und tröstlich still in dem quirligen Chaos des Bahnhofs und meines eigenen lärmenden, verzweifelt wimmernden Gehirns. Ich setzte mich auf den Hocker, rückte ihn näher an die kalten, glänzenden Tasten heran. Ich hatte Angst vor dem Spielen, bis zu diesem Moment. Das Spielen erinnerte mich an Hoffnung und Glück und Erfolg. Das Spielen erinnerte mich an Russ und an die Pläne, die wir in einer Welt hatten, in der er hier bei mir war. Und die Vorstellung, wieder zu spielen, fühlte sich schmerzlich an – als äugte ich hinter einen Vorhang in eine Welt, die ich nie, nie wieder betreten könnte, selbst wenn ich es noch so sehr wollte. Aber ich drückte auf die erste Taste, dann die zweite – und ich spielte. Es fühlte sich nicht schmerzlich an – überhaupt nicht. Es war anonym. Niemand kannte mich im Bahnhof, niemand nahm Notiz von mir. Es hatte nichts zu bedeuten. Es gab bloß mich und die Musik und eine Leichtigkeit, die ich immer nur im Spielen gefunden habe.

An jenem Tag spielte ich zwanzig Minuten lang. Es fühlte sich nach Heilung an. Es fühlte sich nach Zuhause an. Danach holte ich mir einen Kaffee und ein Stück Karottenkuchen von Goode’s, um ihn auf der Zugfahrt nach Hause zu essen. Und wie bei allen Gewohnheiten hätte ich es niemals kommen sehen können. Im Bahnhof Klavier zu spielen und mir hier, bei Goode’s, einen Kaffee zu holen, ist einfach irgendwie von allein passiert, hat dienstag- und donnerstagmorgens, an zwei meiner freien Tage, Wurzeln geschlagen.

»Ähmmmm …«

»Ich will ja nicht witzig sein, Jason«, sage ich, »aber ich habe das Gefühl, ich kriege allmählich das, was Hungerwut ist, aber nach Koffein. Kaffeewut? Kaffeerage?«

»Okay, okay, ich tippe auf … es ist ein Elton-John-Song, richtig?« Jason beißt sich auf die Lippe und zeigt auf mich wie ein Markthändler, der ein Geschäft abschließt. Jason ist der liebenswerte ungezogene Junge, den wir alle auf der Mittelschule kannten, aber jetzt, mit dreiundzwanzig, ganz erwachsen. Der ständig seine Vorlesungen auf dem Kunstcollege schwänzt und immer so aussieht, als ob er eben über den besten Witz, den er je gehört hat, zu Ende gelacht hätte.

»Hm, aber welcher Song?«

Er stöhnt auf, fährt sich mit einer Hand durch die lange dunkelblonde Mähne. »Ach, Scheiße, keine Ahnung. Im Moment fällt mir kein einziger ein. Der mit dem … Klavier?«

»Wow. Ein Elton-John-Song. Mit einem Klavier. Das grenzt es natürlich ein.«

»Ich geb’s auf, Nat.«

»Na ja, ich nicht«, entgegne ich. »Ich weiß, zu welcher Band du gegangen bist.«

»Nein, weißt du nicht, aber red ruhig weiter.«

»Hyyts?«

Jason starrt mich mit offenem Mund an und reißt die Arme hoch und hinter den Kopf, als sähe er zu, wie ein Fußball den Pfosten trifft. »Heilige Scheiße. Das stimmt. Woher zum Teufel hast du das gewusst?«

»Du hast es mir gesagt«, gebe ich zu. »Letzte Woche. Ich erinnere mich, weil ich sie danach nachgeschlagen habe. Bin ihnen auf Spotify gefolgt und habe mir gedacht, okay, vielleicht hat er doch ein klein wenig Geschmack.«

Jason lacht und zuckt übertrieben die Schultern. »Na schön, Marple. Du hast gewonnen. Du kriegst deinen Kaffee.«

»Den ich allerdings bezahlen muss, sodass ich eigentlich gar keinen Preis gewonnen habe, oder? Nicht mal einen beschissenen.«

Shauna kichert, während Jason auf ein paar Tasten auf der Kasse drückt.

»Und wir kriegen einen Brownie«, sagt sie. »Das ist der Deal. Stimmt’s, Natalie? Und tipp den hier als schief gebackenen ein, Jason. Dieser Laden kriegt genug von mir, um gelegentlich einen kleinen Vorteil zu rechtfertigen.«

Ich steuere auf den kleinen runden Tisch vor dem Café zu, in dem weitläufigen, glänzenden Mezzaningeschoss des Bahnhofs. Er ist eigentlich nichts Besonderes. Ein winziger runder silberner Tisch mit einem Bein, dessen Platte wackelt. Aber er ist mein Lieblingstisch. Er ist der eine mit der perfekten Aussicht auf die Züge, die in Richtung Norden abfahren – von London nach Nottingham, in der Zeit, die man braucht, um ein ganzes überteuertes Speisewagen-Sandwich zu essen und sich eine halbe Geschichte über das seltsame Paar drei Plätze weiter auszudenken. Und er ist weit genug entfernt von der elektronischen Reklametafel, auf der Theaterplakate angezeigt werden. Oder zumindest Edies Poster, von dem Musical, in dem sie derzeit mitwirkt, und ich bin froh, wenn ich das nie wiedersehen muss. Die einzige Reklame, die ich im Augenblick sehen kann, ist eine für Haftcreme, und das ist mir sehr recht.

»So, bitte sehr. Ich mache Pause, gönne mir ein Sandwich.« Shauna stellt mir den Brownie und sich selbst eine Tasse roséfarbenen Tee hin, zieht mit einem Ruck den Reißverschluss ihrer Fleecejacke zu, schiebt kratzend einen Stuhl zurück und setzt sich zu mir. »Dieses verdammte Wetter heute …«

»Arschkalt.«

»Ich wundere mich, dass wir hier draußen nicht unseren eigenen Atem sehen können.«

»Ich weiß.« Ich lasse unerwähnt, dass sie ihn vor ein paar Stunden eindeutig hätte sehen können, als ich in aller Herrgottsfrühe hier aufkreuzte, nur um zu sehen, ob noch mehr Musiknoten für mich hinterlassen worden waren. Fehlanzeige. Und ich müsste lügen, wollte ich behaupten, dass mein enttäuschtes Herz in dem Moment nicht wie ein Stein zu Boden plumpste.

»Sind dir auf diesem Klavier heute Morgen nicht die Finger abgefroren?«, fragt sie mit einem warmen Kichern.

»Fast. Aber ich habe vorausgedacht. Habe meine treuen Einbrecherhandschuhe eingepackt.« Ich wackele mit den Händen vor ihrem Gesicht herum, die Fingerspitzen schauen aus beigen, fingerlosen Handschuhen heraus, und Shauna lächelt mich an.

»Es hat Köpfchen, dieses Mädchen.«

»Darüber lässt sich streiten.«

Shauna ist die Managerin von Goode’s – einem von acht Coffeeshops der Kette in London –, und alle Schulkantinenköchinnen, zu denen ich mich auf der Grundschule je hingezogen fühlte, sind in ihr, einer vierundsechzig Jahre alten Irin, verkörpert. Ich habe sie von dem Moment an geliebt, als wir uns das erste Mal unterhalten haben. Shauna ist stark und erträgt keine Idioten, aber sie ist auch die Erste, die dich aufsammelt und knuddelt, wenn du es am meisten brauchst, selbst wenn du nicht glaubst, dass du es tust. Sie verfügt über eine weise Intuition – die Art, die man als Wahrheit akzeptiert, ohne sie zu hinterfragen. Außerdem liebt sie Swingtanzen und Dwayne Johnson, wenn auch nicht so sehr wie ihre Söhne. Sie hat einen ganzen verdammten Haufen davon (fünf, glaube ich), und sie redet von ihnen allen, als wären sie Schutzheilige, aber mit zusätzlichen Muskeln und DIY-Fähigkeiten. Ich hätte nie erwartet, sie so sehr zu mögen wie den Kaffee und diesen perfekten kleinen Tisch – das war einfach ein Bonus, eigentlich.

»Was macht das Haus?«, erkundigt sich Shauna, nippt an ihrem Tee und stellt ihn dann wieder auf der Untertasse ab. »Irgendwelche fröhlichen Füchse, zu denen du aufwachst?«

Die Frage bringt mich zum Lächeln. Shauna weiß vermutlich mehr über mich als die meisten Menschen heutzutage. Selbst wenn sie viel um die Ohren hat, finden wir immer Zeit für einen kleinen Plausch, hier draußen.

»Heute nicht. Vermutlich waren sie irgendwo unterwegs, haben es die ganze Nacht miteinander getrieben …«

»Und deine Rohre?«

»Oh Gott, die waren heute Morgen wieder eingefroren. Bin aufgestanden, hatte kein Wasser für die Kaffeemaschine und … na ja. Der Föhn kam wieder mal zum Einsatz. Und das alles vor sechs Uhr morgens, was natürlich fantastisch war. Alte Landcottages machen nichts als Probleme …«

»Du liebe Güte, Natalie, du machst wohl Witze. Ich hab’s dir doch gesagt. Lass mich einen meiner Jungs vorbeischicken. Fünf, aus denen du auswählen kannst. Fünf.«

Fünf. Ich wusste es. Ein Punkt für mich.

»Im Ernst«, bekräftigt sie, und dann sieht sie an mir vorbei und lächelt, als einer der neuesten Stammgäste des Goode’s hereinschlendert – Notizbuch-Typ, wie ich ihn nenne (da er, zu niemandes Überraschung, still und leise in der Ecke sitzt, über ein, und jetzt kommt’s, Notizbuch gebeugt). Ich beobachte gern, wie die Stammgäste des Goode’s jede Woche zur selben Zeit auftauchen. Es fühlt sich irgendwie tröstlich an. Wie etwas, worauf man sich verlassen kann, vielleicht. Wie Seifenopern, die an bestimmten Tagen laufen, wie ein festlicher Braten, der jeden Sonntag zum Mittagessen aufgetragen wird, der Tisch passend dafür gedeckt. Und vielleicht, weil es mir in Erinnerung ruft, dass ich, Natalie Fincher, möglicherweise nicht die Einzige bin, die in einem monotonen Routinezyklus ihr Dasein fristet, während die Welt sich voller Jubel, Trubel und Heiterkeit fröhlich weiterdreht.

»Ich werde einen Klempner kommen lassen, Shauna«, sage ich. »Ich nehm’s mir immer wieder vor, es ist nur …«

»Wenn du verkaufen willst, wirst du so viel Geld sparen wollen, wie du kannst …«

»Ich weiß noch immer nicht, ob ich das Haus wirklich verkaufen will.« Manchmal denke ich, dass ich es tue – dann gehe ich mit dem Gefühl zu Bett, die Entscheidung getroffen zu haben, dass die Sycamore 3 eher Russ’ Traum war als meiner und dass es nur deshalb so aufregend war, weil wir es zusammen renovieren würden. Zusammen dort leben, zusammen dort wachsen, zusammen dort eine Familie gründen. Jetzt fühlt es sich die meiste Zeit an, als ob ich in einer Hülle lebte. Einem Filmset oder so, Jahre nachdem die letzte Folge ausgestrahlt wurde.

»So oder so«, sagt Shauna, »Klempner aus dem Internet werden dich übers Ohr hauen.«

»Und deine Jungs nicht«, ergänze ich lächelnd.

»Meine Jungs sind Engel.«

Dann taucht Jason auf, stämmig und großspurig, und stellt ein getoastetes Sandwich vor Shauna hin. »Na klar sind sie das«, meint er und schenkt mir ein Schuljungen-Lächeln.

»Ich lüge nicht«, erklärt Shauna.

Manchmal wünschte ich, Shauna wäre meine Mum, und ich weiß, meine Mum wäre am Boden zerstört, wenn sie wüsste, dass ich so etwas auch nur denke. Sie würde sich auf diese Art an die Brust fassen, auf die sie es jedes Mal tut, wenn sie aufgewühlt ist und zum Ausdruck bringen will, wie sehr. (Man stelle sich eine unterdurchschnittliche Amateur-Theatergruppe vor, die einen Herzinfarkt auf der Bühne darstellt.) Und es ist nicht so, dass meine Mutter keine gute Mutter wäre – natürlich ist sie das. Aber sie weiß zu viel. Sie kennt mich zu gut. Und das heißt, dass ich nichts vor ihr verbergen kann – wie ich zurechtkomme, wie ich nicht zurechtkomme, nicht einmal, wenn ich es ganz, ganz tief in mir vergrabe. Sie sieht es – Augen wie ein Gepäckscanner am Flughafen. Wohingegen Shauna – Shauna bohrt nicht nach, so wie Mum. Nichts, was ich je sage, scheint sie zu schockieren. Wenn ich auf einmal verkünden würde, ich hätte die Schnauze endgültig voll vom Leben und würde gehen und mich kryogenisch konservieren lassen, würde sie vermutlich nicken und sagen: »Das verstehe ich, aber wollen wir uns vorher vielleicht kurz setzen und ein Tässchen Tee trinken und ein bisschen plaudern? Bevor wir gehen und deine Reisetasche für die Tiefkühltruhe packen?«

»Und, wie war die Hochzeit?«, frage ich.

Eine Taube landet neben uns auf dem Boden, watschelt über die Fliesen und pickt dann an etwas, das nach vertrockneten McDonald’s-Pommesresten aussieht.

»Ach, na ja …« Shauna zuckt die Schultern. »Es war okay. Wir sind bald nach dem Dessert gegangen. Don kann sich für solches Zeug nicht so begeistern, wollte für sein Rugby zurück sein, weißt du.«

»Aber sag mir, dass du wenigstens zum Tanzen gekommen bist? Deine neuen Swing-Team-Schritte vorgeführt hast?« Shauna geht seit Neuestem zu einem Swingtanzkurs, mit einer Frau, die unten arbeitet, in der Buchhandlung, und nach ihrer ersten Stunde hat sie von nichts anderem geredet. Sie strahlte förmlich, als sie von den schlechten Tänzern und dem Herumgestolper und dem Mann erzählte, der ausschließlich gekommen war, um Frauen aufzureißen, und der letztendlich von einer Frau rausgeschmissen wurde, die von Kopf bis Fuß in getupften Stoff gekleidet war und vor dem ganzen Saal verkündete, dass sie Taekwondo könne. Und hauptsächlich davon, wie die Lehrerin Shauna ein Naturtalent genannt hatte. »Ich«, meinte sie und lachte übers ganze Gesicht. »Kannst du das glauben?«

»Don war nicht so angetan«, sagt Shauna jetzt. Sie gleitet mit einem Finger unter den straffen zartrosa Lederriemen ihrer Armbanduhr, den Blick fest darauf geheftet. »Aber, na ja, es macht mir nichts aus. Ich kann tanzen, wenn ich will, oder? Ich habe zweimal die Woche meinen Kurs …«

»Aber warum wollte Don denn nicht, dass du tanzt?«

Shauna zuckt wieder die Schultern, und der fliederfarbene Fleecestoff ihrer Jacke rafft sich an den Schultern. »Mein Mann ist nicht so der Tänzer. Kann sich selbst nicht wirklich dafür begeistern, und, na ja, ich wäre mir wie eine absolute Idiotin vorgekommen, allein das Tanzbein zu schwingen, daher … ach, egal.« Sie räuspert sich, faltet die Hände, und auch wenn ich jedes Mal nachbohren will, wenn das Thema auf Don, Shaunas Ehemann, kommt, weiß ich doch, dass das Shauna Maddens Zeichen für »Jetzt aber genug davon« ist. »Also, das Dinner«, wechselt sie das Thema. »Mit deinen Freundinnen. War es so, wie du befürchtet hast? Ich möchte wetten, das war es nicht, das sind diese Dinge doch nie …«

»Ähm …«

»Oje. Ein Albtraum?«

»Nein, nein, es war schon okay, aber sie …«

»Sie haben wieder versucht, dich zu verkuppeln.«

Ich stöhne in meinen Becher. »Lucy hat es versucht. Und er war entzückend, ehrlich gesagt – richtig heiß und auch supergroß. Hat richtig gut gerochen.«

»Na, das ist doch immerhin etwas.«

»Ich weiß. Aber … er hätte genauso gut Mr. Bean sein können. Eine Wachsfigur. Ein Mann, der aus altbackenem Kuchen gemeißelt ist. Ich bin einfach nicht bereit dafür.«

»Jemanden kennenzulernen, meinst du?«

»Oder … zu sein, was alle denken, dass ich inzwischen sein sollte? Oder so ähnlich. Gott, ich weiß es nicht einmal …«

Shauna nickt sanft, und die goldenen Creolen baumeln an ihren Ohren. Zwei Frauen schlendern an uns vorbei, und die Räder ihrer identischen bonbonrosa Rollkoffer quietschen hinter ihnen, als wären sie aufgeregt wegen der bevorstehenden Zugfahrt.

»Es ist völlig in Ordnung, dass du nicht bereit dafür bist, Natalie«, beschwichtigt mich Shauna. »Und hör zu, du musst gar nichts sein, weißt du? Du kannst für eine Weile einfach diese Person sein. Diese Natalie, vor mir, hier. Was ist denn falsch daran?«

Ich schneide eine Grimasse.

»Na ja, ich mag sie«, erklärt sie und nimmt einen kräftigen Schluck von ihrem Tee.

»Aber diese Natalie ist nicht lustig«, erwidere ich. »Diese Natalie ist mies drauf und geht nicht gern mit ihren Freundinnen zum Dinner aus und steht nicht auf große und gut aussehende Fremde mit fantastischen Zähnen. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es wäre, so zu fühlen. Doch so jemanden wollen sie.«

»Und mit ›sie‹ meinst du deine Freundinnen?«

»Mit ›sie‹ meine ich so ziemlich jeden, den ich kenne. Meine Freundinnen sagen es nicht laut, natürlich nicht. Aber ich glaube, sie alle wollen, dass ich wieder die bin, die ich früher einmal war. Die Singlefrau Natalie Fincher von der Universität. Die Singlefrau Natalie Fincher, die One-Night-Stands hatte und auf Hauspartys Typen angebaggert und auf der Toilette unter der Treppe mit ihnen geknutscht hat.« Lurch war ein guter Küsser gewesen, um fair zu sein. Zärtlich, leidenschaftlich.

»Aber … du bist in Trauer, meine Liebe. Das verstehen sie doch sicher.«

Und bei diesen Worten schlucke ich. In Trauer. Ich. Es scheint noch immer absolut unbegreiflich, dass ich in Trauer sein könnte. Eine Witwe. Eine Witwe mit zweiunddreißig. Witwen tragen Schwarz und wehklagen an Gräbern. Witwen häkeln den lieben langen Tag vor sich hin und warten darauf, dass ihre erwachsenen Töchter sie anrufen. Witwen fallen von Dachböden, während sie versuchen, ihre Weihnachtsbeleuchtung herunterzuholen, weil ihre erwachsenen Söhne zu beschäftigt in ihren Businessmeetings sind, um vorbeizuschauen. Das sagte ich einmal zu Lucy, und sie dämpfte ihre Stimme, als wären wir umstellt, und meinte: »Das ist so klischeehaft, Natalie. Um nicht zu sagen, deprimierend. Außerdem ist Häkeln heutzutage total angesagt. Ich folge einer Frau auf Insta, die sich einen Dreiteiler gehäkelt hat.«

Shauna nimmt noch einen kräftigen Schluck von ihrem Tee, als würde er nicht dampfen wie ein Whirlpool. »Die Sache ist die«, fährt sie dann fort, »egal, was die Leute vielleicht wollen, Natalie, niemand kann die Uhr zurückdrehen, sein, wer er oder sie früher einmal war. Und glaub mir, ich würde das sehr gern tun. Ich vermisse meine Taille. Ich vermisse es, so viel Energie zu haben, dass ich eine Nacht Schlaf locker auslassen könnte. Karaoke zu singen. Die Ringkämpfe in unserer alten Stadthalle anzusehen. Auf dem Zahnfleisch zur Arbeit zu kriechen und sie mit einem Kaffee und einer Zigarette trotzdem zu überstehen. Gott.« Sie lächelt, als könnte sie das alles in Bewegtbildern auf einem privaten Bildschirm vor sich sehen. »Aber das … das kann man eben nicht. Dinge ändern sich, und Leute ändern sich. Wir müssen einfach weiter aufwachen und vorwärtsgehen. Richtig?«

Ich nicke. »Richtig«, sage ich. Ich lasse unerwähnt, dass ich nicht das Gefühl habe, in den letzten zweieinhalb Jahren auch nur einen einzigen Schritt vorwärtsgegangen zu sein. Noch länger, wenn man die Monate mitzählt, die Russ nach seinem Unfall im Krankenhaus lag. Dass das Leben damals aufgehört hat für mich. Und dass ich eigentlich auch gar kein Bedürfnis habe vorwärtszugehen. Auf der Stelle treten. Das ist, was ich tue, nehme ich an. Das Gegenteil von dem, was ich früher getan habe, vor gar nicht so langer Zeit.

»Nimm zum Beispiel dieses Sandwich.« Sie hält eine Scheibe Brot vor sich hoch, als wäre es ein verrotztes Taschentuch. »Wenn ich die Uhr zurückdrehen könnte, würde ich Jason sagen, er soll seine verdammten Augen von dem Mädchen mit diesen ganzen Piercings abwenden und mir zuhören, wenn ich Käse und Tomate sage. Ich schwöre bei Gott. Bei ihm ist das Hirn in der Hose.« Shauna rutscht von ihrem Stuhl, tätschelt mir mit einer pummeligen Hand die Schulter. »Ich gehe besser wieder rein, kümmere mich um mein Sandwich, mache mich wieder an die Arbeit.« Und dann verschwindet sie in den Coffeeshop, das Toastsandwich in der Hand.

Ich bleibe noch eine Stunde sitzen, dann hole ich mir etwas Milch, Wein und Müsli in dem kleinen M&S-Supermarkt, und in dem Moment, in dem eine eisige Windböe meine Haare zerzaust, wird mir bewusst, dass ich meine Bommelmütze nicht aufhabe. Ich hatte sie ganz sicher bei mir, als ich hier ankam. Und ich hatte sie ganz sicher am Klavier. Ich muss sie unter dem Deckel dieses ramponierten Hockers liegen gelassen haben – wo sie hoffentlich noch immer ist. Genau das passiert, wenn man den Tag damit beginnt, im Morgenmantel und nicht zusammenpassenden Socken Rohre aufzutauen, und sich viel zu früh, viel zu müde aus dem Haus und in die viel zu kalte Kälte hinauskatapultiert. Spätestens am Vormittag ist dein Gehirn nur noch eine einzige riesige nutzlose Schinkenkeule.

»Scheiße«, sage ich zu niemandem außer meiner Packung Coco Pops und meiner Flasche Rotem, und dann stürme ich die Rolltreppe hinunter. Panik steigt in meiner Brust auf. Echte Panik. Ich habe mich für Flüge verspätet. Ich habe vor fünfhundert Leuten gespielt. Ich habe oben ohne posiert, mit nichts als einem Geweih, das meinen Schritt bedeckt hat, für ein Charity-Projekt, das Roxanne auf der Uni durchgeführt hat, um für Greenpeace zu kämpfen. Ohne dass mir auch nur ein Tropfen Schweiß auf der Stirn stand. Aber eine Mütze