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Beschreibung

Die Digitalisierung aller Lebensbereiche verändert unsere Gesellschaften ähnlich radikal wie die industrielle Revolution vor 200 Jahren: Internet-Konzerne sichern sich die Kontrolle über ganze Branchen; Spähprogramme stellen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung infrage. Und wenn Google-Chef Eric Schmidt schreibt, das Unternehmen wisse, wo wir sind, und könne mehr oder weniger sagen, was wir gerade denken, werden endgültig die düstersten Voraussagen der Science-Fiction Realität. Angesichts dieser historischen Herausforderung ergriff Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, im Februar 2014 mit einem kämpferischen Appell in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Wort. An der von Schulz angestoßenen Diskussion beteiligten sich seither zahlreiche prominente Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Der Band enthält die Beiträge dieser längst überfälligen Debatte. Mit Texten von Mathias Döpfner, Hans Magnus Enzensberger, Sigmar Gabriel, Sascha Lobo, Evgeny Morozov, Frank Schirrmacher, Eric Schmidt, Juli Zeh und vielen anderen.

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Die Digitalisierung aller Lebensbereiche verändert unsere Gesellschaft ähnlich radikal wie die industrielle Revolution vor 200 Jahren: Internetkonzerne sichern sich die Kontrolle über ganze Branchen; Spähprogramme stellen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in Frage. Und wenn Google-Chef Eric Schmidt schreibt, das Unternehmen wisse, wo wir sind, und könne mehr oder weniger sagen, was wir gerade denken, werden endgültig die düstersten Voraussagen der Science-Fiction Realität.

 Angesichts dieser historischen Herausforderung ergriff Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, im Februar 2014 mit einem kämpferischen Appell in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Wort. An der von Schulz initiierten Diskussion beteiligten sich seither zahlreiche prominente Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Der Band enthält die Beiträge dieser längst überfälligen Debatte. Mit Texten von Mathias Döpfner, Hans Magnus Enzensberger, Sigmar Gabriel, Sascha Lobo, Evgeny Morozov, Frank Schirrmacher, Eric Schmidt, Juli Zeh und vielen anderen.

Technologischer Totalitarismus

Die hier abgedruckten Beiträge erschienen zuerst zwischen Februar und Juli 2014 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.Der Text von Markus Engels wurde speziell für diesen Band verfasst.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Inhalt

Vorwort von Martin Schulz

Martin SchulzWarum wir jetzt kämpfen müssen

Evgeny MorozovWider digitales Wunschdenken

Juli ZehSchützt den Datenkörper!

Shoshana ZuboffDie neuen Massenausforschungswaffen

Michael IgnatieffVolksherrschaft ist keine Menüleiste

Gerhart BaumAuf dem Weg zum Weltüberwachungsmarkt

Frank SchirrmacherDas Armband der Neelie Kroes

Hans Magnus EnzensbergerWehrt Euch!

Christian LindnerEine Machtfrage, keine Sachfrage

Ranga YogeshwarEin gefährlicher Pakt

Christiane BennerWer schützt die Clickworker?

Neelie KroesIch bin nicht naiv, und Europa darf es auch nicht sein

Sascha LoboDaten, die das Leben kosten

Robert M. MaierAngst vor Google

Eric SchmidtDie Chancen des Wachstums

Katrin Göring-EckardtDas dionysische Moment des Netzes

Mathias DöpfnerLieber Eric Schmidt

Jaron LanierWer die Daten hat, bestimmt unser Schicksal

Shoshana ZuboffSchürfrechte am Leben

Guy VerhofstadtBig Data beherrschen!

Juli ZehLetzte Ausfahrt Europa

Joaquín AlmuniaIch diszipliniere Google

Sigmar GabrielDie Politik eines neuen Betriebssystems

Max OtteJe größer die Mythen vom Netz, desto kleiner dieMenschen

Monique Goyens

Vorwort

Die digitale Revolution verändert unsere Gesellschaft so tiefgreifend wie vermutlich keine andere Entwicklung seit der industriellen Revolution. Fast jederzeit und überall können wir Informationen abrufen und mit anderen kommunizieren. Algorithmen versprechen, die Partnersuche zu optimieren, sie lösen gigantische Finanztransaktionen aus, die ganze Volkswirtschaften ins Wanken bringen können, und kalkulieren unsere Kreditwürdigkeit. Im nächsten Schritt werden möglicherweise unsere Kühlschränke automatisch befüllt, vielleicht begegnen uns auf den Straßen bald fahrerlose Autos, auch dass unsere Gesundheitsdaten überwacht werden, ist keineswegs ausgeschlossen. Dieser radikale und rapide Wandel unserer Lebenswirklichkeit fordert unsere Gesellschaft in ihrer Gesamtheit heraus: unsere sozialen Beziehungen, unsere Art des Wirtschaftens, unsere Arbeitswelt, unsere Werte, unsere Kultur und unser Denken.

Die Digitalisierung der Welt birgt ungeahnte Chancen: mehr Transparenz und größere Partizipation, leichterer Zugang zu Wissen und Informationen, wirkungsvollere Medikamente und bessere Dienstleistungen. Wenn sie das Leben von Menschen verbessern können, gilt es, diese Innovationen auf jeden Fall zu nutzen. Zu lange jedoch haben wir die Gefahren ignoriert, die angesichts der Monopolansprüche globaler Konzerne und Massenüberwachung durch die Geheimdienste drohen. Nun wird darüber endlich auch in Europa eine grundsätzliche Debatte geführt. Zu verdanken ist dies insbesondere Frank Schirrmacher, durch dessen tragischen und viel zu frühen Tod wir einen großen Visionär und Humanisten verloren haben. Der herausragende, der europäischen Tradition des kritischen Denkens entstammende Zeitdiagnostiker Schirrmacher hat früher als andere erkannt, vor welch fundamentale Herausforderungen uns die digitale Kultur stellt. Sein 2009 erschienenes Buch Payback war eine der ersten intellektuellen Auseinandersetzungen mit den Gefahren der digitalen Revolution. Schon damals brachte er es – wie immer prägnant – auf den Punkt: »Wir erleben gerade in Echtzeit, wie eine Gesellschaft die Fundamente ihres Weltbilds ändert.«

Schirrmacher hat diese hochkomplexe Thematik nicht auf Fragen der Technik oder Infrastruktur reduziert, er hat – im besten Sinne des Wortes – Technikfolgenabschätzung betrieben. Und er hat erkannt, dass wir die Debatte über die digitale Kultur als politische Debatte führen müssen. Daher hat er das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in ein Forum verwandelt, in dem Schriftstellerinnen, Wissenschaftler, Philosophen, Politikerinnen, Journalisten und Unternehmer über die Chancen und Risiken der Digitalisierung streiten konnten (die Liste der Beiträgerinnen und Beiträger am Ende dieses Buches zeigt dabei nur einen Ausschnitt jenes beeindruckenden Netzwerks, das dieser wirkmächtige Humanist über Ländergrenzen hinweg geknüpft hat). In dieser »Arena« haben mit Mathias Döpfner und Eric Schmidt zwei Konzernmanager die Klingen gekreuzt, die in Fragen der Digitalisierung sehr unterschiedliche Positionen vertreten; Joaquín Almunia hat die Position der EU-Kommission dargelegt; kritische Geister wie Evgeny Morozov, Jaron Lanier und Juli Zeh kamen ebenso zu Wort wie nationale und europäische Politikerinnen und Politiker unterschiedlichster Couleur.

Mit der ihm eigenen intellektuellen Verve gelang es Frank Schirrmacher so einmal mehr, eine große Feuilletondebatte anzustoßen, die unsere Republik bewegte. Jetzt erscheint diese Debatte auch in Buchform, und es stimmt mich nachdenklich, gleichzeitig aber auch froh, dass wir diese kritische Auseinandersetzung mit der Digitalisierung nicht auf einer schicken Onlineplattform führen, sondern in klassischen Printmedien. Zeitungen und Bücher sind als Medien des kritischen Denkens unverzichtbar, und wir müssen dafür Sorge tragen, dass sie uns erhalten bleiben.

Frank Schirrmacher hat diesen Diskurs aus der Netz-Community in die Mitte der Gesellschaft geholt. Und genau da gehört er auch hin. Aktuell werden Weichenstellungen vorgenommen, die sehr großen Einfluss darauf haben werden, in was für einer Gesellschaft wir in Zukunft leben werden. Diese Entscheidungen dürfen wir nicht allein den Nerds und Programmierern aus dem Silicon Valley überlassen. Die Folgen der Digitalisierung betreffen uns alle, und daher sind wir alle aufgerufen, uns damit auseinanderzusetzen.

Ob wir die Digitalisierung wollen oder nicht, ist heute nicht mehr die Frage – sie ist längst da, und wir können uns ihren Auswirkungen nicht entziehen. Wer sich der Digitalisierung verweigern wollte, dürfte keine E-Mails schreiben, nicht googeln, kein Navi oder Smartphone kaufen, kein Bankkonto führen, keinen Kredit beantragen und schon gar nicht fliegen. Ein Internetzugang ist in vielen Bereichen die Voraussetzung, um überhaupt an der Gesellschaft teilhaben zu können. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass man die technologische Revolution kollektiv aufhalten oder sich ihr individuell entziehen kann. Und von dem Irrglauben, es handele sich um so etwas wie »reinen« technischen Fortschritt ohne politische und soziale Implikationen.

Um eines klarzustellen: Ich möchte hier keine Technologiefeindlichkeit predigen. Technologie ist nie gut oder schlecht, sie eröffnet uns Optionen, hält Möglichkeiten für uns bereit. Was daraus wird, liegt an uns. Mir geht es darum, dass wir darüber nachdenken, was diese Entwicklung für unsere Gesellschaft, unsere Demokratie, unsere Arbeitswelt und unser Menschsein bedeutet; darum, dass wir eine politische Debatte darüber führen, was wir tun müssen, damit aus technologischen Innovationen auch ein gesellschaftlicher und sozialer Fortschritt wird.

Eine solche Diskussion beginnt mit kritischem Hinterfragen. Wer darf von uns warum was wissen? Welche Grenzen müssen bei der Datenspeicherung auf jeden Fall respektiert werden? Wie weit dürfen Staaten im Namen der Sicherheit gehen, und wann wird Überwachung zum Selbstzweck? Wie können wir in Zeiten kommerzieller Datenverwertung unser Recht auf informationelle Selbstbestimmung wahren, Urheberrechte schützen und sicherstellen, dass Menschen für ihre Arbeit gerecht entlohnt werden? Ab welchem Punkt riskieren wir im Namen der Effizienz unsere Bürgerrechte und die Errungenschaften der aufgeklärten Demokratie?

Auf diese und viele weitere Fragen müssen wir in den kommenden Jahren Antworten finden. Wir brauchen Regeln für die digitale Welt, Regeln, die sich an unseren Wertvorstellungen orientieren. Und eine Charta der digitalen Grundrechte, die festlegt, was erlaubt ist und was verboten. Zwei Jahrhunderte nach der industriellen Revolution steht die Politik erneut vor der Aufgabe, den technologischen Fortschritt zu humanisieren. Nur wenn uns das gelingt, werden alle von den großen Chancen profitieren, welche die Digitalisierung uns eröffnet; nur dann wird sie ihr enormes Potenzial zum Wohl der Gesellschaft entfalten.

Weil die einzelnen Nationalstaaten mit den digitalen Großmächten – ob nun Konzernen oder anderen Staaten – nicht länger auf Augenhöhe agieren, sehe ich darin eine wichtige Aufgabe für die Europäische Union. Allein mit und durch Europa können wir es schaffen, eine effiziente digitale Infrastruktur aufzubauen und die digitale Revolution zu zähmen.

Warum wir jetzt kämpfen müssen

Von Martin Schulz (6. Februar 2014)

Anfang der achtziger Jahre prognostizierte Ralf Dahrendorf in einem berühmt gewordenen Essay das bevorstehende Ende der Sozialdemokratie. Schon damals formulierte er die These, dass die politische Linke ihre historische Aufgabe erfüllt habe, weil in den OECD-Staaten die sozialdemokratischen Ziele von Freiheit, Gleichheit und Solidarität weitgehend verwirklicht seien. »Mission accomplished«, könnte man sagen, historische Mission erfüllt. Und tatsächlich: Im Vergleich zum Industrieproletariat, das im 19. Jahrhundert noch unter den Bedingungen des Manchester-Kapitalismus arbeiten musste, muten die heutigen Arbeitsbedingungen der meisten Arbeitnehmer in Europa vergleichsweise paradiesisch an: Das Verbot von Kinderarbeit, Arbeitszeiten unter vierzig Stunden in der Woche, bezahlter Urlaub, wirkungsvolle Arbeitsschutzmaßnahmen und Arbeitnehmerrechte sind weitgehend durchgesetzt. Auch im Bereich der Freiheitsrechte und beim komplizierten Grundwert der Solidarität sind wir in Europa weit gekommen. Weltweit werden wir für unser europäisches Gesellschaftsmodell bewundert. Muss sich also nach ihrem 150-jährigen Kampf die Sozialdemokratie auf ihren Ruhestand einstellen, weil sie alles erreicht hat? Ich halte diese These für falsch, weil unsere Gesellschaft nicht allein wegen, aber sicher in besonderer Weise durch die Digitalisierung und massenhafte Datenerfassung im jungen 21. Jahrhundert vor mindestens ebenso epochalen Umwälzungen steht wie unsere Urahnen vor 150 Jahren.

Der Aufstieg der Sozialdemokratie ist verbunden mit einer technischen Revolution im 19. Jahrhundert. Nach der Entwicklung der Dampfmaschine entstanden moderne Fabriken und mächtige Konzerne, »Big Player«, die wir teilweise noch heute kennen. Diese Revolution hat vielen Menschen Wohlstand gebracht und zu epochalen Veränderungen geführt. Vordergründig krempelte sie zunächst nur die damalige Arbeitswelt komplett um. Aber die neue Technologie revolutionierte die alte Gesellschaftsordnung tiefgreifender: Großstädte und neue soziale Schichten entstanden; es bildeten sich bis dahin unbekannte soziale Bewegungen und Parteien; eine neue Kunst, Philosophie und ein neues Denken kamen auf. Es war eine Zeit des Umbruchs, in der alte Werte durch neue ersetzt wurden. Diese Entwicklung verlief aber nicht nur linear in eine Richtung. Denn die Industrialisierung führte gleichzeitig zu einer Prekarisierung breiter Schichten, zu neuen Krankheiten und zu Umweltzerstörung. Als sich im Zeitalter der Industrialisierung die Maschinisierung und die mit dem Namen Henry Ford verbundene Arbeitsteilung durchsetzten, bedeutete dies eine bemerkenswerte Umkehr in der Subjekt-Objekt-Beziehung, auch wenn es bereits im vorindustriellen Zeitalter brutale Formen der Sklaverei und entwürdigenden Arbeitens gegeben hatte. Aber der Arbeiter, der an der Akkordmaschine in der Fabrikhalle stand, hatte sich den Regeln, dem Tempo, ja den Bedürfnissen der Maschine anzupassen, die seinen Arbeitsprozess und Takt unerbittlich vorgab. Selten ist diese Maschine-Mensch-Beziehung in beeindruckenderen Bildern dargestellt worden als in den zwanziger Jahren in dem legendären Film Metropolis von Fritz Lang. Neuer Wohlstand und neues Elend lagen – oft auch räumlich – nah beieinander. Der Wohlstand und die Freiheit der einen waren zunächst einmal die Armut und Unfreiheit der anderen. Dass dieser Prozess letztlich auf unserem Kontinent zu einem gesellschaftlichen Fortschritt führte, der Wohlstand und Freiheit für viele brachte, war das Ergebnis eines langen politischen Kampfes. Dieser Fortschritt kam nicht automatisch, war nicht das Ergebnis einer unsichtbaren Hand.

So wie die sozialen Bewegungen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die entstehende Industriegesellschaft und den neuen radikalen Kapitalismus zähmen und humanisieren mussten, stellt sich heute wieder eine vergleichbare Aufgabe. Denn die Digitalisierung der Welt hat bislang nur das Potential, um Wohlstand und große Innovation hervorzubringen. Denn genauso wie damals wird durch die rasante technische Entwicklung nicht zuallererst unsere Arbeitswelt herausgefordert, sondern unsere Gesellschaft und unser Denken werden in ihrer Gesamtheit revolutioniert. Ich habe keine kulturpessimistische Sicht auf diese technologische Entwicklung. Im Gegenteil, es geht mir um ein Nachdenken darüber, wie diese atemberaubende Technik zum Nutzen der vielen und nicht der wenigen in unsere Gesellschaft integriert werden kann. Meine Frage ist, ob und wie es uns gelingt, zu einer Zivilisierung und Humanisierung dieser neuen technischen Revolution zu kommen. Denn bislang steht nicht fest, ob die neuen Entwicklungen mehr Gutes oder mehr Schlechtes bringen werden. Viele Fragen sind noch offen: Bedeutet es ein Mehr an Unabhängigkeit und Flexibilität, wenn immer mehr Menschen ihre E-Mails jederzeit auf ihrem Smartphone lesen und wenn Vorgesetzte per elektronischem Kalender noch kurz vor dem Schlafengehen zu einer Teambesprechung am nächsten Morgen einladen?

Oder führt dies zu einer Entgrenzung von Arbeit, wodurch wir das lang erstrittene Recht auf Freizeit, ohne es zu merken, einfach aufgeben? Macht das Speichern von Bewegungsbildern und Kommunikationsdaten unsere Welt wirklich sicherer, wie das seit 9/11 behauptet wird, oder wird damit der Staat, der ein neues »Super-Grundrecht Sicherheit« schützen will, nicht vielmehr selbst zum Sicherheitsrisiko für seine Bürger? Bringt permanentes Online-Voting eine direktere Demokratie hervor, oder führt es eher zu einer Trivialisierung von komplexen Problemen? Das sind Fragen, die unsere Gesellschaft beantworten muss, wenn es nicht zu fatalen Fehlentwicklungen kommen soll. Denn es klingt zwar verführerisch, wenn ein online-überwachtes Auto automatisch bremst, sobald die Höchstgeschwindigkeit überschritten ist; oder wenn herzinfarktgefährdete Menschen im Alltag rund um die Uhr medizinisch überwacht werden, weil diese Überwachung individuelle und kollektive Vorteile zu bringen scheint.

Schon jetzt versprechen Versicherungen Beitragsermäßigungen für dieses »vernünftige Verhalten«, in einem nächsten Schritt werden von denjenigen Risikoaufschläge verlangt werden, die sich dieser »freiwilligen« Kontrolle ihres Verhaltens entziehen. Es ist absehbar, dass am Ende aus dem Risikoaufschlag ein Zwang zur Kontrolle werden wird, natürlich immer mit dem fürsorglichen Argument, dass vernünftiges Verhalten gut für den Einzelnen und billiger für die Allgemeinheit sei. Eine solche Entwicklung wird schlussendlich aber zum »am Netz hängenden Menschen« führen, der in allen Lebenssituationen überwacht wird.

Und ein weiterer bedrückender Trend zeichnet sich ab: Wenn wir Menschen durch diese Vernetzung nur noch die Summe unserer Daten sind, in unseren Gewohnheiten und Vorlieben komplett abgebildet und ausgerechnet, dann ist der gläserne Konsumbürger der neue Archetyp des Menschen. Schon heute ist es das Geschäftsmodell von Facebook und anderen, unsere emotionalen Regungen und sozialen Beziehungen in ein ökonomisches Verwertungsmodell zu überführen und unsere Daten gewinnbringend zu nutzen. Wenn die Messung unseres Augenzwinkerns oder die Beschleunigung unseres Pulses beim Ansehen bestimmter Produkte in Echtzeit in die Datenbank von multinationalen Konzernen fließen, ist der neue Mensch nur noch die Summe seiner Reflexe, und er wird biologistisch komplett determiniert. Am Ende könnte eine solche Entwicklung dazu führen, dass wir nur noch über jene Kaufangebote informiert werden, die vermeintlich zu uns passen. Und der Schritt, bis wir dann auch nur noch die politischen und kulturellen Informationen erhalten, die unseren vermuteten Interessen entsprechen, ist ein kleiner. Damit wäre dann die Vorstellung vom Menschen, der sich frei entwickeln und der es durch Bildung und harte Arbeit nach »ganz oben schaffen« kann, endgültig erledigt. Ein neuer Mensch würde entstehen: der determinierte Mensch.

Denn die »vermuteten Interessen«, die angeblichen »Präferenzen« eines Menschen, sind vielleicht gut und schön, wenn ein Online-Händler unsere Absichten vorwegnimmt und, wie wir unlängst erfahren haben, das Paket schon losschickt, ehe wir überhaupt wissen, dass wir etwas kaufen wollten. Wie steht es aber mit dieser Entschlüsselung angeblicher Absichten, wenn Menschen sich um einen Beruf, einen Kredit, eine Ausbildung bewerben? Was bedeutet es, wenn wir bald nicht nur im Büro, sondern auch im Haushalt, im Auto, überall gelesen werden und ein Abbild von uns erstellt wird, das der Bundespräsident den »digitalen Zwilling« nennt und von dem wir nicht wissen, wer ihn wie zusammensetzt. Wie aktuell diese Fragen sind, zeigte sich unlängst beim BGH-Urteil zu der Frage, ob Kreditscoring-Unternehmen wie die Schufa den Menschen mitteilen müssen, wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kommen. Der quantifizierte Mensch wird uns künftig wie ein Schatten begleiten: zusammengesetzt aus den Signalen und Daten, die wir und alle anderen senden. Das wird, wie jeder heute schon bemerkt, dem Einzelnen durchaus enorme Vorteile bringen. Aber es wird ihn auch zum Bestandteil einer Rechnung machen. Es kann nicht sein, dass diese Rechnung ohne unsere Kenntnis, unser Zutun und unsere Interventionsmöglichkeiten gemacht wird.

Um das zu verhindern, müssen wir handeln. Denn von allein wird nichts gut werden. So wie die »unsichtbare Hand« eines sich selbst regulierenden Marktes in der Vergangenheit ein Trugschluss war, ist die heute so populäre Annahme, dass durch die Digitalisierung aller Lebensbereiche automatisch ein Mehr an Lebensqualität, Demokratie, Freiheit, Sicherheit und Effizienz erreicht werden wird, eine naive Fehleinschätzung. Denn die täglichen Berichte über völlig enthemmte Geheimdienste offenbaren ein zunehmend paranoides Staatsverständnis, und deshalb scheint die Prognose, dass es zu einem freiheitlichen Rückschritt kommen wird, wenn die Datensammelwut und die Digitalisierung aller Lebensbereiche unreguliert fortgeführt werden, wahrscheinlicher als die These, dass wir am Beginn eines neuen goldenen Zeitalters stehen.

Noch haben wir es nur mit einer alles durchdringenden Technologie, aber noch nicht mit einem totalitären politischen Willen zu tun. Doch die Verbindung von »Big Data«, also der gewaltigen Sammelleidenschaft für Daten durch Private und den Staat, und »Big Government«, also der hysterischen Überhöhung von Sicherheit, könnte in die antiliberale, antisoziale und antidemokratische Gesellschaft münden. Wenn der Bürger nur zum Wirtschaftsobjekt degradiert wird und der Staat ihn unter Generalverdacht stellt, kommt es zu einer gefährlichen Verbindung von neoliberaler und autoritärer Ideologie.

Deshalb brauchen wir eine soziale Bewegung, die den Mut hat, das Notwendige zu tun, und die die dafür notwendigen normativen und historischen Prägungen mitbringt. Wie am Ende des 19. Jahrhunderts brauchen wir eine Bewegung, die die Unverletzlichkeit der menschlichen Würde ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt und die nicht zulässt, dass der Mensch zum bloßen Objekt degeneriert. Diese Bewegung muss ein liberales, ein demokratisches und ein soziales Staatsverständnis haben. Sie muss im Bereich der Datensammlung, -speicherung und -weitergabe rechtliche Pflöcke einschlagen, die klarstellen, dass die Privatheit eines jeden ein unveräußerliches Grundrecht ist, und einen etwaigen Missbrauch eindeutig sanktionieren. Sie muss überdies durch eine kluge Wirtschaftspolitik sicherstellen, dass wir in Europa technologischen Anschluss halten, damit wir aus der Abhängigkeit und Kontrolle der heutigen digitalen Großmächte befreit werden, unabhängig davon, ob es sich dabei um Nationalstaaten oder globale Konzerne handelt.

Wider digitales Wunschdenken

Von Evgeny Morozov (8. Februar 2014)

Wenn es eine neue Technologie einzuschätzen gilt, ob nun ein ausgefallenes System zur biometrischen Identifizierung oder eine App zur Prüfung unserer Gesundheit, erhalten wir in der Regel drei Reaktionen. Technopessimisten lehnen sie rundheraus ab – sie hassen Technik und alles, was sie mit sich bringt. Technooptimisten empfangen sie mit offenen Armen, weil sie den Fortschritt lieben – und wie könnte Technologie uns etwas anderes als Fortschritt bringen? Technoagnostiker schließlich verweisen darauf, dass jede Technik gut und böse sein könne. Mir erscheint der Agnostizismus die richtige Einstellung zu sein, und ich habe das Gefühl, dass auch Martin Schulz diese Haltung einnimmt.

Aber es gibt zwei Arten von Agnostizismus. Es gibt einen naiven Agnostizismus, einen Agnostizismus der Gleichwahrscheinlichkeit, der es für ebenso wahrscheinlich hält, dass eine bestimmte Technologie zu guten oder zu schlechten Zwecken eingesetzt wird. Diese Haltung erfordert offensichtlich einen ans Religiöse grenzenden Glaubenssprung. Wie ist solch eine intellektuelle Sicht möglich? Sie ist nur dann möglich, wenn wir vergessen, dass die Welt, in der diese Technologie zum Einsatz kommt – also unsere Welt –, von Ungleichheit (der Macht und des Geldes) geprägt und von Konflikten getrieben ist. Ja, in einer idealen Welt profitieren alle gleichermaßen von jeder Technologie. Aber in unserer Welt sind Nutzen und Schaden einer Technologie ungleich verteilt, und eine gerechtere Verteilung ist das wichtigste politische Projekt unserer Zeit.

Dass ein naiver Agnostizismus dieser Art sich in unseren Köpfen hat festsetzen können, resultiert aus unserem Hang, Technologie so zu behandeln, als bewegte sie sich in einem einzigartigen, autonomen Bereich und wäre gleichsam hermetisch vom schädlichen Einfluss der »Gesellschaft« oder der »Wirtschaft« abgeschlossen. Die Anhänger dieses naiven Agnostizismus leiden an einer perversen Form sozialer Amnesie. Wenn sie zur Einschätzung einer bestimmten Technologie aufgefordert werden, antworten sie mit der These, unser gesamtes – aus Geschichte, Politikwissenschaft, Ökonomie stammendes – Wissen über die Welt sei ungültig, und wir müssten unsere Analyse ganz von vorn beginnen, ohne irgendwelche Makrostrukturen zu unterstellen, ob nun Kapitalismus, Neoliberalismus oder den militärisch-industriellen Komplex.

Diese Tyrannei der Mikroperspektive schmuggelt intellektuelle Engstirnigkeit und die seichteste Form eines methodologischen Individualismus durch die Hintertür ein, so dass man uns am Ende sagt, alles hänge von unserer Entscheidung ab, wie wir eine bestimmte Technologie nutzen wollen – also von individuellen Akteuren, die jeweils ihre eigenen rationalen Ziele verfolgen, als bewegten diese Ziele sich nicht bereits in einem vorgegebenen Rahmen aus politischen, ökonomischen und Sicherheitserwägungen.

Zum Glück gibt es daneben auch den gut informierten, radikalen Agnostizismus, der es ablehnt, Technologie als etwas außerhalb der Gesellschaft Stehendes zu begreifen. Das ist die von Martin Schulz in seinem Beitrag »Warum wir jetzt kämpfen müssen« gewählte Sicht. Es ist eine Haltung, die unser vorhandenes Wissen über die Welt in den Dienst der edlen Aufgabe einer Voraussage stellt, ob eine bestimmte Technologie sich in den Rahmen des Emanzipations- oder in den des Versklavungsprojekts einfügt. Diese Einstellung verwehrt sich selbst den Luxus der sozialen Amnesie, denn sie weiß, dass es viel Böses in der Welt gibt, dass NSA und Wall Street keine Wohltäter sind, denen man im Zweifelsfall positive Intentionen unterstellen kann, und dass die meisten Unternehmen von Profitstreben getrieben sind, die, sich selbst überlassen, nur zu gerne ihre Arbeiter wie Maschinen und die Gesellschaft insgesamt als Reservoir an kostenlosen Ressourcen behandeln würden, die es auszubeuten gilt.

Das ist die politische und ökonomische Umgebung, in die neue Technologien eingeführt werden. Es wäre naiv, wenn man meinte, diese neuen Technologien hätten nichts mit der Förderung oder Unterdrückung bestehender sozialer Zielsetzungen zu tun – denen des Staates, von Unternehmen, von sozialen Bewegungen. Wer zum Beispiel meint, ein ausgefallenes System zur biometrischen Identifizierung könne für gute und für schlechte Zwecke eingesetzt werden, und zwar mit gleicher Wahrscheinlichkeit für beide Szenarien, der gibt sich einem heimtückischen Wunschdenken hin und tut so, als wüssten wir nichts vom Expansionsstreben des Sicherheitsstaates, von der Behandlung der Migranten durch diesen Staat und von der Logik des Datensammelns, die die biometrische Industrie antreibt.

Natürlich können wir so naiv sein, wie wir wollen. Aber können wir es uns auch leisten, naiv zu sein? Warum sollten wir alles, was wir in den letzten 200 Jahren gelernt haben, bei der Analyse von Technologien auf den Müll werfen? Neue Technologien treten nicht in ein politisches Vakuum ein, sondern in die Welt, in der wir leben, mit all ihren politischen und ökonomischen Konflikten.

Was bedeutet das für die Linke – den Hauptadressaten des Beitrags von Martin Schulz? Ihre wichtigste intellektuelle Innovation, zumindest in ihrer frühen radikalen Ausprägung im späten 19. Jahrhundert, bestand darin, dass sie lernte, wie man über Politik spricht und Politik macht, ohne dauerhafte Strukturen wie das Kapital oder – später – Rasse und Geschlecht außer Acht zu lassen. Von Anfang an ging dieses Projekt davon aus, dass unser tägliches Leben von solchen Strukturen durchdrungen ist und dass man diese Strukturen verändern muss, wenn man eine emanzipatorische Strategie entwickeln will, die den Interessen der Benachteiligten förderlich sein soll.

Die Sprache der Technologie – und seien Sie gewiss, die Technologie kommt heute mit einem schweren Diskurspaket daher und besteht keineswegs nur aus Drähten und Gadgets – hat es in den letzten fünfzig Jahren für jeden (einschließlich der Linken) schwieriger gemacht, die strukturellen Bedingungen zu identifizieren, die unser Leben bestimmen. Tatsächlich glaubten viele von uns an die – von Leuten wie Steve Jobs propagierte – Vision, wonach der Zugang zu den jüngsten Technologien des Personal Computing uns Ermächtigung und Emanzipation zu bieten vermag. »Zugang zu Tools« ist für viele Technologen in Kalifornien immer noch ein starker Slogan. Natürlich grenzte das schon immer an Idiotie. Die genannten Strukturen – vom Geld bis hin zur nationalen Sicherheit – sind niemals verschwunden; sie versteckten sich lediglich hinter der Fassade der »Digitalisierung«.

Die Aufgabe der Linken – und Martin Schulz hat diese Aufgabe vorausschauend beschrieben – sollte es sein aufzuzeigen, inwiefern die jüngsten Technologien, die man uns als politische Instrumente der Selbstermächtigung, des Konsums oder des Kampfs gegen den Terrorismus verkauft, in Wirklichkeit zur Stabilisierung und Festigung dieser Strukturen beitragen. Zugleich muss die Linke ein alternatives Programm formulieren, das darlegt, wie Technologien der Kommunikation und Selbstorganisation die Arbeit sozialer Bewegungen – und hoffentlich auch neuer, neu erfundener politischer Parteien – erleichtern können, die diese Strukturen in Frage stellen und verändern.

Welche Mission Ralf Dahrendorf auch erfüllt haben mag, sie kann immer noch sehr leicht scheitern, wenn unsere sozialen Institutionen, von Versicherungsgesellschaften über Banken bis hin zu Sicherheitsdiensten, in Terabytes an Daten ertrinken – von Bürgern generierte Daten, die für Güter und Dienstleistungen lieber mit Daten als mit Geld bezahlen. Wenn wir nicht die richtige Brille haben, um Formen der Ausbeutung und Kontrolle zu erkennen, heißt das nicht, dass wir nicht ausgebeutet und kontrolliert würden. Vielleicht bedeutet es ja nur, dass wir nicht die richtige Brille haben.

Historisch hat die Linke sich als fähig erwiesen, einige der Übel, unter denen die Gesellschaft leidet, zu diagnostizieren und sogar zu beheben. Heute muss sie lernen, diese Fähigkeit einzusetzen, um die zahlreichen Schichten technologischer Mystifizierung zu durchdringen, die Silicon Valley der öffentlichen Debatte aufgezwungen hat. Es gibt immer noch zahlreiche Übel, und wenn wir die technologische Infrastruktur Google und Facebook und ihresgleichen überlassen, werden wir die Plattformen für die Veränderung der Situation verlieren.

Das Letzte, was wir wollten, wäre solch eine neue, intellektuell neu erfundene, mit neuer Zielstrebigkeit ausgestattete Linke, die jedoch ihre Ziele gar nicht verfolgen könnte, weil alle Kommunikationsplattformen sich in den privaten Händen von Technomonopolisten und ihren Lobbyisten befänden.

Aus dem Englischen von Michael Bischoff

Schützt den Datenkörper!

Von Juli Zeh (11. Februar 2014)

Er klingt wie der einsame Rufer in der Wüste: Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, bekennt sich zu einer Verteidigung der persönlichen Freiheit im Informationszeitalter. In einem grundlegenden Essay warnt er vor »technologischem Totalitarismus« und fordert eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem digitalen Epochenwandel. Daran wäre im Grunde nichts Überraschendes; Schulz beschäftigt sich schon länger mit dem Thema. Aber Schulz ist ein deutscher Politiker, und deutsche Politiker meiden das Thema Datenschutz üblicherweise wie der Teufel das Weihwasser. Während in Medien und Gesellschaft spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden ein unausgesetzter Diskurs über die Implikationen von Big Data geführt wird, hüllt sich die deutsche Politik in verstocktes Schweigen.

Das Hauptproblem des Datenschutzes besteht darin, dass sich die meisten Politiker und Bürger nach wie vor wenig darunter vorstellen können. »Datenschutz« klingt, als wären Daten seltene Tiere, die vor dem Aussterben bewahrt werden müssen. Oder kleine, bösartige Parasiten, gegen die es den Menschen zu verteidigen gilt. Der sperrige Terminus stellt indes nicht nur ein PR-Problem dar. Unklare Begriffe verweisen auf unklare Vorstellungen. Letztere sind direkte Folge einer seit Jahren verschleppten Diskussion über die digitale Revolution.

Das Konzept der Menschenwürde gerät im wuchernden Goldrausch der Datenausbeutung zusehends unter die Räder. Schon beginnen Menschen zu fragen, was denn an systematischer Massenüberwachung überhaupt schlimm sein soll. Aus Hilflosigkeit gegenüber den rasanten Entwicklungen wird die Privatsphäre zum Anachronismus erklärt. Diese Haltung bedeutet nicht weniger als den Verzicht auf persönliche Autonomie. Wer seine Daten der freien Nutzung überantworten will, macht seine Identität und damit letztlich die Kontrolle darüber, wer er ist und wie er sein Leben führt, zum Objekt im freien Spiel der Kräfte. Er muss naiv darauf vertrauen, dass alle Beteiligten, egal, ob staatliche Institutionen, Wirtschaftskonzerne, Kollegen oder Nachbarn, stets nur sein Bestes im Sinn haben.

Dabei liegen die Gefahren allumfassender Beobachtung auf der Hand. Wer von allen Seiten angestarrt wird, geht jeder Chance verlustig, sich frei zu entwickeln. Wissen ist Macht, und Wissen über einen Menschen bedeutet Macht über diesen Menschen. Aus dem Vorliegen von Informationen folgen Messbarkeit, Vergleichbarkeit, Regulierbarkeit und Erpressbarkeit. Wer gezwungen ist, die mit jeder Lebensregung erzeugten Daten permanent preiszugeben, kann nicht mehr allein entscheiden, was er isst, liest oder kauft, wie schnell er fährt, wie viel er arbeitet und wohin er reist. Seine Welt verengt sich auf ein Spektrum aus vorsortierten Möglichkeiten. Er erhält Angebote, die vermeintlich zu ihm passen; Informationen, die vermeintlich seinen Interessen entsprechen; Handlungsoptionen, die von mächtigen Akteuren als besonders effizient, besonders sicher oder besonders profitabel eingestuft wurden.

In einem solchen System sind die Folgen des eigenen Verhaltens nicht mehr absehbar. Wir wissen nicht, welche E-Mail, welche Kaufentscheidung oder welches Freizeitvergnügen zu einer Herabstufung unserer Kreditwürdigkeit, zur Ablehnung einer Beförderung oder zum Einreiseverbot in die Vereinigten Staaten führen. Aus dieser tiefgehenden Verunsicherung folgt ein Zwang zur »Normalität«, wenn nicht zur bestmöglichen Performance in allen Lebensbereichen. »Bestmöglich« bedeutet dabei, die Erwartungen der Informationsmächtigen intuitiv zu erfassen und nach besten Kräften zu erfüllen. »Ich habe nichts zu verbergen« ist somit ein Synonym für »Ich tue, was man von mir verlangt« und damit eine Bankrotterklärung für die Idee des selbstbestimmten Individuums.

In einer solchen Lage erzeugt ein Politiker wie der ehemalige Innenminister Friedrich unfreiwillige Komik, wenn er die Bürger anlässlich der NSA-Überwachung zur Selbstverteidigung aufruft – wer nicht ausgespäht werden wolle, müsse eben auf Facebook verzichten. Unter den Bedingungen des Kommunikationszeitalters ist das ein völlig unmöglicher Satz. Wer seine digitale Identität selbst schützen soll, dürfte keine sozialen Medien, E-Mail-Dienste oder Suchmaschinen benutzen. Telefonieren ginge schon gar nicht. Vom Kauf eines Smartphones, eines Navigationssystems oder eines neuen Autos mit integriertem GPS wäre dringend abzuraten. Ein Bürger im Zustand digitaler Selbstverteidigung müsste in seiner Wohnung auf Rauchmelder und Alarmanlagen mit Bewegungssensoren verzichten. Er sollte weder Bahn fahren noch fliegen und demnächst auch nicht mehr zum Arzt gehen. Eine ordnungsgemäße Registrierung bei den Meldebehörden wäre kontraproduktiv, erst recht die Führung eines Bankkontos oder die Aufnahme eines Kredits. Die Ausübung eines durchschnittlichen Jobs mit überwachtem Computerarbeitsplatz käme ebenfalls nicht in Frage. Ein solcher Bürger müsste öffentliche Plätze wegen der Videoüberwachung meiden und dürfte weder im Internet noch in großen Supermarktketten einkaufen.

Die Liste verbotener Tätigkeiten ließe sich endlos fortsetzen. Am Ende stünde ein aus sämtlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kreisläufen herausgedrängter Mensch. Man muss nicht näher begründen, warum eine solche Lebensform weder in persönlicher noch in volkswirtschaftlicher Hinsicht wünschenswert erscheint. Vor allem aber ist sie heutzutage schlichtweg undurchführbar. Digitale Selbstverteidigung käme einer realen Selbstauslöschung gleich. Ebenso gut hätte man einem Arbeiter im Manchester-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts erzählen können, wenn ihm die Kollateralschäden der industriellen Revolution nicht passten, solle er doch auf seinen Job im Kohlebau verzichten.

Bemerkenswert an der Einlassung von Martin Schulz ist, dass er die Parallele zwischen industrieller und digitaler Revolution ohne Scheu vor historischen Vergleichen anerkennt und daraus eine Handlungsverpflichtung für die Politik ableitet. Technischer Fortschritt ist nicht per se gut oder schlecht, sondern erst einmal eine Tatsache, die der Gestaltung bedarf. Lässt man den Dingen ihren Lauf, kommt es zu gewaltigen Akkumulationen von Macht, die zu Lasten des Einzelnen und letztlich zu Lasten des Gemeinwesens gehen. Martin Schulz hebt hervor, dass Sozialgesetzgebung und Umweltschutz, die beiden großen Ausgleichsbewegungen zum industrialisierten Kapitalismus, nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis eines jahrzehntelangen politischen Kampfes sind. Auch das Kommunikationszeitalter braucht Begleitung durch einen politischen Prozess.

Dazu reicht es nicht, sich bei Obama über das Abhören von Angela Merkels Handy zu beschweren. Es reicht nicht, darüber zu streiten, wer die neue »Netzpartei« wird. Wenn Peter Altmaier per Twitter verkündet, dass Twitter die moderne Form von Demokratie sei, verdeutlicht er aufs Anschaulichste, warum sich die deutsche Politik bis heute nicht in der Lage zeigt, auf Big Data zu reagieren. Es fehlt an einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem Problem. Ein amerikanischer Privatkonzern wie Twitter kann kein neues Organ der Demokratie sein, und demokratisch ist auch nicht die Kommunikation an sich, sondern der Schutz ihrer Freiheit.

Für sich genommen, bilden weder Twitter und Google noch die NSA den Kern des Problems. Militär, Geheimdienste und Privatkonzerne bedienen sich allesamt derselben Technologien. Ziel des entfesselten Spiels ist eine algorithmische Einhegung des Menschen, welche die Berechenbarkeit von menschlichem Verhalten zur Folge hat.

Die Frage, wie wir mit diesen Technologien umgehen wollen, ist nicht weniger profund als jene nach dem Einsatz von Präimplantationsdiagnostik oder bestimmten Waffensystemen. Es geht um die Klärung ethischer Konflikte, um die Renovierung unseres Wertesystems im Angesicht neuer Bedingungen. Ist es mit der Idee vom freien Individuum vereinbar, zukünftige Entscheidungen eines Menschen errechnen zu wollen? Welche Dilemmata folgen aus der Durchleuchtung einer Identität? Muss ein Unschuldiger vorsorglich eingesperrt werden, wenn ein Algorithmus voraussagt, dass die betreffende Person in absehbarer Zeit kriminell werden wird? Auf welchen Grundlagen sollen Rechtssystem und gesellschaftliches Zusammenleben in Zukunft stehen? Hängen wir weiterhin der Freiheit des Einzelnen an oder wollen wir tatsächlich ein »Supergrundrecht Sicherheit«?

Falls am Ende einer politischen Debatte das Ergebnis stünde, dass wir auch im digitalen Zeitalter am Konzept des selbstbestimmten Individuums festhalten wollen, dass wir also nicht bereit sind, dieses Prinzip anderen legitimen Zielen wie Sicherheit oder Alltagsbequemlichkeit unterzuordnen, würde der politische Aufgabenkatalog im Handumdrehen Kontur gewinnen. Im Kern würde es darum gehen, der digitalen Identität ein vergleichbares Schutzniveau zuzubilligen wie der körperlichen Unversehrtheit oder der Unverletzlichkeit von Privateigentum. Mit den nötigen parlamentarischen Mehrheiten könnte sowohl auf europäischer wie auf nationaler Ebene ein klar formuliertes digitales Grundrecht geschaffen werden, welches personenbezogene Daten unter die alleinige Verfügungsgewalt des Einzelnen stellt. Von privater Seite wären Zugriffe auf die digitale Identität dann nur mit Einverständnis des Betroffenen möglich, während staatliche Eingriffe auf die engen Grenzen notwendiger Strafverfolgungsmaßnahmen zu beschränken wären. Widerrechtliche Übergriffe müssten moralisch und strafrechtlich in vergleichbarer Weise beantwortet werden wie eine Körperverletzung oder der Diebstahl einer Sache.

Gelegentlich wird vorgebracht, das Volk habe sich doch längst mit dem Verlust der Privatsphäre arrangiert oder diesen durch freizügig-gleichgültigen Umgang mit den eigenen Daten sogar selbst verschuldet. Der Bürger wolle es nicht anders, als digital ausgebeutet zu werden. Für eine kollektive Verhaltensänderung im Umgang mit Digitalität sei es zu spät, der Bürger werde immer bereit sein, für einen Zuwachs an Bequemlichkeit oder auch nur ein paar Rabattpunkte seine privaten Daten zur Verfügung zu stellen.