Tee mit Mrs Dallimore - Erica James - E-Book
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Tee mit Mrs Dallimore E-Book

Erica James

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Beschreibung

Eine herzerwärmende Geschichte über die Liebe, falsche Entscheidungen und den Mut, dennoch nach dem richtigen Weg zu suchen.

Lizzie hatte schon immer das Talent, das Unglück magisch anzuziehen. Aber diesmal hat sie den Vogel abgeschossen: Als die Affäre mit ihrem verheirateten Chef auffliegt, verliert sie ihren Job und muss zu ihren Eltern aufs Land ziehen. Dort arbeitet sie in einem Altersheim und trifft auf Mrs Dallimore. Die alte Dame erzählt ihr ihre Lebensgeschichte, und Lizzie erkennt, dass sie nicht der einzige Mensch auf der Welt ist, der Fehler macht. Und vielleicht sind die Dinge ja gar nicht so schlimm, wie sie scheinen ...

»Ein wunderbar geschriebener und absolut optimistischer Roman über Freundschaft, Vergangenheit und Liebe. Ein wahrer Edelstein.« HEAT MAGAZINE

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Seitenzahl: 730

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Zitate

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Kapitel Einunddreißig

Kapitel Zweiunddreißig

Kapitel Dreiunddreißig

Kapitel Vierunddreißig

Kapitel Fünfunddreißig

Kapitel Sechsunddreißig

Kapitel Siebenunddreißig

Kapitel Achtunddreißig

Kapitel Neununddreißig

Kapitel Vierzig

Kapitel Einundvierzig

Kapitel Zweiundvierzig

Kapitel Dreiundvierzig

Kapitel Vierundvierzig

Kapitel Fünfundvierzig

Kapitel Sechsundvierzig

Kapitel Siebenundvierzig

Kapitel Achtundvierzig

Kapitel Neunundvierzig

Kapitel Fünfzig

Kapitel Einundfünfzig

Kapitel Zweiundfünfzig

Kapitel Dreiundfünfzig

Kapitel Vierundfünfzig

Kapitel Fünfundfünfzig

Kapitel Sechsundfünfzig

Kapitel Siebenundfünfzig

Kapitel Achtundfünfzig

Kapitel Neunundfünfzig

Kapitel Sechzig

Kapitel Einundsechzig

Kapitel Zweiundsechzig

Danksagung und Anmerkungen

Über die Autorin

Weiterer Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Lizzie hatte schon immer das Talent, das Unglück magisch anzuziehen. Aber diesmal hat sie den Vogel abgeschossen: Als die Affäre mit ihrem verheirateten Chef auffliegt, verliert sie ihren Job und muss zu ihren Eltern aufs Land ziehen. Dort arbeitet sie in einem Altersheim und trifft auf Mrs Dallimore. Die alte Dame erzählt ihr ihre Lebensgeschichte, und Lizzie erkennt, dass sie nicht der einzige Mensch auf der Welt ist, der Fehler macht. Und vielleicht sind die Dinge ja gar nicht so schlimm, wie sie scheinen …

Erica James

Tee mit Mrs Dallimore

Aus dem britischen Englisch von Ulrike Moreno

Für Edward und Samuel, Rebecca und Allyund einen gewissen kleinen Jungen, der unendlich bewundernswert ist.Ich möchte dieses Buch außerdem der verlegerischen Naturgewalt Susan Lamb widmen.

Unsere Toten werden erst dann wirklich tot sein, wenn wir sie vergessen haben.

GEORGE ELIOT

Jemand muss sterben, damit der Rest von uns den Wert des Lebens mehr wertschätzen kann.

VIRGINIA WOOLF

Kapitel Eins

Radio Central

An: [email protected]

Antwort an: [email protected]

Betreff: Stellung als Forschungsassistentin

Sehr geehrte Miss Moran,

vielen Dank für Ihre Bewerbung um die Stellung als Research-Assistentin bei Radio Central. Da wir mit Bewerbungen jedoch förmlich überschwemmt wurden, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Sie nicht für ein Vorstellungsgespräch ausgewählt wurden.

Alles Gute und mehr Glück beim nächsten Mal!

Tamsin Hyde

Lizzie wusste, dass viele Leute der Ansicht waren, sie habe sich ihr Unglück selbst zuzuschreiben. Aber so war es nicht. Wirklich nicht. Oder zumindest diesmal nicht. Diesmal hatte man sie zum Sündenbock gemacht, und das war nicht fair. Alles andere als fair!

Sie konnte immer noch nicht glauben, was ihr widerfahren war. Gerade schwamm sie noch ganz oben auf einer Welle ekstatischen Glücks, und im nächsten Moment wurde ihr ohne Grund der Job gekündigt, den sie liebte. Als Folge davon wurde sie auch noch von dem Mann getrennt, in den sie sich verliebt hatte. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, konnte sie mangels eines Einkommens natürlich auch die Miete ihres Apartments nicht mehr bezahlen. Da keiner ihrer sogenannten Freunde ihr vorübergehend ein Zimmer anbot, blieb Lizzie keine andere Wahl, als London zu verlassen und zu ihren Eltern nach Suffolk heimzukehren, bis sie beruflich wieder auf die Beine kam.

Von dem wahren Grund ihres Hinauswurfs bei Starlight Radio konnte sie ihren Eltern natürlich nichts erzählen. Selbst jetzt noch lief es ihr kalt den Rücken hinunter bei der Erinnerung an den peinlichen Moment, in dem ihre Affäre mit Curt ans Licht gekommen war. Um ihren Eltern die pikanten Einzelheiten zu ersparen, hatte sie zu einer kleinen Notlüge gegriffen und ihnen gesagt, die Eigentümer des Radiosenders hätten eine sehr drakonische Einstellung gegenüber Beziehungen am Arbeitsplatz, und da ohnehin umfassende Personalkürzungen bevorstanden, habe man sie der Einfachheit halber bereits jetzt entlassen. Der einzig wahre Teil der Geschichte, die sie ihren Eltern erzählt hatte, war die Sache mit dem rigorosen Verbot von Beziehungen am Arbeitsplatz.

Und so stand sie nun mit zweiunddreißig Jahren wieder hier in ihrem alten Schlafzimmer, umgeben von Stapeln prall gefüllter Müllsäcke und Kartons, und versuchte allen Ernstes das Unmögliche. Denn egal, wie sehr sie sich bemühte, es war einfach nicht genug Platz in den Regalen, Schränken oder Schubladen, um alles unterzubringen, was sie in den zehn Jahren seit dem Verlassen ihres Elternhauses angesammelt hatte.

Verständlicherweise hatte das Schlafzimmer kaum noch Ähnlichkeit mit dem Raum, den sie damals zurückgelassen hatte. Sowie ihre Mutter entschieden hatte, dass eine angemessene Zeit verstrichen war, hatte sie es renovieren lassen und es dann mit geblümten Vorhängen und dazu passender Bettwäsche, duftender Seife aus der Provence und ordentlich gefalteten Handtüchern, die kein Familienmitglied benutzen durfte, zu einem sehr hübschen Gästezimmer umgestaltet.

Lizzie war nun schon seit einer Woche zu Hause und hätte die Unordnung längst beseitigen müssen. Aber die meiste Zeit hatte sie mit manischem Selbstmitleid und dem Verschicken von Bewerbungen verbracht, die allesamt nur zu abschlägigen Antworten geführt hatten. Diese E-Mails waren sich alle irritierend ähnlich in der kumpelhaften Oberflächlichkeit, mit der man ihr Glück wünschte.

Glück? Das hätte sie ganz gern einmal, vielen Dank auch!

Für ihre armen Eltern war es bestimmt nicht leicht, sie wieder bei sich zu haben. Und nicht nur das – sie waren auch noch weit davon entfernt, zu verstehen, warum Lizzie ihre vierjährige Beziehung mit Simon für einen Mann beendet hatte, den sie bisher nicht einmal kannten und der noch dazu verheiratet war. Sie hatten in Simon quasi schon den zukünftigen Schwiegersohn gesehen, und Lizzie wusste, wie schwer es ihnen fiel, sich daran zu gewöhnen, dass er jetzt nicht mehr Teil ihres Lebens war.

Bei ihren Freunden und Familienangehörigen hatten sie als das Paar gegolten, bei dem eine Heirat am wahrscheinlichsten war, oder auch als das Paar, dem es bestimmt war, für immer zusammenzubleiben. Simon und sie hatten auch tatsächlich wie das ideale Paar gewirkt. Komisch war nur, dass sie, anders als alle ihre Freunde, die es mit dem Heiraten sehr eilig zu haben schienen, nicht auch diesen Schritt getan hatten. Am nächsten waren sie diesem Punkt gewesen, als Simon über seinen Fünfjahresplan und seine Vorstellungen von ihrer gemeinsamen Zukunft zu sprechen begonnen hatte. Doch während Lizzie noch über ihre nicht gerade begeisterte Reaktion auf Simons Hoffnungen und Träume nachsann, tauchte Curt Flynn als neuer Programmchef bei Starlight Radio auf, und alles, was Lizzie an Simon zu lieben geglaubt hatte, wurde mit einem Mal bedeutungslos.

Der zweiundvierzigjährige Curt war dynamisch und amüsant. Gefährlich amüsant. Er schien stets zu wissen, was sie dachte, und manchmal brauchte es nicht mehr als einen Blick aus seinen funkelnden Augen, denen nichts zu entgehen schien, um Lizzie in schallendes Gelächter ausbrechen zu lassen – und das sehr oft im ungeeignetsten Moment. Sein Witz war von vernichtender Schärfe und wurde in einem starken Manchester Dialekt geäußert, den Lizzie ursprünglich für nachgeahmt und eine Art Parodie auf die Gallagher-Brüder gehalten hatte.

»Ich wette, Sie haben noch nie von dem Ort gehört und sind auch noch niemals dort gewesen«, hatte er auf ihre Frage, wo er aufgewachsen war, geantwortet.

»Dann kann ich Ihnen nur sagen, dass der Planet Zog mir wohlbekannt ist«, hatte sie gewitzelt.

»Und was ist mit Levenshulme?«, hatte er gesagt. »Nein, das dachte ich mir schon, weil selbst ich zugeben müsste, dass es nicht gerade ein beliebtes Touristenziel ist.«

Lizzie hatte sich sofort darangemacht, Levenshulme zu googeln, denn immerhin war sie Rechercheurin. »Einige namhafte Leute kommen aus Levenshulme«, hatte sie beiläufig bemerkt, als sie am nächsten Morgen exakt zur selben Zeit wie er zur Arbeit gekommen war. »Der Architekt Norman Foster, der Schauspieler Arthur Lowe, die Komikerin Beryl Reid und der Schlagzeuger von Oasis.«

Als Curt den Aufzugknopf für das Studio im fünften Stock drückte, sagte er: »Von denen habe ich noch nie gehört.«

»Nicht mal von dem Schlagzeuger von Oasis?«

»Von dem schon gar nicht«, erwiderte er mit unbewegter Miene.

Allein mit ihr im Aufzug, wandte er sich ihr zu. »Ich bin beeindruckt, dass Sie sich bei mir die Mühe eines Background-Checks gemacht haben. Tun Sie das bei jedem, mit dem Sie arbeiten?«

Streng genommen arbeitete sie für ihn, aber da es ihr gefiel, dass er nicht den Chef herauskehrte, lächelte sie ihn an. »Ich lebe nach dem Motto: ›Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.‹«

Daraufhin lachte er. Es war ein lautes, aber sexy Lachen, das von den verspiegelten Wänden des Lifts abzuprallen schien. Lizzie mochte seinen Klang, und im Stillen war sie froh darüber, Curt Flynn amüsiert zu haben.

»Wie ich sehe, werde ich bei Ihnen auf der Hut sein müssen«, sagte er, während er ihr eine Hand in den Rücken legte und ihr einen kleinen Schubs gab, als die Aufzugtüren sich öffneten. Seine Berührung durchzuckte Lizzie wie ein Blitzstrahl und löste ein Gefühl aus, wie sie es noch nie zuvor empfunden hatte. Böses Mädchen!, sagte sie sich an jenem Abend schuldbewusst, als sie auf dem Heimweg den Moment noch einmal Revue passieren ließ.

Einen Monat später – und obwohl sie wusste, dass Curt verheiratet war – stimmte sie eines Abends zu, nach der Arbeit noch etwas mit ihm trinken zu gehen. Sie wusste sehr gut, was sie tat, und er ebenso. »Es bringt doch nichts, so zu tun, als empfänden wir nichts füreinander«, sagte er freiheraus. Zu wissen, dass es ihm nicht anders erging als ihr, machte sie glauben, dass es Bestimmung war und seine Ehe ein klassisches Beispiel dafür, die falsche Person aus den falschen Gründen geheiratet zu haben. Das geschah doch immer wieder, oder etwa nicht? Jede dritte Ehe endete mit Scheidung.

Nie war ihr etwas schwerer gefallen, als Simon zu sagen, dass sie ihn nicht mehr liebte. Er war am Boden zerstört, weil er es nicht einmal hatte kommen sehen. Aber sie ja auch nicht. Lizzie tat, was sie für das Anständigste hielt, und zog aus der gemeinsamen Wohnung aus, die sie vor zwei Jahren gemietet hatten. In Hackney fand sie ein kleines Apartment für sich, und dorthin würde Curt nun kommen und so viel Zeit mit ihr verbringen, wie er konnte.

Anfangs empfand Lizzie die Heimlichkeit ihrer Affäre noch als aufregend, aber es dauerte nicht allzu lange, bis sie zu einer Belastung wurde. Vor allem, weil sie ihr Glück und ihre Verliebtheit nicht länger verbergen wollte. Letztlich jedoch war der einzige Mensch, dem sie sich anvertrauen konnte – weil sie wusste, dass er es niemand anders erzählen würde –, ihr Zwillingsbruder Luke. Er war jedoch sehr schockiert über Lizzies Neuigkeiten und riet ihr, vorsichtig zu sein. Es war ein Rat, der typisch für ihren Bruder war. Nicht umsonst hatte sie ihm den Spitznamen »Mr Vorsichtig« gegeben, als sie noch Kinder waren. Und im Nachhinein betrachtet, war ihr inzwischen klar, dass sie seinen Rat hätte befolgen sollen.

Als die Affäre ans Licht gekommen war und ihr fristlos gekündigt wurde, hatte auch Curt riskiert, seine Arbeit zu verlieren, aber da er verheiratet war, ein kleines Kind hatte und zudem noch eine beträchtliche Hypothek abzahlen musste, hatten die Eigentümer des Radiosenders ihn ungeschoren davonkommen lassen. Es war eine bittere Pille für Lizzie gewesen, dass sie so ungerecht behandelt wurde. Curt hatte ihr allerdings versichert, dass dies nur ein kleiner Rückschlag war und sie wieder zusammen sein würden, sobald Gras über die Sache gewachsen war und er reinen Tisch mit seiner Frau gemacht hatte. Im Gegenzug dazu musste Lizzie ihm versprechen, sich nicht mit ihm in Verbindung zu setzen – vor allem nicht an seinem Arbeitsplatz. »Ich brauche diesen Job«, erklärte er, »das verstehst du doch, oder? Ich kann es mir nicht leisten, für noch mehr Aufregung zu sorgen.«

Es war Curts Versprechen, das Lizzie aufrecht hielt, weil es ihr die Hoffnung gab, dass die unangenehme Situation, in der sie sich befand, tatsächlich nur eine vorübergehende sein würde. Er beharrte darauf, dass in ein paar Monaten, sobald er die Dinge bei der Arbeit und zu Hause unter Kontrolle hatte, alles wieder in Ordnung kommen würde. »Wir müssen uns nur an die Spielregeln halten«, sagte er. »Kannst du das für mich tun, Lizzie? Kannst du das?«

Natürlich hatte sie bejaht, als er sie in den Armen gehalten hatte, doch heute – vierzehn Tage, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte – geriet ihre Entschlossenheit ins Wanken. Mittlerweile war ihr ganz und gar nicht mehr danach, sich »an die Spielregeln zu halten«. Sie wollte ihren Job zurückhaben, ihren Job und ihr Apartment, aber am allermeisten wollte sie wieder mit Curt zusammen sein.

Als ihr schon Tränen der Wut und Frustration in die Augen stiegen, drang plötzlich durch das offene Fenster das hässliche Schnattern einer Elster herein, die in der Weißbirke des Nachbarn saß und sich so anhörte, als lachte sie sie aus. Aber zumindest gab der Vogel Lizzie die Kraft, die Tränen zurückzudrängen und zum Fenster hinüberzugehen, um hinauszuschauen. Die Ellbogen auf die Fensterbank gestützt, lehnte sie sich hinaus und atmete mit der stillen, warmen Juniluft den zitronigen Duft der gelben Kletterrosen ein, die ihr Vater an der Rückseite des Hauses hinaufwachsen ließ. An dem blassblauen Himmel über dem Rapsfeld am Ende des Gartens führte ein Schwalbenpärchen seine akrobatischen Tänze auf. Die Zeit der leuchtend gelben Rapsblüten war vorbei, und Anfang August würde die Ernte der Samen beginnen.

Wo werde ich dann sein?, dachte Lizzie. Zurück in London, hoffte sie, um dort mit Curt ein neues Leben zu beginnen.

Kapitel Zwei

Tess Moran war überzeugt davon, ihren Teil zum Gemeinwohl beitragen zu müssen. Diese Denkweise war ihr schon in ihrer Kindheit vorgelebt worden. Ihre Mutter war dafür verantwortlich. Sie hatte Tess dazu erzogen, ganz fest daran zu glauben, dass es jedermanns Pflicht war – und ganz besonders ihre –, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Heute, mit Anfang sechzig, kannte Tess keine andere Lebensweise mehr. Untätigkeit war ihr verhasst, und so etwas wie Freizeit gab es nicht für sie, da jede Minute des Tages gut genutzt werden musste. Das war auch der Grund dafür, dass sie, eine hochqualifizierte Krankenschwester, sich gleich nach ihrer Pensionierung erboten hatte, fortan als ehrenamtliche Betreuerin im Woodside-Seniorenheim zu arbeiten. Ihre dortige Aufgabe umfasste keine Pflege im eigentlichen Sinn, aber Tess tat, was immer sonst notwendig war. So spielte sie für die Heimbewohner Klavier, las ihnen etwas vor, brachte ihnen eine Tasse Tee oder plauderte einfach nur mit ihnen.

Heute war sie den größten Teil des Tages in Woodside auf den Beinen gewesen. Als sie nun in ihr Auto stieg, um die Heimfahrt anzutreten, war sie froh über die Möglichkeit, sich hinzusetzen. Im Wagen war es heiß und stickig, weil er in der Sonne gestanden hatte. Als Tess die Fenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen, fragte sie sich, was sie wohl zu Hause erwarten und wie Lizzie ihre Neuigkeiten aufnehmen würde.

Natürlich liebten Tom und sie ihre beiden Kinder innig und würden alles tun, um ihnen zu helfen, aber sie hatten sich auch daran gewöhnt, das Haus für sich allein zu haben. Beide hatten sie sich einen Platz geschaffen, an dem sie ihren Hobbys nachgehen konnten – aus einer Abstellkammer war ein Nähzimmer für Tess geworden, und in dem Zimmer, das Luke früher bewohnt hatte, wenn er in den Semesterferien zu Hause gewesen war, hatte Tom sich einen Raum für seine Heimatforschung eingerichtet. Plötzlich wieder ihre Tochter im Haus zu haben erwies sich, gelinde gesagt, als größere Herausforderung, als sie vorausgesehen hatten. Aber eigentlich hätten sie es besser wissen müssen, da Lizzie auf die eine oder andere Art schon immer ein Händchen dafür gehabt hatte, die Pferde scheu zu machen.

Während Luke ein unkomplizierter Junge gewesen war, der mühelos vom Kind zum Mann herangewachsen war, war Lizzie auf fast jedem Schritt des Weges gestolpert und gefallen. Tess war immer wieder erstaunt darüber, dass zwei Lebewesen zusammen in ein und demselben Mutterleib heranwachsen und dann so völlig unterschiedlich zur Welt kommen konnten.

Als kleines Kind hatte Lizzie ihrer Mutter einmal gestanden, dass es ihr furchtbar schwerfiel, so wohlerzogen wie ihr Bruder zu sein. »Ich bin nicht so brav wie Luke, stimmt’s, Mummy? Ich bin die ›böse Lizzie‹, nicht?«

Die Worte ihrer kleinen Tochter hatten Tess mitten ins Herz getroffen, besonders als Lizzie gefragt hatte, ob sie dennoch genauso geliebt wurde wie Luke. »Aber natürlich, Kind!«, hatte Tess ihr rasch versichert. »Dein Vater und ich haben euch beide gleich lieb.«

Diese Unsicherheit bei einem so kleinen Kind hatte dazu geführt, dass die strikte elterliche Unparteilichkeit, von der Tess geglaubt hatte, sie würde ihr Fels und Anker sein, nicht immer Anwendung fand, wenn es um Lizzie ging. Immer wieder ertappte Tess sich dabei, dass sie ihre Tochter verteidigte, egal, was auch passierte.

»Das Problem bei Lizzie ist ihre hoffnungslose Flatterhaftigkeit«, pflegte Toms Mutter zu sagen. »Das Mädchen weiß einfach nicht, was es will, und fliegt wie ein Vögelchen von einem Baum zum anderen.«

Es war viel Wahres an dieser Feststellung, aber ob Flatterhaftigkeit für das jahrelange Drama, das sie ertragen hatten, verantwortlich zu machen war, hätte Tess nicht sagen können. Als Kleinkind hatte Lizzie sich regelmäßig auf den Boden geworfen, mit Armen und Beinen um sich geschlagen wie ein wild gewordener Oktopus und die ganze Zeit über geschrien, so laut sie konnte. Im gleichen Alter hatte sie auch schon den Atem so lange anhalten können, bis ihr Gesicht erst rot und dann buchstäblich blau anlief. Ihre Teenagerzeit war nicht viel leichter, aber mittlerweile hatten Tom und Tess gelernt, jede von ihrer Tochter verursachte Krise zu nehmen, wie sie kam – wie beispielsweise in den Ferien fast zu ertrinken. Oder dass sie bei ihrer ersten Fahrt nach Erhalt des Führerscheins den Wagen zu Schrott gefahren hatte oder ihre Handtasche samt Haustürschlüssel verloren oder den Toaster in Brand gesetzt hatte. Im Gegensatz zu ihrem Bruder Luke passierten ihr ständig solche Dinge. Sie zog das Pech geradezu magnetisch an.

Ebenso wie die meisten Eltern würde Tess alles dafür geben, ihren Kindern ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Aber trotz ihrer beschützenden Art und Fürsorge ihren Zwillingen gegenüber war Tess nicht blind für ihre Fehler. Luke war wie Tom und gelassener, als ihm guttat, während Lizzie stets von ihrem Stolz geleitet wurde und daher auch niemals zugeben würde, dass sie je eine falsche Entscheidung gefällt hatte.

Dieser Stolz würde sich sehr wahrscheinlich auch jetzt als das Problem erweisen. Seinetwegen würde sie überhaupt nicht in der Lage sein, zu akzeptieren, dass ihr derzeitiges Dilemma durch eine schreckliche Fehleinschätzung ihrerseits entstanden war. Lizzie hätte Simon nie eines verheirateten Mannes wegen verlassen dürfen – eines verheirateten Mannes, der zudem auch noch ein kleines Kind hatte. Es war eine Riesendummheit gewesen. Wann immer Tess an die arme Ehefrau des Mannes dachte, die zu Hause saß, während ihr Ehemann mit Lizzie zusammen war, zog sich ihr Herz schmerzlich zusammen.

Tom und Tess wussten nicht genau, warum Lizzie ihren Job verloren hatte, denn da war etwas an ihrer Geschichte über angeblich freigestellte Arbeitskräfte, was nicht ganz glaubhaft klang. Als Tom ihr vorgeschlagen hatte, sich wegen ungerechtfertigter Kündigung juristisch beraten zu lassen, hatte Luke angedeutet, dass sie damit in ein Wespennest stechen könnte, das man besser in Ruhe ließ. Luke wusste anscheinend mehr über die Geschehnisse, als er aus Loyalität seiner Schwester gegenüber zugab – was Tess’ Unruhe jedoch höchstens noch vergrößerte.

Das erste Mal, dass Tom und sie etwas von diesem Curt erfahren hatten, war bei einem Telefonat mit Lorna gewesen, die Tess’ engste Freundin im Dorf und Simons Mutter war. »Wie lange wisst ihr es schon?«, hatte Lorna gefragt, und ihrer Stimme war deutlich anzuhören gewesen, wie gekränkt und angespannt sie war.

»Was sollen wir wissen?«, hatte Tess arglos erwidert.

»Ach komm, Tess, du bist ihre Mutter! Da wirst du ja wohl wissen, dass Lizzie mit Simon Schluss gemacht und mit einem ihrer Kollegen etwas angefangen hat. Hab wenigstens den Anstand, ehrlich zu mir zu sein!«

Tess war sowohl über die Neuigkeit als auch über Lornas Tonfall so schockiert gewesen, dass es einen Moment dauerte, bevor sie antworten konnte. »Aber … aber das kann doch nicht sein«, gelang es ihr zu sagen. »Lizzie liebt Simon. Du weißt, dass sie ihn liebt.«

In dem unbehaglichen Schweigen, das darauf folgte, dachte Tess an all die Momente, in denen sie sich erlaubt hatte, im Stillen schon Simons und Lizzies Hochzeit zu planen – ein kleines Festzelt auf dem Rasen von Keeper’s Nook, das Essen von der Cateringfirma, die auch das Büfett zu Toms und ihrem dreißigsten Hochzeitstag geliefert hatte, und Discomusik. Ein paar Mal hatte sie sogar mit Lorna gescherzt, dass sie ja praktisch schon Verwandte seien. Es erschien ihr geradezu unmöglich, dass nichts von alldem noch stattfinden würde.

Eine längere Pause entstand, bevor Lorna wieder sprach. »Du meinst, du hast es wirklich nicht gewusst?«

»Ich schwöre dir, dass ich es gerade zum ersten Mal gehört habe. Aber es ist doch sicherlich ein Irrtum. Bestimmt nichts weiter als ein kleiner Streit zwischen zwei Liebenden. Das wird vorübergehen. Natürlich wird es das. Ich werde mit Lizzie reden.«

Eine weitere von Tess’ Eigenschaften war die feste Überzeugung, dass es kein Problem gab, das sie nicht lösen konnte. Aber im Augenblick konnte sie noch so viel mit Lizzie reden oder diskutieren, es nützte alles nichts. Lizzies Entschluss stand fest. Sie bedauerte es, alle vor den Kopf stoßen zu müssen, doch das ließ sich nicht verhindern, weil sie nun Curt und nicht mehr Simon liebte.

Der arme Simon war am Boden zerstört. Tess und Tom hatten selbst gesehen, in welch schlechter Verfassung er war, als er eines Abends unerwartet bei ihnen erschienen war. Er war über das Wochenende zu Besuch bei seinen Eltern gewesen und hatte in der Hoffnung, dass Lizzies Eltern sie vielleicht doch noch umstimmen könnten, bei ihnen vorbeigeschaut. Es hatte Tess zutiefst bekümmert, ihn so verzweifelt zu sehen und zu wissen, wie eigensinnig ihre Tochter sein konnte, wenn sie einmal einen Entschluss gefasst hatte. Und deshalb war alles, was sie für Simon tun konnten, ihm wiederholt zu versichern, wie sehr sie bedauerten, was passiert war, und den Jungen, von dem sie geglaubt hatten, er werde eines Tages ihr Schwiegersohn sein, in den Arm zu nehmen.

Seither hatten sich die Beziehungen zwischen den beiden Familien noch verschlechtert. Tess fühlte sich nicht mehr wohl in Lornas Gegenwart, weil sie den Verdacht hatte, dass ihre Freundin ihr in gewisser Weise die Schuld am Kummer ihres geliebten einzigen Kindes gab. Sie waren nicht mehr zusammen zum Essen ausgegangen wie früher so oft, und es hatte auch keine gegenseitigen Einladungen zu einem gemütlichen gemeinsamen Sonntagsessen mehr gegeben.

Tess war nie der Ansicht gewesen, dass Wut oder Schuldzuweisungen irgendeinen guten Zweck erfüllten. Aber als sie nun in das Dorf Great Magnus kam und an Orchard House vorbeifuhr, dessen gepflegten Vorgarten aus Buchsbaumhecken und Rosen sie schon seit Wochen nicht mehr betreten hatte, musste sie sich beherrschen, um nicht doch sehr böse auf ihre Tochter zu werden. Und nicht nur wegen des Herzschmerzes, den Simon ihretwegen litt, sondern auch wegen dem, was sie ihren Eltern und deren besten Freunden angetan hatte. Hatte Lizzie auch nur einen einzigen Gedanken an die Konsequenzen ihres Handelns verschwendet? Tess war nicht stolz darauf, dass sie so dachte, aber sie konnte auch nicht die starken Gefühle ignorieren, die sie selbst wegen dieser Angelegenheit empfand.

Orchard House blieb hinter ihr zurück, als sie langsam zum Ortskern mit seinem länglichen, dreieckigen Dorfanger weiterfuhr, der auf allen Seiten von hübsch gestrichenen Fachwerkhäusern gesäumt war, deren Dächer aus einer Mischung aus Stroh, Schiefer und Tonziegeln bestanden. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Great Magnus noch fünf Pubs und eine große Anzahl von Geschäften aufzuweisen gehabt. Heute jedoch gab es dort trotz der zunehmenden Bevölkerung nur noch zwei Pubs, ein Antiquitätengeschäft mit Teestube und einen kleinen Lebensmittelladen, der abwechselnd von freiwilligen Helfern geführt wurde, zu denen auch Tess gehörte.

Sie passierte den Ententeich zu ihrer Rechten und nahm die nächste Abzweigung, fuhr an der Kirche vorbei und setzte etwas weiter unten an der schmalen Straße den Blinker, um rechts nach Keeper’s Nook abzubiegen.

Die frei stehende viktorianische Backsteinvilla, die im Laufe der Jahre mit einem Mischmasch von Anbauten versehen worden war, war nichts, was man als »Hingucker« bezeichnen würde. Aber es war der Ort, in den sich Tess und Tom verliebt hatten, und ganz besonders in den breiten Streifen offenen Ackerlands hinter dem Haus. Sie waren in dem Sommer, in dem Lizzie und Luke gerade ihr Abitur gemacht hatten, aus Essex hierhergezogen, und wenn Tess an diesen Sommer dachte, hatte sie ihn immer als einen sehr schönen in Erinnerung.

Sie war gerade aus dem Wagen ausgestiegen, als sie in ihrer Handtasche ihr Handy klingeln hörte.

Es war Ingrid, Lukes Frau, die Tess regelrecht einschüchterte, wenn sie ehrlich sein sollte. Die junge Frau war Anwältin für Medizinrecht und hatte ihre Arbeit wieder aufgenommen, als ihr Sohn Freddie acht Monate alt gewesen war. Sie strahlte eine Kompetenz aus, die Tess in ihrem ganzen Leben nie erreicht hatte, und sie hatte auch etwas Kühles, Distanziertes an sich. Nur selten sagte sie spontan etwas, und jedes ihrer Worte schien stets sorgfältig abgewogen zu sein, bevor sie sprach. Tess und Tom hatten das immer auf Ingrids skandinavischen Einfluss geschoben, da ihre Mutter Schwedin war. Ingrid war seit drei Jahren ihre Schwiegertochter, und obwohl sie Luke ganz offensichtlich glücklich machte und die Mutter ihres reizenden Enkels war, hatte Tess das Gefühl, Ingrid nicht besser zu kennen als bei jenem ersten Mal, als Luke sie mit nach Hause gebracht hatte, um sie ihnen vorzustellen.

»Hallo, Ingrid«, sagte Tess mit übertriebener Fröhlichkeit in der Stimme. Auch das war ein Effekt, den Ingrid auf sie hatte: Sie brachte Tess dazu, sich völlig untypisch zu verhalten, als wäre sie viel zu sehr bemüht, ihr zu gefallen. Das Ergebnis war, dass sie immer furchtbar unaufrichtig klang.

Kapitel Drei

Drüben in Cambridge hatte Ingrid während des Gesprächs mit ihrer Schwiegermutter durch ihre E-Mails gescrollt, alle markiert, die bis zum Morgen warten konnten, und dem Rest Priorität gegeben.

Als der Anruf beendet war, griff sie über ihren Schreibtisch nach dem Formular, das Liam, der Neueste in einer langen Reihe jüngerer Mitarbeiter, ihr dort hinterlassen hatte. An dem Formular klebte eine handgeschriebene Notiz. Ingrid wusste nicht, was schlimmer war – Liams grauenvolle Handschrift oder die lächerliche SMS-Sprache, die er zur Kommunikation mit ihr benutzte:

KEile. Ende nächster Woche ok.

Wie viel Zeit glaubte der Junge, mit dieser idiotischen Schreibweise zu sparen?

Trotz Liams Hinweis, dass keine Eile bestand, schraubte sie ihren Füllfederhalter auf und begann mit dem Ausfüllen des Formulars. Sie hasste es, Dinge unnötigerweise aufzuschieben, und brachte sie lieber so bald wie möglich hinter sich. So wie sie es auch vorzog, ehrlich und direkt zu ihren Mitmenschen zu sein. Natürlich schätzte nicht jeder ihre freimütige Art. Zweimal schon hatte sie Liam wegen seiner Grammatik und Schreibweise zurechtgewiesen, und beide Male hatte er sie angeschaut, als hätte er keine Ahnung, wovon sie sprach.

Lukes Familienangehörige waren Paradebeispiele für Menschen, die direkte Herangehensweisen scheuten und lieber um etwas herumredeten, das gesagt werden musste. Luke zuliebe hatte Ingrid gelernt, in ihrer Gegenwart den Mund zu halten, besonders bei seiner Zwillingsschwester, der ihrer Ansicht nach unbedingt einmal jemand die Augen öffnen müsste – schließlich war sie eine zweiunddreißigjährige Frau und kein dreizehnjähriges Kind, das glaubte, die ganze Welt drehte sich um sie. Es wurde höchste Zeit, dass dieses Kind erwachsen wurde und Verantwortung für sein Verhalten und sich selbst übernahm. Zu Mummy und Daddy heimzulaufen, wenn es hart auf hart kam, war in ihrem Alter schon geradezu pathetisch.

Nach all den Geschichten, die Ingrid über Lizzies Kindheit gehört hatte – die meist in einem heiteren Wie-haben-wir-das-nur-ausgehalten?-Ton erzählt wurden –, überraschte es sie dennoch immer wieder, wie verwöhnt Lizzie als Kind gewesen sein musste. Luke war der Meinung, seine Eltern verhielten sich nur wie alle liebevollen Eltern: mit viel Geduld, Toleranz und Liebe. »Würden wir das nicht auch bei Freddie tun?«, hatte er Ingrid gefragt.

Sie hatte jedoch geschwiegen und für sich behalten, dass sie Freddie nie erlauben würde, sich so aufzuführen wie Lizzie als Kind. Ihre Liebe zu ihrem Sohn war bedingungslos; Ingrid könnte ihn niemals mehr oder weniger lieben, aber sie würde ihn schnell zur Ordnung rufen, falls er je auch nur die kleinste Ähnlichkeit mit seiner nichtsnutzigen Tante zu zeigen begann …

Sie hatte niemandem, nicht einmal Luke, erzählt, wie schmerzlich es für sie gewesen war, Freddie der Obhut anderer anvertrauen zu müssen, um ihre Arbeit wieder aufnehmen zu können. Die einzige Möglichkeit, mit dem Verlustgefühl zurechtzukommen, das sie auch heute noch quälte, war, sich ganz und gar in die Fälle zu vertiefen, die sie bearbeitete. Es diente auch dem Zweck, ihr keine Zeit zu lassen, sich zu fragen, ob Freddie in der Kita gut versorgt war; ob die Kindergärtnerinnen sich oft genug die Hände wuschen; ob sie wussten, was zu tun war, falls er keine Luft mehr bekam oder zu fiebern begann; ob sie ihn jederzeit im Auge behielten und ob er tagsüber genügend Wasser trank; ob er etwas lernte und Freunde fand – oder ob er gar unsittlich berührt wurde. Die Liste ihrer Sorgen war schier endlos.

Ein Kind zu bekommen war die größte gemeinsame Entscheidung gewesen, die Luke und sie in ihrer Beziehung getroffen hatten. Beide waren mit der bisherigen Situation vollkommen zufrieden gewesen und hatten ihr ganzes Glück aus dem anderen und ihren anspruchsvollen Berufen bezogen. Aber dann war ein Freund ihres Ehemanns gestorben, und wie aus dem Nichts war Ingrid von der Furcht ergriffen worden, dass ihr von Luke nichts bleiben würde, falls ihm etwas zustieß, und er restlos und für immer aus ihrem Leben verschwunden sein würde. Mit einem Kind dagegen würde sie einen einzigartig kostbaren Teil von Luke behalten, der ihr auch die Kraft geben würde, sich dem Leben ohne ihn zu stellen. Luke, der erstaunt war über ihren Sinneswandel und ihre plötzliche Besorgnis hinsichtlich seiner Sterblichkeit, brauchte zunächst ein wenig Überzeugungsarbeit. Aber es dauerte nicht lange, bis er genauso glücklich wie sie über das positive Ergebnis eines Schwangerschaftstests war.

Nach dem Ausfüllen des Formulars fügte Ingrid es den Akten hinzu, um deren weitere Bearbeitung sich Liam kümmern musste. Langsam und präzise, wie es ihre Art war, begradigte sie den Stapel Akten, bis sie in perfekter Ordnung aufeinanderlagen, und wünschte, dass der Rest ihres Lebens genauso leicht zu ordnen wäre.

Als sie von draußen laute Stimmen hörte, stand sie auf und ging zu dem Fenster, das auf den Hofgarten hinter dem eleganten Regency-Gebäude hinausging, das das zweite Zuhause der Cavendish Court Lawyers war. Sie hatte dieses Büro nach ihrer Rückkehr aus der Elternzeit erhalten, da nach der Pensionierung einer ihrer Partner eine Umstrukturierung erfolgt war. Man hatte ihr klargemacht, dass sie großes Glück gehabt habe, einen solch geschätzten Arbeitsplatz zu erlangen.

Von wegen Glück! Sie verdiente dieses Büro nicht weniger als jeder andere hier. Mehr sogar noch in einigen Fällen. Oder besser gesagt, in vielen Fällen.

Unten im Garten sah sie einen Mann mit Ohrenschützern, der mit einer Motorsäge herumhantierte, deren Lärm von den Mauern des nicht allzu großen Innenhofes abprallte. Über den zu fällenden Baum war viel diskutiert worden. Einige wollten den Nadelbaum behalten und beriefen sich auf seine Bedeutung zur Weihnachtszeit, wenn er mit Lichtern geschmückt war. Andere meinten, er sollte schnellstens entfernt werden, bevor er Schäden an dem Gebäude verursachte – die ihn umgebenden Steinplatten hoben sich an einigen Stellen bereits an.

Ingrid hatte nur zu gern zugestimmt, dass der Baum verschwinden sollte. Nicht nur, weil er ihr teilweise die Sicht aus ihrem Fenster nahm, sondern auch, weil es offensichtlich war, dass der Baum dem beschränkten Platz dort unten längst entwachsen war. Ihre Gedanken wurden von Logik und keiner unangebrachten Sentimentalität bestimmt. Diejenigen in der Kanzlei, die Weihnachten einen Baum zum Schmücken haben wollten, sollten sich zusammentun und einen kaufen, um damit zu spielen, wenn ihnen so viel daran lag!

Zum Glück war es noch lange hin bis zu dem ganzen Weihnachtswahnsinn, und im Augenblick hatte Ingrid ein sehr viel dringenderes Problem. Am Wochenende war es zu einer kolossalen Überschwemmung in Freddies Kindertagesstätte gekommen, die erst heute früh entdeckt worden war und große Schäden angerichtet hatte. Da dort sogar das Abwasser aus den Kanälen aufstieg, würden die Instandsetzungsarbeiten Wochen, wenn nicht sogar Monate in Anspruch nehmen. Wodurch Luke, Freddie und sie ganz gehörig in der Patsche saßen. Das war auch der Grund dafür, dass sie Tess angerufen hatte, um zu fragen, ob Tom und sie sich von montags bis freitags um Freddie kümmern könnten, bis ein geeignetes Kindermädchen gefunden worden war. Zum Glück hatte Luke sich den heutigen Tag freinehmen können, um den Kleinen zu beaufsichtigen. Luke hatte versprochen, seine Eltern anzurufen und um Hilfe zu bitten. Ingrid hatte jedoch darauf bestanden, das Telefonat selbst zu führen, weil es ihrer Ansicht nach mehr Respekt ihrer Schwiegermutter gegenüber zeigte, wenn sie Tess um diesen Gefallen bat.

In Wahrheit wollte sie jedoch persönlich mit ihr sprechen, um sich zu vergewissern, dass ihre Schwiegermutter die Grundregeln verstand, und zwar vor allem die, dass Lizzie sich zu keiner Zeit und nie allein um Freddie kümmern durfte. Dem Mädchen war ja nicht einmal zuzutrauen, auf sich selbst aufzupassen, geschweige denn auf Ingrids geliebtes zweijähriges Kind!

Unten im Hof hatte der Mann mit der Motorsäge Gas gegeben und setzte zum ersten vernichtenden Schnitt an. Der Baum war ein Symbol für beharrlichen, aber zwecklosen Widerstand gegen Veränderung, dachte Ingrid, als die Zweige draußen vor dem Fenster wie protestierend zu zittern begannen. Er hatte all die Jahre dort gestanden und nach und nach von einem Bereich Besitz ergriffen, an dem er nicht erwünscht war. Nun hatte er seinen Meister gefunden, und sein Ableben stand unmittelbar bevor.

In dem Eckfenster neben ihrem entdeckte Ingrid Julian Redman, der ein handgeschriebenes Plakat hochhielt: RETTET DEN BAUM … für Feuerholz! Als er sie sah, grinste er. Ingrid erwiderte das Lächeln ihres Kollegen, der wie sie die Stimme der Vernunft vertrat, und hob gerade aus Solidarität und Siegesfreude einen Daumen, als ein heftiges Beben den Baum durchlief und er, laut ächzend und besiegt, vom Fenster zurückfiel und mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden landete.

Voller Triumph über den kleinen Sieg, den die Vernunft heute errungen hatte, wandte Ingrid sich vom Fenster ab und ging zu ihrem Tisch zurück.

Kapitel Vier

»Du könntest ruhig mal so entgegenkommend sein, nachzugeben und Mums Vorschlag anzunehmen«, sagte Luke, der zusah, wie seine Schwester auf allen vieren und mit Freddie auf dem Rücken im Garten herumkroch. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund gab sie vor, ein Kamel zu sein, während jeder andere sich mit einem Pferd oder Esel und den entsprechenden Geräuschen begnügt hätte. Aber nicht Lizzie, sie musste immer alles anders machen.

»Wann war ich je einmal entgegenkommend ?«, entgegnete sie und hielt inne, um ihn anzusehen.

»Du könntest mit einer lebenslangen Gewohnheit brechen und es wenigstens mal ausprobieren, um zu sehen, wie es ist.«

Lizzie heulte auf. »Hey, du da oben – das tut weh!«

Ohne ihren Ausruf zu beachten, kicherte Freddie und zerrte nur noch mehr an ihrem Haar, das sie extra zu Zöpfen geflochten hatte, damit sie dem Kleinen als Zügel dienten. »Schneller, Lizzie!«, jubelte er.

»Du willst schneller reiten, junger Mann? Na, dann halte dich besser fest, weil dieses Kamel sich nämlich gleich in ein Rennkamel verwandeln wird. Und du weißt ja, was Rennkamele tun, nicht wahr? Sie nehmen an Rennen in der Wüste teil!« Ihr Reiter kreischte vor Vergnügen, als sie auf das Ende des Gartens zuhielt, sich dann umdrehte und mit Freddie, der sich tapfer an ihr festhielt, schnell zu dem im Gras sitzenden Luke zurückkrabbelte. Außer Atem ließ sie Freddie herab und setzte ihn Luke auf den Schoß. »Jetzt bist du dran«, keuchte sie, »denn ich bin vollkommen geschafft.«

»Aber du machst das doch wirklich großartig. Hab ich recht, Freddie? Tante Lizzie ist die beste Tante auf der ganzen Welt, nicht wahr?«

»Danke für die Blumen, doch da ich seine einzige Tante bin, ist seine Erfahrung in diesen Dingen sehr beschränkt.«

Statt Lukes Frage mit Worten zu beantworten, entzog sich Freddie seinen Händen und warf sich auf Lizzie, die nun auf dem Rücken im Gras lag. »Ich dachte, wir hätten uns zu einem ruhigen Plauderstündchen hinausgeschlichen«, sagte sie und verzog das Gesicht, als Freddie sich rittlings auf sie setzte und zungenschnalzend auf und ab zu hüpfen begann.

»Na, komm schon her, du«, sagte Luke und beugte sich vor, um seinen Sohn zu sich herüberzuziehen. »Du hast die arme Lizzie vollkommen geschafft.«

Freddie schüttelte jedoch abwehrend den Kopf und stieß Lukes Hände weg. »Nein, nein, nein, nein, nein!«, rief er entschieden.

»Hör mal, Schatz, bleib einfach nur ein Weilchen ruhig sitzen, damit dein Dad und ich uns unterhalten können, und wenn du dann ganz, ganz brav bist, spielen wir danach noch mal Kamelreiten. Kannst du mir zuliebe ein bisschen Ruhe geben?«

Nach kurzem Überlegen nickte der Kleine langsam und drückte einen seiner Finger sehr fest in die nackte Haut an Lizzies Bauch, wo ihr T-Shirt heraufgerutscht war.

»So, Luke, und jetzt sag mir, warum du es für eine gute Idee hältst, dass ich Mum den Gefallen tue, im Woodside-Pflegeheim zu arbeiten«, sagte Lizzie und ließ zu, dass Freddie sie auch weiterhin anstupste wie ein ungeschickter Arzt bei einer Untersuchung. »Weil ich mir nämlich überhaupt nichts vorstellen kann, bei dem es mir noch schlechter ginge.«

Lizzie lebte nun schon fast drei Wochen wieder zu Hause, und ohne das Wissen der anderen hatte ihre Mutter einen Plan für sie ausgeheckt und ihr vorgeschlagen, vorübergehend in dem Pflegeheim zu arbeiten, in dem sie selbst in den letzten Jahren ehrenamtlich ausgeholfen hatte. Ihr Plan hatte sich ganz unverhofft als geradezu perfekt erwiesen, als Luke und Ingrid angefragt hatten, ob Mum und Dad sich unter der Woche um Freddie kümmern könnten. Plötzlich erschien es auch allen anderen äußerst sinnvoll, dass Lizzie Mum im Woodside-Pflegeheim vertreten sollte, um ihr Zeit zu verschaffen, ihren Enkel zu beaufsichtigen.

»Tja«, sagte Luke, der wusste, dass er sich auf ein heikles Thema einließ, »dann muss ich dich zunächst mal fragen, ob du irgendetwas anderes mit deiner Zeit zu tun gedenkst? Abgesehen davon, den ganzen Tag lang vor dem Fernseher zu hocken?«

»Schön wär’s! Sobald ich mich hinsetze oder es auch nur so aussieht, als wollte ich es tun, stürzt sich Mum auf mich. Ganz ehrlich, Luke, es ist, als wäre ich wieder ein Kind, so wie sie mich im Haus herumscheucht. Ich könnte schwören, dass sie Angst hat, ich würde Wurzeln schlagen, wenn ich zu lange stillsitze.«

Luke lachte. »Das ist wahrscheinlich genau das, was ihr Sorgen bereitet. Das Letzte, was Eltern wollen, ist, dass ihr erwachsenes Kind auf Dauer bei ihnen lebt.«

Lizzie runzelte die Stirn. »Das Letzte, was ich will, ist, auf Dauer hier zu leben.«

»Also solltest du in der Zwischenzeit etwas Positives tun, während du darauf wartest, dass sich eine richtige Arbeitsgelegenheit ergibt.«

»Wenn sich überhaupt je was ergibt«, erwiderte sie mit ganz untypischem Pessimismus.

»Das wird es«, sagte er entschieden, obwohl es sehr selten vorkam, dass er versuchte, seiner Schwester Mut zu machen. Normalerweise war sie es, die mehr als genug davon besaß.

»Glaubst du nicht, dass ich eine Zeit lang bei euch wohnen könnte?«, fragte sie nachdenklich. »Dann könnte ich mich um dieses süße Äffchen kümmern, während ihr ein Kindermädchen sucht.« Freddie kicherte entzückt, als sie es ihm plötzlich mit gleicher Münze heimzahlte und auch ihn mit einem Finger in den Bauch pikte. »Ich wäre keine Belastung für euch. Und ihr würdet mich davor bewahren, im Woodside arbeiten zu müssen.«

Es war nicht das erste Mal, dass Lizzie diesen Vorschlag machte, seit ein Wasserrohrbruch katastrophale Schäden in Freddies Kindertagesstätte angerichtet hatte. Wenn es nach Luke ginge, würde er Ja sagen, weil es alles sehr vereinfachen würde. Eigentlich war es sogar sein erster Gedanke gewesen, Lizzie um Hilfe zu bitten. Aber Ingrid hatte gegen die Idee sehr schnell ein Veto eingelegt. »Das wäre ja, wie ein zweites Kind im Haus zu haben!«, hatte sie gesagt. »Und offen gestanden würde ich jede Wette eingehen, dass Freddie das vernünftigere der beiden wäre.«

Danach hatten sie kurz über die Möglichkeit gesprochen, täglich hin- und herzufahren und Freddie bei Mum und Dad abzuliefern und abzuholen. Doch da sie am Stadtrand von Cambridge lebten, war das einfach nicht machbar. Es war ihnen auch nicht fair erschienen, von seinen Eltern zu erwarten, dass sie die Strecke täglich zweimal fuhren. Aber bisher, eine Woche nach Beginn ihres derzeitigen Arrangements, hatte alles gut geklappt, und Freddie war sehr gern bei seinen Großeltern und wurde natürlich auch gehörig von ihnen verwöhnt.

An diesem Sonntagnachmittag waren sie hier, um ihn für eine weitere Woche dazulassen. Bisher sah es auch noch nicht so aus, als würden sie auf die Schnelle ein geeignetes Kindermädchen finden. Luke war geneigt, sich dem Vorschlag seiner Mutter anzuschließen, sie sollten sich die Mühe sparen und Freddie könne sehr gern so lange bleiben, bis die Kindertagesstätte wieder öffnete.

»Du würdest es keine achtundvierzig Stunden aushalten, Lizzie«, sagte Luke zu seiner Schwester, um ihre Frage zu beantworten. »Freddie würde dich fix und fertig machen und dir keine Zeit lassen, dir einen neuen Job zu suchen.«

Sie warf ihm einen etwas schmerzlichen Blick zu, der besagte, dass sie wusste, dass er nicht ganz ehrlich zu ihr war.

In dem sich zwischen ihnen ausbreitenden Schweigen, das nur von dem Gesang der Vögel und Freddies Summen unterbrochen wurde, dachte Luke an den Mann, der die Schuld an der misslichen Lage seiner Schwester trug. Er war dieser angeblichen Liebe ihres Lebens noch nie begegnet, aber er hatte schon sehr viel über ihn gehört. Eigentlich sogar zu viel, wenn er ehrlich sein sollte. Lukes unmittelbare Reaktion auf Lizzies Geständnis, dass sie eine Affäre mit einem verheirateten Mann hatte, war Schock gewesen. Selbst für ihre üblichen unbesonnenen und eigenwilligen Maßstäbe ging das zu weit. Am liebsten hätte er ihr geraten, den Mann fallen zu lassen wie eine heiße Kartoffel, und das so schnell wie möglich. Es konnte einfach nichts Gutes dabei herauskommen, die Beziehung zu ihm fortzusetzen. Angesichts der Veränderung, die er an Lizzie wahrnahm, und ihrer offensichtlichen Verliebtheit wegen hatte er jedoch gewusst, dass sie weit darüber hinaus war, sich irgendetwas anzuhören, das ihrem Glück einen Dämpfer verpassen könnte. Daher hatte Luke sich darauf beschränkt, sie zur Vorsicht zu mahnen.

Aus persönlicher Sicht hatte ihr Bruch mit Simon ihn besonders hart getroffen, weil Simon und er sich so gut verstanden hatten. Und es noch immer taten. Luke hinterging Lizzie nicht gern, aber diesmal hatte er ihr verschwiegen, dass er sich einige Male mit Simon auf einen Drink getroffen hatte, wenn er in London gewesen war. Die Abende, die sie miteinander verbracht hatten, waren nicht leicht gewesen. Das Traurige war, dass Luke der gleichen Meinung wie ihre Eltern gewesen war, dass sie in Simon endlich einen Partner gefunden hatte, der ihr Halt geben würde. Endlich ein Mann, der mit seinem sanften, ausgeglichenen Wesen das perfekte Gegenstück zu Lizzies hochimpulsivem Temperament war. Doch all das hatte sich leider nicht bewahrheitet. Vielleicht war es ihr ja bestimmt, nie reifer und gefestigter zu werden, sondern immer ein bisschen zielloser und unbedachter als alle anderen zu sein.

Von all den unerhört leichtsinnigen Dingen, die Lizzie sich geleistet hatte, war diese Geschichte mit Curt der Gipfel. Sie übertraf sogar noch die denkwürdige Gelegenheit, bei der sie versucht hatte, Luke das Haar zu färben, und ein unverdünntes Bleichmittel dafür verwendet hatte, was zu einem katastrophalen Ergebnis geführt hatte. Oder als sie ihn an ihrem gemeinsamen einundzwanzigsten Geburtstag mit Tickets für das Musikfestival in Glastonbury überrascht hatte. Es war ein fantastisches Geschenk gewesen, und Luke hatte sich monatelang darauf gefreut, The Killers, The White Stripes und Interpol auftreten zu sehen. Als dann endlich der Tag kam, an dem sie, mit einem Zelt, Regenmänteln und vollgestopften Rucksäcken bewaffnet, nach Somerset aufgebrochen waren, mussten sie feststellen, dass Lizzie die Eintrittskarten vergessen hatte. Sie hatte geschworen, Luke habe gesagt, er werde sie mitbringen, und selbst als er ihr die SMS zeigte, in der sie ihm geschrieben hatte, sie habe die Tickets, wollte sie nicht nachgeben. Irgendwann entschuldigte sie sich dann doch und gestand, dass sie die Tickets mit Tesafilm an ihren Schminkspiegel geklebt gefunden hatte. Der sicheren Aufbewahrung wegen, sagte sie. Weil sie im Grunde das Herz am rechten Fleck hatte und er ihr ohnehin nie lange böse sein konnte, hatte Luke ihr natürlich verziehen.

Lizzie hatte ihm auch die wahren Umstände ihrer Entlassung anvertraut, und wäre es jemand anders gewesen, hätte er gelacht. Aber der Gedanke, dass seine eigene Schwester mit ihrem Lover inflagranti an ihrem Arbeitsplatz ertappt worden war, hatte ihm großes Unbehagen bereitet. Aus irgendeinem Grund hatte er den Fehler gemacht, es Ingrid zu erzählen, obwohl er normalerweise vorsichtiger war mit dem, was er seiner Frau über Lizzie anvertraute. Ingrids entsetzte Reaktion – die ihn keineswegs in seiner Gewissheit bestärkte, dass er zu Recht schockiert war – hatte genau den gegenteiligen Effekt. Sie sorgte dafür, dass er das »Vergehen« seiner Schwester auch noch herunterspielte, als wäre es etwas, das jedermann passieren könnte. Aber tief im Innersten drängte ihn ein sehr ursprünglicher Instinkt dazu, die Ehre seiner Schwester zu verteidigen und Curt Flynn grün und blau zu schlagen, weil er sie so bloßgestellt hatte.

Als Zwillinge standen Lizzie und er sich so nahe, wie es nur möglich war. Ingrid behauptete sogar, dass die Distanz zwischen Lizzie und ihr nur deshalb existierte, weil Lizzie eifersüchtig auf sie war, nachdem sie es gewagt hatte, ihr den kostbaren Bruder zu stehlen. Luke hatte keine Ahnung, ob das stimmte, aber es war traurig und enttäuschend für ihn, dass Ingrid und seine Schwester nicht besser miteinander auskamen. Er konnte nur hoffen, dass sich das mit der Zeit noch ändern würde.

Luke war fünf Minuten älter als Lizzie, und obwohl sie keine eineiigen Zwillinge waren, war deutlich zu erkennen, dass sie Geschwister waren – wie zwei sich sehr ähnliche Erbsen aus derselben Schote. Beide waren dunkelhaarig und hatten dunkelbraune Augen, fein gezeichnete Augenbrauen und eine breite Stirn. Doch während er einen Meter zweiundachtzig groß war und zu seinem Ärger wie sein Vater schon ein wenig füllig zu werden begann, war Lizzie nur knapp einen Meter sechzig groß und genauso schlank, wie sie es stets gewesen war.

Als er sie jetzt betrachtete und sah, wie unglücklich sie aussah, als sie Freddie an sich drückte, wünschte Luke von ganzem Herzen, dass dieser Curt Flynn die Reise von Manchester nach London niemals angetreten hätte. Lizzie hatte ihren Job bei Starlight Radio von Anfang an geliebt. Als der in Shoreditch ansässige Sender expandierte, um über die aktuellsten Tagesthemen sowie eine Anzahl schrullig-amüsanter Meldungen zu berichten, hatte Lizzie zeigen können, was sie draufhatte, und sich mit Vergnügen den nötigen Recherchen gewidmet. Aber dann war dieser verdammte Ehrgeizling Curt Flynn dahergekommen, um den Posten des Programmleiters zu übernehmen, und aus war es mit ihrem Job gewesen. Und war es nicht typisch, dass der Kerl ungeschoren davongekommen und es Lizzie war, die teuer bezahlt und alles verloren hatte?

Luke wollte sie gerade fragen, ob sie etwas von Curt gehört hatte, als er Ingrid in der offenen Terrassentür zur Küche stehen sah. Und während er die lässige Eleganz bewunderte, mit der seine Frau sich bewegte und die ihm schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war, dachte er wie so oft, dass Ingrid eine echte Schönheit war. Sie trug eine verblichene Bluejeans, die ihre langen schlanken Beine betonte, und eine schlichte weiße Baumwollbluse. Ihr skandinavisch blondes Haar, das sich mit den Jahren verdunkelte, wie sie sich oft beklagte, hatte sie mit einem großen Clip zusammengenommen, was den Blick auf ihren schlanken Nacken freigab.

Es war kaum zu glauben, aber das erste Mal waren sie sich bei einer Zusammenkunft von Anwälten auf der Pferderennbahn in Newmarket begegnet. Er hatte sich seinen Gewinn auszahlen lassen – einen Zufallstreffer auf ein Pferd, das als Erstes durch das Ziel gegangen war – und kehrte zu seinem Tisch mit Prozessanwaltskollegen zurück, als er Ingrid in einer Ecke des Raumes stehen sah. Er hatte sie schon während des Essens bemerkt und sie einfach umwerfend gefunden. Und das dachte er auch jetzt wieder, als er sie – eher unfreiwillig, wie es schien – einem großen, rotgesichtigen Mann in einem Nadelstreifenanzug mit einem auffallenden pinkfarbenen Seidentuch in der Brusttasche zuhören sah. Luke sah die tödliche Langeweile in ihren blauen Augen und kannte das Gefühl auch selbst nur allzu gut: Nichts ging über einen Tag mit ermüdendem VIP-Geschwafel, um einen wünschen zu lassen, man wäre ganz woanders. Sie bemerkte, dass er zu ihr hinübersah, für einen Sekundenbruchteil begegneten sich ihre Blicke, und schon war die Verbindung hergestellt. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich, und mit einem strahlenden Lächeln legte sie eine Hand auf den Unterarm des Mannes und sagte etwas, das Luke aus der Entfernung nicht verstehen konnte. Als Nächstes sah er jedoch, wie sie sich anmutig einen Weg durch den dicht besetzten Raum bahnte und direkt auf ihn zukam.

»Spielen Sie um Himmels willen mit«, bat sie ihn leise und mit ausgestreckter Hand. »Tun Sie so, als würden wir uns kennen, und bewahren Sie mich davor, auch nur eine Sekunde länger mit diesem arroganten Mistkerl reden zu müssen. Ich habe ihm gesagt, ich müsste dringend etwas mit Ihnen besprechen.«

Luke spielte mit, begrüßte sie sehr herzlich und fragte sie, wie es ihr ging und warum er seit Ewigkeiten nichts mehr von ihr gehört hatte. Sie hatte gelächelt und sich auf die Farce eingelassen, und erst als die Luft rein gewesen war und der rotgesichtige Mann ein anderes Opfer gefunden hatte, hatte Luke sich nach ihrem Namen und dem der Anwaltskanzlei erkundigt, für die sie tätig war. Von da an war es nur noch ein sehr kleiner Schritt, bis er alles über sie erfahren wollte.

Ihr Name war Ingrid Vaughan, und sie war die einzige Tochter eines Briten, der eine Schwedin aus Stockholm geheiratet hatte. Ingrid hatte einen Teil ihrer Kindheit in Schweden verbracht, bevor sie nach London umgezogen waren. Die Ehe ihrer Eltern war nicht glücklich gewesen. Sie hatten sich oft und sehr heftig gestritten, und als Ingrids Vater starb, was ihrer Mutter nicht ungelegen kam, wurde er schnell von einer ganzen Reihe von Männern ersetzt. Das Highlight unter ihnen war ein reicher Diamantenhändler aus Antwerpen, der allerdings kein ermüdendes kleines Kind im Weg haben wollte. Und so wurde Ingrid auf ein Internat an der Südküste Englands geschickt, während ihre Mutter ihren Diamantenhändler heiratete und die Welt zu bereisen begann. Auf einem solch hohen und stilvollen Niveau, wie es ihr ihrer Meinung nach schon immer zugestanden hatte.

All das bewirkte, dass Ingrid zu einer starken, unabhängigen und intelligenten Frau heranwuchs. Wie Luke hatte sie nach dem Studium der Versuchung widerstanden, für eine große Londoner Kanzlei zu arbeiten, und stattdessen die Gelegenheit vorgezogen, eine gute Leistung in einem Umfeld zu erbringen, in dem sie nicht so sehr unter Druck stand. Hätten sie sich zu Beginn ihres Berufslebens nicht beide um Stellungen in Cambridge beworben, wären sie sich nie begegnet.

Als Freddie seine Mutter im Garten sah, kletterte er von Lizzie herunter und rannte zu Ingrid hinüber. Sie nahm ihn auf den Arm und küsste ihn zärtlich auf die Wange. Dann blickte sie zu Luke hinüber, schenkte ihm ein kurzes Lächeln und sagte: »Es wird Zeit, uns auf den Weg zu machen.«

Kapitel Fünf

Sie konnte sich nicht entsinnen, wer ihr von dieser Theorie erzählt hatte, aber mit ihren fünfundneunzig Jahren hatte Clarissa Dallimore genug vom Leben – und vom Tod – gesehen, um zu wissen, dass sehr viel Wahrheit darin lag. Die Theorie war folgende: Menschen entschieden oft selbst, wann sie starben, weil sie auf die richtige Person warten wollten, die im Moment des Todes bei ihnen sein sollte, oder um sich zu empfehlen, wenn die letzten Abschiedsworte alle gesprochen waren und es nichts anderes mehr zu sagen gab.

Clarissa wusste ohne den geringsten Zweifel, dass ihre Zeit zu gehen schon sehr nahe war – und wie Ellis ihr immer wieder in Erinnerung rief: Was hielt sie hier denn eigentlich noch? Warum blieb sie noch, obwohl sie niemanden mehr hatte, dem sie Lebewohl sagen könnte?

Als Ellis ihr zum ersten Mal erschienen war, hatte sie im Garten des Woodside-Seniorenheims gesessen, ein paar Tage nur nach ihrem Umzug hierher. Von der anderen Seite des Rasens und dem mit Rosen überwucherten Pavillon, hinter dem sich ein Teich befand, hatte er ihr zugewinkt. Ohne nachzudenken, hatte sie den Gruß erwidert, weil ihre Freude darüber, ihn wiederzusehen, ihre Überraschung überwog. Bei seinem nächsten Erscheinen hatte er eines Nachts am Fußende ihres Bettes gestanden, und bei einer anderen Gelegenheit hatte er sich während des Mittagessens im Speisesaal gezeigt. An jenem Tag war er nicht allein gewesen, sondern in Begleitung von Artie und Effie. Oh, was für eine Freude es gewesen war, sie alle drei zusammen zu sehen! Und wie sie ihr die Langeweile vertrieben hatten, diesem furchtbar ermüdenden Tischnachbarn zuhören zu müssen, der sich darüber aufregte, dass das Essen nicht kräftig genug gewürzt war. Effie hatte ihr verstehend zugezwinkert, um ihr zu zeigen, dass sie wusste, wie unendlich nervtötend Clarissa diesen Menschen fand. Dieses Augenzwinkern hatte in Clarissa Sehnsucht nach der Zeit geweckt, in der sie ein kleines Mädchen gewesen war, mit einem Kopf und einem Herzen voller Liebe, Hoffnung und Abenteuerlust, als noch alles möglich gewesen zu sein schien.

Heute dagegen war für sie das größte Abenteuer des Tages der Versuch, sich ohne Hilfe zu waschen und anzuziehen. An manchen Tagen frustrierte sie es ungemein, wie wenig sie noch selbst tun konnte. Aber im Großen und Ganzen hatte sie sich damit abgefunden und war zufrieden damit, in ihrem Kopf und ihren Erinnerungen zu leben und das Leben auf diese Weise auszukosten.

An manchen Tagen war sie versucht, jemandem – irgendjemandem – zu erklären, dass dies nicht ihr wahres Ich war, dass sie weitaus mehr war als diese gebrechliche alte Frau, die den letzten Abschnitt ihres Lebens in einem Pflegeheim verbrachte. Aber wer würde ihr glauben? Oder wichtiger noch – wer würde sich dafür interessieren oder Zeit haben, sich hinzusetzen und ihr zuzuhören? Das Pflegepersonal in Woodside war zwar sehr fürsorglich und geduldig, doch keiner von ihnen hatte Zeit, um mehr als nur ein paar Minuten still zu sitzen.

Und was die Gespräche mit ihren Mitbewohnern anging – und ohne kleinlich sein zu wollen –, so waren die anderen alten Damen und Herren meist nur an sich selbst und ihrem eigenen Leben interessiert. Was natürlich daran liegen mochte, dass es in einigen Fällen das Einzige war, das einem blieb, wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hatte. In den Tagen und Wochen, die seit Clarissas Ankunft hier vergangen waren, hatte sie ihren Mitbewohnern höflich zugehört. Hin und wieder hatte sie zwar den Fauxpas begangen einzunicken, doch soweit sie das beurteilen konnte, machte das nichts, weil sie binnen kürzester Zeit ja ohnehin nur wieder die gleiche Geschichte hören würde.

Nach dem Mittagessen wartete Clarissa darauf, dass jemand kam und ihr half, den Speisesaal in dem Rollstuhl zu verlassen, der ihr das Leben eigentlich erleichtern sollte. Wie sehr sie wünschte, sie hätte die Kraft, sich selbst hinauszurollen!

Bis gegen Ende des vergangenen Jahres hatte sie sich noch bestens selbst versorgen können, aber dann war sie kurz vor Weihnachten in dem Schnee und Eis im Garten ausgerutscht und hingefallen. Sie war hinausgegangen, um die Vögel zu füttern und das gefrorene Wasser in der Vogeltränke mit kochendem Wasser aus dem Kessel aufzutauen – und nach ihrem Sturz hatte sie fast eine Stunde mit entsetzlichen Schmerzen im Schnee gelegen und den Kessel an sich gedrückt, um sich zu wärmen.

Es waren die Müllmänner gewesen, die sie gefunden hatten. Zum Glück holten sie stets ihre Mülltonne auf Rädern aus dem Garten hinter dem Haus, um sie zu leeren, anstatt Clarissa die Anstrengung zuzumuten, die Tonne durch das Eingangstor hinauszurollen. Ihr hätte wer weiß was passieren können, wenn die Männer nicht so rücksichtsvoll gewesen wären, diese Aufgabe zu übernehmen. Ihre Nachbarn waren nämlich den ganzen Tag außer Haus und bei der Arbeit, und Clarissas Putzfrau kam erst am Wochenende. Trotz des Zustandes, in dem sie war, hatte sie noch mit den Müllmännern gescherzt. »Falls es Ihnen nichts ausmacht, können Sie mich auch einfach in den Müllwagen werfen und den Leuten die Mühe eines Begräbnisses ersparen«, hatte sie gesagt.

Zu ihrem außerordentlichen Bedauern war dieser Sturz das Ende ihrer Unabhängigkeit gewesen. Als sie endlich wieder aus dem Krankenhaus heimkehren durfte, um sich von ihrem Beckenbruch zu erholen, sah sie sich mit der unerfreulichen Tatsache konfrontiert, die Dienste einer Pflegerin oder Haushaltshilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Ihr Hausarzt hatte es ihr schon seit einiger Zeit geraten, doch Clarissa hatte sich immer gegen die Vorstellung gesträubt, weil sie den Gedanken hasste, Fremde in ihr Leben eindringen und womöglich gar die Kontrolle darüber übernehmen zu lassen. Alle früheren Hilfen, die sie gehabt hatte, wie Gärtner, Handwerker oder Putzfrauen, waren zu ihren Bedingungen da gewesen. Aber jemanden im eigenen Haus zu haben, der sie wusch, badete und an- und auskleidete, war eine völlig andere Sache und furchtbar würdelos. Nichtsdestotrotz beugte sie sich der Notwendigkeit, bis sie nach einer ganzen Reihe unbefriedigender Erfahrungen mit verschiedenen Betreuerinnen eines Tages ihr Dilemma akzeptierte und beschloss, dass es an der Zeit war, vernünftig zu sein und sich einen Platz in einem Pflegeheim zu suchen.

Das Woodside-Seniorenheim war ihr als kleine, freundliche Residenz im Landhausstil mit Schwerpunkt auf persönlicher und erstklassiger Pflege empfohlen worden. Der Prospekt hatte ihr ein Leben frei von allen Alltagssorgen versprochen, die ihr – und natürlich auch ihren Angehörigen – abgenommen würden. Da Clarissa keine Familie mehr hatte, lag die ganze Last auf ihren eigenen Schultern, und das schon seit sehr langer Zeit. Woodside, wie die Broschüre sie weiterhin informierte, lag in den Randbezirken von Great Magnus im Herzen Suffolks und war ein echtes zweites Zuhause für vornehme ältere Herrschaften. All das summierte sich natürlich zu einem hohen Preis. Glücklicherweise verfügte Clarissa über die Mittel, die exorbitanten Gebühren zu bezahlen, ohne dafür ihr Haus sofort verkaufen zu müssen.

Sie blickte sich um und merkte, dass sie vollkommen allein war. Ob irgendwann mal jemand kommen würde, um ihr zu helfen? Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie eine junge Frau im Eingang zum Speisesaal erscheinen sah. Clarissa hatte sie schon vorher beim Lunch bemerkt und gedacht, wie unübersehbar unwohl sie sich in dem rosafarbenen Kittel der ehrenamtlichen Helferinnen zu fühlen schien. Sie passte nicht in das Bild der anderen Frauen, die hier beschäftigt waren. Die meisten waren älter und hatten ein gewandtes, immer gut gelauntes Auftreten. Mr und Mrs Parks, die Eigentümer des Seniorenheims, waren sehr streng in der Auswahl ihrer Beschäftigten. Wer ihren Anforderungen nicht genügte, erhielt sehr schnell die Kündigung.

Mit der ernsten Miene sah die junge Frau in der Eingangstür nicht so aus, als würde sie sich sehr lange halten. Sie wies alle Merkmale eines Menschen auf, der wünschte, überall sonst zu sein, nur nicht hier. Aber hinter ihrem mürrischen Gesichtsausdruck entdeckte Clarissa eine recht hübsche Person, die älter war, als sie anfangs gedacht hatte, vielleicht so Ende zwanzig. Sie hatte eine makellose, erfreulicherweise ungeschminkte Haut und dichtes, dunkles Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sie ist nicht glücklich, dachte Clarissa, aber andererseits wäre sie selbst in diesem Alter genauso unglücklich gewesen, wenn sie sich gezwungen gesehen hätte, ein derart unvorteilhaftes Kleidungsstück wie diesen pinkfarbenen Kittel zu tragen.

Die junge Frau näherte sich ihr. »Mrs Danemore?«, fragte sie.

Clarissa konnte es sich nicht verkneifen, sie ein bisschen aufzuziehen, indem sie sich suchend in dem leeren Speisesaal umsah und den Kopf schüttelte. »Ich kenne hier niemanden, der so heißt.«

»Oh.« Die junge Frau zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.