Telamon - Edda Bork - E-Book

Telamon E-Book

Edda Bork

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Beschreibung

Der Elfensohn Telamon wächst unter Menschen auf. Niemand weiß, dass sein Vater ein verbannter Elfenhexer ist. Lange Zeit bleibt sein Leben ruhig – bis er sich plötzlich in einen Wolf verwandelt. Seine Herkunft kommt ans Licht und die Dorfbewohner vertreiben ihn. Bald muss auch Telamon erkennen, dass der Wolf in ihm seine dunkelsten Triebe entfesselt … Gleichzeitig besucht Moyra seine Träume. Das Mädchen aus der anderen Welt ist auf der Suche nach einem geraubten Drachenei und erscheint Telamon als Nebelkrähe. Um Moyra beizustehen und den Tod seiner Mutter zu rächen, macht Telamon sich mit ihr auf die Reise nach Unoria - zur Burg des Hexers. Im Elfenwald finden sie Verbündete - mit Schwert und Bogen stellen sie sich zahlreichen Gefahren. Doch Telamons Vater und das verschwundene Drachenei bergen mehr Geheimnisse, als sie ahnen …

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Seitenzahl: 909

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Telamon
Über die Autorin
Impressum
Teil I
Aus der Prophezeiung des Mondsees
1
2
3
4
Teil II
5
6
7
8
Teil III
9
10
11
12
Teil IV
13
14
15
16
17
Teil V
Das Lied der Treiber
18
19
Teil VI
20
21
22
23
24
25
26
27
Teil VII
28
29
30
31
Teil VIII
32
33
34
35
Glossar
Danksagung

EDDA BORK

Telamon

Aufbruch nach Unoria

*

Für Wilfried -

Tausendmal sind wir nach Hesterna gereist.

Du bist der beste Gefährte,

den man sich wünschen kann.

*

*

Und auch für Verena.

Möge der Wind dir in Zukunft gewogen sein.

*

Über die Autorin

Edda Bork liebt Geschichten über Elfen, Magier und Vampire und war schon als Kind lesesüchtig. Ein erstes Skript zu Telamon und seiner Krähe Moyra schrieb Edda während des Studiums. Seither wächst Telamons magische Welt und die Ideen füllen Eddas Notizbücher. Ihre Freude am Geschichtenschreiben und dem Schaffen kreativer Welten gibt Edda gerne im Deutsch- und Kunstunterricht weiter. Wenn sie in ihrer Freizeit nicht gerade mit dem Schreiben beschäftigt ist, pirscht sie mit ihrem Hund durch die norddeutschen Wälder oder nimmt sich die Zeit, Buchszenen und Charaktere bildlich darzustellen.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-138-2

E-Book-ISBN: 978-3-96752-638-7

Copyright (2022) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 1099918733, 1012887970, 1189965367

von www.shutterstock.com

Illustrationen im Buch von der Autorin

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Teil I

Zwei Welten

Sê Va‘Njer Va‘Njen …

Wenn die Nacht vom Schicksal erleuchtet wird …

Aus der Prophezeiung des Mondsees

Feyen, Feyen,

die Meine!

Streckt mein Gewässer aus,

zu fließen durch die Lande,

das Mondlicht zieht‘s hinaus!

Voraus die silbern‘ Arme,

dem Flussgesange lausch,

im Licht der Nacht umfange,

taucht ein in mich, zum Tausch.

Die Augen meine Bäche,

dann heimwärts strömt ihr Lauf,

gleich eines Spiegels Fläche,

mein Bett füllt’s wieder auf.

Feyen, Feyen,

die Meine!

Schickt seiner Nächte Mahr!

Der Krähenbraut nach sieben,

sechs Wölfe sind es gar.

Geflügelt ihre Furien,

den Jüngsten zieht‘s hinaus,

denn Silber horcht der Grauen,

das Schicksal zeigt sie auf!

Feyen, Feyen,

die Meine!

Der Schatten Licht gebar,

zu fließen durch die Lande,

und eins wird sein, was war.

1

Jagdzeit

Telamon

Der Mond brach durch die Wolkendecke und zwang Telamon in den Schatten. Er war auf die Dächer geflüchtet, unter seinen Stiefeln knirschten die Schindeln. Das Wetter schlug um, der Regen versiegte und das fahle Licht ließ die Straßen unter ihm glänzen, nass und verräterisch hell. Zweimal war er ausgerutscht, hatte sich Knie und Hände aufgeschürft und sie hatten ihn fast erwischt.

Fürs Durchatmen blieb kaum Zeit. Telamon war hungrig und abgekämpft. Er hatte gehofft, in Agors Haus nächtigen zu können - das konnte er nun vergessen.

Hinter dem Schlot verharrte er. Wind blies durch die Stadt, die Felder und Wiesen jenseits der Mauern ertranken im Wasser. Die meisten Häuser lagen im Dunkeln … Hier und dort wachte man auf, verbarrikadierte und rüstete sich. Erst waren es zwölf gewesen, doch die Zahl seiner Jäger wuchs und ein paar Atemzüge später war die halbe Stadt erwacht. Ihre Rufe kamen aus sämtlichen Richtungen zugleich.

Etwas drängte Telamon dazu, sich zu verwandeln, zerrte an seinem Körper und schwärzte kurzweilig sein Blickfeld. Das verdammte Zittern hörte nicht auf und die Meute näherte sich.

Wohin er jetzt sollte, wusste er nicht. An einem einzigen Tag war es ihm gelungen, alles zu zerstören, woran er die letzten Jahre festgehalten hatte. Irgendwer musste beobachtet haben, wie er die Wolfsgestalt abgelegt hatte, und das hatte sich verbreitet wie ein Lauffeuer. Telamon war ein Fenris – wenn demnächst seine Steckbriefe aushingen, so bedeutete dies zumindest, dass er die Nacht überlebt hatte.

Anfangs waren die Wechsel völlig unkontrolliert vonstattengegangen. Einmal war er als Wolf in einer fremden Kammer erwacht. Ein anderes Mal fand er sich nackt im tiefsten Wald wieder, mit Blut an den Händen und Kaninchenfell zwischen den Zähnen. Auf dem Weg nach Braurorn hatte er an Sicherheit gewonnen, Lücken in seiner Erinnerung gab es seither seltener. Telamon konnte nicht leugnen, dass er sich auch innerlich verändert hatte - in erschreckendem Maße. Ergriffen vom Jagdfieber hatte er sich gehen lassen und sich genauso gedankenlos zurückverwandelt. Dämlicherweise ausgerechnet in der Nähe einer Menschensiedlung.

Nach Braurorn zurückzukehren, war der nächste Fehler gewesen. Noch vor einigen Augenblicken hatte Telamon an die Tür seiner Zieheltern geklopft, um von Ophelia mehr über seine Gabe in Erfahrung zu bringen. Sie hatte geahnt, dass er das Erbe in sich trug, und hatte ihn im Falle dessen zu sich gebeten.

Freilich hätte er Ophelias Bitte niemals nachgeben dürfen. Einem Fenris konnte man nicht helfen, ihre Mitwisserschaft brachte sie bloß in Gefahr. Ihr mürrischer Gatte hatte das sofort begriffen. Agor hatte Telamon immer als Last empfunden und hiernach hatte er erst recht Grund dazu. Elfenbastarde wurden nicht gern gesehen und auf die Köpfe von Wandlern wurden hohe Prämien geboten. Gewiss hätte Ophelias Gatte ihn vorhin vor die Tür gesetzt, wäre nicht plötzlich der wütende Mob davor aufgetaucht. Agor ließ Telamon wie einen Schwerverbrecher entkommen und Ophelia brach in Tränen aus. Das Hinhalten der Jäger würde für seine Zieheltern zweifellos Konsequenzen haben.

An den Schornstein gepresst zählte Telamon die tanzenden Fackeln. In den Gassen wimmelte es davon. Die schweren Stiefel der Jäger platschten durch die Pfützen, gleich unter ihm.

Niemand nahm ihn in seiner Deckung wahr. Menschliche Sinne waren bedauernswert und der Wolf in ihm verlachte die Männer. Die Wut trieb sie vorwärts. Ein Teil von ihm konnte durchaus nachvollziehen, weshalb die Menschen so brutal gegen Wandler vorgingen. Aber in der Rolle des Gejagten zu stecken, gefiel Telamon ganz und gar nicht. Er war nie ein Treiber gewesen wie seine Brüder - er war kein Werwolf, der sich mit Dämonen stärkte und unter der Fuchtel seines Vaters stand. Bisher hatte Telamon sich nichts zuschulden kommen lassen. Nur würde ihm das keiner glauben.

Der Ruf einer Nebelkrähe erschallte. Das Tier flog dicht über ihn hinweg und entfernte sich in Richtung der Stadtmauern, als würde es ihm einen Wink geben wollen. Telamon musste aus der Stadt, und zwar schleunigst.

Gerade als er aufs nächste Dach springen wollte, sah er einen Trupp Soldaten nahen. Im Gleichschritt trabten sie herbei, manche mit der Hellebarde, andere mit der Armbrust bewaffnet. Koordiniert schwärmten sie aus und richteten ihre Visiere nach oben. Telamon warf sich mit dem Rücken gegen den Schlot - leider war es bereits zu spät. Das erste Geschoss pfiff an seiner Nase vorbei und Befehle wurden gebellt. Fluchend ergriff er die Flucht über die Dächer.

Mit einem Satz hob er über die schmale Gasse. Er landete auf einem Strohdach, packte die glitschigen Halme, zog sich hoch, lief entlang des Giebels und setzte so von einem Dach zum nächsten über. Der vergangene Regen hatte alles mit einem schmierigen Film versehen. Mehrmals schlitterte er über Ziegel und Schindeln und rief damit die Soldaten herbei.

Endlich kam das Stadttor in Sicht. Währenddem brachte das laute Horn, das von der Festung erklang, Bewegung in die Wachen. Nur zwei befanden sich unten, sie schickten sich an, das Gitter zu senken. Die schweren Ketten rasselten, die Kurbel drehte sich und sein letzter Ausweg schien zu schwinden.

Der Anblick trieb Telamon zu einer verzweifelten Tat: Er ließ sich auf die Straße fallen und rannte los. Sogleich erschallte ihr Gebrüll - und seine Sicht wandelte sich. Schemenhaft nahm er wahr, dass sich die Waffen auf ihn richteten. Einen Atemzug lang blieb die Zeit stehen, Einzelheiten wurden unscharf, die Bewegungen dafür umso deutlicher. Seine Haut brannte und riss, Knochen verbogen sich. Schwarzes Fell spross hervor und verschluckte Kleidung und Waffen. Sein Körper verformte sich und er nutzte den Moment der Überraschung. Mit gefletschten Zähnen sprang er dem einen gegen die Brust, warf ihn um und duckte sich unter der Klinge des anderen. Pfeile schossen von der Stadtmauer, etwas biss ihm in den Hinterlauf.

Er huschte unter dem Gitter hindurch und preschte im Wolfsgalopp den Abhang hinunter. Es gab keine Deckung und der Mond leuchtete unerbittlich, weshalb er trotz seiner Ausweichmanöver ein leichtes Ziel bot. Sehnen surrten und Armbrüste schnappten, Geschosse zischten durch den Nachthimmel. Ein scharfes Stechen durchzuckte seine Flanke.

Jäh brach die Flut der Pfeile ab. Der Geruch von Pferden wehte herbei, Hufe scharrten hinter der Mauer und ein ganzes Rudel Hunde lief auf. Fürst Grimhold blies zur Jagd und das Tor hob sich.

Der Wolf stürzte aufs schützende Unterholz zu. Kurz davor traf eines ihrer Geschosse seinen Schenkel und er jaulte auf. Die Männer grölten. »Ihr habt ihn erwischt! Vorzüglich!«

Zu Telamons Ärger applaudierten sie sogar. Bald galoppierten sie an, ihre Hunde verursachten ein ohrenbetäubendes Gekläff und nahmen seine Spur auf. Im Lauf blickte er hinter sich. Das helle Leuchten eines Schimmels bestätigte, dass der Fürst die Hatz anführte und mit ihm ein Dutzend weiterer Prahlhänse. Die Adelsmänner waren weithin sichtbar, die Kleidung zur Jagd gänzlich ungeeignet. Das allerdings würde Telamon nicht helfen, wenn ihn seine Verletzungen zum Innehalten zwangen.

Er ließ sein schwarzes Fell mit dem Schatten der Bäume verschmelzen und kämpfte sich tiefer in NordarsWälder vor. Sein Instinkt übernahm die Führung und lenkte ihn vorwärts, auf eine sichere Fährte.

Moyra

Atemlos schlug Moyra die Augen auf. Abermals war sie so aufgewühlt, als wäre sie selbst verfolgt worden. In den letzten Wochen hatte sie mehrfach merkwürdige Träume gehabt, von Elfen, bärtigen Kriegern und Werwölfen. Sogar eine Vampirin war darin vorgekommen.

Die Bilder des vergangenen Traums nahmen erneut Gestalt an und Moyra sah, wie der Junge über die Dächer floh. Schließlich sprang er auf die Straße, stürmte davon und verschwand. Am auffälligsten waren seine Augen gewesen - die Iris grau und dunkel umrandet, so hell, als leuchte sie aus sich selbst heraus. Die Art, wie er sich bewegt hatte, war viel zu geschmeidig gewesen, um menschlich zu sein.

Was war er? Das Bild von ihm war so klar, als existiere er in der Wirklichkeit. Nicht einmal an seinem Namen zweifelte sie. Telamon. Ein Name, der so fest in Moyras Gedächtnis verhaftet war, wie der eines guten Freundes.

Sie wusste, dass Kassy sie für verrückt erklären würde, dennoch suchte Moyra wenig später ihre jüngere Schwester auf.

»Scheiße, wie siehst du denn aus? Schon wieder die Werwölfe?« Moyras Albträumen schenkte Kassy mittlerweile kaum noch Beachtung. Sie hockte im Schneidersitz auf dem Bett, das Handy warf sein mattes Licht in den Raum und ließ Kassys sonst rotes Haar grünlich leuchten. Ihre Augen klebten am Text. »Collin ist am Wochenende hier. Sie haben ein Spiel gegen unsere Mannschaft.«

Der Eishockeyspieler, entsann Moyra sich.

Es tat gut, Kassys Nähe zu spüren. In ihrem eigenen Zimmer hätte Moyra so schnell keine Ruhe mehr finden können, obwohl der heutige Traum mit dem blutigen Gemetzel von neulich nicht vergleichbar war. An Werwölfe konnte Moyra sich diesmal nicht erinnern - in den Nächten zuvor war sie davon nicht verschont geblieben.

Sie ließ sich neben ihrer Schwester aufs Bett fallen und lehnte sich an die Wand. Kassy lachte beim Lesen. »Sie haben zwei neue Iren im Team und wollen … in den Irish Pub? Wie spießig ist das denn? Soll ich schreiben, dass du mitkommst?«

»Du bist erst fünfzehn, Kassy.«

»Ja und? … Ins Meetz lassen sie mich auch immer rein!«

Moyra seufzte und schloss die Lider. Kassy wusste genau, dass ihr Vater dergleichen niemals gestatten würde. Für die Halloweenparty hatte Moyra sich letzthin mit Tims Hilfe aus dem Fenster gehangelt. Mit sechzehn ginge man nachts nicht heimlich los und betrinke sich mit maskierten Männern, hatte Charons Argument gelautet, als er Moyra per Textnachricht aus der Party zitierte und sie zwang, mit ihm zurückzufahren. In Situationen wie diesen verstand sie ihren Vater einfach nicht.

Während Kassys Finger über das Handy glitten, erzählte Moyra weiter.

»Du bist also geflogen?«, fragte die Kleine, nachdem Moyras Schilderung endete. »Na ja, in Träumen kann man eben alles Mögliche tun. An deiner Stelle würde ich mal Ma‘s Baldrian einnehmen. Oder frag Liane und Ariane. Die blauen Pillen, die sie im Schrank verstecken, können dich echt ausknocken. Andererseits … Wenn man das Zeug mit Alkohol kombiniert, kann die Wirkung umschlagen. Habe ich gehört. Nicht, dass ich es selbst getestet hätte oder so.«

Was ihre älteren Zwillingsschwestern auf ihren Partys konsumierten, hatte Moyra eigentlich gar nicht wissen wollen. »Kann sein, dass das albern klingt, Kassy … Das war alles so echt. Ich bin in einem Kriegerdorf gelandet, mitten in der Nacht. Und als ich in das Haus flog, habe ich seinen Bruder geweckt und ihm gesagt, dass er Telamon suchen muss, weil der seine Hilfe braucht.«

Kassy schob sich ein Kaugummi in den Mund. »Und woher wusstest du, dass es sein Bruder war? Hast du sie einmal zusammen gesehen?«

Moyra blinzelte verwirrt, ihre Träume gaben darüber keinen Aufschluss. »Ich weiß es eben. Ich habe ein Bild von ihm gemalt.« Sie zog es aus dem Ärmel ihres Schlafanzugs und entfaltete es.

»Das ist aber nicht der Junge«, stellte Kassy fest.

»Nein, das ist Mirak.« Telamons Bruder hatte ebenfalls schwarzes Haar, es war länger und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er trug einen Kinnbart und war zweifelsohne ein erwachsener Mann, mit dunklen, wachsamen Augen.

»Und du hast nichts dazuerfunden?«

»Nein.« Abwägend betrachtete Moyra die Gesichtszüge. »Okay, ein bisschen ähnelt er Charon, wenn man sich den Bart wegdenkt.«

»Manchmal bist du echt unheimlich, Moyra.« Kassy wirkte ungewöhnlich ernst. »Ich könnte jedenfalls nichts zeichnen, was ich träume, und du malst es so -« Sie stockte, denn es klopfte sacht und ihre Köpfe wandten sich der Tür zu.

Ihr Vater hatte sie geöffnet und einen Arm lässig gegen den Türrahmen gelehnt - eine Körperhaltung, die er oft einnahm, wenn er ihnen die Regeln des Zusammenlebens erklärte. Großgewachsen und drahtig wie er war, machte er oft einen jugendlichen Eindruck.

Jetzt sah er übermüdet aus. Vermutlich kam er gerade aus dem Labor, warum sonst war der schwarze Pulli so zerknittert?

»Mädels.« Er beäugte sie aufmerksam. »Es ist drei Uhr nachts. Morgen ist Schule.« Moyra ließ die Zeichnung verschwinden, Kassy hatte weniger Glück. »Konfisziert«, sprach er, ehe sie das Handy unter die Bettdecke schieben konnte. Kassys Mund verzog sich. »Bis morgen früh.«

Sie standen beide auf – Moyra, um an ihm vorbeizuschlüpfen, und Kassy, um ihm ihr Handy auszuhändigen.

Charons Ruf ließ Moyra auf dem Flur innehalten. Wie sich herausstellte, entging ihrem Vater wie gewohnt nichts - seine schwarzen Augen zogen sie in den Bann und lasen alles in ihrem Gesicht. »Hast du die Albträume permanent?« Moyra nickte und sehnte sich plötzlich nach einer väterlichen Umarmung. Flüchtig zog er sie an sich und schob sie dann auf Armeslänge fort. »Fragst du dich gar nicht, warum ich erst so spät zurückkomme?«

»Doch.« Sand klebte an seinen Profilschuhen, also war er heute im Drachengehege gewesen. »Hat es endlich geklappt?«

»Es ist kaum zu glauben.« Charon lachte, mit einem Glanz in den Augen, wie man es selten bei ihm sah. »Ja, es ist geglückt, Moyra.«

»Das Drachenei?« Vor Freude hätte sie fast gejubelt. Also hatte das alte Weibchen wahrhaftig ein Ei gelegt, wenngleich niemand außer Charon daran geglaubt hatte. Und er hatte wirklich lange darauf hingearbeitet.

Als Moyra klein gewesen war, waren sie nach Quenburg gezogen, damit ihr Vater am Aufbau des Evolution Parks mitwirken konnte. Hier war er für die genetischen Entschlüsselungen ausgestorbener Tierarten zuständig und erweckte diese zum Leben. Nebenbei wurden in seinem Labor die kunterbuntesten Fabelwesen kreiert, wie beispielsweise die geflügelten Löwen. Andere Arten waren von Charons Expeditionsteams in verborgenen Winkeln der Welt wiederentdeckt worden. Nach etlichen Jahren der Vorbereitung hatte man den Park schließlich eröffnet. Der Besitzer war ein vermögender Mann und hatte Unsummen von Geld investiert, was sich dem Anschein nach längst ausgezahlt hatte. Trotz einiger Sicherheitsbedenken und der Proteste der Anwohner wollten die Besucherströme nicht mehr abreißen und der Evolution Park hatte Quenburg weltberühmt gemacht.

Anfangs hatten Charon und seine Mitarbeiter versucht, einen Drachen künstlich zu erzeugen. Es war ein totaler Fehlschlag gewesen. Zum Glück hatte man in Rumänien vor zwei Jahren ein uraltes Drachenweibchen gefunden. Damit war ihre Existenz eindeutig bewiesen und Herr Cioară wurde von einem Tag auf den anderen zu einem der renommiertesten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Drachenforschung.

Charon war allerdings nicht der Einzige der Familie, der mit einem leidenschaftlichen Forschertrieb ausgestattet war. Ebenso wie ihn fesselte Moyra alles, was mit Drachen zu tun hatte. Manches Mal hatte Charon sie daher in das Labor des Parks geschleust, wo er ihr erläutert hatte, wie man aus dem genetischen Material eines Flugsauriers einen nahezu echten Drachen erschaffen konnte - wobei man damit nichts anderes als ein triebgesteuertes Tier züchtete: ein instinktverhaftetes Wesen ohne höheres Denken, der Sprache unfähig. Charon behauptete felsenfest, es hätte einst eine Zeit gegeben, in der die Drachen mit den Menschen kommuniziert hatten. Jene Drachensprache hatte er mittels alter Aufschriften erforscht.

Gegen die Gen-Experimente wurde anfänglich von Tierschützern demonstriert, bis einige großzügige Geldspenden des Parkbetreibers an die passenden Politiker sämtliche Zweifel an einer ehrbaren Absicht beseitigt hatten. Die Steuereinnahmen für die Stadt waren überdies enorm und die Zahl der geschaffenen Arbeitsplätze hoch, sodass letzten Endes alle Politiker Quenburgs als Fürsprecher fungierten.

Moyras Vater oblag seit jeher die Leitung des Gen-Labors. Er interessierte sich neben der Drachenforschung vor allem für die Wiedererweckung der Eiszeittiere, wie dem Säbelzahntiger, dem Wollnashorn, dem Mammut und dem Höhlenbären. Bei aller Begeisterung für seine Arbeit besaß er bisweilen Bedenken: Es widerstrebte ihm, Tiere zu erschaffen, von denen sie kein vollständiges Gen-Material gefunden hatten. Natürlich kritisierte er die Wünsche des Parkbetreibers nicht in der Öffentlichkeit. Traf Moyra ihn hingegen im häuslichen Arbeitszimmer an, diskutierten sie recht vorbehaltlos über mögliche Grenzüberschreitungen seiner Arbeit.

In vielerlei Hinsicht war Charons Zimmer besser ausgestattet als jede Bibliothek. Gerne ließ er Moyra an seinem Wissen teilhaben, doch wenn er sich nicht selbst dort aufhielt, galt der Raum als Tabuzone. Niemals vergaß er, die Tür zu verriegeln, den Schlüssel führte er ständig bei sich. Dennoch zwang Moyras Forscherdrang sie in Momenten seiner Abwesenheit dazu, in sein Reich einzudringen und in seinen Unterlagen zu stöbern. Kassy war es bisher stets gelungen, das Schloss zu öffnen, und für Moyras Begriffe war sie so geschickt darin, dass man an und für sich keine Schäden erkennen konnte.

Unglücklicherweise bemerkte Charon ihr unerlaubtes Eindringen jedes Mal und tauschte das Schloss aus - was sie freilich nicht davon abhielt, es immer wieder zu tun. Einige Sätze auf Drachäic, wie er die Sprache der Drachen nannte, beherrschte Moyra bereits. »Und wann schlüpft es?«, wollte sie wissen.

Charon lächelte. »Hör mal, das dauert. Wenn es denn überhaupt gedeiht. Es gibt viele Faktoren, die hierbei eine Rolle spielen, eine davon ist die Umgebungstemperatur … Wir reden morgen weiter. In ein paar Tagen darfst du es dir anschauen.« Er schob Moyra in ihr Zimmer. »Schlaf jetzt … Ach, übrigens, ich vermisse eines meiner Bücher. Ich kann mich gar nicht entsinnen, es dir ausgehändigt zu haben … Du hast es nicht zufällig irgendwo rumliegen sehen, oder?«

»Äh, nö.«

»Falls du es findest, gib mir Bescheid. Gute Nacht, Moyra.«

Kaum schloss er die Tür, hastete Moyra zu ihrem Schreibtisch. Unter ihren Schulheften hatte sie den alten Wälzer versteckt, den sie sich gestern aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters geborgt hatte. Das dicke braune Leder mit den goldenen Lettern offenbarte das Alter des Buches, alles war handschriftlich verfasst, in feinster Tuscheschrift. Drachenverfolgungen im späten achten Jahrhundert, konnte man auf dem Einband lesen, Eine Sammlung von Mythen und Sagen. Die Kupferstiche waren wunderschön und schlugen Moyra aufs Neue in den Bann … Sie nahm Tuschefeder und Papier und begann zu zeichnen.

Telamon

Das Gesicht in Schlamm und Laub gepresst lag Telamon da, rückverwandelt und halb in der Dämmerwelt verblieben. Das Blattwerk über ihm wiegte sich im Wind. Noch immer sandte der Mond sein Licht herab und formte helle Flecken auf dem Waldboden. Es roch vorzüglich … nach Tannen, Moos und Geborgenheit, und die Geräusche um ihn herum waren auf wundersame Art vertraut.

Ein aufgeregtes Winseln erklang neben Telamon. Obwohl er umkreist wurde, wurde er nicht bedroht. Zugleich war ihm unglaublich kalt, das Hemd war nass und der Geruch seines eigenen Blutes hüllte ihn ein. Er konnte sich nicht rühren. Der Schmerz besagte, dass die Pfeile weiterhin in seinem Körper steckten, zwei in der Seite, einer in seinem Hinterteil und eine Pfeilspitze fraß sich in die Vorderseite seines Oberschenkels und verursachte ein höllisches Brennen.

Unversehens wehte ein sehr verlockender Duft zu ihm herüber. Als er blinzelte, konnte er vor sich zwei Wölfe ausmachen, jung und schlaksig. Ein drittes Tier lag in der Höhle, fünf Schritte von ihm entfernt. Allesamt waren Weibchen, die ihm nichts antun würden, wie seine Nase verriet. Mit dieser beruhigenden Gewissheit fielen ihm die Augen zu und er schlief nochmals ein.

Später riss ihn ein böses Knurren aus dem Schlaf. Der Geruch der Umgebung hatte sich schlagartig geändert.

Der Wolf vor ihm hob die Lefzen und bleckte gewaltige Reißzähne. Schaum troff aus dem Maul. Das Tier erwies sich als weitaus größer als die anderen, war männlicher Natur - und über den Verwundeten vor seiner Höhle höchst verärgert. Die Wildheit troff aus jeder seiner Poren, überall hatte der Rüde Duftmarken gesetzt. Es war ein ausgewachsenes, kraftvolles Tier und selbst wenn Telamon die Gestalt hätte wechseln können, wäre er körperlich weit unterlegen gewesen. Er wollte sich aufrichten, doch mehr als ein Ächzen kam dabei nicht zustande.

Das graue Fell bauschte sich im Nacken des Wolfs und Telamon starrte ihn hilflos an. Sein Schwert lag unter ihm begraben und seine Arme wollten sich nicht regen, denn er besaß keine Macht über seinen Körper.

Die Weibchen huschten unruhig umher. Eines von ihnen sandte den Duft aus, der ihn hierhergelockt hatte, wie Telamon feststellte. Was ist los mit mir?, fragte er sich verzweifelt. Jage ich schon läufigen Wölfinnen hinterher? So musste es wohl gewesen sein - eine andere Erklärung fand er nicht. Der Großteil seiner Flucht blieb im Dunkeln und in welchem Teil Nordars er gestrandet war, konnte er nur vermuten.

Der Rüde beruhigte sich nicht, schnappte nach ihm und als Telamon schützend den Arm hob, verbiss sich das Vieh. Er schrie auf, der Schmerz war unerträglich, Muskeln und Sehnen lösten sich von seinem Knochen.

Überraschend ließ der Wolf von ihm ab. Jagdhörner und Hundegebell erschallten aus verschiedenen Richtungen und die Ohren der Wölfe spitzten sich.

Trockenes Laub raschelte auf, die heiße Meute seiner Verfolger hatte eine Spur gefunden. Die Reiter gaben sich Signale und schienen die Wölfe umkreisen zu wollen. Ihre Hunde kamen so nah, dass Telamon ihr Hecheln hörte. In kopfloser Angst ergriffen die Wölfe die Flucht in die einzige Richtung, die blieb.

Abermals drohten Telamons Sinne zu schwinden. Noch schützte die Nacht ihn vor den Blicken der Jäger - freilich würde es nicht lange dauern, bis sie ihn entdeckten. Mehrfach vernahm er die Jagdhörner und das Wimmern der Wölfe. Die Hunde bellten laut und ekstatisch und man rief die Meute zur Räson. Abseits von ihm durchbrachen die Pferde das Buschwerk, ihr Schweiß wehte herüber.

Telamon wusste nicht, wie viel Zeit verging. Nach einer Weile bildete er sich ein, es sei vorüber. Die Wolkendecke hatte sich zugezogen und der Regen wusch die Gerüche fort. Möglicherweise gab der Fürst sich mit seiner Beute zufrieden und brach die Hatz ab, um sich in seine trockenen Gemächer zurückzuziehen.

Bevor Telamon sich über sein vermeintliches Glück freuen konnte, raschelte es erneut. Ein Pferd schnaubte hinter ihm und jemand sprang ab. Er wartete auf das Reißen eines Schwertes oder das Schnappen einer Armbrust. Stattdessen strich der Saum eines graublauen Umhangs an seinem Gesicht vorbei, darunter lugten ein helles Kleid und schmale Schuhspitzen hervor.

»Hier finde ich dich also.«

Dass sie Frauen zur Jagd zuließen, war ihm neu. Die Reiterin ging neben ihm in die Hocke und lüftete die Kapuze. Dabei wehte ihm ein Duft zu, der auf den regelmäßigen Umgang mit Federvieh hinwies. Sie trug das rote Haar offen und war außerordentlich hübsch, wobei Kleidung, Bewegungen und helle Haut sie als junge Frau adeliger Abstammung kennzeichneten.

Die abschätzende Art, mit der sie ihn ansah, war äußerst verstörend. »So kann ich dich nicht mitnehmen, Wolf«, sagte sie und verschwand aus seinem Sichtfeld, um in ihren Satteltaschen zu kramen - vielleicht wollte sie seine Rückverwandlung erzwingen und ihm das Fell abziehen.

Das Schlimmste befürchtend sammelte Telamon seine letzte Kraft: Mit einem unterdrückten Stöhnen rollte er sich auf die unverletzte Seite und beobachtete sie. Sein rechter Unterarm war taub, der Ärmel saftete vom Biss des Wolfes und das Schwert konnte er nicht ziehen. Dafür gelangte er mit der Linken an sein Jagdmesser und verbarg es unter dem Umhang, den er trug.

Fürwahr - sie drehte sich um, hatte nun selbst ein Messer parat … und zögerte, ahnend, was er unter dem Stoff umklammerte. »Was hast du vor, Telamon?«

Er hatte ihr seinen Namen bisher nicht mitgeteilt … Wenn sie indes zu den Wolfsjägern gehörte, war ihr selbstverständlich klar, wen sie aufgespürt hatte.

»Junge, du wirst verbluten, wenn du dir nicht helfen lässt. Außerdem bleibt uns nicht viel Zeit. Sie werden bald wissen, dass du keiner von den Wölfen bist, die sie erlegt haben. Selbst Braurorns größten Dummköpfen ist bekannt, dass jeder Wandler nach dem Tod in seinen menschlichen Körper zurückfindet. Die Reiter werden wiederkommen und das Fußvolk ist auf dem Weg. Leg das Messer weg, Telamon.« Ihre blauen Augen strahlten mit einer Intensität, die ihn befremdete. »Leg es weg.«

Ohne es zu wollen, öffnete sich seine Hand, der Griff entglitt ihm und das Messer fiel ins Laub.

»Gut. Und jetzt beiß zu und verhalt dich still!« Sie stopfte ihm einen Lappen in den Mund und Telamon entwich ein gedämpfter Schrei - ohne Zaudern riss sie ihm die Pfeile aus dem Leib.

Seine Stirn drückte sich erschöpft in den Boden. Als er blinzelte, kroch die Sonne hinter den Bäumen hervor und färbte den Wald mit einer Mischung aus Grau und Gold. Sein Ärmel zeigte ein dunkles Rot, trockene Blätter klebten daran. Das Gefühl in seinem Arm kehrte zurück und probeweise bewegte er die Finger. Er hätte schwören können, dass der Wolfsrüde ihm den Unterarm zerfetzt hatte, nun war davon nichts mehr festzustellen.

Die Fremde löste seinen Umhang und teilte sein Hemd im Rücken, keuchte und musterte ihn verständnislos. Eisiger Wind strich über die entblößte Haut. »Wie kann das sein, Telamon? Ist das schon öfter passiert?«

Er spuckte den Lappen aus, diesmal konnte er sich aufsetzen. »Verschwindet!«, grollte er. Sein Bein brannte unaufhörlich und auf einmal wollte ihn der Schwindel übermannen. Kalter Schweiß brach ihm aus und er kniff seine Augen zusammen.

»Es wäre besser, wenn du dich verwandeln würdest, Wolf.«

Nichts hätte Telamon lieber getan - dummerweise verweigerte ihm seine Schwäche die Wandlung. Er überlegte, was geschähe, wenn sie ihn als Wolf umbrachte. Würde es ihr gelingen, ihm das Fell abzuziehen und es sich als Trophäe zu sichern, ehe die Rückverwandlung einsetzte? Dafür müsste sie ihn als Wolf wohl bei lebendigem Leibe häuten. Bliebe das Fell in dem Fall erhalten?

Und wo war sein Messer hin? Irgendwo unter dem Laub musste es sich verbergen. Da er es nicht zu packen bekam, fasste er den Griff seines Schwertes.

»Du bist ja vollkommen wirr, Wolf.« Ihre Waffe steckte sie weg. Ohne seine Drohung zu beachten, trat sie näher und ihre kalten Finger legten sich auf seine Stirn. »Dein Fieber gefällt mir gar nicht. Kannst du aufstehen?«

»Wer … Wer seid Ihr?«, krächzte Telamon.

»Man nennt mich die Hüterin des Mondsees.«

Die Hexe, fuhr es ihm durch den Kopf. Eine Adelstochter, die, einst der Zauberei überführt, auf unerklärliche Weise dem Scheiterhaufen hatte entfliehen können – was eine Ewigkeit her war. Ihre Alterung müsste längst fortgeschritten sein … Kein Wunder, dass man sie verdächtigte, mit dem Bösen im Bunde zu stehen, was ihr Schönheit und ewige Jugend vermachte.

»Luna ziehe ich vor«, ließ sie ihn wissen. »Komm hoch, wir müssen dich hier wegschaffen.« Sie half ihm auf die Beine, doch ein brutales Brennen im Oberschenkel ließ ihn aufbrüllen. Der Schmerz war so heftig, dass die Welt verschwamm und Telamon ohnmächtig zusammensank.

Mirak

Mirak hatte seine Entscheidung gefällt, leicht fiel es ihm allerdings nicht. Wenngleich er weder Weib noch Kind besaß, die er unversorgt zurücklassen würde, empfand er eine starke Verbundenheit seiner Sippe gegenüber. Man achtete ihn als Krieger und demnächst würde Forlof erneut die Segel setzen und ihn an Bord nehmen wollen. Wenn sie das nächste Mal auf Beutezug gingen, würden die Verletzten ohne Miraks Hilfe auskommen müssen, denn Nerbu besaß keinen Heiler, der an seine Fähigkeiten heranreichte. Außerdem bildete er mit Leif, Oleg und Hägar stets eine unschlagbare Einheit. Ihre letzte Ausbeute war immens gewesen.

Sein Begehr hatte er im Thing vorgetragen. Forlof schwieg verstimmt, nachdem Mirak ihm seine Vision offenbart und darum gebeten hatte, der Krähe zu folgen. Mit den anderen hatte es einen lautstarken Wortwechsel gegeben. Erik und Hägar hatten mit völligem Unverständnis geantwortet, Leif hatte ihn für geisteskrank erklärt und Oleg war beleidigt von dannen gezogen. Es war sogar der Vorwurf gefallen, dass Mirak sich nach dem Tod seiner Frau von der Sippe absonderte, was keineswegs der Wahrheit entsprach. Dass er nach Enjas Verlust um kein Weib mehr gefreit hatte, bedeutete nicht, dass er sich aus der Verantwortung stehlen wollte. Einige sahen das zweifellos anders. Einzig Rulof hatte Vernunft gezeigt und das Wort des Alten wog fast so schwer wie das ihres Oberhaupts. Das Streitgespräch flammte derweil vor Miraks innerem Auge auf und wiederum hörte er Hägars Worte.

»Was willst du bewirken? Du glaubst hoffentlich nicht selbst an den Blödsinn, den du faselst! Hast du Angst, dass dich diesmal kein Weib wärmt, wenn der Winter kommt? Auf Brautschau kannst du genauso gut hier gehen, meine Älteste ist ganz wild auf dich.«

Kurzweiliges Gelächter erschallte. Hägar stieg nicht mit ein. Er hatte sich zum Reden erhoben und als einer der grobschlächtigsten Kämpfer Forlofs besaß er eine Ausstrahlung wie kein Zweiter. Erste graue Strähnen durchzogen das lange Haar und ungeachtet dessen, dass Mirak selbst Größe und Masse besaß, war er bei Weitem nicht so gewichtig. Erst in diesem Herbst war sein Körper vollends ausgereift, er war breitschultrig und gelenkig. Mit Hägars Derbheit konnte man ihn freilich nicht vergleichen - nebenbei riefen Miraks helle Haut und die fehlende Brustbehaarung jedem ständig ins Gedächtnis, dass er nicht in Nerbu geboren worden war.

Was ihn darüber hinaus von seiner Sippe unterschied, waren seine Schnelligkeit und sein scharfes Auge. Zudem fror Mirak nur selten - als besäße er keinen natürlichen Kältesinn. Wer auch immer sein Vater war, er musste ein besonderes Blut aufweisen. Das Oberhaupt Nerbus wusste das zu schätzen. Forlof hatte Mirak gleich nach der Rekrutenzeit die Ausbildung der Bogenschützen übertragen und ihm eine Gruppe junger Männer unterstellt.

Mirak war bewusst, dass sich alle Augen auf ihn richteten. Er stand Forlof direkt gegenüber, wie es der Vortrag einer Bitte verlangte, und Hägars Angebot mochte zwar erheitern, war aber nicht als Scherz gemeint. Er hatte sieben Töchter, zwei im heiratsfähigen Alter, und wenn er eine weniger durchfüttern müsste, so wäre ihm das gewiss recht. »Willst du einen höheren Anteil, Mirak? Nimm dir endlich ein neues Weib, danach steht dir wieder mehr zu.«

Hägar hatte gesagt, was er wollte, ließ sich auf seinen angestammten Platz fallen und alle Aufmerksamkeit fand zu Forlof zurück. Die Tranlampen erleuchteten das Thing und verbreiteten ihren bitteren Geruch. Licht fing sich in Forlofs roten Zöpfen, die Balken über ihm verschluckten alle Helligkeit und gestatteten den Schatten nicht, aus der Halle zu weichen.

Von seinem erhöhten Sitz blickte das Oberhaupt Mirak nachdenklich an, fuhr sich durch den geflochtenen Bart und ließ die Augen kurz über die Ansammlung schweifen. Vierzig seiner Krieger hatten sich mit Mirak eingefunden, um hier zu beraten. Von Harald, dem Jüngsten, bis Rulof, dem Ältesten, waren alle wichtigen Männer vertreten. Obschon der frühe Winter in den Ebenen Radnas bereits spürbar war, trugen die wenigsten ihre Felle. Die vielen Reisen hatten die Nordmänner resistent gemacht. Rudern und Kampf verliehen Zähheit und Kraft. Selbst Forlofs Rekruten waren stark genug, um es mit jedem Einwohner Mendirs oder Trieborgs aufzunehmen. Ohnehin glaubte Mirak nicht, dass ihnen diesen Winter Gefahr aus den Nachbardörfern drohte, da die dortigen Bewohner unlängst bei einem Raubzug entlang der Radnäischen Bucht reichlich eingefahren hatten.

»Noch bist du jung, Mirak. Im Alter wirst du froh sein, wenn deine Nachkommen sich um dich kümmern«, gab Forlof zu bedenken. Die siegreichsten Männer rahmten das Oberhaupt mit ihren Brustpanzern und den kunstvollen Schwertern ein und ließen keinen Zweifel daran aufkommen, welchen Rang sie bekleideten. Auf der anderen Seite befand sich die breite Schar der bewährten Mitstreiter. Wie üblich hätte Mirak sich nun zu ihnen gesellt, da er jedoch ein Anerbieten vortrug, saß er Forlof direkt gegenüber, in ungewohnter Position. »Unser Dorf muss fortbestehen, Mirak. Obwohl du nicht hier geboren wurdest, so wünschte ich, du würdest unserer Sippe ein paar Söhne oder - von mir aus - ein paar Töchter schenken. Abgesehen davon hast du das neue Drachenschiff fertigzustellen. Willst du Oleg und Rulof damit alleinlassen?«

»Ich weiß, dass ich einen Bruder habe«, hielt Mirak dagegen. »Ich muss ihn finden, Forlof.«

Leif sprang plötzlich auf und schrie ihn an, sein blonder Bart bebte. »Du kannst nicht einfach fortgehen!« Mirak war bestürzt, welche Empörung sein Ansinnen bei den anderen hervorrief. Der breite Krieger blies sich auf und schlug sich auf die Brust. »Ich bin ein Mann Nerbus und als solcher werde ich sterben! Wenn du uns verlässt, bist du nichts als ein Verräter!« Leif spie auf den Boden und erntete brummende Bestätigung. Mit einer knappen Handbewegung forderte Forlof ihn auf, sich zu setzen.

»Ich kann deinen Wunsch nachvollziehen«, warf der alte Rulof ein. »Einem jungen Mann tut es ganz gut, sich für eine Weile loszusagen. Bloß ist der Zeitpunkt ungünstig, Mirak. Die letzte Fahrt steht an und die große Jagd beginnt bald. Der Winter klopft an die Tür, unsere Fleischvorräte sind aufgezehrt. Du bist einer unserer verlässlichsten Schützen, vergiss das nicht. Wie lange wärest du fort?«

»Ich weiß es nicht«, musste Mirak eingestehen. Ihn überkam der dunkle Verdacht, dass sich ein Abschied für immer andeutete. »Ich kann nicht sagen, ob ich im Frühjahr heimkehre.«

Erik erhob sich aufgebracht. »Du hast eine Verpflichtung, Krieger!« Das Gemurmel ringsum bekräftigte Erik und sein Tonfall kratzte an Miraks Beherrschung. »Wir brauchen dich beim nächsten Beutezug, oder schlottern dir neuerdings die Knie?«

Hägar schlug in dieselbe Kerbe. »Die Götter werden dich nicht einlassen, wenn du als Ausreißer von dir reden machst.«

»Ich bin kein Ausreißer! Sonst hätte ich nicht um diese Aussprache gebeten!« Mirak ließ sich selten aus der Fassung bringen, aber die Art, wie ihm hier zugesetzt wurde, ging ihm erheblich gegen den Strich. »Wenn mich noch einer so nennt, werde ich draußen auf ihn warten!«

»Du schuldest uns was!«, brüllte Erik. »Wir haben dich aufgenommen, meine Mutter hat dich durchgefüttert! Und jetzt willst du uns verlassen? Glaubst du, Forlof ließ dich ausbilden, damit du deiner Wege ziehst? Du kannst nicht nehmen, ohne zurückzugeben. Nicht nur Enja war auf dich angewiesen, Mirak, hier sind alle voneinander abhängig. Mit uns loszuziehen, ist deine Pflicht!«

»Sprich nicht von ihr!«

»Ach ja? Und warum? Du bist ein Teil des Ganzen, Mirak. Ihr Verlust scheint dich dies vergessen zu lassen. Wir alle sind an die Mannschaft gebunden! Wenn Forlofs Schiff versagt, müssen alle hungern. Der letzte Zug vor dem Winter ist wichtig, Mirak. Wenn du Weib und Kinder hättest, würdest du nicht einen Gedanken daran verschwenden, dich davonzuschleichen, denn nichts anderes ist das, was du tust.« Erik wurde gehässig und wenn er nicht Enjas Bruder gewesen wäre, hätte Mirak längst das Passende entgegnet. »Du drückst dich.«

»Verräter!«, brüllte Leif, nun wieder auf den Beinen.

»Ich bin nicht verpflichtet, eure drei Weiberdurchzubringen«, fuhr Mirak sie an, worauf ein wildes Getöse losbrach. Leifs Faust zielte auf Miraks Gesicht und erzeugte seine Widerwehr. Als Mirak zurückschlug, stürzte Erik sich auf ihn.

Nur mühsam konnte man sie auseinanderziehen. Mirak wand sich in Hägars und Rulofs Griff, Erik und Leif wurden aus dem Thing geworfen. Forlof strafte die Rauferei nicht, betrachtete Mirak mit undeutbarer Miene und wartete darauf, dass dieser sich beruhigte. »Ich gehe«, verkündete Mirak. »Und niemand wird mich davon abhalten.«

In dem Haus, das er sich mit seiner Ziehmutter teilte, suchte er seine Sachen zusammen, band Kurzschwert und Streitaxt an seinen Gürtel und belud sein Pferd. Das Dach des kleinen Holzbaus hätte vor der Sturmzeit einer Ausbesserung bedurft. Mirak war der Ansicht, dass ihn das nicht aufhalten durfte, im Notfall konnten Erik und Rulof behilflich sein. Er schob sich Bogen und Köcher auf den Rücken, steckte den Dolch hinter den Riemen und seinen Schuppenpanzer verstaute er im Gepäck. Den Schild ließ er zurück - vorzugsweise kämpfte er beidhändig und sein Hengst hatte genug zu tragen.

Mirak hatte in den letzten Quert zahlreiche Erfahrungen als Krieger Nerbus sammeln können und er fürchtete sich nicht davor, eines Tages im Kampf sein Leben zu lassen. Trotzdem hätte er gerne gewusst, welche Unwägbarkeiten seine Reise bot, denn ungern überließ er sich höheren Mächten. Schon vordem hatte Mirak Träume gehabt, die sich später bewahrheiteten, ohne dass ihm je eine Krähe begegnet war. Wer dieser Bruder sein sollte, blieb so ungewiss wie der Weg, den die Krähe ihm weisen würde.

Mirak war, seit er denken konnte, in Nerbu beheimatet. Hier hatte Marga, Eriks Mutter, ihn als Kind aus dem Drenger geborgen. Warum man Mirak im Fluss ausgesetzt hatte, war nicht bekannt. Die Erinnerung an seine leibliche Mutter war fortgespült worden und von seinem Bruder wusste er bislang nichts.

Sein Hengst wieherte ungeduldig und scharrte mit den Hufen. Das goldene Fell leuchtete im ersten Abendrot. Anscheinend erwartete er einen wilden Ritt durch die Ebenen oder eines der üblichen Wettrennen gegen den Zossen Olegs.

Nachdem Mirak aufsaß, trottete der Rekrut mit hängendem Kopf auf ihn zu. Der Krieger war einige Jahre jünger als Mirak und zeigte sich ebenso wenig erschrocken, wenn sie auf Raubzug gingen. Dass ihm ihr Abschied nicht gefiel, war unübersehbar.

Oleg beäugte Miraks Bewaffnung und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du gehst also wirklich … Warum die Eile? Wenn du bis zum Sonnwend wartest, könnten wir deinen Bruder zusammen ausfindig machen.«

»Und deine Frau?« Mirak erntete grimmiges Schweigen, also sprach er weiter. »Forlof verlässt sich auf dich, Oleg, und zum Frühjahr verlangt deine Jena nach Hilfe auf dem Feld.«

»Nerbu braucht einen Heiler, Mirak.«

»Das schafft Marga durchaus allein.«

»Dann mögen die Götter mit dir sein.«

Miraks Blick fiel zum Hauseingang, wo Marga verharrte - neben Rulof, der ihr eine Hand auf den Rücken legte. Ihre Trauer verbarg sie. Mirak hatte es ihr erklärt, so gut er konnte. Sie war es gewohnt, dass er sie für längere Zeit verließ. Flüchtig hob er die Hand. »Hab‘ ein Auge auf Marga«, bat er den jungen Mann. »Und hüte deine Jena. Sie ist Gold wert.«

Oleg nickte zum Abschied und Mirak galoppierte los, dem Sonnenuntergang entgegen, der die Berge Kenorsin ein wahres Flammenmeer tauchte.

2

Glassplitter

Moyra

Nach dem Abendessen hatten Moyra und ihre kleine Schwester noch eine ganze Weile Last Dragon Conqueror gezockt, doch selbst das hatte Kassys Laune nicht bessern können. Kassys Handy lagerte weiterhin in Charons Zimmer. Seit das Drachenei da war, hatte er sich zu Hause ziemlich rargemacht und die neue Verriegelung ließ sich mit Kassys Ausrüstung nicht öffnen.

Frustriert ließ sie ihre kurzen Beine von Moyras Bett baumeln. »Ich brauche was zum Naschen. Lass uns zur Tanke fahren, Moyra.«

Scheinbar waren Kassy die Süßigkeiten ausgegangen, mit denen sie sich sonst in den Abendstunden vollstopfte - dabei hatte Moyra ihrer Schwester längst erklärt, dass ihre kleinen Speckpolster hundertprozentig mit ihrer Ernährungsweise in Zusammenhang standen.

»Du hast recht«, meinte Moyra. »Der Supermarkt hat jetzt zu.« Das Fenster hinter dem Schreibtisch offenbarte einen stockfinsteren Himmel, Straßenlaternen beleuchteten die Allee. Bereits gegen fünf war die Sonne untergegangen und die nasse Novemberkälte lud nicht zu Ausflügen ein. »Was soll’s.« Moyra fuhr den Computer herunter.

»Genau. Ma glotzt ihre Lieblingsserie, die kriegt sowieso nichts mit«, behauptete Kassy mit einem schwachen Grinsen.

In der Tat verhielt es sich so wie geplant. Ohne Schwierigkeiten holten sie ihre Fahrräder aus der Garage, ließen das Reihenhaus hinter sich, radelten durch ihr Viertel und der nächsten Tankstelle entgegen. Im vorderen Parkbereich bestrahlten gelbe Leuchtbalken einige tiefergelegte Autos. Jugendliche unterhielten sich neben offenstehenden Autotüren, Scheinwerfer verbreiteten ihr Licht auf dem mit Ölflecken gesprenkelten Boden. Laute Musik beschallte sie, Bierflaschen wurden angestoßen und Sprüche geklopft. Kassy wetzte mit ihrem Mountainbike rücksichtslos durch die Gruppe und Moyra glitt daran vorbei, verfolgt von wildem Gebrüll. Keines der Gesichter war ihr vertraut. Die Jungs wirkten bedrohlich und die Mädchen trugen hohe Stiefel mit Absätzen, mit denen sie locker jemanden aufspießen konnten.

Kassy ließ ihr Fahrrad neben der Tür fallen, der Ständer war ohnehin abgebrochen. Noch bevor Moyra ihr Rad abgeschlossen hatte, latschte ihre kleine Schwester schon mit zwei Tüten Chips durch den Verkaufsraum.

Kaum drinnen, vernahm Moyra aus Richtung der parkenden Autos das Klirren einer Flasche. Die blonde Verkäuferin gaffte durchs Fenster. Hektisch kam sie hinter der Theke hervor. »Bin gleich wieder da«, knurrte sie Kassy an und eilte nach draußen, um dem Pulk beizukommen.

Unvermittelt ertönte ein Schuss und die Fensterfront zerbarst, begleitet vom Gekreische der Jugendlichen. Scherben stoben überall hin und instinktiv duckte Moyra sich. Ein Motorradfahrer stürmte herein, wehte wie ein kalter Windzug an Moyra vorbei und rempelte Kassy an. Die fiel schreiend ins Regal, das sofort umkippte. Wutschnaubend blieb sie in einem Berg Süßwaren liegen.

»Salmon?« Als Moyra sich umguckte, hatte der junge Mann sich in Luft aufgelöst, außer ihnen beiden war niemand hier. Draußen stoben die Autos davon. Moyras Herz konnte sich nicht beruhigen und Kassy gab eine Reihe von Verwünschungen von sich. Die Kleine wischte die Splitter von der Jacke, versteckte ein paar Schokoriegel in ihrer Tasche und quetschte noch drei Weingummitüten dazu.

»Die haben Kameras hier, Kassy.«

»Das ist doch scheißegal!« Sie war völlig fertig und rappelte sich hoch. Der Schuss hatte ein Loch in der Wand hinterlassen, knapp über ihren Köpfen. »Was fällt dem ein, hier rumzuballern?«

»Bist du verletzt?« Im Gegensatz zu Kassy war Moyra keinesfalls davon überzeugt, dass Salmon den Schuss abgegeben hatte. Vielmehr hatte es so ausgesehen, als sei er vor irgendwem geflüchtet.

Kassy war vor Aufregung knallrot angelaufen. »Wo ist der Wichser?«

»Weiß ich nicht.« Moyra linste über die Regale. Hinter dem Vorhang zum Lager rührte sich nichts. Alles war so schnell gegangen, dass es ihr surreal vorkam. Der dunkle Helm hatte Salmons Gesicht unkenntlich gemacht - verraten hatten ihn seine Statur und die schwarze Kluft. Außerdem lag sein unverkennbarer Geruch in der Luft.

»Scheiße. SEK«, murmelte Kassy mit Blick nach draußen. Sofort sahen sie sich mit einer neuen Bedrohung konfrontiert. Zwei Männer mit Sturmhauben und Schusswesten hasteten in den Verkaufsraum, über ihrer Brust spannte sich der Gurt ihrer Gewehre. Die Scherben knirschten unter schweren Springerstiefeln. Sie teilten sich auf und sicherten den Raum mit erhobenen Pistolen.

Schlagartig hielten sie inne und senkten die Waffen. Der eine kam so nah, dass Moyra sich mit dem Rücken gegen die Wand drängte. Ihr Puls raste so heftig wie noch nie in ihrem Leben. In unglaublicher Geschwindigkeit nahm ihr Verstand alle Einzelheiten auf und wollte dennoch nicht richtig funktionieren. Die Männer waren gleich groß, sportlich und durchtrainiert, ihr Körperbau war identisch. Sie trugen schwarze Cargohosen und Rollkragenpullis, Holster kreuzten sich darüber und an den Gürteln steckte je ein gewaltiges Messer. Einzig die blonden Haarsträhnen, die sich unter der Haube des einen hervorstahlen, unterschieden Moyras Gegenüber von dem anderen. Seine braunen Augen bohrten sich in sie hinein. »Wohin ist er?«

»Keine Ahnung, von wem Sie sprechen.« Moyras Stimme zitterte. Der Blonde, der bei ihr stand, schaute seinen Begleiter kurz fragend an.

»Sie deckt ihn«, folgerte sein Partner und schob Moyras Schwester die Pistole in den Magen.

»Was wollt ihr von uns?«, schrie Kassy erschrocken.

»Ist er dein Freund?« Der Blonde riss Moyra den Schal vom Hals, drückte ihn ihr in die Hand und begaffte sie, als suche er Würgemale. »Wo finden wir ihn?«

»Die Bullen kommen«, sagte der andere. Sein Tonfall blieb auffällig ruhig.

»Dein Name.« Der Blonde entsicherte ebenfalls seine Pistole, erkennbar war er Linkshänder.

»Moyra Cioară.«

Die Männer guckten sich an. »La dracu!«, fluchte der Blonde. »Ich hab’s geahnt.« Sie unterhielten sich knapp in fremder Sprache, dem Anschein nach auch über Kassy. Vor der zerschossenen Fensterfront huschte derweil ein Schatten vorbei und schwang sich auf das Motorrad, das neben der Zapfsäule parkte. Die Maschine brüllte auf.

»Nu se poate așa ceva!« Wütend rannten die Männer nach draußen und feuerten Salmon hinterher. Zugleich wurde Sirenengeheul laut. Die Zwei sprangen außerhalb von Moyras Sichtfeld in einen Wagen, der mit einem lauten Brummen davonpreschte.

»Ich glaub das alles nicht.« Kassys Knie gaben nach, sie fing sich am Regal ab.

»Los, weg!« Moyra zerrte ihre Schwester aus dem Verkaufsraum und schwang sich aufs Fahrrad

Sie nahmen nicht die Hauptstraße, sondern wichen den blauen Lichtern aus, die ihnen entgegenkamen. Der schmale Weg über den Friedhof bot die perfekte Abkürzung. In rasendem Tempo schnitten sie die Gräber, fuhren über Randsteine und Rasenflächen, bis sie schließlich das rostige Eingangstor passierten. Moyra stieß erleichtert die Luft aus, als sie den schwach beleuchteten Parkplatz erreichten.

»Alter, das gibt’s nicht«, schimpfte Kassy. Im Abseits parkte die schwarze Kawasaki und Salmon stützte sich vornübergebeugt daran ab. Hustenkrämpfe schüttelten ihn. Kassy rauschte an ihm vorbei. »Arschloch!«, fauchte sie.

»Salmon?« Moyra hielt an, obwohl Kassy den Fahrradweg neben der Hauptstraße längst erreicht hatte. Salmon hustete und presste sich die Hand vor die Brust. Mit Entsetzen erkannte Moyra, dass dunkle Flüssigkeit zwischen seinen Fingern hervorquoll. »Oh Gott, Kassy!«, rief sie. »Er wurde angeschossen!«

Sogleich quietschte die Vorderradbremse von Kassys Fahrrad, sie hielt an der Kreuzung inne. Salmons Aufmerksamkeit traf Moyra abrupt, das Grün seiner Iris flackerte hell und ließ sie zurückschrecken.

»Hau ab.« Ermattet sank er zu Boden und röchelte. Seine Haut war noch blasser als sonst.

»Ich … ich rufe den Krankenwagen«, stammelte Moyra.

Salmon ächzte und schüttelte den Kopf. Seine gesamten Muskeln waren angespannt, sein schwarzes Haar hing ihm wirr in die Stirn und das ansonsten makellose Gesicht hatte sich zu einer hässlichen Maske des Schmerzes verzerrt. Aus einem irritierenden Impuls heraus wollte Moyra ihm Trost spenden - stattdessen fingerte sie ihr Handy aus der Jackentasche.

Wieder gab Salmon ein eigenartiges Geräusch von sich, eine Mischung aus frustriertem Schnauben und Husten. Kassy traf neben ihnen ein und zog eine Bremsspur durch den Kies des Parkplatzes. »Hab den Notarzt schon bestellt … Scheiße, sollten wir ihn nicht verbinden oder so was?«

Mittlerweile hatte sich eine blutige Pfütze auf dem Boden gebildet und in Salmons Miene spiegelte sich ein Hauch von Panik. »Verpisst euch!«

Das Grollen in seiner Stimme trieb Moyra die Nackenhaare hoch. In diesem Moment jagte ein schwarzer Van auf den Parkplatz, breite Reifen wirbelten den Kies auf. Ehe die Schiebetür aufflog, ergriffen Moyra und Kassy die Flucht.

»Ich will, dass ihr euch zurückzieht. Sofort.« Als Moyra zu Hause die Treppe hochstieg, schallte Charons Stimme durch die Tür des Arbeitszimmers und ließ sie innehalten. Ihr Vater telefonierte und regte sich dabei entsetzlich auf.

»Was? Gewildert? … Das kann ich mir nicht vorstellen, die Jungs haben sich seit Jahren nichts zuschulden kommen lassen … Ja, natürlich haben wir die Anzahl der Kameras verdoppelt! … Nein, ich brauche sie! Es sind die einzigen Wächter, die … Im Ernst? … Das weiß ich selbst! … Nein, wir können es nicht im Labor lagern, es muss bei dem Drachen bleiben, in einem Brutkasten würde es degenerieren … Hör mal zu, junger Mann, in diesem Ton brauchst du nicht mit mir reden! … Lamia? Hat sie diese Schweinerei hinterlassen? … Ich will jetzt euren Vater sprechen … Braurorn? Was will er denn da? … Aha. Warte mal.«

Der Stuhl kratzte über die Dielen. Charons Schritte näherten sich, worauf Moyra eilig in ihrem Zimmer verschwand. Sie schloss die Tür und lehnte sich dagegen, um durchzuatmen. Kassy schien das Erlebnis an der Tanke weniger mitgenommen zu haben: Sie hatte sich zu ihrer Mutter vor den Fernseher gesellt, als wäre nichts geschehen.

Moyra sammelte sich. Sollte sie ihrem Vater den Vorfall schildern? Oder würde er seinen Töchtern zukünftig verbieten, weitere Einkäufe dort zu tätigen? … Und was hatte das Telefonat zu bedeuten? War das Drachenei in Gefahr? Das Gespräch hatte vertraulich geklungen und nebenbei … äußerst aufgeladen.

Kurzerhand schnappte Moyra sich das Drachenbuch von ihrem Tisch - das war auf jeden Fall eine zuverlässige Eintrittskarte in Charons Reich - und näherte sich erneut seiner Tür. Unterdessen telefonierte er in einer Sprache, von der sie wusste, dass es Rumänisch war. Bevor Moyra anklopfen konnte, unterbrach er sich. »Komm rein, Tochter.«

Ihr Vater stand an der Balkontür neben dem Schreibtisch, den Rücken ihr zugewandt, und blickte nach draußen ins Dunkel, das Handy am Ohr. Seine Worte hatten einen unschönen, einschüchternden Klang. Danach lauschte er dem aufgeregten Gesprächspartner und raufte sich die Haare.

Wie jedes Mal, wenn Moyra Charons Raum betrat, kam sie sich vor wie eine Zeitreisende, die man in die Vergangenheit katapultiert hatte. Hier tat sich wahrlich eine fremde Welt auf. Nicht von ungefähr fühlte Moyra sich an ein englisches Studierzimmer aus einem vergangenen Jahrhundert erinnert. Die Möbel waren allesamt antik, die Regalfächer randvoll mit alten Schmökern und ein Geruch von Leder und Staub lag in der Luft. Die beengten Stellen zwischen den Regalen zeigten eine blutrote Seidentapete, die Vorhänge vor den bodentiefen Fenstern waren aus schwerem Samt. Trotz der Größe des Raumes wirkte er vollgestopft.

Moyra trat auf den großen Perserteppich und schlängelte sich an den zwei Ledersesseln und dem alten Standglobus vorbei bis vor den Schreibtisch. Seit ihrem letzten Besuch hatte sich hier einiges verändert: Es klafften Lücken in den Regalen, Bücher lagen quer, die Vitrinen waren offen und einige Drachenfossilien darin umgekippt. Auf dem wuchtigen Schreibtisch stapelten sich Papiere und Bücher, die das altmodische Mikroskop gefährlich nah an den Rand drängten. Genauso altertümlich und verschnörkelt wie der Tisch war Charons Schreibtischstuhl. Die Polsterung bestand aus braunem Leder, darauf lag ein zerknüllter Pullover. An der Wand dahinter erhellten zwei Strahler ein goldgerahmtes Gemälde. Es präsentierte einen leidenschaftlichen Kampf zwischen Drachen und Dämonen.

Entscheidender war hingegen, was dahinter verwahrt wurde. Bislang hatten Moyra und Kassy die Geheimnisse des großen Tresors nicht lüften können. Nun stand der Rahmen links eine Handbreit ab, was gewiss auf Charons momentane Unachtsamkeit zurückzuführen war.

Jetzt erst drehte ihr Vater sich um, runzelte die Stirn und ließ seine Augen an ihr nach unten wandern. Moyra presste das dicke Buch vor ihren Bauch wie einen Schutzschild.

»Hi.« Da ihr Schmunzeln bei ihm nichts bewegte, gab sie sich reumütig. »Ich dachte, ich bring dir mal was vorbei.«

»Da, bine«, brummte Charon und drückte das Gespräch weg. Das Handy schlitterte über den Schreibtisch und wirbelte einige Pergamentrollen durcheinander.

Verärgert stemmte Charon seine Hände in die Seiten. Er war müde und ein Bartschatten zeichnete sich ab. Als er das Buch entdeckte, erntete Moyra seinen Zynismus. »Schön, dass du es gefunden hast.«

Zögerlich trat sie vor, glücklich darüber, dass der Schreibtisch sich wie eine Barriere zwischen ihnen erhob, und legte das Buch sorgsam ab. »Ich, äh, tut mir leid. Ich konnte nicht widerstehen.«

»Was soll ich nur mit dir machen, Moyra? Ich habe dir untersagt, hier herumzuschnüffeln! Du kannst jederzeit rein, wenn ich da bin … Ich will nicht, dass jemand in meinen Unterlagen wühlt, selbst wenn es meine eigene Tochter ist.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie fändest du das denn, wenn ich mich an deinem Schreibtisch zu schaffen machte? Bestimmt würde ich da ein paar interessante Tagebücher aufstöbern.« Bei dem Gedanken wurde ihr unwohl. Von dieser Warte aus hatte sie das Ganze nie betrachtet. »Aha. Anscheinend zeigst du ein wenig Verständnis. Ich wünschte, dasselbe gälte bald auch für Kassiopeia. Vorsichtshalber sollte ich die Tür unter Strom setzen, was meinst du?«

Moyra war nicht klar, ob er das ernst meinte, sein Ausdruck blieb verschlossen. »Das wird nicht nötig sein«, versicherte sie.

Unruhig fuhr er sich übers Kinn, die Stoppeln knisterten, dann ruhte er wieder in sich. »Alles in Ordnung mit dir? Du siehst so mitgenommen aus.«

»Alles bestens.« Eigentlich war die Lüge nicht zu überhören. »Hab schlecht geschlafen.«

»Sag mal, du kennst doch Salmon, oder?«

Ertappt verzog Moyra das Gesicht, ihre Wangen begannen zu glühen. Zweifellos wusste ihr Vater, dass Salmon und sie sich des Öfteren begegnet waren, schließlich oblag diesem die Leitung des Sicherheitsdienstes im Evolution Park. Inständig hoffte Moyra, dass ihr Erröten nicht zu viel preisgab, denn es war einfach unmöglich, Salmon nicht attraktiv zu finden.

Kurz fragte sie sich, ob ihr Vater sie deshalb ansprach, weil er von ihrer heutigen Begegnung an der Tankstelle erfahren hatte … Das war wohl unwahrscheinlich. Vermutlich wäre es klug, Charon nun von der Schießerei zu berichten, denn er besaß die Angewohnheit, in stressigen Situationen beruhigend und besonnen zu reagieren. Seinen Trost nahm Moyra gerne in Anspruch - demgegenüber fürchtete sie sich davor, dass er anschließend ihrer Mutter von dem Ereignis erzählte. Schon der letzte Polizeibesuch wegen Kassys Ladendiebstahl hatte hysterische Nachwirkungen gehabt. Moyra räusperte sich. »Wir sind uns ab und zu über den Weg gelaufen.«

»Ab und zu also?« Charon blieb verschlossen. »Vorzugsweise hältst du dich fortan von ihm fern. Wie man mir zutrug, hat er neuerdings einige merkwürdige Freunde. Die Polizei sucht sie wegen Vandalismus, weshalb ich seine Tätigkeit im Park zweifelsohne einmal überdenken muss … Morgen nehme ich dich übrigens zum Drachengehege mit. Die Presse hat ihre Fotos geschossen.«

Zuerst glaubte Moyra, sie hätte sich verhört, denn auf diese Einladung hatte sie seit Tagen gewartet. Nun überkam sie verstohlene Vorfreude. Das Drachenweibchen war nämlich ein bisschen schwierig, seitdem das Ei da war. Bisher hatte man die Besucher deshalb ferngehalten. Niemand durfte das Gehege ohne Charon betreten.

Er kramte in seiner Schreibtischschublade, zog ein kleines Döschen heraus und schüttelte es prüfend. »Hier. Du solltest endlich ruhig schlafen können. Ab heute nimmst du jeden Abend eine davon, das wird dir helfen … Und gib Kassiopeia Bescheid, die will bestimmt mitkommen. Wir fahren um neun los.«

»Okay.« Die Pillen in der Dose waren blau.

Als Moyra ging, fiel ihr Blick zurück. Charon hatte sich auf seinen Stuhl geworfen. Seine Füße - in dicken Profilschuhen - kreuzten sich im Gewühl auf dem Tisch. Er spielte nervös mit einem Kugelschreiber und horchte ins Handy. Jemand meldete sich mit einem mürrischen Da und Charon fixierte Moyra mit seinen schwarzen Augen. »Gute Nacht, Tochter.«

»Nacht, Charon.«

Etwas fiel aus ihrem Haar und kullerte über die Dielen. Beim Schließen der Tür knirschte es geräuschvoll. Rasch hob Moyra das Steinchen auf. Es war aus Glas.

3

Von Chimären und Werwölfen

Moyra

Langen Schrittes marschierte Charon über den Kiesweg, Moyra konnte kaum mithalten. Links und rechts säumten Buchen und Eichen den Pfad zum Drachengehege, das meiste Laub war mittlerweile gefallen.

Der Evolution Park erstreckte sich über ein Gelände von mehreren Quadratkilometern. Die Gehege der Tiere hatte man im östlichen Teil errichtet, während die Laboratorien im Westen lagen. Es gab vier Zugänge zum Gelände. Diesmal hatte Charon seinen schwarzen Kombi in der Nähe des Hauptlabors geparkt. Um von dort zum Drachengehege zu gelangen, mussten sie eine ganze Strecke zu Fuß zurücklegen. In Kürze erhielten die Besucher Zugang, da waren außer den Futterwagen der Tierpfleger keine Autos auf den Wegen erlaubt. An den Wasserwelten mit den urzeitlichen Meeressäugern waren sie schon vorbeigekommen und nachdem sie die Gehege der eiszeitlichen Landsäuger passiert hatten, schritten sie durch die Welt der sogenannten Fabeltiere. Hinter den kahlen Ästen der Eichen erhob sich die gewaltige Glaskuppel des Drachengeheges und glänzte in der Morgensonne.

Je näher sie kamen, desto fühlbarer änderte sich die Umgebung. Angenehme Wärme umfing sie und die Nähe des Drachens zog Moyra beinahe magnetisch an. Magie lag in der Luft und streckte ihre Finger nach ihr aus. Moyra reckte ihren Hals und lugte über die Sträucher hinweg. Man konnte den aufgefüllten Sand und die Pfirsichbäume im Inneren des Geheges bereits erkennen.

Es raschelte hinter ihnen, Laub wirbelte durch die Luft. Charon drehte sich zu Kassy um, die durch die geharkten Haufen lief und mit Eicheln warf. Die Augen über das Durcheinander schweifend, das seine jüngste Tochter hinterließ, hielt er inne und bog unvermittelt ab. Zwischen den Sträuchern tat sich ein kleines Gartenhäuschen auf, das er aufschloss, wobei Kassys Aufmerksamkeit von seinem überladenen Schlüsselbund eingefangen wurde. Und von der Chipkarte, die daran baumelte.

»Da, schau.« Mit unmissverständlicher Geste wies Charon auf die Gartengeräte, die an der Wand hingen. »Alles, was du brauchst. Ich hole dich später ab, in einer halben Stunde müsstest du das schaffen. Unsere Gärtner sind nicht dazu da, um dein Chaos zu beseitigen.« Schweigend verharrte er, bis Kassys Protest verebbte. »Bitte, wenn du meinst, fahr nach Hause. Der Bus fährt jede Viertelstunde. Dann war es das letzte Mal, dass ich dich mitgenommen habe.«

Kassy entgegnete nichts mehr, riss einen der Rechen von der Wand und stapfte zurück.

Da der Zoo erst in einer halben Stunde seine Pforten öffnete, war keiner hier. Wegen des Dracheneis waren in den vergangenen Tagen Unmengen an Fotografen aufgekreuzt, so hatte ihr Vater berichtet. Nun war alles friedlich und still. Das Drachengebäude war ein filigraner runder Glasbau, der einem riesigen viktorianischen Gewächshaus ähnelte. Die Stahlträger waren mit einer Titaniumschicht überzogen worden und bedeutend stabiler, als die Optik es vortäuschte. Man hatte außerdem Panzerglas verwendet, um die Besucher zu beruhigen. Charon hatte Moyra allerdings versichert, dass die Fassade für ein Drachenfeuer kein Hindernis darstellte. Echten Schutz vor einem Ausbruch bot allenfalls der Betonbunker - darin konnte man den Drachen jedoch nicht präsentieren. Das alte Weibchen war überdies von friedfertiger Natur und blieb freiwillig hier. Moyra hatte es niemals sprechen hören, dennoch war Charon davon überzeugt, dass es hier zufrieden war und das Leben im Gehege der gefährlichen Außenwelt vorzog. Es hatte das Zeitalter der Drachenjäger miterlebt und aus dieser Epoche einige Narben davongetragen. Weil keine Artgenossen mehr existierten, verspürte es keinerlei Wunsch, den Park zu verlassen. Dazu wie trotzdem eine Befruchtung des Eis gelungen war, hatte Charon sich nicht geäußert.

Die Absicherung vor Diebstahl hatte den Parkbesitzer einiges gekostet. Nachts wurde ein Infrarotfeld an der Gehegewand aktiv, zwei Mauern und ein Mittelgraben umgaben das Gebäude, überall waren Kameras montiert und ohne Chipkarte und Sicherungscode kam sowieso niemand herein. Die Eingänge waren einzig für das Personal. Besucher wurden auf die Aussichtsplattform geleitet oder konnten einen Blick durch die dicken Glasscheiben werfen, welche den Mauersockel durchsetzten. Weil das Weibchen sich gerne zwischen den Bäumen versteckte, hatte man zudem große Übertragungsmonitore angebracht, die außerhalb der Öffnungszeiten natürlich ausgeschaltet waren. Ständig war Sicherheitspersonal neben den zwei Eingängen postiert. Heute wurden sie dort von Tim empfangen, einem jungen Mann, den Moyra durch seine Arbeit hier recht gut kannte.

»Guten Morgen, Herr Cioară.«

»Irgendwelche Vorkommnisse?«, fragte Charon im Vorbeigehen.

»Nein. Sie schläft«, sagte Tim. Moyra erwiderte sein Grinsen. »Heute ganz in Schwarz? Steht dir gut.«

Tatsächlich hatte Moyra im morgigen Halbschlaf eher wahllos in den Kleiderschrank gegriffen. »Tja, Partnerlook, wie es scheint.«

»Hast du zufällig Salmon gesehen?« Tim rieb sich müde die Schläfe und verwuschelte sein blondes Haar. »Bin gespannt, wann der hier auftaucht. Der kann was erleben, glaub’s mir. Er und seine Kumpane haben heute Nacht ihre Schicht sausen lassen.«

Nervös biss sich Moyra auf die Lippen. Unweigerlich musste sie an den gestrigen Abend denken: an die schießwütigen Männer in der Tankstelle und die Blutlache, die sich unter Salmon ausgebreitet hatte - auf dem Friedhofsparkplatz. Der Fahrer des Vans hatte Salmon hoffentlich in die Notaufnahme gebracht … Wenn Moyra Tim jetzt davon erzählte, würde sich ihr Vater bestimmt wundern, warum sie gestern geschwiegen hatte.

»Moyra, komm.« Mit einem Summen öffnete sich die Metalltür. Charon musste den Chip betätigt haben. Die Neonröhren sprangen an, er hielt die schwere Tür auf und wandte sich kurz an den Wachmann. »Ich kümmere mich darum, Tim, mach dir keinen Kopf.«

Er und Moyra traten in den fensterlosen Mittelgang. Die Tür schloss sich mit einem mechanischen Saugen und augenblicklich sausten Charons Finger über das silberne Tastenfeld, das man in die Wand eingelassen hatte. Es war kalt im Gang und die Lüftung über ihnen brummte, alle anderen Geräusche waren ausgesperrt. Als die zweite Metalltür zischte, wehten die Gerüche der Pflanzen zu ihnen herüber und schummeriges Licht fiel herein.